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Werner Färber

Alsterwasser

Genusskrimi

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Baumkiller (2015), Wer mordet schon in Ulm, um Ulm und um Ulm herum (2015), Das Krokodil im Silbersee (2014, E-Book Only), Der Mops im Container (2014, E-Book Only)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © akuepper / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4948-2

1. KAPITEL

»Sauerkraut-Lasagne?« Phil dreht sich zu Lea hin, drückt das Kopfkissen zurecht, um seinen Nacken zu entlasten, und betrachtet sie von der Seite, als hätte sie den Verstand verloren. Oder ihm ein zweifelhaftes oder gar widerwärtiges Angebot unterbreitet.

»Du magst also kein Sauerkraut?« Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, den Blick Richtung Zimmerdecke gerichtet, betrachtet Lea die tanzenden Spektralfarben, die von den morgendlichen Sonnenstrahlen durch die im Fenster hängenden Glaskristalle projiziert werden. Sie muss nicht zu ihm hinübersehen, um zu wissen, dass Phil ihren nackten Körper mustert. Auch ist es ihr keineswegs unangenehm. Obwohl ihre Beziehung noch kurz ist, fühlt sie sich behaglich vertraut mit ihm. »Oder ist es etwa die Pasta, die dich stört?« Lea selbst hat diese deutsch-italienische Pasta-Variante auf Anhieb geschmeckt. Inzwischen hat sie das Gericht individualisiert und ihre spezielle Version der Sauerkraut-Lasagne bereits mehrfach zubereitet und mit jedem Mal ist sie ihr besser gelungen. Also plant sie sie für heute Abend als Hauptgang ein.

»Nein. Wenn du so fragst, mag ich beides. Ein schönes Sauerkraut finde ich durchaus lecker und für Pasta bin ich auch immer zu haben. – Aber in Kombination? Das ist ja wie …«

»Pass jetzt bloß auf, was du sagst«, warnt ihn Lea, während er nach einem geeigneten Vergleich sucht.

»Matjes auf Himbeermarmelade?«

Sie dreht sich zu ihm hin, legt den Arm um ihn und schaut ihm herausfordernd in die Augen. »Was hast du gegen Matjes mit Himbeermarmelade?«

»Du schielst.«

»Du auch. Lenk nicht ab.«

»Weißwurst mit Milchreis?«

»Mhm. Exotisch – aber denkbar.«

»Sushi mit Kartoffelpüree?«

Mit gespieltem Entsetzen rückt sie von ihm ab. »Das ist ja wohl ein absolutes No-go.«

»No-go! Eben. Genau das meine ich.«

»Du willst also allen Ernstes diese abartige Kombination aus japanischer Exotik und solider deutscher Hausmannskost mit meiner Sauerkraut-Lasagne vergleichen?«

Allmählich scheint er zu begreifen, dass es sich bei ihrer Ankündigung, heute Abend tatsächlich mit dieser für ihn undenkbaren Pasta-Version aufzuwarten, nicht um einen Scherz gehandelt hat. »Wozu haben wir uns dann gestern in Büsum mit Krabben und Matjes eingedeckt?«

»Für jetzt, zum Frühstück.«

»Was?«

»Wieso nicht?«

»Fisch? Zum Frühstück?«

»Was spricht dagegen? Gestern im Fischgeschäft sagtest du noch, dir liefe bereits beim Anblick das Wasser im Mund zusammen.«

»Lea, bitte, das war nachmittags. Ich liebe Fisch, ich liebe Meeresfrüchte. Aber alles zu seiner Zeit. Mittags, abends, wunderbar. Oder als Snack zwischendurch beim Hafenspaziergang – ein leckeres Matjesbrötchen auf die Hand – großartig! Aber doch nicht früh morgens! Da brauche ich Marmelade, Honig, Müsli …«

»Sag jetzt nicht Rübenkraut.«

»… Rübenkraut.«

Leas Gesichtszüge entgleisen. Sie ist erst seit wenigen Wochen mit Phil zusammen. Da sie in Hamburg und er in Berlin lebt und sie bisher lediglich vier Nächte bei ihm verbrachte, ist die Beziehung viel zu frisch, um gegenseitig alle Essgewohnheiten zu kennen. Das augenblickliche Hamburg-Wochenende hat sich kurzfristig ergeben. Phil hatte in den vergangenen Tagen beruflich in Kiel zu tun. Bei einem ihrer abendlichen Skype-Dates sind sie darauf gekommen, dass sein Aufenthalt dort in nahezu wunderbarer Weise zu Leas Plänen passt. Ihre Umweltgruppe plante anlässlich des Tages der Bundeswehr eine medienwirksame Aktion im Flensburger Hafen. Also verabredeten sie, dass Phil sie dort treffen und abholen könnte, um anschließend das restliche Wochenende in Hamburg zu verbringen. Es ist das erste Mal, dass Phil bei ihr übernachtet.

Kennengelernt haben sie sich, als Phil und sein Berliner Freund Chris für einen Wochenendtrip in der Hansestadt waren. Zunächst outeten sich die beiden zu Leas großem Bedauern ohne Umschweife als schwules Paar. Während sie Chris, den sie während ihrer Berlinbesuche auch wiedergetroffen hat, durchaus sympathisch und nett fand, konnte sie sich bei Phil gleich am ersten Abend etwas mehr vorstellen. Kaum war er mit seinem vermeintlichen Lover wieder zurück in Berlin, meldete sich Phil bei Lea, um ihr zu gestehen, dass er und sein Freund das schwule Pärchen just for fun gegeben haben und dass er in Wirklichkeit hetero sei und sich während des Hamburgwochenendes Hals über Kopf in sie verliebt habe. Da Lea ihre Gefühle bis zu Phils Anruf aufgrund der vermeintlichen Homosexualität bewusst im Zaum hielt, fiel ihr die Antwort am Ende des Telefonats, ob sie eventuell Lust habe, ihn in Berlin zu besuchen, nicht schwer. Der Umstand, dass ein paar Kilometer Distanz zwischen ihr und ihrem neuen Lover liegen, ist ihr im Übrigen zumindest für den Augenblick ganz recht. Sie kann nichts Negatives daran finden, es langsam angehen zu lassen.

Lea sind ihre letzten Berlintrips zu Phil noch gut in Erinnerung. Aus naheliegenden Gründen standen sie immer sehr spät auf und kehrten gerade noch rechtzeitig in Phils Stammbistro ein, um das Brunch-Buffet zu plündern.

Zu dieser Tageszeit hat sich Phil durchaus herzhafte Nahrung auf den Teller geladen. Zu normalen Frühstückszeiten scheint er jedoch ausschließlich Süßes zu sich zu nehmen.

»Rübenkraut hab ich nicht.«

Er lässt den Kopf frustriert aufs Kissen sinken. »Okay, dann muss ich jetzt nach Hause.«

»Alternativ könntest du dich anziehen, runter zum Bäcker gehen und frische Brötchen besorgen. Mit ein wenig Glück steht bei denen auch noch so ein Becher Wagenschmiere rum.«

»Was für Schmiere?«

»Ist dir das noch nicht aufgefallen? Rübenkraut sieht aus wie Wagenschmiere und wurde meines Wissens früher auch als solche verwendet, ehe jemand auf die äußerst abwegige Idee kam, sich das Zeug aufs Brot zu schmieren. Du kaufst ein, ich mache Kaffee.« Sie schnuppert in Richtung ihrer Achselhöhlen. »Und vielleicht sollte ich vorher noch duschen. Ich stink ja wie ein Iltis.«

»Wenn ich das gesagt hätte«, grummelt Phil, während er sich von Leas komfortabler Matratze erhebt, die aufgrund des eingeschränkten Raumangebots ihres Schlafzimmers ohne Bettgestell auf dem Boden liegt.

»Dann hättest du dein Frühstück im nächstbesten Café einnehmen und tatsächlich umgehend nach Berlin zurückfahren können.«

Vom Flur aus reckt er seinen Kopf noch einmal um den Türpfosten. »Deshalb käme so eine Äußerung auch niemals über meine Lippen. Im Übrigen riechst du immer gut.« Mit einem gehauchten Kuss verschwindet er um die Ecke. »Selbst als Iltis!«

Lea lässt sich aufs Kissen sinken, schließt lächelnd die Augen, um sich dem morgendlichen Gedankenfluss hinzugeben. Im Augenblick hat sie keine Probleme mit ihrer bisweilen überbordenden negativen Hirnbefeuerung. Bei den zahlreichen positiven Momenten, die zurzeit in luxuriöser Weise über sie hinwegspülen, scheinen die Glücksbotenstoffe eindeutig zu dominieren. Sie will die nun schon länger anhaltende fantastische Strähne in vollen Zügen genießen und sich einfach daran erfreuen. Erst die Geschichte mit Phil, dann der Auftrag, den sie vor knapp zwei Wochen mit dem Gourmet Verlag vereinbart hat und den sie heute Abend im Kreis einiger Freunden mit einem Menu zelebrieren mag. Natürlich kommt damit ein Berg Arbeit auf sie zu, der ihre Kapazitäten nahezu vollständig in Anspruch nehmen wird. Allerdings wird sie durch die Gestaltung des Internet-Auftritts unter dem Arbeitstitel ›Was cookst du?‹ ihre freiberufliche Existenz gleich für mehrere Monate sichern können. Und das in der für sie höchst attraktiven Gastronomie-Branche. Im Gegensatz zu den zuletzt fließbandartig von ihr produzierten Werbebannern für Haustier-Bedarf geht es beim neuen Auftrag um Food-Design, um ausgefallene Rezepte und fantasievolle Küche. Sofern sie mit ihrer Einschätzung nicht komplett daneben liegt, wird sie im Rahmen ihrer Tätigkeit sogar regelmäßig Gelegenheit erhalten, den Hamburger Spitzenköchen unterschiedlichster kulinarischer Orientierung in die Töpfe zu blicken. So leidenschaftlich gern wie sie selbst kocht, isst und genießt, hätte ihr kaum eine attraktivere Arbeit begegnen können.

Und dann ist da ja auch noch Lennart Fahnenberg. Auch er hat Anteil an der Welle des Glücks, auf der Lea im Augenblick surft. Der Kriminaloberkommissar, der im Laufe des Sommers mit ihrer Unterstützung einen Todesfall in ihrem Freundeskreis aufgeklärt hat, scheint ebenfalls großes persönliches Interesse an ihr zu haben. Zumindest glaubt Lea dies von seinem nur wenige Tage zurückliegenden Besuch ableiten zu können. Immerhin brachte er ihr am vergangenen Donnerstag die zwei versprochenen Felgen für ihr Fahrrad, das im Sommer von einem leicht unterbelichteten Ganoven-Duo mutwillig zusammengetreten worden war. Mit den Felgen quer auf seinem Gepäckträger kam Lennart nachmittags im strömenden Regen mit dem Rad zu ihr. Da sie gerade nichts vorhatte, was sie nicht hätte aufschieben können, und Lennart nicht unbedingt gleich wieder im Regen zurückfahren wollte, nahmen sie sich ihr demoliertes Vehikel gemeinsam vor. Knappe zwei Stunden später war ihr Fahrrad wieder einsatzbereit. In Anbetracht des nicht nachlassenden Regens zog es Lea jedoch vor, die Probefahrt auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Lennart stellte sein City-Bike bei ihr im Keller unter, lieh sich einen Schirm und machte sich zu Fuß auf den Weg zur U-Bahn. Sein Fahrrad wollte er bei Gelegenheit wieder abholen. So wie sie ihn kannte, konnte das durchaus dauern. Auch mit den versprochenen Felgen, die laut eigener Auskunft seit Jahren bei ihm im Keller lagen, ließ er sich, nach seinem Versprechen sie bei Gelegenheit vorbeizubringen, knappe zwei Monate Zeit. Dass er sich überhaupt erinnert und Wort gehalten hat, interpretiert Lea jedoch als Beweis für seine unausgesprochene Zuneigung. Immerhin hatte er schon mehrmals angekündigt vorbeizukommen, um dann jeweils kurzfristig aus beruflichen Gründen wieder abzusagen. Natürlich kann sie sich nicht ganz sicher sein. Ihr die Felgen nun tatsächlich gebracht und eingebaut zu haben, kann auch ein argloser Gefallen gewesen sein. Egal welche Motive ihn getrieben haben, Lea ist froh, nicht mehr auf Öffis angewiesen und wieder mit einem funktionsfähigen Fahrrad ausgestattet zu sein.

Noch immer im Bett stellt Lea fest, welch bemerkenswerte und überraschende Fügungen ihr Leben in den letzten Wochen genommen hat. Vor nicht allzu langer Zeit sehnte sie sich nach jemandem, mit dem sie kuscheln kann. Aber es herrschte tote Hose. Und kaum taucht jemand auf, mit dem sie gerne zusammen ist, stehen weitere potenzielle Lover Schlange. Sie scheint nämlich, sofern sie dies möchte, sogar zwischen dreien auswählen zu können. Denn auch bei Rüdiger aus ihrer Umweltgruppe hat sie sicherlich Chancen. Auch seine Bemühungen sind nicht mehr zu übersehen und sein gestriger Einsatz, den man als heldenhaft bezeichnen kann, ist durchaus dahingehend interpretierbar, dass er bereit ist, für sie einiges zu riskieren.

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Rüdiger Lea im Rahmen einer Aktion ihrer Umweltgruppe auf dem Segelschulschiff Gorch Fock in Flensburg, zumindest vor der Feststellung ihrer Personalien durch die Polizei bewahrt oder sie sogar vor einer vorläufigen Festnahme gerettet hat. Im Rahmen ihrer zwar legitimen, jedoch nicht immer ganz legalen Aktivitäten müssen natürlich immer alle Gruppenmitglieder darauf gefasst sein, von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden. Vermeiden möchte man einen derart engen Kontakt mit der Staatsgewalt selbstverständlich trotzdem.

So waren sie auch am letzten Wochenende nicht nach Flensburg gefahren, um sich festnehmen zu lassen, sondern um mit der Umweltgruppe ein Zeichen gegen den bundesweit zelebrierten Tag der Bundeswehr zu setzen, indem sie eine spektakuläre und medienwirksame Aktion durchführten. Wie zuvor besprochen, zog der Großteil ihrer Leute die Aufmerksamkeit der Polizeikräfte, Hafenbesucher und Marinesoldaten mit einer lauten Musikeinlage auf sich, damit Lea und Rüdiger ungestört auf die Gorch Fock spazieren konnten. Im Moment des größten Lärms und Ablenkungsspektakels kletterten sie unbemerkt in die Takelage des Segelschulschiffs. Ehe auch nur einer an Bord mitbekam, dass die beiden eine Anti-Kriegs- und Anti-Militär-Aktion im Schilde führten, befanden sie sich in luftiger Höhe von etwa 20 Metern über den Decksplanken. Sie hissten eine Jolly-Roger-Flagge, auf der sich anstelle zweier Knochen zwei zerbrochene Gewehre unter dem Totenschädel kreuzten, und spannten ein Transparent. Als schließlich die ersten aufmerksam wurden und zunehmend mehr Besucher vom Kai aus in Richtung Schiff zeigten, waren Lea und ihr Partner bereits wieder im Abstieg begriffen. Zu ihrem Vorteil schien ein Großteil der Menge zunächst zu glauben, es handle sich um eine zum Programm gehörige Einlage. Dieser Umstand war vermutlich Rüdigers spontaner Minimalkostümierung geschuldet. Er hatte unmittelbar vor der Kletterpartie ein Piratentuch um den Kopf gebunden und fügte sich allein wegen seiner beinahe schulterlangen Haare und wegen des rotblonden Vollbarts stilecht in die Kulisse eines Segelschulschiffs ein. Trotzdem hieß es nun schnell zu handeln. Richteten sich inzwischen doch so gut wie alle Blicke auf sie und auch die Schiffsbesatzung wurde der Situation gewahr. Befehle wurden übers Deck gebellt. Ob niedrig- oder höherrangig, ob Matrose, Kadett oder Offizier, alle Crewmitglieder versuchten, die beiden Störenfriede zu fassen. Zurück auf den Decksplanken sah sich Lea mehreren Uniformierten gegenüber. Blitzschnelle Entscheidungen waren gefragt. Die eine Option war, nach Achtern zu fliehen und sich mit einem kühnen Sprung über die Reling ins Hafenbecken zu stürzen. Die andere, sich widerstandslos der personellen Übermacht zu ergeben. Im selben Augenblick ertönte hoch über Lea ein kräftiges »Ahoi!«. Wie von einem einzelnen Schnürchen gezogen, schauten Leas Widersacher hinauf zu Rüdiger, der mit diesem simplen Ablenkungsmanöver in der Takelage des Vortopps alle Aufmerksamkeit auf sich zog. In schwindelerregender Höhe wechselte er von der Backbord- auf die Steuerbordseite, um dort mit eleganter Gewandtheit wieder nach unten zu klettern. Lea nutzte den kurzen Moment der Unachtsamkeit, um der Besatzung zu entwischen, und gelangte über die Gangway unbehelligt zum Kai, wo sie von ihren Mitstreitern in Empfang genommen und schützend umringt wurde.

Um sich der noch immer drohenden vorübergehenden Festnahme zu entziehen, entfernte sich die gesamte Gruppe vom Ort des Geschehens. In sicherer Distanz schlüpfte sie in die eigens dafür mitgebrachten Kleidungsstücke, um eine Identifizierung durch die Polizei oder durch Marineleute zu erschweren. Obwohl sie ihr Erscheinungsbild dadurch stark veränderte, kehrte sie nicht mehr zum Infostand der Umweltaktivisten zurück, sondern zog es vor, das Zentrum des Geschehens zu meiden. Zwar war ihr niemand gefolgt, jedoch wollte sie ihr Glück nicht herausfordern. Wie sich später herausstellte, war es vor allem der Besonnenheit eines höheren Offiziers zu verdanken, dass es kurz nach ihrer erfolgreichen Flucht auch Rüdiger gelang, das Schiff unbehelligt zu verlassen. Es schien das zentrale Anliegen des Offiziers zu sein, weiteres Aufsehen zu vermeiden und jedwede medientaugliche Handgreiflichkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Egal auf welcher Seite man stand, war dies mutmaßlich die klügste Entscheidung, die an diesem Tag von einem der Marineleute getroffen wurde. So durfte es sich jener Offizier auf seine Fahne schreiben, dass die Kontrolle über die Situation nicht entglitt und auch nicht in staatliche Gegengewalt umgeschlug. Zugleich konnte er jedoch nicht verhindern, dass es die Aufnahmen vom Transparent in der Takelage und von der am Großtopp gehissten Flagge in alle Medien schafften. Lea und ihre Gruppe waren sich selbstverständlich einig, dass sie mit ihrer Aktion einen moralischen Sieg davongetragen haben.

Natürlich freute sich Lea nach ihrer Aktion, als sie kurz darauf Phil in der Menschenmenge entdeckte. Andererseits fand sie es schade, nach so einem gelungenen Publicity-Coup nicht an der ausgelassenen Stimmung ihrer Gruppe teilhaben zu können. Aber diese Gelegenheit, ihren in Berlin lebenden Freund zu sehen, nicht zu nutzen, kam auch nicht infrage. Aufgrund seines beruflichen Besuchs in Schleswig-Holstein bot es sich an, dass er Lea nach der Aktion in Flensburg abholen und sie das Restwochenende gemeinsam bei ihr in Hamburg verbringen würden. Ohne die Einsatzkräfte der Polizei aus den Augen zu lassen, kehrte sie noch einmal kurz zu ihren Leuten zurück, um sich von allen zu verabschieden. Sie winkten hinter ihr her und wünschten ihr ein schönes Wochenende. Allein Rüdiger stand dabei ein wenig abseits und blickte in die Wanten der Gorch Fock, als gäbe es dort etwas Neues zu beobachten. So fühlte sich Lea zunächst ein wenig hin und her gerissen, während sie sich von Phil zu seinem Auto führen ließ. Auf der Landstraße Richtung Süden verflogen die wehmütigen Gedanken jedoch recht schnell und sie konnte das Zusammensein in vollen Zügen genießen. Sie querten das nördlichste Bundesland von der Ostsee- hinüber zur Nordseeküste, machten Halt in Büsum, ließen sich dort bei einem Deichspaziergang von der lauen, noch immer sommerlichen Brise durchlüften und hielten bei Niedrigwasser Ausschau nach dem wieder einmal weit entfernten Meer. Als sie bei ihrem Bummel entlang der Hafenbecken des Küstenstädtchens an einem Fischgeschäft vorbeikamen, sagte Lea, dass sie nicht ohne frisch gepulte Büsumer Krabben und ein paar leckeren Matjesfilets nach Hause fahren würde.

Beim Gedanken an die Leckereien aus dem Fischladen, die ihnen die Verkäuferin mit viel Brucheis zur Kühlung über den Tresen reichte, läuft Lea das Wasser im Mund zusammen.

»Hängst ja immer noch in den Federn.« In einem farbenprächtigen Hawaii-Hemd und in kurze Hosen gekleidet, lehnt Phil im Türrahmen. »Irgendwelche Vorlieben?«

»Was?«

»Ob du irgendwelche Vorlieben hast. Brötchenmäßig.«

Lea schüttelt den Kopf. »Nö. Egal. Irgendwas mit Körnern. Und Croissants. Vielleicht ein Minibaguette.«

Er schüttelt lachend den Kopf. »Seltsame Auffassung von egal. Soll ich deinen Schlüssel mitnehmen?«

»Ja, mach. Steckt von innen im Türschloss.«

Ein weiterer gehauchter Kuss und Lea hat ihre Wohnung für ein paar Momente für sich.

2. KAPITEL

Obwohl sich Lea beim Duschen alle Zeit der Welt gelassen und am Frühstückstisch bereits ihren frisch gepressten Orangensaft und den zweiten Espresso hinter sich hat, ist Phil noch nicht da. Als sie ihn von außen mit dem Schlüssel im Türschloss stochern hört, gleitet sie vom Stuhl, um ihm zu öffnen. Umständlich den Schlüssel Richtung Tür haltend steht er vollbepackt vor ihr. »Was schleppst du denn alles ran?«

An beiden Unterarmen hängt einer von Leas Stoffbeuteln, die er offenbar beim Verlassen der Wohnung vom Haken genommen hat. Unterm linken Arm klemmt ein Päckchen. »Kost«, stößt er hinter dem wattierten Umschlag hervor, der zwischen seinen Zähnen klemmt.

»Was?«

»Die Kost wa ga.«

Lea versteht noch immer nicht, was er ihr mitteilen will. »Aus!«, sagt sie im knappen Befehlston, nimmt ihm den Umschlag ab und begutachtet missbilligend die Bissstellen.

»Die Post war da. Nun lass mich doch bitte die ganzen Sachen erst einmal abstellen.«

»Die haben dir einfach so meine Post gegeben?«, fragt Lea verwundert.

»Ja, klar, warum nicht?«

»Vielleicht, weil sie dich nicht kennen?«

»Wegen einer Unterschrift vier Stockwerke runterzurennen, wäre dir also lieber gewesen?«

»Die haben dich einfach unterschreiben lassen?« Sie zieht das handliche und zugleich überraschend schwere Päckchen unter seinem Arm hervor. »Was ist denn das?«

»Hör mal, woher soll ich das wissen?«

Vom Verhalten des Postzustellers noch immer leicht irritiert, zwängt sich Lea im engen Windfang hinter die Tür, um Phil passieren zu lassen.

»Danke«, sagt er mit überspitzter Note. Kaum ist er in der Wohnung, muss er mehrfach niesen.

Was er nur hat? Wie sie aus einigen jüngst gelesenen Büchern und anschließender Selbstbeobachtung seit geraumer Zeit erfahren hat, spiegeln Niesattacken häufig eine unterbewusste Unzufriedenheit wider. Phils Ego scheint sich durch ihre nicht einmal bös gemeinte Nachfrage angepisst zu fühlen. »He«, meint sie versöhnlich. »Ich wundere mich doch bloß über den Postzusteller, der wildfremden Menschen meine Post aushändigt.«

»Jetzt bin ich auch noch wildfremd?«

»Für den Postler schon.« Sie unterdrückt ihre Neugier und legt die Post zur Seite. »Was hast du uns denn mitgebracht?«

Grinsend greift er in eine der Plastiktüten. »Wagenschmiere«, verkündet er stolz. »Und alles, was man für einen anständigen Matjes-Salat braucht. Ich bereite dir für heute Abend eine Vorspeise zu. Wenn’s recht ist.«

Lea schmust sich an ihn ran. Dass er sich freiwillig mit ihr ums Abendmenü kümmern möchte, gefällt ihr.

»Hm«, brummt er noch während des Begrüßungskusses. »Schmeckst lecker. Bekomme ich auch einen Espresso?«

Um genügend Matjes für die von Phil geplante Vorspeise übrig zu behalten, stürzt sich Lea vornehmlich auf die Krabben. Phil konzentriert sich tatsächlich auf die süßen Sachen. Neben Rübenkraut, das den Hauptgrund für seine ausgiebige Einkaufsrunde darstellt, isst er sich mit genießerischer Lust durch Leas Honig- und Konfitüren-Vorrat. Am Ende des Frühstücks schmeckt er bei ihren weiteren Küssen klebrig-süß, sie dagegen herb nach Meeresfrüchten. Die geschmacklichen Kontrapunkte resultieren in einem weiteren Intermezzo auf Leas Komfortmatratze und regen das Paar an, auch fürs Abendmenü noch einen Geschmackskracher zu kreieren.

»Hast du Mango?«, flüstert Phil, während sie noch immer beieinander liegen.

»Im Gegenteil, ich liebe Mango«, antwortet sie, als hätte sie seine Frage missverstanden.

»Ob du Mango im Haus hast, meine ich.«

»Ich hasse Mango weder drinnen noch draußen«, setzt sie das Wortspiel glucksend fort und lacht dabei Phils erschlaffendes Glied aus sich heraus.

»Ups.«

Kopfschüttelnd streicht er ihr zärtlich über die Wange. »Du weißt, dass deine Albernheit bisweilen ein wenig penetrant daherkommt.«

»Mhm. So bin ich nur, wenn ich mich wohlfühle. Im Übrigen liegen tatsächlich noch zwei Mangos im Obstkorb. Weshalb fragst du?«

»Chris hat vor ein paar Wochen ebenfalls eine kleine Tischrunde bekocht und uns dabei einen total irren Nachtisch vorgesetzt. Mango-Chili-Sorbet.«

»Hast du das Rezept?«

»Die Zutaten bekomme ich zusammen. Mit den Mengen bin ich mir nicht sicher.«

»Sorbet ist geduldig. Da kann man mit der Rezeptur großzügig experimentieren. Oder im Netz recherchieren. Was brauchst du noch?«

»Mango, Chili, Joghurt, Zucker, am besten braunen, Ingwer …«

»Hab ich nur kandierten«, unterbricht Lea bei der letzten Zutat, nachdem sie die vorherigen alle abgenickt hat.

»Geht zur Not sicher auch. Limettensaft?«

»Zitrone hab ich.«

»Dann eben Zitrone. Und …«, er legt eine Kunstpause ein.

»Sag jetzt nicht …«

»… Rübenkraut.«

Am frühen Nachmittag beginnen sie mit den Vorbereitungen fürs Abendmenü. Neben Phil wird Lea in ihrer kleinen Wohnung weitere sechs Gäste am Tisch haben. Ergün und Rüdiger aus der Umweltaktionsgruppe werden dabei sein, wobei Ergün an diesem Abend den Anwesenden seine neue Freundin Daria vorstellen wird. Rüdiger ist im Augenblick solo und sagte Lea, dass er nicht wisse, wen er mitbringen solle. Insgeheim hofft Lea, dass er, wenn sie ihn erst einmal mit Phil bekannt gemacht hat, begreifen wird, keine Chance zu haben, bei ihr zu landen. Seitdem er ihr gegenüber so auffällig unauffällige Signale abgibt wie beispielsweise in Flensburg, hat sich ihr zuvor angenehm lockeres Verhältnis reichlich verspannt. Lea hofft, im Laufe des Abends eine Klärung zu erzielen, das wäre eine angenehme Begleiterscheinung des heutigen Dinners. Noch besser wäre es natürlich, wenn Lea Rüdiger mit Ronja, ihrer ehemaligen Kommilitonin und Freundin aus dem Webdesign-Studium, verkuppeln könnte. Ronja hat sich ihr gegenüber als im Moment glücklich getrennt bezeichnet und ist wieder bereit für einen neuen Kerl. Außerdem wird Yasmin der Runde angehören. Sie ist die Mutter von Leas vorherigem Freund Yannick, zu der sie trotz der Trennung und unschöner Szenen am Ende der Beziehung noch immer Kontakt hält. Zwar ist Yasmin einige Jahre älter als die anderen Gäste, jedoch merkt man ihr den Unterschied nicht an. Vor allem nicht im Kopf. Und auch äußerlich muss man zweimal hinsehen, um an ihren Lachfältchen zu erkennen, dass sie etwas älter sein könnte. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie gerade einen vergleichsweise jungen Freund, Jonathan, hat, der altersmäßig eine Brücke zwischen Yasmin und den übrigen Gästen bildet. Bei der Zusammenstellung ihrer Liste hat Lea zunächst auch erwogen, Lennart einzuladen. Sie mag den Kriminaloberkommissar, den sie im Rahmen der Ermittlungen zum Todesfall von Yannicks Arbeitskollegen kennengelernt hat. Nach ihrer relativ kurzfristigen Verabredung mit Phil für dieses Wochenende hielt sie es dann doch für sinnvoll, es bei einem vergeblich um sie buhlenden Gast zu belassen und auf seine Anwesenheit zu verzichten. Schon allein aus Rücksicht Phil gegenüber kann sie neben Rüdiger nicht noch einen zweiten Kerl an den Tisch setzen, der eine Beziehung mit ihr eingehen würde. So reizvoll das Experiment theoretisch ist und so spannend es sicher zu beobachten wäre – an einer Tafelrunde mit acht Personen drei Typen sitzen zu haben, die was von der Gastgeberin wollen, wäre des Guten vermutlich doch zu viel. Und zwar für alle Beteiligten.

Nachdem sie und Phil das Sorbet zusammengerührt, ausgiebig gekostet und kalt gestellt haben, kommt Leas robuste Küchenmaschine zum Einsatz, um erst einen Hefeteig für Laugengebäck und danach den Nudelteig für die Lasagne zu kneten. Neben ihrer nicht ganz billigen und sehr komfortablen Kaffeestation stellen diese beiden Geräte den einzigen Luxus dar, auf den Lea in der Küche nie mehr verzichten möchte. Allen anderen auf dem Markt angebotenen Küchen-Schnickschnack hält sie für überflüssig. Sie braucht weder eine Eismaschine, noch eine elektrische Schneidemaschine, auch keinen Brotbackautomaten und sogar eine elektronische Waage mit digitaler Milligramm-Anzeige bezeichnet sie als höchst überflüssig. Zusätzlich zu ihrer Rühr- und Knetstation mit Pürier-Aufsatz und Fleischwolf und besagter Kaffeestation kommt für die Zukunft allenfalls noch die Anschaffung einer Nudelmaschine infrage. Und wenn sie sich tatsächlich irgendwann entscheidet, eine zu kaufen, wird es eine in Profi-Qualität sein. Um mit einer Nudelmaschine vernünftig hantieren zu können, braucht sie allerdings erst mal Platz, will heißen, eine größere Küche. Also muss oder wird sie ihrem selbst gemachten Nudelteig die richtige Dicke weiterhin mit einem gewöhnlichen Nudelholz verpassen.

Routiniert teilt Lea den Hefeteig nach kurzem Gehen in gleich große Portionen, um 12 bis 15 Zentimeter lange Würste daraus zu rollen. Phil kann sich die anzügliche Bemerkung, sie würde lauter Phalli produzieren, nicht verkneifen. Lea verdreht die Augen und windet aus einer der Teigrollen einen Knoten. »Ist das für dich jetzt auch noch ein Phallus?«

»Autsch. – Weißt du eigentlich, weshalb die Laugenstange erfunden wurde?«

»Weil jemand Lust darauf hatte?«

»Nein. Die Laugenstange wurde aus der Not heraus geboren.«

»Aha.«

»Es begab sich zu einer Zeit, da lebte im Schwabenland ein Bäckermeister …«

Lea bläst die Backen auf und schiebt die Augenbrauen hoch. Sie hat Phil schon mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass er seine Geschichten erzählerisch manchmal zu sehr in die Länge zieht.

»Okay – Kurzfassung. Der Bäcker hat den töffeligen Neffen seines Bruders …«

»Also seinen eigenen Sohn?«

»Hä? Quatsch. Der Bäcker war seinem Bruder einen Gefallen schuldig und hat seinen Sohn …«

»Wessen Sohn jetzt?«

»Das ist doch jetzt vollkommen egal. Der Kerl war jedenfalls linkisch und doof, als ihn besagter Bäckermeister in die Lehre nahm. Und weil er es gegen Ende des ersten Lehrjahrs noch immer nicht schaffte, eine Teigrolle zu einer Brezel zu winden, hat der Bäcker die Laugenstange erfunden. Somit erhielt er wenigstens eine Gegenleistung für das Monat für Monat an den Stift ausbezahlte Lehrgeld.«

»Azubi.«

»Was?«

»Es heißt Azubi.«

»Quatsch, ich erzähle schließlich von früher. Da hieß es Stift. Oder Lehrling.«

»Und – worin liegt jetzt der Witz?«, fragt Lea, obwohl sie Phils Geschichte von der Erfindung der Laugenstange im Grunde durchaus amüsant findet. Noch viel mehr Spaß macht es ihr allerdings, ihn mit seinen bisweilen übertrieben lehrhaft vorgetragenen Weisheiten auflaufen zu lassen. Er wird dann immer unsicher und blickt so wunderbar zerknirscht aus der Wäsche. Wie auch in diesem Moment. »He, hab’s begriffen. War lustig. Gießt du mir bitte mal fünf, sechs Zentimeter Wasser in den flachen Topf da unten.«

»Nun bin ich also dein Stift, oder was?«

»Für mich bist du ein Azubi. Ich bin eine moderne Sklavenhalterin.« Sie haucht ihm einen Kuss zu. »Bekomme ich jetzt den Topf oder nicht? Süßer?«

»Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – allmählich beginne ich mein Dasein als Auszubildender zu lieben.« Seinen darauffolgenden Annäherungsversuch wehrt Lea mit der Begründung ab, sonst nicht rechtzeitig fertig zu werden.

Als schließlich das Laugengebäck nach Tauchbad in heißer Natronlösung und 30 Minuten Backzeit zum Abkühlen auf dem Kuchengitter liegt, Phils Vorspeise, ein Matjes-Rote-Beete-Salat, angerichtet, die Sauerkraut-Lasagne im Ofen und das Sorbet ein letztes Mal umgerührt ist, bleibt ihnen tatsächlich noch Zeit, sich den Schweiß von den Körpern zu duschen. Einzeln. Stellen sie sich gemeinsam unter die Dusche, würden die Gäste bei ihrer Ankunft sicherlich keine perfekt gedeckte Tafel vorfinden.

Um fünf vor sieben sitzen Lea und Phil in den Sonnenstühlen auf der Loggia und pushen sich mit den beiden Espressi, die Lea stilgerecht mit einem Glas Wasser und einem Amarettini auf dem kleinen Teller serviert hat, noch einmal auf. Mit stillschweigendem Wohlwollen verfolgt Lea, wie Phil eine Löffelspitze Zucker ins Tässchen gibt und den Löffel bereits nach zwei Umdrehungen zur Seite legt. Bei allen Fortschritten, die sie im Lauf der letzten Jahre in Sachen eigener Gelassenheit gemacht hat, ist sie jedes Mal drauf und dran, die Contenance zu verlieren, wenn jemand minutenlang versucht, den Zucker mit dem Löffel in den Tassenboden einzuarbeiten.

Phil zuckt erschrocken zusammen, als sie plötzlich aufspringt. »Verdammt! Ich habe vergessen, die Getränke kalt zu stellen.« Obwohl sie weiß, dass ihr Eisfach sowohl zu klein als auch zu voll ist, um auch nur eine Flasche darin unterzubringen, reißt sie es auf und entscheidet sich nach kurzem Zögern, die Schale mit dem Sorbet herauszunehmen und im Kühlschrank unterzubringen. Das schafft tatsächlich Platz für zwei Bier und eine Flasche Weißwein. Drei weitere Flaschen Bier passen in den Kühlschrank, Phil lässt kaltes Wasser in die Duschwanne ein, um auch dort noch ein paar Flaschen notzukühlen. Wie sich kurz darauf herausstellt, ist die überstürzte Aktion völlig unnötig. Die nun im Minutentakt eintreffenden Gäste haben Bier, Wein, Sekt oder Prosecco dabei und ihre Flaschen bereits zu Hause gekühlt. Selbst der von Jonathan mitgebrachte Rotwein fühlt sich an, als habe er ein paar Stunden im Eisfach gelegen. In knapper Vorstellungsrunde erzählt Lea vor allen Dingen Phil, wie sich ihre heutige Abendrunde zusammensetzt. Alle anderen kennen einander zumindest flüchtig. In gewohnt offener Art mustert Yasmin Leas neuen Freund ausführlich von oben bis unten. »Du bist also der Berliner, der mit seinem Freund Hamburg besucht hat?«

»Ich hab ihr von unserem ersten Abend mit Chris erzählt«, erklärt Lea.

Phil schüttelt lachend den Kopf. »Ja, das trifft es ganz gut. Der Berliner, der mit seinem Freund in Hamburg war.«

»Und?«, fragt Rüdiger.

Phil sieht ihn verblüfft an. »Was und?«

»Bist du’s jetzt oder nicht?«

»Was?«

Lea versteht als Erste, worauf Rüdiger hinauswill. »Wenn du mich fragst, ist er’s nicht.«

Von Phils hilflosen Blicken in die Runde lässt sich ableiten, dass er als Letzter kapiert, was Rüdiger von ihm wissen will. »Ach so.« Er legt den Kopf in den Nacken, verdreht die Augen zur Decke. »Nein, weder schwul noch bi. War so eine verrückte Idee von Chris und dann haben wir das eben mal ein Wochenende lang durchgezogen. Und was wäre, wenn ich …«

»Dann wärst du jetzt vermutlich nicht hier«, fällt ihm Lea ins Wort. Für ihren Geschmack entwickelt sich das erste Gespräch des Abends in eine vollkommen falsche Richtung. Auch kommt ihr sowohl Rüdigers als auch Phils Tonlage unterschwellig aggressiv vor. »Im Übrigen möchte ich euch jetzt bitten, Platz zu nehmen. Phil hat als Vorspeise einen wunderbaren Matjes-Salat gezaubert. Aber esst nicht zu viel davon, es folgt noch ein Hauptgang und eine Nachspeise gibt’s obendrein.«

»Und zwar?«

»Lasst euch überraschen.«

Ihre Aufforderung zum Essen bringt tatsächlich den von Lea angestrebten Stimmungswechsel. Spätestens beim ersten Anstoßen auf die Gastgeberin setzt lockerer Small Talk ein und es scheinen alle am Tisch miteinander zu können. Schmunzelnd nimmt Lea am Ende des Hauptganges zur Kenntnis, dass ausgerechnet Phil den letzten Rest aus der Ecke der Auflaufform kratzt.

Er bemerkt ihren Blick, fühlt sich ertappt. »Was denn?«, fragt er grinsend.

»Sauerkraut-Lasagne – wie kann man nur?« Über den Tisch hinweg haucht sie ihm einen Kuss zu.

Gegen neun Uhr klingelt es erneut. »Ihr entschuldigt mich«, sagt Lea.

»Weiß jemand, wer noch fehlt?« – »Keine Ahnung.« – »Eigentlich sind wir vollzählig«, hört sie vom Wohnzimmer die Gäste, während sie in ihrem winzigen Flur den Türöffner drückt. In solchen Momenten bedauert sie, dass die Gegensprechanlage, die ihr beim Einzug vor ungefähr einem halben Jahr versprochen wurde, noch immer nicht installiert ist. Sie öffnet die Tür zum Treppenhaus und blickt nach unten, um zu sehen, wer sie an einem Sonnabend um diese Zeit unangemeldet besuchen mag. »Hey, Lennart, das nenne ich mal eine Überraschung.«

»Stör ich?«

»Nein, du störst nie. Brauchst du dein Fahrrad?«

»Nein. Das heißt ja. Von wegen zwei Fliegen mit einer Klappe und so. Eigentlich bin ich gekommen, um mit dir zu reden.«

»Komm doch erst mal rein. Vorspeise und Hauptgang hast du leider verpasst. Aber vom Nachtisch ist noch reichlich da. Und dass du bei mir auch immer einen vernünftigen Espresso bekommst, weißt du ja.«

»Ach, du hast Besuch? Dann störe ich ja doch.« Er bleibt auf der obersten Stufe stehen. »Ich komme lieber ein andermal …«

»Unsinn, nein.« Sie fasst ihn am Arm und zieht ihn – ohne bei ihm ernsthaften Widerstand wahrzunehmen – in die Wohnung. »Ein paar meiner Gäste kennst du sogar.«

Während der Ermittlungen zu Hannos Tod musste Lennart gleich mehrere Personen aus Leas Freundeskreis befragen und hat sowohl Yasmin, Ergün als auch Rüdiger kennengelernt. Auch Phil hätte der Kriminaloberkommissar damals in dieser Angelegenheit gern interviewt, Lea hat jedoch durch ihre eigenen Recherchen dafür gesorgt, dass dies nicht mehr nötig war.

Aufgrund der unerfreulichen Umstände, unter denen sie sich zum ersten Mal gesehen haben, wird der Überraschungsgast mit gebremster Euphorie begrüßt. Das bleibt weder Lea noch ihm selbst verborgen. Schon beim Betreten des Zimmers bringt er zum Ausdruck, dass er nicht lange stören und sich schnellstmöglich wieder zurückzuziehen werde. »Hätte ich gewusst, dass hier gemütlich getafelt wird …« Er lässt den Satz unvollendet im Raum verpuffen, um sich wieder an Lea zu wenden. »Entschuldige die Störung. Ich scheine wirklich nicht den passenden Moment erwischt zu haben. Ich versuche es ein andermal.«

»Weshalb sind Sie denn gekommen?«, fragt ausgerechnet Yasmin. Lennart Fahnenberg war gezwungen, ihren Sohn zumindest vorläufig festzunehmen.

Vermutlich, weil er mich anbaggern mag, quatscht Leas innere Stimme vorlaut dazwischen. Auch wenn sie noch so zielstrebig daran arbeitet, hat sie diese aus dem Unterbewussten abgefeuerten Einwürfe nach wie vor nicht unter Kontrolle. Es liegt nahe, dass Lennarts Spontanbesuch etwas mit seinen Sympathien ihr gegenüber zu tun haben könnte. Aber bevor er diese nicht ausgesprochen und sie es nicht offiziell von ihm gehört hat, gibt es keinen Grund, in diese Richtung weiter zu spekulieren.

»Brauchst du Hilfe bei einem neuen Fall?« Mit dieser Frage gelingt es Lea, die in Feindseligkeit zu kippende Stimmung aufzufangen.

Er hebt die Schultern, legt den Kopf schräg. »Wenn man so will.«

Damit hat Lea nicht gerechnet. Sie hat die flapsige Bemerkung lediglich zur Auflockerung der Atmosphäre fallen lassen. »Was ist denn – passiert?« Sie stellt sich darauf ein, dass Lennart Yannicks Namen nennen könnte. Denn aufgrund seiner Antwort ist ihr sofort ihr Exfreund in den Sinn gekommen. Hat sich im Verlauf der Ermittlungen nun doch herausgestellt, dass er tiefer in der Sache drinsteckt, als bisher angenommen? Nach wie vor scheinen in diesem Fall nicht alle Abläufe geklärt zu sein. Lennart hätte ihr gegenüber sicher längst erwähnt, wenn der Fall inzwischen abgeschlossen wäre. Lea blickt hinüber zu Yasmin, die ebenfalls zu befürchten scheint, dass der Kommissar Bezug auf ihren Sohn nehmen und schlechte Nachrichten überbringen könnte. Noch wurde von der Staatsanwaltschaft keine Anklage erhoben. Noch ist unklar, mit welchem Strafmaß Yannick zu rechnen hat. Immerhin hat er versucht, eine illegale Baumfällung zu vertuschen, indem er den Unfalltod seines Partners wie einen Selbstmord aussehen lassen wollte.

Lennart starrt auf den Tisch. Vermutlich ohne wahrzunehmen, was dort steht. Lea ist inzwischen sicher, dass er bereut, geklingelt zu haben. Hätte er gewusst, dass ihn hier so viele Leute erwarten, hätte er es bestimmt gelassen. Während er noch immer unentschlossen zu sein scheint, ob er sich dem Gespräch in großer Runde entziehen und zu einem passenderen Zeitpunkt wiederkommen solle, folgt Lea einer plötzlichen Eingebung, den überraschenden Besuch für ihre Zwecke zu nutzen. Sie deutet auf den Platz, auf dem sie bis eben gesessen hat und fordert ihn auf, sich zu setzen. Sie holt für sich den letzten in ihrer Wohnung zur Verfügung stehenden Klappstuhl vom Wandhaken. Ohne darum bitten zu müssen, öffnet sich eine Lücke zwischen Phil und Ronja, die sich dabei zugleich ein wenig näher an Rüdiger heranschiebt. Während Lea ihren Stuhl zurechtrückt, beobachtet sie Lennart, der ihr gegenüber zwischen Jonathan und Daria Platz nimmt. Wenn er schon hier ist, darf er auch mitbekommen, dass sie sich für Phil entschieden hat. Natürlich tut es ihr leid, wenn er daran zu knapsen hat. Aber da muss er jetzt durch.

Nach kurzer Vorstellungsrunde, bei der alle noch einmal feststellen und bestätigen, wer hier wem unter welchen Umständen über den Weg gelaufen ist, greift Lea den Faden wieder auf und fragt Lennart noch einmal, was ihn hergeführt hat.

»Es geht um die Tote, die gestern in der Alster gefunden wurde.«

»Schon wieder eine?«, fragt Yasmin. »Dort ist doch erst vor ein paar Wochen eine Leiche gefunden worden.«

»Das war nicht in der Alster«, widerspricht Jonathan. »Du meinst sicher den Penner, der in der Eilbek ersoffen ist.« Dass er mit dieser politisch nicht allzu korrekten Formulierung eher peinliche Betroffenheit auslöst und sogar ein paar empörte Blicke auf sich zieht, scheint er nicht einmal wahrzunehmen.

Recht souverän rettet Lennart die Situation, indem er den Fall aus dem März dieses Jahres einfach vollkommen nüchtern und sachlich richtigstellt. »Wenn ich Sie korrigieren darf: Sie erinnern sich vermutlich an den Obdachlosen, der im Isebekkanal ertrunken ist.« Mit einem kurzen Blick auf Lea versucht er sich wohl zu vergewissern, dass sie es ihm nicht verübelt, wenn er ihren Gästen widerspricht. Ihr kaum sichtbares, zustimmendes Nicken bekommt außer ihm selbst vermutlich niemand mit. »Was die aktuelle Tote betrifft, sind ihr einige von Ihnen schon einmal begegnet. Im Nachhinein betrachtet, nicht eben unter erfreulichen Umständen.« Erneut stellt er Augenkontakt zu Lea her. Dann schaut er zu Ergün und schließlich zu Rüdiger. Alle drei sind Mitglieder derselben Aktionsgruppe. Allerdings können sie mit dieser vagen Aussage überhaupt nichts anfangen. Überrascht oder auch fragend sehen sie den Kriminaloberkommissar an.

»Nun verraten Sie uns doch endlich, wer diese geheimnisvolle Tote ist«, bricht Phil das Schweigen.

»Iris Becker. Die unbekannte Tote, die gestern im Uferbewuchs des Alsterlaufs entdeckt wurde, ist heute Morgen als Iris Becker identifiziert worden.«

Als habe jemand einen Startschuss abgefeuert, prasseln von allen Seiten Fragen auf Lennart Fahnenberg ein. Kreuz und quer geht es durcheinander, es herrscht eine Atmosphäre wie bei einer aus dem Ruder laufenden Pressekonferenz.

»Die Alsterleiche aus dem Fernsehen?«, fragt Yasmin.

»Iris Becker?«, fragt Lea. »DIE Iris Becker?«

»Die Undercover-Tussi, die uns jahrelang ausspioniert hat?« Ergün erntet für seine Wortwahl den strafenden Blick seiner Freundin Daria. Für sie scheint der Mangel an politischer Korrektheit allmählich zu sehr überhandzunehmen. Bereits beim gedankenlos verwendeten Wort Penner war sie drauf und dran, eine etwas bewusstere Wortwahl einzufordern.

»Hauaha«, steuert Rüdiger in hanseatischer Knappheit bei.

»Hilft mir mal jemand weiter?«, fragt Jonathan. »Ich hab keine Ahnung, worum es geht. Wer ist diese Iris Becker? Wieso kennt ihr die alle?«

»Das ist die verdammte Tucke, die sich in unsere Gruppe eingeschlichen und uns über Jahre bespitzelt hat«, ereifert sich Ergün, der jegliches Gespür für die Empfindlichkeiten seiner Freundin vermissen lässt. »Das stand in allen Zeitungen, ging durch alle Medien. Obwohl die sich sonst ja gerne vornehm zurückhalten, wenn die Polizei Scheiße baut.«

Endlich herrscht wieder Ruhe.

»Was macht euch so sicher, dass es sich um Iris Becker handelt?«, richtet sich Lea erneut an den Kommissar.

»Die Frau hatte gültige Ausweispapiere bei sich. Als wir die Meldeadresse aufsuchten, ließen der Zustand ihrer Zimmerpflanzen und der verdorbene Inhalt ihres Kühlschranks auf eine längere Abwesenheit der Bewohnerin schließen. Deshalb gehen wir zumindest vorläufig davon aus, dass es sich bei der Toten um die Inhaberin des Ausweises handelt.«

Lea schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, Lennart. Das kann nicht sein.«

»Wie bitte?«

»Moment, Moment, Moment«, geht Phil dazwischen. »Ich kapiere hier gar nichts mehr.« Er wendet sich an Lea. »Die Tote, diese Iris Becker, soll die Frau von gestern sein? Die Bedienung aus dem Café?«