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Michael Gerwien

Stückerlweis

Ein Fall für Exkommissar Max Raintaler

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © nild / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4926-0

Widmung

Danke an meinen oiden Spezi Seppi, Lilli und Patrick und vor allem an Claudia Senghaas

1. Kapitel

Er stolperte nach vorn, verlor das Gleichgewicht, stürzte auf die Gleise. Drei Sekunden später fuhr die angekündigte U-Bahn ein. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Wartenden. Der Fahrer sah ihn noch wild gestikulierend und winkend vor sich liegen, bremste unverzüglich, doch es war zu spät. Unbarmherzig schleifte ihn der laut quietschende Triebwagen ungefähr 30 Meter weit mit sich. Dann überrollte er ihn und zerteilte ihn dabei in kleine Stücke. Er war sofort tot.

Der U-Bahnhof Marienplatz wurde auf der Stelle abgesperrt, die zahlreichen Fahrgäste an diesem kalten regnerischen Montagabend im Mai auf viel zu wenige und daher völlig überfüllte Busse umgeleitet. Das alles geschah um 17:30 Uhr. Feierabendverkehr, Stau in den Straßen. Wer es nicht allzu weit hatte, war besser beraten, sich zu Fuß nach Hause in den wohlverdienten Feierabend aufzumachen.

2. Kapitel

»Eine Matschleiche auf Gleisen. Das hat mir heute gerade noch gefehlt«, stöhnte der kurz gewachsene übergewichtige Hauptkommissar Franz Wurmdobler, während er mit seinem durchtrainierten mittelgroßen Kollegen, Kommissar Bernd Müller, den Unfallort erreichte.

Zuerst war sein Auto in der Früh nicht angesprungen. Dann hatte er in der Kantine keinen Schweinsbraten mehr bekommen, weil er eine Minute zu spät dran war. Nach der Mittagspause hatte ihn der Chef zur Minna gemacht, weil die letzte Reisekostenabrechnung angeblich minimal nicht gestimmt hatte. Und jetzt das.

»Das dritte Mal dieses Jahr«, fuhr er fort. »Scheint immer mehr in Mode zu kommen, sich auf diese Art umzubringen.« Er schüttelte genervt und erschüttert zugleich den haarlosen Kopf.

»Sein Name war Gerhard Bockler«, erwiderte Bernd, den die Kollegen auf dem Revier wegen seiner teils überharten, nicht immer ganz legalen Verhörmethoden auch den scharfen Bernd nannten. »Er war der Schuldirektor vom Pasinger Gymnasium. Vielleicht ein Burn-out. Kommt bei Lehrern immer häufiger vor, wie man hört.«

»Kannst du neuerdings hellsehen?« Franz zog erstaunt die Brauen hoch.

»Nein, noch nicht. Wieso?«

»Woher weißt du dann den Namen des Opfers?«

»Eine SMS vom Revier. Ist gerade gekommen.« Bernd hielt seinem Vorgesetzten das Display seines Handys unter die Nase. »Ein Zeuge des Unfalls hat ihn offenbar gekannt und es den Kollegen telefonisch gemeldet.«

»Ist dieser Zeuge noch hier?«

»Keine Ahnung. Aber die Kollegen haben bestimmt seinen Namen und die Adresse. Es sei denn, er hat anonym angerufen.«

»Überprüfen und Aussage persönlich aufnehmen, Bernd.« Franz stieg ächzend über eine kleine Leiter, die die Kollegen von der Spurensicherung aufgestellt hatten, ins Gleisbett hinunter.

»Geht klar, Chef.« Bernd nickte, während er die Nummer des Reviers wählte. Er folgte Franz. »Wie kann man sich bloß umbringen? Total überflüssig. Man stirbt doch sowieso irgendwann von selbst.«

»Keine Ahnung. Verzweiflung? Panik? Depressionen?« Franz zuckte die Achseln. »Schlimm ist so was auf jeden Fall. Aber schauen wir erst mal, ob’s wirklich ein Selbstmord war.«

»Du meinst …« Bernd beendete den Satz nicht.

»Mord, ja. Warum nicht. Ein kleiner Stoß in den Rücken bei dieser Masse an Wartenden und schon ist es um dich geschehen. Ich habe selbst jedes Mal ein mulmiges Gefühl, wenn ich ganz vorne in der Wartereihe stehe.«

»Dann stell dich halt nicht ganz vorne hin.«

»Geht halt nicht immer, Schlaumeier.«

»Wieso nicht?«

»Manchmal schieben sie dich eben nach vorn. Aber Schluss jetzt damit. Wir haben einen Toten. Zumindest einige Teile von ihm.« Franz wischte ärgerlich mit der Hand durch die Luft. Er hatte keine Lust, vor seinem Untergebenen als unentschlossener Depp dazustehen, wenn er zugab, dass er sich nur zu gerne wegen der Aussicht auf einen Sitzplatz in der U-Bahn nach vorne an die Bahnsteigkante drängelte, obwohl er dabei tatsächlich jedes Mal Angst davor hatte, auf die Gleise hinuntergeschubst zu werden. Sei es auch nur versehentlich.

»Servus, Heinz«, grüßte Bernd seinen Kollegen in der Ettstraße am Telefon. »Sag mal, der Zeuge in deiner SMS, ist der noch hier bei uns am Unfallort? Weißt du das?«

»Der ist heimgegangen. Aber er hat mir seine Adresse hinterlassen.«

»Perfekt, danke. Schick sie mir bitte aufs Handy, ich schau nachher noch bei ihm vorbei, okay?«

»Geht klar, Bernd.«

»Haben sich noch weitere Zeugen gemeldet?«

»Bei uns nicht.«

»Na gut. Servus.«

»Servus.«

Sie legten auf.

Franz und Bernd waren die paar Meter vom nahe gelegenen Revier in der Ettstraße zu Fuß hergeeilt. Obwohl Franz zehnmal lieber seinen wohlverdienten Feierabend angetreten hätte, als einen Toten in seinen Einzelteilen zu begutachten.

Sein alter Freund und Exkollege Max Raintaler wartete seit einer guten Viertelstunde in Monika Schindlers kleiner Kneipe auf ihn. Aber Job war nun mal Job. Mit Monika an seiner Seite, würde es Max schon nicht langweilig werden. Immerhin verband die beiden seit einer halben Ewigkeit so etwas Ähnliches wie eine Beziehung miteinander.

Dass er nicht unbedingt den angenehmsten Beruf gewählt hatte, war Franz gleich zu Anfang seiner Zeit bei der Münchner Kripo klar geworden. Sie sollten damals einen Mordfall in den höchsten Kreisen aufklären. Staatsanwaltschaft, Presse und sogar die Staatsregierung machten enormen Druck, sodass er und Max, der den Fall mit ihm gemeinsam bearbeitete, wochenlang nicht mehr als vier Stunden pro Nacht geschlafen hatten.

»Was haben wir?«, wandte er sich jetzt an den Chef der Spurensicherung.

»Nicht viel«, erwiderte Rudi Hauser. »Wir klauben immer noch die verschiedenen Körperteile des Opfers zusammen. Hat etwas von einem gruseligen Puzzle.«

»Lässt irgendetwas darauf schließen, dass er vor die U-Bahn geschubst wurde?« Franz machte ein neugieriges Gesicht.

»Bin ich Jesus?« Rudi warf entnervt die Arme in die Luft. »Frag den Fahrer. Der sitzt mit einem sauberen Schock im Leib da hinten.« Er zeigte auf die Sitzreihe nördlich von ihnen. »Ich bin froh, wenn ich seine Beine wiederfinde. Die wurden genau wie der Kopf und der rechte Arm glatt vom Rumpf abgetrennt. Kopf und Arm haben wir. Aber komischerweise sind die Beine verschwunden.«

»Alles klar, Rudi. Die Beine findet ihr sicher noch. Es wird sie ja wohl keiner mitgenommen haben. Bericht an mich morgen früh?«

»Den Bericht bekommst du, sobald er fertig ist, Franzi. Ob das morgen in der Früh ist, kann ich dir nicht sagen. Wir sind auch nur Menschen in unserer Abteilung. Für Wunder musst du dich an den da oben wenden!« Rudi zeigte mit dem Finger auf die Decke des U-Bahnhofs.

»An den Bürgermeister?« Franz grinste, obwohl die Gesamtsituation gerade alles andere als lustig war. Andererseits war es eine unbestreitbare Tatsache, dass sich das Rathaus direkt über ihnen befand. Eine solch einmalige Gelegenheit für einen passenden Spruch konnte er sich als leidenschaftlicher Witzeerzähler und privater Kneipenspaßvogel nicht entgehen lassen.

»Depp.« Rudi grinste nicht. Ihm war der Humor für heute offenbar vergangen. Verständlich. Er drehte sich brüsk zu seinen Leuten um, die sorgsam jeden Stein im Gleisbett untersuchten.

»Servus, Rudi. Nichts für ungut«, lenkte Franz ein. Er merkte, dass er zu weit gegangen war. Einem alten Profi wie Rudi musste er keinen Druck machen. Der wusste selbst gut genug, dass es bei einem Unfall aus ungeklärten Ursachen mit den Ermittlungsergebnissen eilte. »Wir machen erst mal mit dem Fahrer weiter.«

»Tut das, Franzi. Super Idee«, rief ihm Rudi über die Schulter hinweg zu.

Aus dem U-Bahnfahrer war nur sinnloses Gestammel herauszubringen. Der Notarzt, der bei ihm war, meinte, dass es vernünftiger wäre, ihn morgen zu befragen. Er müsse mit seinem Schock erst einmal ins Krankenhaus gebracht und dort eine Zeit lang beobachtet werden. Franz und Bernd ließen sich seinen Namen und das Krankenhaus, in das er gebracht werden sollte, nennen. Danach fuhren sie mit der Rolltreppe ins Obergeschoss des U-Bahnhofs hinauf. Mit etwas Glück warteten unter den Schaulustigen, die sich dort vor der Absperrung versammelt hatten, weitere Unfallzeugen auf sie.

Als sie oben ankamen, sahen sie, dass mehrere Beamte in Uniform bereits mit der Befragung der Leute begonnen hatten.

»Habt ihr etwas für uns, Erwin?«, erkundigte sich Franz bei Erwin Brunner, einem älteren knorrigen Streifenpolizisten aus der Ettstraße, den er seit vielen Jahren auch privat kannte.

»Leider bisher nichts Weltbewegendes, Franzi.« Erwin sah ihn bedauernd an. »Die Zeugen stehen teilweise immer noch unter Schock, und wie genau es zu dem Sturz des Verunglückten kam, kann uns niemand sagen. Aber wir bleiben am Ball. Falls es kein Unfall war und jemand hat das gesehen, kriegen wir es raus.«

»Oder auch nicht.«

»Oder auch nicht. So ist es. Wenn nichts Verwertbares auf den Überwachungsvideos zu erkennen ist oder ein unbekannter Zeuge sich entschlossen hat zu schweigen, bleibt er eben ein unbekannter Zeuge.«

»Logisch. Habt ihr die Videos schon überprüft?«

»Nur oberflächlich. Sie werden kopiert und gleich morgen früh zu euch ins Revier gebracht. Dann könnt ihr sie euch genauer ansehen.«

»Warum geht das nicht jetzt gleich?«

»Sie werden bereits irgendwo für euch kopiert. Aber wie gesagt, es ist wirklich nichts Brauchbares darauf zu sehen.«

»Sagst du

»Ja, sag ich.« Erwin nickte.

»Na gut. Hoffen wir, dass du recht hast.« Franz schüttelte unmerklich den Kopf. Wäre sein Gegenüber nicht so ein verdienter Kollege gewesen, hätte er ihm das mit den Bändern nicht so einfach durchgehen lassen. Der Streifenpolizist hätte zuerst Rücksprache mit ihm halten müssen, bevor er die Aufnahmen weggab. Immerhin oblag ihm als Hauptkommissar die Verantwortung für die Lösung des Falls und nicht Erwin und den anderen Uniformierten, die hier überall herumschwirrten.

»Hier gibt es im Moment anscheinend nichts mehr für uns zu tun«, wandte er sich an Bernd. »Lass uns morgen weitermachen, wenn wir die Videos haben, der U-Bahnfahrer wieder fit ist und die SpuSi mehr weiß.«

»Herr Kommissar! Hier! Bitte!« Ein älterer Herr, der nicht weit von ihnen an der Absperrung stand, winkte Franz mit seinem Spazierstock.

Franz ging auf ihn zu. »Was gibt’s, der Herr? Kennen wir uns?«

»Ich wohne im Nebenhaus.«

»In welchem Nebenhaus?« Franz runzelte verwirrt die Stirn.

»Bei Ihnen in Sendling. Vielmehr bei uns. Wir sind uns des Öfteren im Supermarkt begegnet.«

»Stimmt. Jetzt, wo Sie es sagen. Grüß Gott.« Franz gab ihm die Hand. »Haben Sie etwas gesehen? Unten in der U-Bahn, meine ich.«

»Nein.« Der alte Mann schüttelte freundlich lächelnd den Kopf. »Was ist denn dort unten passiert?«

»Ein Unfall. Mehr wissen wir noch nicht. Sie haben also nichts gesehen?«

»Nein. Ich schau bloß, was hier los ist. War gerade im Kaufhaus beim Abendessen. Schweinsbraten mit Knödeln. Sehr günstig und gut.« Seine Augen leuchteten begeistert.

»Das freut mich.« Franz verdrehte innerlich die Augen. Nichts wie weg hier, dachte er, bevor noch mehr weitläufige Bekannte von mir auftauchen, die zu viel Zeit und nichts zu sagen haben. »Dann bis demnächst im Supermarkt.«

»Jawohl, Herr Kommissar.« Der Alte lächelte zahnlos.

»Hauptkommissar.«

»Jawohl, entschuldigen Sie.« Der ältere Herr lüpfte seinen Hut, drehte sich um und verschwand humpelnd in der Menge.

»Mannomann. Manche Zeitgenossen haben echt Nerven.« Franz schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich brauch jetzt auf jeden Fall erst mal ein Bier bei Moni, Bernd. Unfall, Mord, Selbstmord. Manchmal kotzt mich das Ganze nur noch an. Wir schreiben bereits das dritte Jahrtausend und die Menschheit wird einfach nicht gescheiter.«

»Vielleicht im vierten Jahrtausend. Man soll die Hoffnung nie aufgeben, Franzi. Ein Bier bei Moni wäre tatsächlich nicht schlecht.« Bernd nickte. »Man bekommt es schließlich nicht jeden Tag mit zerstückelten Leichen zu tun. Ist Max auch dort?«

»Logisch.«

»Gut. Dann fahr du schon mal vor. Ich schau noch kurz bei dem Zeugen, der diesen Bockler erkannt haben will, vorbei und sorge dafür, dass die Angehörigen verständigt werden.«

»Alles klar.«

Natürlich kannte Bernd ihren gemeinsamen Exkollegen Max Raintaler und dessen hübsche dunkelhaarige Freundin Monika auch. Obwohl Franz, was die Intensität dieser Bekanntschaft betraf, ihm gegenüber seit jeher einen Vorsprung hatte. Immerhin hatten Max und Franz bereits zusammen den Kindergarten besucht.

Auch sonst waren die beiden schon immer enger miteinander befreundet gewesen als jeder von ihnen mit Bernd. Franz und seine Frau Sandra trafen sich regelmäßig privat mit Max und Monika. Sogar im Urlaub waren sie bereits einige Male gemeinsam gewesen.

3. Kapitel – Früher

»Maria ist fett, Maria ist hässlich!«

Eine kleine Gruppe hämisch lachender Mädchen aus der 4a der Garmisch-Partenkirchener Grundschule zeigte mit den Fingern auf ihre Klassenkameradin Maria Singer, die nur wenige Meter von ihnen entfernt alleine ihr Pausenbrot aß.

»Ihr seid so gemein.« Maria wurde rot vor Scham. Dicke Krokodilstränen liefen ihr über die Wangen. »Ich sage es der Frau Brandner, wenn ihr nicht aufhört.«

»Mach doch. Die nimmt dich eh nicht ernst, du lahme Kuh.« Die zehnjährige Helga Maier, ihres Zeichens selbst ernannte Anführerin der mobbenden Clique, streckte ihr blökend die Zunge heraus.

Maria hatte es gründlich satt. Immerzu hackten die hübschen Maier-Schwestern und ihre aufgetakelten Freundinnen auf ihr herum. Sie verspotteten sie wegen ihrer Figur, ihrer roten Haare, ihrer Sommersprossen oder ihrer Kleidung. Irgendetwas fanden sie immer. Dabei hatte sie ihnen noch nie etwas getan. Im Gegenteil. Sie hatte sich immer wieder bemüht, ihre Freundin zu werden und damit auch zu den »coolen Schwestern« zu gehören. Aber keine Chance. Sie ließen sie außen vor.

Würde dieser Albtraum jemals ein Ende haben? Etliche Male war sie bereits zu ihrer Klassenlehrerin gegangen und hatte sich über die Bosheiten der anderen beschwert. Doch Frau Brandner war leider die Tante von Helga und Sandra Maier. Sie sei wohl arg empfindlich, wurde Maria stets von ihr abgewimmelt. Es würde alles schon nicht so schlimm sein. Sie solle sich halt wehren, wenn die anderen freche Sachen zu ihr sagten. Außerdem sei verpetzen nicht die Lösung und nicht besonders kameradschaftlich.

Als sich Maria eines Tages wegen der leidigen Angelegenheit unter Tränen ihren Eltern anvertraute, meinte ihr Vater Erwin nur, sie solle sich nicht so anstellen und sich lieber wehren. Da hätte ihre Lehrerin ganz recht. Zum Beispiel könnte sie die anderen zurückbeleidigen oder ihnen eins auf die Nuss geben. Sich durchzusetzen, gehöre nun mal zum Leben dazu. Das könne man nicht früh genug lernen. Auch wenn es manchmal unangenehm wäre. Ihre Mutter Gerda schwieg.

Maria wurde irgendwann klar, dass sie wohl 1.000 Jahre darauf warten konnte, bis ihr von irgendeiner Seite her Gerechtigkeit widerfuhr. Also petzte sie nicht mehr, beschwerte sich auch daheim nicht mehr und hoffte, den Sticheleien der anderen zu entgehen, indem sie sich so gut wie möglich unsichtbar machte. Sie verschloss sich dabei noch mehr als bisher, nahm an keinen Geburtstagspartys mehr teil, hörte allein daheim Musik, bevorzugt Michael Jackson oder Milli Vanilli, und reduzierte ihre mündliche Mitarbeit im Unterricht auf ein Minimum. Obwohl sie immer die richtigen Antworten parat gehabt hätte.

Am wohlsten fühlte sie sich, wenn sie allein in der Nähe ihres Elternhauses im Wald spielte oder wenn ihre Mutter mit ihr zum Wandern ging. Beide liebten die Natur. Ihre Mutter erklärte ihr bei diesen Gelegenheiten immer die Namen der Blumen und der Bäume.

Ihr Vater interessierte sich ausschließlich für Autos und Fußball. Typisch Mann eben. So wusste sie, neben den richtigen Namen für Schlüsselblume, Birke, Narzisse, Alpenveilchen, Leberblümchen oder Buche, bereits als Fünfjährige, wann ein Spieler im Abseits stand. Sie solle sich das fürs Leben merken, dann könne nichts mehr schiefgehen, hatte er ihr eingebläut. Wenn man einem Mann als Frau überhaupt mit etwas imponieren könne, dann mit profunden Kenntnissen über die Abseitsregelung im Fußball. Er gab ihr Jahre später auch ihre erste Fahrstunde. Allerdings brüllte er sie dabei derart unbeherrscht an, dass sie künftig jeden weiteren Gedanken ans Autofahren oder an einen Führerschein aus ihrem Leben verbannte und diese erste Stunde hinter dem Steuer somit gleichzeitig ihre letzte war.

Im Sommer des endgültigen Abrisses der Mauer in Berlin, genauer gesagt am 14. Juli 1990, machte sie zu ihrem zwölften Geburtstag einen erneuten Versuch, endlich von Helga und Sandra Maier als Freundin akzeptiert zu werden, indem sie die beiden für den Nachmittag zu sich nach Hause einlud. Sie gingen nun alle drei ans Werdenfels-Gymnasium und Maria wurde inzwischen kaum noch von ihnen gemobbt. Was wohl auch an der Tatsache lag, dass sie ihnen bei den Schularbeiten half und sie regelmäßig bei Klassenarbeiten abschreiben ließ, sobald es die Sitzordnung erlaubte. Zur Clique gehörte sie aber dennoch nicht.

»Hallo, Helga. Hallo, Sandra. Super, dass ihr da seid. Setzt euch doch.« Maria zeigte auf den gedeckten Terrassentisch, an dem bereits ihre beiden besten Freundinnen, die superdünne Anna Berger und die mollige Beate Satzmeister Platz genommen hatten.

Es gab Kuchen, Tee, Kaffee, Kakao, alkoholfreien Punsch und sogar ein Gläschen Sekt für die angehenden Teenager. Munter plaudernd und kichernd machten sie sich darüber her.

Marias Übergewicht hatte sich im Laufe der Zeit Gott sei Dank verwachsen, wie ihr Vater zu sagen pflegte, sobald mit Bekannten oder mit der Verwandtschaft die Sprache darauf kam. Ihre früher dicken, stets geröteten Backen waren verschwunden. Sie schminkte sich, trug enge Jeans und kurze Röcke, die ihre knospende weibliche Figur perfekt zur Geltung brachten. Einzig ihre dicke Hornbrille, ihre Sommersprossen, die leicht schiefen Schneidezähne und ihre teils linkischen Bewegungen erinnerten noch an das schüchterne hässliche Entlein von vor zwei Jahren.

In ihrem Inneren hatte sich seitdem allerdings nicht viel verändert. Sie traute sich nach wie vor nichts zu, fand sich selbst unattraktiv, so wie sie es frühzeitig gelernt hatte, und hielt sich deshalb meistens im Hintergrund. Seit einiger Zeit verspürte sie jedoch deutlich die Sehnsucht, selbst ganz vorne im Rampenlicht zu stehen, jemand zu sein, etwas zu bedeuten. Es ging dabei nicht mehr nur allein um die Anerkennung durch ihre Schulfreundinnen. Eine völlig neue Dimension drängte sich immer mehr in ihr Dasein: Jungs, Burschen, Männer.

»Wusstet ihr, dass die Sissi Reidinger jetzt mit dem Jörg Huber aus der Neunten geht?« Helga machte ein wichtiges Gesicht, ganz so, als hätte sie geheime Insiderinformationen über die nächste Nobelpreisverleihung ausgeplaudert.

»Was, echt? Ist ja Wahnsinn.« Maria kicherte aufgekratzt.

Anna und Beate stimmten ein. Helgas Schwester Sandra nickte nur wissend.

»Wenn ich’s euch sage. Sie hat ihn gestern zum ersten Mal geküsst. Er wollte mehr, aber sie ließ ihn erst mal abblitzen. Sie sagte ihm, dass sie mit 14 noch zu jung für mehr sei.«

»Echt? Das hat sie so gesagt? Zu jung für mehr?« Maria hing, genau wie Anna und Beate, gebannt an Helgas Lippen. »Wieso denn das?«

»Genau. Wieso denn das?«, pflichtete ihr Beate bei.

»Na ja. Es kam dann aber doch noch anders …« Helga senkte die Stimme.

»Habt ihr noch genug Kakao, Kinder?« Die schmale unscheinbare Gerda Singer stand in der Terrassentür.

»Danke, Mama. Haben wir. Kannst ruhig wieder reingehen.« Maria war es peinlich, dass ihre Mutter ausgerechnet jetzt auftauchte. Musste sie einen immerzu wie ein Kleinkind behandeln und alles kontrollieren? Konnte man denn nicht mal am Geburtstag ein paar kleine Geheimnisse mit seinen Freundinnen haben? Immerhin würde sie in sechs Jahren volljährig sein.

»Na gut. Wie du meinst, Kind.« Gerda strich schnell eine Strähne ihres dünnen aschblonden Haares hinter das Ohr zurück. Sie zuckte die Achseln. »Aber wenn ihr etwas braucht, ruft ihr, ja?« Sie machte keinerlei Anstalten, wieder ins Haus zurückzukehren.

»Ja, Mama. Passt schon«, rief ihr Maria über die Schulter hinweg zu. »Du kannst wieder gehen!« Sie klang reichlich ungeduldig. Schließlich wollte sie endlich wissen, wie die Geschichte mit Sissi und Jörg weiterging.

»Na gut. Bis dann.« Gerda drehte sich um und ging hinein.

»Also, Helga?« Maria sah ihre Klassenkameradin erwartungsvoll an.

»Was, also?«

»Haben sie nun oder haben sie nicht? Du hast gesagt, es kam dann doch noch anders.«

»Ja, haben sie?«, wollte auch Anna wissen.

Die knisternde Spannung am Tisch war förmlich zu spüren.

»Ihr meint, ob sie …?«

»Ja, meinen wir. Jörg Huber ist der süßeste Junge der ganzen Schule. Das wäre eine glatte Sünde, den nicht abzuschmusen. Ich würde ihn sofort abschmusen.« Beate fuhr sich wie ein begehrter Filmstar durch die Haare.

»Bist du dazu nicht etwas zu jung?« Maria sah sie leicht verwundert an. »Sissi ist immerhin 14, du bist gerade mal zwölf wie ich.«

»Na ja. Stimmt schon«, lenkte Beate ein. »Aber irre süß ist er trotzdem, der Jörg.«

»Beate ist verliebt! Beate ist verliebt!« Sandra und Anna kicherten mit vorgehaltener Hand.

»Na und?« Beate errötete. »Euch gefällt er doch auch.« Sie nahm sich ihr drittes Stück Schokoladentorte. Natürlich mit einem extra großen Klecks Sahne darauf, wie man es von ihr nicht anders kannte.

»Sie haben nicht«, löste Helga die momentane Frage aller Fragen auf. »Aber sie haben kräftig rumgeschmust.«

»Echt? Wahnsinn!« Beate verschluckte sich. Sie hustete wild.

»Ich würde gern mal mit Michael Jackson rumschmusen«, meinte Maria, sobald sich ihre Freundin wieder beruhigt hatte.

»Stimmt. Der ist auch nicht schlecht.« Sandra stand auf und ahmte Michaels Hüftschwung nach.

Alle kicherten fröhlich.

»Wollt ihr wissen, wen ich am allersüßesten finde?« Anna blickte gespannt in die Runde.

»Na klar«, erwiderte Helga. »Sag schon.«

»Tom Cruise.«

»Aber der ist doch total klein.« Beate hob verdutzt die Brauen.

»Aber total süß ist er auch.« Die dünne Anna nahm sich ebenfalls noch ein Stück Torte. Ohne Sahne, damit sie nicht eines Tages denselben Speck auf die Hüften bekam wie Beate.

»Wie findet ihr Julia Roberts?« Maria blickte fragend in die Runde.

»Langweilig«, erwiderte Helga wie aus der Pistole geschossen.

»Geht so«, meinte Sandra.

»Ich finde sie cool«, sagte Beate. »Habe mir »Pretty Woman« mit meiner Mama angeschaut. Sie ist echt total hübsch.«

»Deine Mama?« Sandra lachte laut, dass die Kuchenstücke aus ihrem Mund nur so über den Tisch flogen. Jede von ihnen wusste, dass Beates übergewichtige Mama alles andere als hübsch war.

»Nein, Julia Roberts natürlich, du Blödie.« Beate stieß ihr den Ellenbogen in die Seite.

»Weiß nicht.« Helga kräuselte abschätzig die Lippen. »Ich finde, sie hat einen Mund wie ein Quakfrosch.«

»Kackfrosch?« Sandra schnitt eine alberne Grimasse.

»Quakfrosch«, wiederholte Helga.

»Ach so.«

Lautes Gackern und Kichern am Tisch.

»Da schau her. Die jungen Damen scheinen sich ja bestens zu amüsieren. Grüß euch Gott miteinander.« Der vollbärtige Erwin Singer betrat die Terrasse.

Er schüttelte Marias Freundinnen die Hand. Seiner Tochter überreichte er ein kleines Paket.

»Ein Buch?« Sie lächelte ihn dankbar an. Offenbar hatte er endlich spitzgekriegt, wie gerne sie las. Oder ihre Mutter hatte es ihm verraten. Egal. Wie auch immer. Hauptsache, etwas Spannendes zu lesen.

»Mach’s auf.«

»Okay.« Sie riss neugierig die Verpackung auf. Dann erkannte sie den Titel. »Dein altes Buch mit den Fußballregeln?« Sie wäre vor Enttäuschung und Scham am liebsten im Boden versunken.

Ihr Vater war wirklich mehr als peinlich. Noch viel peinlicher als ihre Mutter. Sein gebrauchtes Buch mit den Fußballregeln, das bisher immer im Wohnzimmerregal gestanden hatte. Nicht zu fassen. Was sollte das denn für ein Geschenk sein? Zu allem Überfluss gab er ihr das blöde Ding auch noch vor den anderen. Wie oberpeinlich. Sie konnte den künftigen Spott ihrer Mitschülerinnen bereits deutlich hören. »Heute schon trainiert, Fußballstar?« oder »Wie fühlt man sich eigentlich als Papas Junge?« oder »Sind wirklich alle Fußballerinnen doof?« Und so weiter. So ein verflixter Mist.

Immerzu drängte er ihr seinen Schmarrn auf und erwartete auch noch ewige Dankbarkeit dafür. Letzte Weihnachten war es ein billiges Duschgel aus dem Supermarkt gewesen. Konnte er sich nicht ein einziges Mal überlegen, was sie wirklich gerne gehabt hätte? Gott sei Dank bekam sie wenigstens von ihrer Mutter immer etwas Richtiges. Über die neue weiße Bluse und die mit Glitzersteinen besetzte vergoldete Armbanduhr von ihr hatte sie sich heute Morgen riesig gefreut.

»Ich dachte, es könne nichts schaden, wenn du sämtliche Fußballregeln in einem praktischen Band gesammelt hast. Es sind auch Interviews vom Beckenbauer drinnen und vom Sepp Maier.« Erwin grinste begeistert.

»Das musst du mir nicht sagen, Papa. Du hast mir zehntausendmal daraus vorgelesen.« Maria war fassungslos.

»Habt ihr ein Stück Kuchen für mich übrig?« Erwin ließ sich die Freude an seinem Geschenk nicht verderben. Die deutlich sichtbare Enttäuschung im Gesicht seiner Tochter ignorierte er.

»Mama hat dir drinnen welchen aufgehoben. Wir wollen unter uns sein.« Maria errötete. Sie hatte seit jeher Angst davor, ihm zu widersprechen. Er konnte richtig gemein werden, wenn sie es tat, schreckte auch nicht davor zurück, sie zu ohrfeigen. Mit diesem wieder mal beispiellos unsensiblen Geschenk gerade hatte er sie allerdings regelrecht gezwungen, ihren ganzen Mumm zusammenzunehmen und ihm vor allen anderen einen Platzverweis zu erteilen.

4. Kapitel

»Stürzt der sich einfach vor die U-Bahn.« Der blonde Thalkirchener Privatdetektiv Max Raintaler rieb sich nachdenklich das Kinn. Natürlich hatte er als ehemaliger Hauptkommissar bereits mehrere Fälle dieser Art erlebt. Wirklich verstehen konnte er eine solch brutale und endgültige Entscheidung aber nach wie vor nicht. Dazu lebte er selbst einfach zu gerne. Nachdenklich strich er sich über seinen Dreitagebart.

»Echt der Wahnsinn«, meinte Franz.

Er saß seit einer halben Stunde mit Max in Monikas kleiner Kneipe am Tresen und hatte seinem alten Freund und Exkollegen gerade von dem blutigen Unglück unter dem Marienplatz und von ihrem Verdacht auf Selbstmord berichtet.

»Wahrscheinlich totale Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.« Max starrte auf das Regal mit den Schnapsflaschen an der Wand.

»Kann gut sein.« Franz nickte langsam.

»Kann ich gut nachvollziehen.«

»Wie meinst du das?«

»Manchmal ist das Leben einfach beschissen. Dann will man am liebsten Schluss machen.«

»Jetzt hör aber auf. Was weißt du denn von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit? Dir geht es doch bestens.« Franz schüttelte verständnislos den Kopf.

»Woher willst du das so genau wissen? Kannst du etwa in mich reinschauen?« Max bedachte ihn mit einem ernsten Blick.

»Muss ich gar nicht. Du erhältst eine anständige Pension vom Staat, hast einen neuen Job als Privatdetektiv und eine wunderschöne, einfühlsame und intelligente Freundin mit einer Kneipe in der Nähe vom Münchner Tierpark und den Isarauen. Was willst du denn noch?«

»Hast ja recht. Mir geht’s auch gut«, lenkte Max ein. »Aber es war nicht immer so. Außerdem gibt es genug Leute, bei denen es anders ausschaut.«

»So? Wen denn zum Beispiel?«

»Dich. So oft, wie du schon abnehmen wolltest, könnte man ganz leicht auf totale Hoffnungslosigkeit schließen.« Max lachte, obwohl die Motive eines Menschen für einen Selbstmord, genau betrachtet, normalerweise keinen Anlass für gesteigerte Fröhlichkeit hergeben sollten.

Franz stimmte ein. Na gut. Vielleicht musste man den Schrecken, der sich in einem selbst breitmachte, gelegentlich einfach mit lautem Gelächter vertreiben. Schlimm genug, dass manche Dinge so waren, wie sie waren.

»Eins zu null für dich, Raintaler. Aber mal im Ernst«, sagte er, nachdem sie sich wieder beruhigt hatten. »Wer von unseren Bekannten ist so verzweifelt, dass er sich umbringen würde?«

»Keine Ahnung. Ich kann jedenfalls nicht in die Leute reinschauen.«

»Na eben. Sag ich doch.« Franz setzte ein triumphierendes Gesicht auf.

»Aber nimm bloß mal unseren früheren Chef, den Hofmüller. Dem ging es richtig beschissen nach seiner Pensionierung. Der musste wegen seiner Depressionen sogar ein Jahr lang in Behandlung.«

»Brachte er sich deswegen etwa um?«

»Nein. Aber vielleicht hatte er es vor und nur die psychologische Behandlung hielt ihn davon ab.« Max trank einen Schluck Bier.

»Mag sein. Obwohl ich kein Freund dieser Psychoklempner bin. Auch alles bloß Schwätzer.« Franz trank ebenfalls einen Schluck Bier, bevor er weitersprach. »Jedenfalls bringt man sich nicht so schnell um. Nur wenn man wirklich keinen anderen Ausweg mehr sieht. Ende Gelände.«

»Logisch.« Max nickte. »Ich meinte ja bloß, dass ich das gut nachvollziehen kann.«

»Kannst du eben nicht, sonst gäbe es dich längst nicht mehr.«

»So gesehen hast du natürlich recht, Klugscheißer.«

»Sag ich doch.« frohlockte Franz.

»Trotzdem schlimm, wenn sich jemand wie dieser Schuldirektor umbringt. Gerade lachst du noch über einen blöden Witz. Im nächsten Moment stehst du vor der Himmelspforte und begehrst Einlass.«

»Ich geh lieber in die Hölle, wenn’s so weit ist. Da ist mehr Gaudi angesagt«, lachte Franz trocken.

»Stimmt auch wieder.« Max nickte.

»Andererseits wissen wir noch nicht einmal genau, ob es wirklich ein Selbstmord war in der U-Bahn unten. Dieser Schuldirektor Bockler könnte genauso gut auch geschubst worden sein.«

»Weist denn irgendetwas konkret darauf hin?«

Franz winkte ab. »Wir haben bisher weder Zeugen einer eventuellen Gewalttat noch entsprechende Bilder der Überwachungskameras, die darüber Aufschluss geben könnten. Gleich morgen früh werden wir uns die Aufnahmen aber noch mal gründlich vornehmen.«

»Tut das, Herr Professor.« Eloquent wie selten, der Wurmdobler. Sogar in Schriftdeutsch. Respekt. Vielleicht wurde es doch noch etwas mit seiner Berufung zum Polizeipräsidenten. Max klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. »Obwohl so ein Burn-out wirklich immer häufiger vorkommt«, fuhr er fort. »Gerade bei Lehrern. Die haben einen verdammt stressigen Job. Ähnlich wie wir.«

Sie stießen an und tranken erneut. Angst vor dem Tod und Frust über das Leben. Beides war nicht gut und musste raus aus den Köpfen, bevor es sich dort einnisten konnte. Wenn der Alkohol dabei half, umso besser.

»Es ist aber nicht nur der Stress, der unser Leben immer schwieriger macht«, setzte Max anschließend das Gespräch fort. »Ich sage bloß Rücksichtslosigkeit, Respektlosigkeit, Egoismus, Arroganz. Die ganze Welt ändert sich zum Negativen hin.«

»Du hörst dich an wie mein Opa, als ich klein war.« Franz grinste in sich hinein.

»Wenn’s wahr ist, Franzi. Die Tugenden sterben offenbar langsam aus. Was übrig bleibt, sind gewissenlose Ganoven und ein Heer von unersättlichen Egomanen.«

»Deppen hat’s schon immer gegeben«, widersprach Franz.

»Stimmt auch wieder. Aber nicht so viele.«

Bernd kam zur Tür herein.

»Na Jungs, darf’s noch eine Halbe für jeden sein?« Monika war nahezu gleichzeitig mit ihm bei ihnen aufgetaucht. Sie blickte fragend von einem zum anderen.

»Gern, Moni«, erwiderte Max.

»Unbedingt«, meinte Bernd. »Ich hatte noch keine.«

»Logisch.« Franz nickte.

»Kommt sofort.« Sie schnappte sich lächelnd die leeren Gläser von Franz und Max und eilte damit zur Schankanlage.

»Servus, Bernd. Wie geht’s?« Max lächelte seinen Exkollegen freundlich an.

»Könnte besser sein. Es gibt Tage, die vergisst man besser.«

»Du meinst die Leiche in der U-Bahn?«

»Ja. Ich gewöhn mich einfach nicht daran. Egal, wie oft ich es mit so einer Scheiße zu tun habe.« Bernd hörte sich alles andere als fröhlich an.

»Stimmt.« Max und Franz nickten gleichzeitig.

»Wie war’s bei deinem Zeugen?«, wollte Franz wissen.

»Er stand ungefähr fünf Meter vom Unfallopfer entfernt. Ein alter Bekannter von diesem Gerhard Bockler. Er hat ihn erkannt, aber was passiert ist, hat er nicht gesehen.«

»Fiel ihm auch niemand in Bocklers Nähe besonders auf?« Franz setzte sich ruckartig aufrecht hin.

Bernd schüttelte nur den Kopf.

»Schöne Scheiße«, meinte Franz genervt.

»Kann man wohl nichts machen.« Max zuckte die Achseln.

»Schaut so aus.«

Monika kam mit dem Bier. »So, die Herren, drei Helle. Bitte sehr.« Sie stellte die Gläser vor Max auf den Tresen und schenkte ihnen ein ganz privates Lächeln. Kein rein professionelles wie den anderen Gästen. Logisch. Schließlich waren sie alle seit Jahren miteinander befreundet. Mehr oder weniger. »Was ist eigentlich mit euch los? Ihr macht Gesichter wie sieben Tage Regenwetter.«

»Danke fürs Bier, Moni.« Max schob den anderen ihre Getränke vor die Nase. »Eine Unfallleiche in der U-Bahn«, fuhr er währenddessen an seine Freundin gewandt fort. »Franz und Bernd müssen die Sache untersuchen.«

»Da beneide ich euch nicht.« Sie blickte die beiden Kripobeamten nachdenklich an.

»Wir uns auch nicht. Aber hilft ja nichts.« Franz nahm sein neues Bier zur Hand. »Was soll’s. Schwemmen wir es runter.«

»Jawohl«, bestätigten Max und Bernd gleichzeitig.

»Lasst es euch schmecken, Männer.« Monika eilte zurück an die Arbeit. Das Lokal war bis unters Dach voll. Das hieß für sie, ausschenken am laufenden Band.

Max beobachtete die Situation am Zapfhahn seit geraumer Zeit aus den Augenwinkeln. Wenn es ihr zu viel werden sollte, würde er sofort einspringen und ihr helfen.

»Wo waren wir vorhin eigentlich stehen geblieben?« Franz entspannte sich wieder etwas. Er sah ihn fragend an.

»Wann?« Max sah ihn neugierig an.

»Bevor Bernd reinkam.«

»Moment … ah, ich hab’s. Bei den Deppen.«

»Stimmt. Ich habe gesagt, dass es schon immer Deppen gegeben hat.«

»Aber ich sage, es werden immer mehr Deppen«, griff Max seinerseits den Faden wieder auf. »Die Amis zum Beispiel spinnen langsam komplett. Bei denen laufen irgendwelche Verrückten durch die Straße und schlagen grundlos Leute nieder. Sie nennen es ›Knock-out Game‹.«

»Geh weiter, erzähl doch keinen Schmarrn«, protestierte Franz. »So was gibt es doch gar nicht. Lasst uns erst mal was trinken.«

Sie stießen an.

»Wenn ich es euch sage«, fuhr Max fort, nachdem sie ihre Gläser wieder auf dem Tresen abgestellt hatten. »Es sind sogar schon einige dabei gestorben. Das hat es früher auf jeden Fall noch nicht gegeben.« Er hob oberlehrerhaft den Zeigefinger, um die Glaubwürdigkeit seiner Aussage zu untermauern.

»Nicht zu fassen!« Franz sah ihn erstaunt an. »Was kommt wohl als Nächstes? Wirst du erschossen, weil jemandem deine Nase nicht passt?«

»Warum nicht«, fiel ihm Bernd ins Wort. »Max hat übrigens ganz recht. Ich habe ebenfalls von diesem Knock-out Game gehört. Ich wüsste allerdings auch schon ein paar lohnende Zielpersonen hier bei uns. Zuvorderst den Hierlmeier. Unser überheblicher Herr Staatsanwalt braucht definitiv ausgiebig eine aufs Maul.«