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Kay Jacobs

Kieler Dämmerung

Kriminalroman

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1. Auflage 2016

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-5032-7

Gedicht

An einem Fenster klebt ein fetter Mann.

Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.

Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.

Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

(aus: Die Dämmerung von Alfred Lichtenstein)

I. Kapitel

An einem frischen Spätsommertag im Jahre 1911 lag ein Mann unter einem Mercedes 38/70 und eine Rändelmutter fiel ihm aus der Hand. Sie fiel einen knappen halben Meter tief auf sauberen Asphalt, den neuartigen dunklen Straßenbelag aus Bitumen und Splitt, stieß an einen Schraubenschlüssel und an noch einen, näherte sich einem Gully, zog wie zum Abschied vom verblüfften Publikum einen Halbkreis darum und entschwand darin. Der Mann unter dem Automobil war durch physische Beengungen daran gehindert, das Schicksal der Mutter noch entscheidend zu beeinflussen. So kroch er hervor und fast hätte er ›Ja, Kümmeltürken noch einmal!‹ gerufen, hielt sich aber angesichts der hohen Herrschaften, die ihn umgaben, im letzten Moment zurück. Dort standen ein Graf, ein Freiherr und ein Admiral nebst ihren Gattinnen, und da konnte der höchstgeborene von ihnen, der Prinz von Preußen, Albert Wilhelm Heinrich, kurz Prinz Heinrich, Bruder des Kaisers, Großadmiral und Generalinspekteur der Marine, also nahezu das Höchstdurchlauchtigste, was das Deutsche Reich zu bieten hatte, dieser Mann konnte sich jetzt nicht mit unangemessenen Kraftausdrücken besudeln.

Aus Platzgründen und ein wenig auch, weil Prinz Heinrich seinen neuen Mercedes gerne selbst steuerte, hatte man auf einen Chauffeur verzichtet. Und so mussten die hohen Herren das Reparieren des Automobils und die Suche nach der Mutter untereinander aufteilen.

»Mein lieber Albert, würden Sie sich bitte kümmern«, forderte der Prinz den noch immer irritiert blickenden Freiherrn von Seckendorff auf, nach der Rändelmutter zu schauen. Der Freiherr war des Prinzen Hofmarschall und mithin für die Organisation aller Wirtschaftseinrichtungen des Hofes verantwortlich, also auch für die Beschaffung. Über die Reichweite dieser Verantwortung hatte es im Detail schon die eine oder andere Meinungsverschiedenheit zwischen dem Prinzen und dem Freiherrn gegeben. Zum Schluss setzte sich stets der Prinz durch, indem er darauf hinwies, dass der, der für die Beschaffung verantwortlich war, die Dinge halt zu beschaffen hatte. Und jetzt hatte der Freiherr eine Rändelmutter zu beschaffen.

»Ich habe aber keine passende Mutter dabei und auch keinen Bediensteten, den ich danach schicken könnte«, antwortete Seckendorff. Obwohl er ein fortgeschrittenes Alter vorweisen konnte, klang er trotzig wie ein kleiner Junge. »Und die alte Rändelmutter ist jetzt in der Kanalisation, da bekomme ich sie auch nicht mehr heraus.« Subtil schwang der Vorwurf mit, dass der Prinz nun gerade hier, auf der Kanalbrücke bei Levensau mit diesem neumodischen Asphalt, direkt neben einem Gully anhalten und unter das Auto kriechen musste, wo doch einen Kilometer weiter weder Gully noch Kanalisation gedroht hätten. Und der Straßenbelag bestand dort aus Kopfsteinpflaster, was jede Rändelmutter sofort gestoppt hätte, und die dortige Schankwirtschaft hätte eine Panne deutlich angenehmer gestaltet als diese Brücke und …

Der Prinz schaute den Hofmarschall an, zunächst streng, dann eher leidend. Er war kein Automechaniker und kein Chauffeur, er war Seemann. Er hatte schon die größten Schlachtschiffe befehligt. Auf einem Schlachtschiff der Kaiserlichen Marine waren Muttern in jeder erdenklichen Größe und Ausführung vorhanden, sogar im Überfluss – und Bedienstete, die sie herbeiholten, auch.

»Notfalls geht es ohne, man muss eben öfter mal anhalten und nachschauen«, sagte er schließlich.

Nach einigen Zwangspausen, mit gewaltiger Verspätung und dreckigen Händen, erreichte die hohe Gesellschaft Gut Hemmelmark, des Prinzen Landsitz an der Eckernförder Bucht.

Der Prinz liebte sein Hemmelmark, umgeben von ländlicher Idylle mit einem achtzig Hektar großen See. Er hatte sich das Anwesen vor etlichen Jahren gekauft, das Herrenhaus abreißen und durch ein neues Gebäude in kommodem englischem Landhausstil ersetzten lassen. Jetzt war das Gut durchströmt von britischem Flair. Alles wilhelminisch Pompöse musste vor den Toren bleiben, hier herrschte Understatement. Und man war geschützt vor der neugierigen Öffentlichkeit. Der Prinz kam her, wann immer seine Zeit es ihm erlaubte.

Die hohe Gesellschaft tuckerte durch das Torhaus mit den Garagen und den Wohnungen für Bedienstete, rollte an Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei und kam vor dem Herrenhaus mit seinen roten Dachschindeln, den verspielten Fronten aus unregelmäßig angeordneten Gauben, Erkern und gedeckten Dreiecksgiebeln zum Stehen. Prinzessin Irene, Heinrichs Gattin, empfing die Ankömmlinge in der Eingangsdiele. Mit überspielter Hast wies sie darauf hin, dass man sehr spät sei und der Oberbürgermeister gleich erwartet werde, da wurde auch schon die Ankunft des Herrn Oberbürgermeister gemeldet. Der Prinz ließ bitten und es erschien ein kleines Männchen mit Nickelbrille und pedantischem Henriquatre. Einerseits gab sich der Gast untertänig und war auf den ersten Blick als Beamtenseele zu erkennen, andererseits trug er deutlich die Würde seines Amtes: Der Kieler Oberbürgermeister Paul Fuß.

Er musste allenfalls einen Kilometer entfernt hinter dem Prinzen hergefahren sein. Der Oberbürgermeister kam mit einer altmodischen Dienstkutsche nebst Kutscher, die ihn ohne Panne an sein Ziel brachte und – hätte der Prinz nur noch eine kurze Pause zum Nachjustieren benötigt – die beiden fast schon unterwegs hätte aufeinandertreffen lassen. So allerdings war der Prinz doch noch standesgemäß ein paar Minuten vor dem Oberbürgermeister angekommen.

Wenig später saß man im Speisesaal zum Luncheon beisammen. Die Gesellschaft hatte sich leger gekleidet, so wie das Ambiente des Anwesens es vorgab. Die Besucher in Reiseanzug und Reisekleid, die Prinzessin im Tageskleid, und der Prinz, der sich noch schnell hatte umkleiden müssen, im Hausanzug. Die vornehmsten Kleidungsstücke auf Hemmelmark waren regelmäßig die Livreen der Diener.

Oberbürgermeister Paul Fuß hatte um eine Unterredung mit dem Prinzen gebeten und war dann zu eben diesem Luncheon eingeladen worden. Er hatte schnell herausgefunden, dass es sich dabei um die englische Variante eines leichten Mittagessens handelte. Ihm war es recht. In der geselligen Atmosphäre einer gemeinsamen Mahlzeit konnte er für sein Anliegen umso mehr mit Wohlwollen rechnen. Und sein Anliegen war ihm eine Herzenssache. Er war seit 1888 Oberbürgermeister von Kiel, also fast genau seit dem Regierungsantritt des Kaisers, und er würde im kommenden Jahr mit 68 Jahren endgültig in den Ruhestand treten. Die Einweihung des prächtigen neuen Rathauses, das im Herbst fertiggestellt sein würde, sollte der krönende Höhepunkt seiner Amtszeit werden. Und ihm war der kühne Gedanke gekommen, dass der Kaiser dieser Einweihung beiwohnen könnte.

»Na mein lieber Fuß, was macht das neue Rathaus?«, fragte der Prinz.

»Wir liegen gerade letzte Hand an. Bald ist es fertig und dann können wir umziehen.«

»Man sagt, Sie haben zeitgeschichtliche Dokumente in der goldenen Turmkugel hinterlegen lassen?«, erkundigte sich die Gräfin. Wenn man es genau nahm, war die goldene Kugel keine Kugel, sondern ein Ellipsoid, und sie war nicht aus Gold, sondern aus vergoldetem Kupfer, aber wer nahm es schon so genau. Sehr viel wichtiger war der mediterrane Stil des Rathausturms, der dem Markusturm in Venedig nachempfunden war. Die Gestaltung des Turms wurde allseits hoch gelobt, wobei schnell in Vergessenheit geriet, dass er nicht allein aus ästhetischen Gründen dem Markusturm ähnelte, sondern auch weil jener einige Jahre zuvor komplett eingestürzt war und erst ein Jahr später wieder neu errichtet werden sollte. Auf diese Weise konnte man sich dem traditionsreichen Venedig überlegen fühlen. Unnötig zu erwähnen, dass der Kieler Turm sieben Meter höher war als der venezianische.

»Das stimmt, Gräfin. Es ist eine alte Tradition, bei der Errichtung öffentlicher Gebäude zeitgeschichtliche Dokumente zu hinterlassen. Diese Tradition haben wir wieder aufgenommen. Üblicherweise werden solche Dokumente irgendwo eingemauert oder im Fundament eingegossen, aber die Stadtverordneten kamen auf die Idee, sie in der Kugel auf dem Turm zu deponieren, ohne es jedoch öffentlich bekannt zu machen. So kann es jeder zu jeder Zeit sehen.«

»Aber wenn niemand weiß, dass es sich dort befindet?«, hakte die Gräfin nach.

»Das hat doch einen gewissen Reiz, nicht wahr?« Bevor er fortfuhr, nahm Fuß einen Schluck Wein und schuf so eine angemessene Zeit für die Bewunderung der grandiosen Idee. »Wir haben einen handgeschriebenen Bericht über den Bau des Rathauses hineingelegt, einen Druckband vom ›Bürgerbuch der Stadt Kiel‹ und einen farbigen Stadtplan. Schließlich wurden noch Porträtfotografien von Professor Billing, dem Architekten, und von mir beigelegt. Letzteres fand ich etwas übertrieben, aber die Stadtverordneten haben darauf bestanden.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit, mein lieber Fuß«, sagte der Prinz und nahm auch einen Schluck Wein. »Sie haben das Gesicht unserer schönen Stadt geprägt wie kein anderer. Da kann die Stadt Sie ruhig einmal würdigen.«

Fuß bedankte sich artig und abwiegelnd, ohne jedoch einen Zweifel darüber zu lassen, dass er es genauso sah wie Heinrich. Als er sein Bürgermeisteramt angetreten hatte, war Kiel noch ein größeres Dorf gewesen, dann setzte ein rasantes Wachstum ein und jetzt war es eine Großstadt. Alle dazu nötigen Entwicklungen, die Verwaltungsreform, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen, das Schulwesen, die Polizei, die Bauplanung, einfach alles trug seinen Stempel.

»Das Rathaus ist wirklich sehr, sehr hübsch geworden, lieber Herr Fuß«, flötete die Admiralsgattin. »Das haben Sie ganz großartig gemacht.«

»Es war ja auch an der Zeit, einmal an sich selbst zu denken und nicht immer nur Arbeiterwohnungen zu bauen«, brummte der Admiral.

»Nun ja, wir haben das Rathaus mit einem Kostenaufwand von 4,2 Millionen Mark erbaut«, bemühte sich Fuß, das Gespräch wieder zu versachlichen. Zu viel Lob war ihm unangenehm. »Die stark in Anspruch genommenen Finanzen der Stadt machten es erforderlich, auf die Errichtung eines monumentalen Prunkbaus zu verzichten. Trotzdem ist es ganz nett geworden.«

»Natürlich, mein lieber Oberbürgermeister, Prunk und Protz, was soll das? Wir sind hier ja nicht am Kaiserhof.« Für diese Bemerkung erntete Heinrich einen strengen Blick seiner Gemahlin.

»Ich frage mich, Königliche Hoheit, ob es erfolgreich sein könnte, den Kaiser zur Einweihung des Rathauses im November einzuladen.« Diese Frage fiel Fuß offensichtlich nicht leicht. »Soweit man es den öffentlichen Verlautbarungen entnehmen kann, gedenkt der Kaiser ohnehin zur Einweihung der Hochbrücke bei Holtenau zu kommen.« Gemeint war die neue Prinz-Heinrich-Brücke über den Kaiser-Wilhelm-Kanal, welche die Stadt mit den Vororten Holtenau und Friedrichsort verbinden sollte.

»Die Fertigstellung der Brücke wird sich voraussichtlich ein halbes Jahr verzögern, wenn nicht noch mehr«, erwiderte Heinrich.

Die Brücke berührte zwar Kieler Stadtgebiet, dennoch hatte die Stadtverwaltung damit nichts zu tun. Denn der Kanal war eine Reichswasserstraße, sodass auch die Kanalbrücken Angelegenheiten des Reiches waren. Und da Kiel offizieller und stolzer Reichskriegshafen war, der einzige neben Wilhelmshaven, standen alle marinen Einrichtungen unter der Aufsicht der Kaiserlichen Marine – Prinz Heinrich war also gewissermaßen der Bauherr. Die Ernennung zum Reichskriegshafen hatte der Stadt zu ihrer beispiellosen wirtschaftlichen und militärischen Entwicklung verholfen, bedeutete aber auch eine sehr einseitige Ausrichtung auf militärische Belange und behinderte die Entwicklung ziviler Handels- und Industriezweige. Das war für Kiel ein Segen, den Bürgermeister Fuß schon mehrmals verflucht hatte, aber so war es nun einmal und er konnte daran nichts ändern. Als konservativer und kaisertreuer Patriot wollte er es auch gar nicht. Wenn es also um Angelegenheiten des Hafens oder des Kanals ging, dann war der Prinz durchweg besser informiert als der Oberbürgermeister.

»An der Südrampe der Brücke kommt es immer wieder zu Erdrutschen«, setzte Heinrich seine Ausführungen fort. »Vor einigen Monaten kam dabei ein polnischer Arbeiter ums Leben, seine Leiche ist bislang nicht gefunden worden. Die Brücke wird sicher nicht vor dem nächsten Sommer fertiggestellt.«

»So lange werde ich die Einweihung des Rathauses nicht hinauszögern können. Ab September werden wir mit dem Umzug beginnen. Spätestens im Dezember sollte die Einweihung stattfinden.« Fuß kratzte sich enttäuscht an der Stirn.

»Sagen Sie doch dem Kaiser, dass ich das Rathaus einweihen werde, falls er verhindert ist. Dann wird er schon kommen.«

Fuß sah Heinrich verlegen an und Heinrich sah Fuß erschrocken an. Er hatte gesagt, was er eigentlich nur denken wollte. Prinzessin Irene hätte ihren Gatten gern zurechtgewiesen, war daran aber durch einen nur halb zerkauten Bissen Schweinefilet gehindert.

Nach kurzer Zeit besann sich Heinrich: »War ein Scherz, natürlich nur ein Scherz. Lachen Sie!«

Man lachte brav. »Guter Scherz!« war zu hören, »ja, sehr gut« und »formidabel«.

»Im November findet auf dem Exer die Vereidigung der neuen Marinerekruten statt«, ergriff der Prinz erneut die Initiative. »Da ist der Willy doch immer gerne mal dabei gewesen.« Der Prinz schaute fragend seine Gattin an, die offenbar was sagen wollte, sich aber aufgrund des Gemüses in ihrem Mund genötigt sah, nur zustimmend zu nicken.

Heinrich blickte kurz nachdenklich durchs Fenster und sah dann Seckendorff an. »Wir könnten vielleicht auch mal bei den Werften nachfragen, mein lieber Albert. Bei der Hochrüstung, die wir gerade betreiben, haben die ständig Schiffstaufen. Da wird es doch bestimmt möglich sein, eine davon zur Rekrutenvereidigung zu terminieren, wenn wir denen in Aussicht stellen, dass der Kaiser kommt.« Heinrich strich sich mit der Hand durch den Bart und fügte dann noch hinzu: »Vielleicht die SMS Kaiserin, die müsste im Herbst so weit sein.«

»Ich werde mich darum kümmern«, antwortete Seckendorff.

Dann wandte sich der Prinz wieder dem Oberbürgermeister zu. »Legen Sie die Rathauseinweihung auf den Tag nach der Rekrutenvereidigung. Richten Sie über den Chef des Marinekabinetts von Müller eine Anfrage an Oberhofmarschall zu Eulenburg, ob der Kaiser einen von der Stadt zur Rathauseinweihung alleruntertänigst dargebrachten Ehrentrunk anzunehmen gedenke. Ich lege eine Empfehlung und eine Einladung zur Rekrutenvereidigung und gegebenenfalls zu einer Schiffstaufe bei, und dann wird es gelingen, der alte Eule wird’s schon richten.«

Am Abend schaute der Prinz die Eingangspost der letzten drei Tage durch, die er aus Kiel mitgebracht hatte.

›Königliche Hoheit brauchen doch nur ein Wort zu sagen …‹ Heinrich faltete die Bittschrift zusammen, legte sie auf den Erledigt-Haufen und zündete sich eine Zigarette an. Dann das nächste Schreiben: ›Er ist doch so ein guter Junge … wie geboren für die Marine … schwimmen wird er gewiss auch noch lernen …‹ Erledigt-Haufen.

»Was glauben die Leute eigentlich, wer ich bin?«, seufzte Heinrich durch blaue Nikotinwolken.

»Sie lieben dich«, antwortete Prinzessin Irene, während sie im Badezimmer mit einer feinen Bürste Zahnpulver auf ihrer Prothese verrieb.

»Dann sollen sie mich in Ruhe lassen mit ihren aus der Bahn geraten Zöglingen. Die glauben, dass die Marine es am Ende richten wird, wenn sie ihre Jungs nicht ordentlich erzogen haben. Und ich soll alle bei uns aufnehmen. Aber so viele Schiffe haben wir gar nicht. Und vor allem: Wir sind keine Erziehungsanstalt!« Der Prinz drückte die Zigarette aus, stand von seinem Schreibtisch auf und schaute durchs Fenster auf den vom Mondschein gestreichelten Hemmelmarker See. Das Prinzenpaar hatte sich entschlossen, übers Wochenende in Hemmelmark zu bleiben. In Kiel zu residieren und zu repräsentieren, würde Montag noch früh genug sein. Dann ging der Prinz ins Badezimmer, wo die Prinzessin nach wie vor mit ihrer Zahnprothese beschäftigt war, schaute in den Spiegel und sah einen 50-jährigen Mann mit blasser Haut, leicht rötlichen Haaren und einem Vollbart, der gepflegt und kurz, aber gerade noch lang genug war, um jede Mimik dahinter zu verbergen. Nur die melancholisch blickenden Augen konnte der Bart nicht verdecken. Heinrich hatte seit frühester Jugend versucht, einen strengen Blick einzuüben, einen so strengen Blick, dass man ihn selbst dahinter nicht sehen konnte. Es war ihm nie gelungen.

»Sie lieben dich, mehr, viel mehr, als sie Willy lieben. Sie schreiben Bücher über dich und erzählen sich Geschichten von deinen Abenteuern auf hoher See. Und sie vertrauen dir. Und wenn sie verzweifelt sind, bitten sie dich um Hilfe, fast so wie sie zu Gott beten. Was ist daran falsch?«

»Ich bin nicht Gott und ich bin nicht der Kaiser. Und ich werde es nie werden und ich will es auch nicht sein. Sie sollen aufhören damit.« Der Prinz zog seine Hose runter und setzte sich aufs Klo. Das war in der wilhelminischen Zeit für einen Mann eine überaus bemerkenswerte Weise des Urinierens. Heinrich hätte es in der Öffentlichkeit nie zugegeben, wie wohl auch kaum ein anderer Mann in jener Zeit es zugegeben hätte. Die Dunkelziffer dürfte aber enorm gewesen sein. Ein Urinal hätte Abhilfe geschaffen und es hätte durchaus in das auch ansonsten mit jedem erdenklichen Luxus und allen technischen Finessen ausgestattete Badezimmer gepasst. Von kalt und warm fließendem Wasser über den beleuchteten Rasierspiegel bis hin zu einem von der Zentralheizung gespeisten Handtuchwärmer, alles war da, auch ein Bidet war installiert, nur eben ein Urinal nicht. Heinrich hatte bei der Planung des Badezimmers zwar mit dem Gedanken gespielt und – entsprechend seinem technischen Erfindergeist – sogar erste Zeichnungen für die Entwicklung einer Spülvorrichtung angefertigt. Er verzichtete aber schließlich darauf, weil ihm der Gedanke, ein Zimmermädchen müsse das Urinal reinigen, zu peinlich war. Natürlich reinigte das Mädchen auch das Wasserklosett und sie brachte die dreckige Wäsche weg, aber das war etwas anderes.

»Du bist auf jeden Fall ein hervorragender Staatsmann.« Irene versuchte, den betrübten Heinrich wieder aufzurichten. »Deine USA-Reise, ein diplomatischer Erfolg. Deine Japan-Reise, ein Erfolg. Immer wenn es heikel wird, dann schickt Willy dich vor, weil du die Leute versöhnen kannst, wo er nur wieder einen Krieg anzetteln würde.«

»Willy hat noch nie einen Krieg angezettelt!«, empörte sich Heinrich, der kaisertreue Kaiserbruder. »Er war noch nicht einmal an einem richtigen Krieg beteiligt, in all den vielen Jahren seiner Herrschaft. Da musst du lange suchen, bis du einen zweiten Monarchen findest, der so sehr für den Frieden steht wie er.«

»Weil er dich hat, nur weil er dich hat. Seine eigenen Reden hören sich da ganz anders an.«

»Ich bin zu den Menschen nett, damit sie mir nichts tun. Und zu ihm sind die Menschen nett, damit er ihnen nichts tut. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden«, melancholisierte der Prinz, erhob sich vom Klo und spülte.

»Er hat dich immer benutzt, aber gedankt hat er es dir nie.« Die Prinzessin wusch ihre Zahnprothese unter warmem Wasser ab. »Sogar dass wir in Kiel leben – verstehe mich nicht falsch, ich wohne gerne dort – aber er hat uns hingeschickt und wir hatten keine Wahl.«

»Ich bitte dich, meine Liebe! Ich wollte immer zur Marine und ich wollte immer ans Meer. Willy hat mir nur meinen Wunsch erfüllt.«

»Das sehe ich anders«, konterte Irene kaum verständlich, während sie ihre Prothese wieder an den restlichen Zähnen festklammerte. »Er hat dich hier gebraucht. Hätte er dich woanders gebraucht, würden wir dort leben.«

Heinrich erwiderte nichts. Er wusste, dass Irene nicht ganz unrecht hatte, und entschloss sich, das Thema zu beenden. Es kam ihm gerade recht, dass Irene eine Tube aus einer Schublade neben dem Waschbecken kramte.

»Schau mal hier, ›Tanagra‹. Ein neue Paste zum Abbürsten der Zähne. Mit Fluoridzusätzen. Das soll die Zähne vor Löchern schützen.«

»Zu spät für dich, meine Liebe«, antwortete der Prinz.

Irene lamentierte jetzt über Zahnschmerzen und Zahnarztschmerzen, zwischen denen sie streng unterschied, und über die Beschwerlichkeiten, die mit dem Tragen von Zahnprothesen verbunden waren.

Heinrich hörte nicht mehr zu. Er dachte an früher, als alles noch einfacher gewesen war. Aber das war es gar nicht, es war nur noch nicht so endgültig gewesen. Es war viel schwerer gewesen, aber es hatte Hoffnung gegeben.

Es war schon viele Jahre her. Sie hatte dagesessen, ein zuckender Haufen Traurigkeit. Und Enttäuschung. Und Schmerz. Heinrich stand vor ihr, seiner Mutter, und empfand Verachtung. Und auch ein wenig Mitleid.

Willy hatte die gemeinsame Mutter, die damalige Kronprinzessin Victoria in jenen Jahren nur noch verächtlich ›die englische Prinzessin‹ genannt und er war nicht von der Überzeugung abzubringen, dass sie ihren Einfluss bei Hof nur dazu benutzte, Deutschland zu schaden und der englischen Hegemonie zu unterwerfen. Immerhin war sie das erste Kind der britischen Königin Victoria, sie wurde sogar nach ihr benannt, und da hatte sie sich geopfert, den deutschen Thronfolger zu heiraten, den liebestollen, großherzigen, vertrauensseligen Jammerlappen Friedrich von Preußen. Das war Willys Meinung über seine Eltern. Man schrieb das Jahr 1888. Der alte Kaiser Wilhelm lag im Sterben und dem Thronfolger Prinz Friedrich ging es nur wenig besser. Es war das Drei-Kaiser-Jahr.

»Friedrich soll zugunsten von Willy auf den Thron verzichten?« Victorias Stimme war schwach und drohte mehrmals in ein Fiepen abzurutschen. Sie konnte kaum glauben, mit welcher Rücksichtslosigkeit Heinrich Wilhelms Forderungen vortrug.

»Er ist todkrank, Mama. Er ist nicht in der Lage zu regieren«, erwiderte Heinrich. »Er kann ja nicht einmal mehr sprechen.«

»Die Einschätzung, ob dein Vater gesundheitlich in der Lage ist, das Reich zu regieren, solltest du ihm überlassen.«

»Ich kann es ihm nicht überlassen, denn du bevormundest ihn. Und wenn es dir nur ein klein wenig um Vaters Wohl ginge, dann würdest du ihn nicht mit der Regierungslast quälen. Und du würdest ihn nicht deinen jüdischen Quacksalbern überlassen, sondern ihn zu richtigen deutschen Ärzten bringen!«

»Ich verbiete dir, so mit mir zu sprechen!«

Heinrich holte tief Luft. Jedes Wort, das er sprach, schmerzte auch ihn. Aber er musste. Er hielt es für seine Pflicht. »Es geht um das Schicksal Deutschlands und nicht um die Selbsteinschätzung eines alten Mannes.«

»Es geht darum, dass ihr eurem Vater das Herz brecht. Und es geht auch darum, dass ihr liberale Reformen verhindern und Deutschland ins Mittelalter zurückführen wollt und damit allenfalls eine Revolution heraufbeschwören werdet.« Für Victoria war Wilhelm nur eine Wetterfahne der antienglischen, antijüdischen, absolutistischen, militaristischen und reaktionären Strömungen am Kaiserlichen Hof. Und Heinrich war für sie ein dummer Papagei, der bei seinem Bruder auf der Schulter saß und seine Worte nachplapperte.

»Diese Humanitätsduselei und das ganze liberale Affengeschwätz, das ist undeutsch. Das passt nicht zu uns.«

»Ich passe nicht zu euch, wolltest du sagen, nicht?«

Nach kurzem Zögern holte Heinrich einen versiegelten Umschlag aus seiner Aktentasche. »Liebe Mama, ich habe hier ein Schreiben von Willy an Vater. Beigefügt ist die beglaubigte Abschrift einer Vollmacht. Unser lieber Großvater, der Kaiser, hat Willy zu seinem Stellvertreter bei den Staatsgeschäften bestimmt, soweit er selbst dazu nicht in der Lage ist. Dem eigenem Bekunden unseres geliebten Großvaters zufolge ist dieser Zustand jetzt eingetreten. Nach Auffassung der Ärzte wird sich der Zustand bis zu seinem Tod nicht mehr bessern. Wilhelm hat daher die Regierungsgeschäfte übernommen. Nach dem bald zu befürchtenden Tod des Kaisers werden wir weitersehen.«

II. Kapitel

August Randsdorf kickte einen Kieselstein weg, der auf seinem Weg lag. Für sein Leben gern hatte er Fußball gespielt – obwohl es eine englische, also wesensmäßig undeutsche Fußlümmelei war – doch jetzt blieb ihm nur der Kiesel. Sein Verein war Holstein Kiel, einer der erfolgreichsten Fußballvereine im ganzen Reich.

Randsdorf war zu alt, um in der ersten Mannschaft mitzuspielen. Seit er vor ein paar Jahren vom Baugerüst gestürzt war, schmerzte die linke Hüfte bei Belastung und er musste auch die Seniorenmannschaft verlassen. Halb so schlimm, Fußball war sowieso eher ein bürgerlicher Sport. Richtige Arbeiter waren in den Arbeiterturnvereinen aktiv. Sie übten sich in Bodenturnen, im Hindernislauf und manchmal auch im Feldhandball. Doch ein Arbeiter, der Fußball spielte, handelte klassenwidrig und musste mit Anfeindungen aus den eigenen Reihen rechnen. Jetzt war es für Randsdorf aber endgültig vorbei mit dem aktiven Fußball und was blieb, waren die Sonntage in den Zuschauerrängen und der Kiesel auf dem Weg.

Wegen der Hüfte war Randsdorf extra eine halbe Stunde früher losgegangen, um auch eine Pause einlegen zu können. Früher hatte er die anderthalb Kilometer von seiner Wohnung im Stinkviertel zum Gewerkschaftshaus gerne mit dem Fahrrad zurückgelegt. Das ging jetzt wegen der Hüfte auch nicht mehr.

Am Schreventeich setzte er sich auf eine Parkbank, drehte eine Zigarette und sah den Enten zu, den kleinen frechen Enten, die von den stolzen, großen Schwänen immer weggejagt wurden, aber zum Schluss doch die Brotkrumen ergatterten, und die sich eine Versammlung unter freiem Himmel nicht verbieten ließen. Und das sollten die Menschen auch nicht mehr tun: Sich eine Versammlung verbieten lassen.

Der Rest des Weges führte leicht bergab, schonend für die Kondition, eine Tortur für die Hüfte. Schließlich erreichte Randsdorf das neue Gewerkschaftshaus. Es war zentral gelegen, im geschäftigen Damperhofviertel an einer der größten Einfallstraßen zur Altstadt. Mit einem Herbergs- und einem Gastronomiebetrieb, mit Büros und vor allem mit Versammlungsräumen war es der ganze Stolz der Kieler Arbeiterschaft und ein Symbol des erstarkenden Proletariats. Jetzt war man zur Abhaltung von Versammlungen und zur Beherbergung von Gästen nicht mehr auf Gastwirtschaften angewiesen und dabei den Schikanen und Repressalien der Polizei ausgesetzt, jetzt war man autark. Die Straßenfront des Gebäudes wies roten Backstein und hellen Putz auf, war reich und verspielt mit Jugendstil-Ornamenten geschmückt, offen und freundlich und mit großen Fensterflächen ausgestattet. Sogar ein Balkon, früher ein Werkzeug der Hierarchie und Symbol der Obrigkeit, war vorhanden. Dieser Bau ließ keinen Zweifel daran, dass das Proletariat das Stadium des nackten Überlebenskampfes hinter sich gelassen hatte und dass es jetzt um gleichberechtigte Teilhabe ging.

Das Gewerkschaftshaus gehörte Randsdorf, jedenfalls zum Teil. Er hatte sich drei der zur Finanzierung ausgegebenen Anteilsscheine gekauft und dafür 15 Mark, fast den Wochenlohn eines Facharbeiters, ausgegeben. Die meisten anderen hatten einen, höchstens zwei Scheine gekauft, aber Randsdorf war schon immer etwas konsequenter, etwas radikaler, etwas rücksichtsloser als die anderen. In allem, was er tat.

Zwei Genossen schleppten ein paar Stühle in den großen Saal. »Admiral, do büs to fröh«, rief der eine. »He wullt us nur bi de Arbeit tosehn«, sagte der andere. Randsdorf grinste und besetzte ein paar Stühle an seinem Lieblingstisch auf halber Saallänge, linke Seite, neben einem Paravent. Das war der Grund seines frühen Erscheinens.

›Admiral‹ wurde Randsdorf liebevoll von all jenen genannt, die sich von seinem Befehlston nicht beeindrucken ließen. Die meisten hingegen ließen sich beeindrucken, was dazu geführt hatte, dass Randsdorf als Kotzbrocken galt und ihm eine Parteikarriere trotz großer Anstrengungen versagt geblieben war.

*

Der Saal füllte sich allmählich, zuerst mit Stühlen, dann mit Menschen. Sie begrüßten einander, setzten sich, rauchten, tranken Bier, rissen Witze und diskutierten. Zwei von ihnen begegneten sich mit Misstrauen. Der eine Mitte 30, der andere etwas älter, der eine mit Nickelbrille, der andere ohne, der eine mit Schnurrbart, der andere ohne, beide mit schwarzem Haar, was beiden die allgemeine Einschätzung als Juden einbrachte und was bei beiden auch stimmte. Sie sahen sich ähnlich, als wären sie Brüder. Das hingegen stimmte nicht.

»Na, Rosenbaum, sind Sie gekommen, um uns auszuhorchen?«, fragte der Jüngere, der mit Brille und Bart.

»Ich bin nur privat hier«, antwortete Rosenbaum. »Aber seien Sie sicher, mein lieber Dr. Spiegel, der Polizeipräsident wird morgen früh einen Bericht auf dem Tisch haben, der jeden grammatikalischen Fehler der heutigen Reden akribisch auflistet.«

Sie schauten sich um und entdeckten mehrere verdächtige Gestalten.

»Der da wahrscheinlich«, sagte Rosenbaum und warf einen Blick auf einen Burschen, der mit Lotsenmütze, Schifferkrause und Pfeife aussah wie Käpt’n Ahab, nur seine glatte, nicht einmal im Ansatz von Meeresluft gegerbte Haut verriet ihn. »Ich jedenfalls bin kein Spitzel. Ich bin Polizist.«

»Ja, das sind Sie. Ich wüsste nur gern, auf welcher Seite Sie stehen«, erwiderte Spiegel und es war – vermutlich auch ihm selbst – nicht ganz klar, ob seine Äußerung eher skeptisch oder eher drohend war.

»Auf der Seite des Rechts.«

»Da stehe ich auch.« Rosenbaum war im Herzen Sozialdemokrat. Es hätte ihn gereizt, sich damit zu brüsten, dass er mit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg befreundet war, dass sein Vater sogar mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel befreundet gewesen war und Paul Singer, Karl Marx und Friedrich Engels gekannt hatte. Aber er hatte sich entschieden, als Kriminalbeamter in den Staatsdienst zu treten, und ein öffentliches Bekenntnis zur Sozialdemokratie wäre der sicherste Weg zu einem abrupten Karriereende. Natürlich wäre ein vertrauliches Geständnis noch kein öffentliches Bekenntnis, aber Rosenbaum war sich nicht sicher, ob er Dr. Wilhelm Spiegel trauen konnte. Denn der war Rechtsanwalt. Das musste noch nicht zwingend auf einen miesen Charakter hindeuten. Doch wenn sie einander beruflich begegneten, und von einer ganzen Reihe solcher Begegnungen kannten sie sich, dann vertrat Spiegel meist ganz andere Interessen als Rosenbaum und ganz andere Auffassungen. Die Kenntnis eines sensiblen Geheimnisses des anderen könnte das Kräfteverhältnis massiv beeinträchtigen.

*

August Randsdorf, der Admiral, saß noch eine Weile allein an seinem Tisch vor dem Paravent, haderte ein wenig mit seinem Schicksal und mit der Welt und war ganz sein grimmiges Selbst. Käpt’n Ahab mit der glatten Haut schlich im Saal umher, versuchte vermutlich, sich die Gesichter zu merken und Gesprächsfetzen aufzuschnappen, blieb schließlich vor Randsdorf stehen, fragte, ob noch ein Platz frei sei, bekam ein ›Nein‹ zurück und setzte sich dann an den Tisch hinter dem Paravent, der den Vorteil hatte, dass er meistens frei war, und den Nachteil, dass man aufstehen musste, wenn man das Rednerpult sehen wollte.

Nacheinander gesellten sich der Hilfskoch Gusch Pliete und der Dachdeckergeselle Kalle Rupsch an Randsdorfs Tisch. Sie tranken Bier wie alle anderen, und diskutierten wie alle anderen, nur Witze rissen sie nicht.

Die Veranstaltung begann, eine offene Kundgebung der Kieler SPD. Es wurden drei Ehrengäste begrüßt, ein paar sozialistische Grußworte verlesen und die ›Internationale‹ gesungen, bevor einige mehr oder minder begabte Redner über mehr oder minder interessante Themen sprachen und ihre Stimmen nur mit Mühe über der Geräuschkulisse des Saals halten konnten. Die Kondition ihrer Stimmbänder begrenzte ihre Redezeit.

Den beiden Hauptrednern der Veranstaltung erging es anders. Es waren der Reichstagsabgeordnete Carl Legien und der Kieler Stadtverordnete Wilhelm Brecour, natürlich beide SPD. Man wartete auf sie, und als sie dran waren, wurde es ruhig im Saal. Sogar der Wirt zapfte leiser, so schien es. Die Zeitungsreporter und Käpt’n Ahab hingegen wurden hektischer und versuchten, die Reden zu stenografieren, was jedoch nur ansatzweise gelang.

»Liebe Genossen«, begann Legien, gleich wurde gejubelt, dann wurde es wieder ganz leise. Er war hier in seiner Heimatstadt schon zu Lebzeiten eine Legende. »Liebe Genossen! Die Älteren unter euch werden sich an die gute alte Zeit erinnern können, als es das Sozialistengesetz noch gab. Es half den irregeleiteten Arbeitern, sich von ihren gefährlichen Ideologien zu befreien. Politische Vereinigungen, in denen sozialistische Propagandahetze betrieben worden war, wurden aufgelöst und die Arbeiter gründeten Turn-, Gesangs- und Kulturvereine. Dort turnten sie und sangen und betrieben Kultur und verloren natürlich kein einziges Wort über Politik.«

Legien machte eine Pause und trank einen Schluck Wasser. Im Saal grummelte es. Einige waren irritiert, andere schmunzelten. Dann setzte Legien seine Rede fort.

»Die Arbeiter dachten nicht einmal mehr über Politik nach. Sie machten, wozu die Obrigkeit sie bestimmt hatte. Das war die gute alte Zeit! Für Kapitalisten!«

Wieder eine Pause. Jetzt gelöste Stimmung, allgemeines Schmunzeln. Die Irritation war gewichen.

»Liebe Genossen, ich will euch heute auf ein Problem aufmerksam machen. Und ich will mit euch darüber nachdenken, wie wir es lösen können. Die gute alte Zeit ist nicht endgültig vorbei. Sie kann immer wieder aufleben. Wir müssen wachsam sein. Heute dürfen wir uns politisch betätigen. Wir werden sogar in die Stadtverordnetenversammlungen und die Landtage gewählt. Selbst in den Reichstag werden wir gewählt! Aber trotzdem werden wir behindert, schikamiert, benachteiligt und beschimpft. Wir wollen eine Kundgebung abhalten und sie wird verboten – wegen Brandgefahr! Wir bestellen Flugblätter und in der Druckerei werden die Druckmaschinen beschlagnahmt – aus Versehen! Wir wollen uns in einer Gastwirtschaft treffen und dem Wirt wird eine gesundheitspolizeiliche Überprüfung seiner Schankräume angekündigt, und die Ankündigung wird wieder aufgehoben, sobald der Wirt unsere Veranstaltung absagt.«

Pfiffe und Pfuirufe.

»Wenn wir einen Umzug durch die Kieler Innenstadt planen, so wie wir es früher zu allerlei Gelegenheiten getan haben, so wie die Gilden, die Schützenvereine und die Spielmannszüge es getan haben, noch immer tun und auch in alle Zukunft ständig tun werden, erhalten wir, und nur wir neuerdings, regelmäßig vom Polizeipräsidenten keine Erlaubnis mehr dafür. Und warum? Weil es Ausschreitungen geben könnte, sagt der Polizeipräsident. Und wenn wir versichern, dass wir unsere Leute im Zaume halten? Dann könnte es trotzdem Ausschreitungen unserer Gegner geben, sagt der Polizeipräsident. Weil unsere politischen Gegner die öffentliche Sicherheit bedrohen, werden wir verboten. Das sagt der Polizeipräsident!«

Empörung.

»Was würde der Polizeipräsident wohl tun, wenn wir drohten, eine Bombe in die Parteizentrale der Deutschkonservativen zu werfen? Würde er schnell die Zentrale schließen?«

Die Geräuschkulisse schwoll weiter an.

»Genossen, das Sozialistengesetz ist wieder da! Es heißt jetzt Vereinsgesetz. Und es macht keinen Unterschied, ob man die SPD als Partei im Ganzen verbietet oder den SPD-Mitgliedern verbietet, sich zu treffen. Doch die Kieler Sozialdemokratie ist stark genug, auch gegen den Willen des Polizeipräsidenten die Straße zu behaupten.«

Der Saal tobte. Das war eine Unverfrorenheit, eine Ohrfeige, die bislang noch keine andere Partei gewagt hatte und die ein preußischer Polizeipräsident nicht akzeptieren, aber gegen die er womöglich auch nichts mehr ausrichten konnte.

Wilhelm Brecour, der zweite Hauptredner dieses Abends, legte noch eine Schippe drauf: »Warum tun die das? Warum behindern sie uns?«, fragte er. »Weil sie Angst vor uns haben. Und warum haben sie Angst vor uns? Weil wir so viele sind. Und wenn wir organisiert sind, können sie nichts mehr gegen uns ausrichten. Den Kapitalisten steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Schaut nur hin! Es sind die letzten, verzweifelten Maßnahmen, die sie ergreifen, und – glaubt es mir – wenn wir uns alle einig sind, dann sind es auch chancenlose Maßnahmen.«

Brecour machte eine Pause und der brodelnde Saal beruhigte sich langsam.

»Die Arbeiter haben in den letzten 15 oder 20 Jahren begonnen, sich zu etablieren. Sie haben mehr zu verlieren als nur ihre Fesseln, und deshalb wurden sie pragmatisch, vom Revolutionär zum Reformer, zumal hier in Kiel, zumal überall, wo sie Proletarier sind und nicht Intellektuelle. Nach den ersten Richtungskämpfen vor 30 oder 40 Jahren haben die deutschen Sozialisten sich entschlossen, den Weg der Worte und nicht den der Gewehre zu gehen. Und jetzt zeigt sich, dass das richtig war.«

Beifall.

»Die Kapitalisten können uns nicht mehr verhindern. Wir werden die Macht übernehmen, weil wir die Parlamente übernehmen!«

Starker Beifall.

»Fast 30 Prozent der Wählerstimmen bei der letzten Reichstagswahl und 55 Prozent der Stimmen bei den letzten Kieler Kommunalwahlen entfielen auf die SPD. Und es werden ständig mehr. Das sind die Fakten, an denen die feinen Herren nicht mehr vorbeikommen!«

Jubel.

»Und trotzdem hat die SPD im Reichstag nur elf Prozent der Sitze und in der Kieler Stadtverordnetenversammlung nur 39 Prozent. Die absolute Mehrheit der Stimmen, aber nur ein Drittel der Sitze! Woran liegt das? Es liegt am Wahlzensus und es liegt an den manipulativ zusammengeschnittenen Wahlkreisen. Wir haben dagegen protestiert, aber wir haben es zähneknirschend hingenommen, denn wir wissen, dass wir immer mehr werden. Aber jetzt holt unser feiner Herr Oberbürgermeister zu einem neuen Schlag aus. Er will das Dreiklassenwahlrecht einführen. Das würde bedeuten: Die Arbeiter könnten nur noch über ein Drittel der Sitze bestimmen. Egal wie viele wir sind, zwei Drittel der Sitze gingen dann an die bürgerlichen und die monarchistischen Parteien. Herr Fuß legt die Hand ans Wahlrecht, aber das lassen wir nicht zu. Was sie tun, mag Hand und Fuß haben, aber es wird ihren Kopf kosten!«

Frenetischer Jubel.

»Und deshalb fordern wir allgemeine, gleiche und direkte Wahlen, Abschaffung des Wahlzensus, kein Klassenwahlrecht und keine Wahlmänner!«

Der Schluss der Rede ging im Beifall unter.

Wäre die Veranstaltung nicht am späten Abend, sondern an einem Nachmittag abgehalten worden, hätte sich nach diesen Reden wohl unvermeidlich ein spontaner Demonstrationszug durch die Innenstadt gebildet, wahrscheinlich Richtung Rathaus oder Richtung Schloss. Die Polizei hätte sich vermutlich nicht mehr wie früher darauf beschränkt, die Demonstranten abzudrängen, sie hätte sie eingekesselt und verprügelt. So jedenfalls waren die letzten ungenehmigten Demonstrationen zu Ende gegangen.

Es war aber später Abend und die Leute beruhigten sich lieber an den einzelnen Tischen bei Bier und Zigaretten und mit Diskussionen. Rosenbaum debattierte mit seinen Tischnachbarn und beobachtete Käpt’n Ahab. Und Käpt’n Ahab machte sich Notizen, hin und wieder stand er von seinen Stuhl auf, warf ein paar prüfende Blicke durch den Saal und verschwand wieder hinter dem Paravent.

Randsdorf, Pliete und Rupsch empörten sich, Paul Fuß und Konsorten seien reaktionäre Schweinehunde und ihre Machenschaften kriminell.

»Das darf man sich nicht länger gefallen lassen«, forderte Randsdorf.

»Aber was sollen wir tun?«, fragte Rupsch.

»Demonstrieren«, schlug Pliete vor.

Dann tranken sie wortlos weiter ihr Bier.

»Ihr miesen kleinen Feiglinge«, schimpfte Randsdorf schließlich. Im Grunde waren sie sich stillschweigend einig, dass demonstrieren nicht mehr ausreichte.

»Vor einigen Wochen habe ich in der goldenen Kugel vom Rathausturm eine Kassette deponiert«, sagte Rupsch, der Dachdecker, dessen Firma durch den Auftrag zur Eindeckung des neuen Rathauses vor dem Konkurs gerettet worden war. »Das Gerüst war schon abgebaut und ich musste von der obersten Luke bis zur Kugel zehn Meter ungesichert hochklettern.«

»Und was war das für ’ne Kassette?«, fragte Pliete, der Hilfskoch.

»Irgendwelche wichtigen Dokumente, die für die Nachwelt aufbewahrt werden sollen.«

»Und?«

»Ich dachte mir, das können wir auch. Ich hab mir das genau angeschaut: Im Sockel der Kugel befindet sich ein Fach, groß genug, dass wir eine Kassette mit unseren Dokumenten für die Nachwelt hinterlegen können.«

»Nicht schlecht, die Idee«, stimmte Randsdorf, der Admiral, zu. »Wir müssen ein Flugblatt drucken, das wir da reinlegen können. Am besten Brecours Rede und noch ein paar Aufrufe zu Demonstrationen und so weiter.«

»Ach Admiral, so schlau is dat nich«, warf Pliete ein und lehnte sich gegen den Paravent. »Wir verstecken da was im Turm und niemand erfährt davon. Vielleicht wird das in hundert Jahren mal gefunden, aber bis dahin weiß niemand davon. Was soll das?«

»Dann müssen wir anders auf uns aufmerksam machen.« Alle drei nahmen einen Schluck Bier, zündeten sich eine Zigarette an und bestätigten sich gegenseitig, dass eine weitere Aktion erforderlich sei. Etwas Aufsehenerregendes, etwas Bombastisches. Etwas, das niemand so schnell wieder vergessen würde. Etwas, was das Kaiserreich in seinen Grundfesten erschüttern musste.

Sie steigerten sich in die fantasievollsten Superlativen, bis Randsdorf eine realistische Idee hatte: »In der ›Kieler Neuesten‹ stand heute, dass der Kaiser im November zur Einweihung des Rathauses kommen soll. Da könnten wir doch etwas starten.«

Sie schauten sich an. Eine Aktion zum Kaiserbesuch? Ein Anschlag auf den Kaiser?

»Mensch, Admiral …«

Plötzlich hörten sie ein Scheppern und einen Wehschrei hinter dem Paravent. Offenbar war ein Mann, der aussah wie Käpt’n Ahab, vom Tisch gefallen, als er versucht hatte, über den Paravent zu schielen. Pliete half dem Mann auf. Doch statt sich zu bedanken, hastete er hektisch und verwirrt zur Tür hinaus.

Rupsch schaute wieder zu Randsdorf. Ein Anschlag auf den Kaiser? Das war ungeheuerlich, es war das Undenkbare gedacht. Und alle waren sich im Klaren: Attentate auf Staatsoberhäupter endeten regelmäßig mit der Hinrichtung der Attentäter. Sie waren erschüttert von ihren eigenen Gedanken und davon, dass sie sich so etwas selbst zutrauten. Oder doch nicht?

»Vielleicht müsste der Kaiser bei dem Anschlag gar nicht sterben«, sinnierte Rupsch.

»Willst du absichtlich vorbeischießen?«, fragte Randsdorf im Admiralston. »Oder dich vielleicht vor ihm hinstellen und peng rufen?«

»Aber der Kaiser hat doch gar nichts mit dem Kommunalwahlrecht zu tun«, gab Pliete zu bedenken. »Wir müssten einen Anschlag auf den Bürgermeister verüben, nicht auf den Kaiser.«

»So ein Schwachsinn!«, schimpfte Randsdorf. »Ein Anschlag auf den Kieler Oberbürgermeister, womöglich einer, bei dem niemand ums Leben kommt, würde es noch nicht mal in die überregionale Presse schaffen. Wer weiß schon in Berlin oder Frankfurt, wer Paul Fuß ist?«

Sie sahen sich wieder schweigend an. Was zunächst undenkbar gewesen war, wurde langsam diskussionswürdig. Aber Mörder waren sie dann doch nicht. Oder?

Es war spät, die Männer kamen überein, dass sie die Sache noch einmal überschlafen und sich in den nächsten Tagen im ›Storchen‹, einer Gaststätte im Stinkviertel, treffen sollten. Sie zahlten und erhoben sich, Randsdorfs schmerzende Hüfte, Rupschs müde Beine und Plietes von Alkohol umnebelter Kopf, sie mussten jetzt nach Hause. Doch an der Tür kamen sie nicht weiter.

An den Nebenausgängen postierten sich Polizei-Sergeanten und durch die Haupteingangstür trat ein zackiger Oberwachtmeister, der seine Pfeife schrillen ließ und mit sich überschlagender Stimme anordnete, dass niemand den Raum zu verlassen und jeder ruhig zu sein und sitzen zu bleiben, beziehungsweise sich wieder an seinen Platz zu setzen habe. Weitere Sergeanten eilten in den Saal und verteilten sich. Schließlich kam Käpt’n Ahab herein, rannte zum Tisch vor dem Paravent, fand ihn verlassen vor und schrie: »Wer hat hier gesessen?« Dann schrie er noch mal das gleiche, nur lauter, dann ein weiteres Mal, wieder etwas lauter, als hätte er ernsthaft für möglich gehalten, dass er beim ersten Mal von jemandem überhört worden sein könnte. Doch niemand antwortete.

»Also gut«, schrie Ahab und marschierte zur Eingangstür, »dann verlassen alle nacheinander den Saal durch den Haupteingang.«

Rosenbaum eilte auf den Oberwachtmeister zu, zeigte seinen Dienstausweis vor und fragte, was das solle. Zugleich eilte Spiegel auf den Oberwachtmeister zu, stellte sich als Rechtsanwalt und rechtlicher Vertreter des Veranstalters vor und stellte die gleiche Frage. Sie bekamen zur Auskunft, die Durchsuchung diene der Ergreifung von Verschwörern und dulde keinen Aufschub, weil Gefahr im Verzug sei. Rosenbaums und Spiegels Nachfragen, welche Verschwörung man denn vermute und wer die Verschwörer seien, wurden nicht mehr beantwortet.

Für Ahab wurde es zunehmend unangenehm. Er sah sich jeden einzelnen Besucher der Veranstaltung beim Verlassen des Saals genau an, doch spätestens beim 50. Gesicht fand er, dass fast alle Sozialisten gleich aussahen. Ihm waren zwar einige Besucher bekannter vorgekommen als andere, immerhin hatte er vor einer Stunde versucht, sich die Gesichter zu merken. Aber gerade die Verschwörer hatte er nicht richtig gesehen. War es dieser? Oder jener? Irgendwie hatte er versagt. Wenn er bei einer Person zweifelte, schickte er den Betreffenden in einen Nebenraum und er wurde zu einem Verdächtigen. Zum Schluss hatte Ahab rund 30 Männer ausgewählt. Randsdorf und Pliete befanden sich darunter, Rupsch nicht.

Die Polizei nahm die Personalien auf, verhörte alle, ob ein Anschlag geplant war und wollte wissen, wer an welchem Tisch gesessen hatten. Zuvorkommend würden die behandelt werden, die ein Geständnis ablegen, bevor die Mitverschwörer gestehen.

Spiegel hatte sich kurzerhand zum rechtlichen Beistand jedes einzelnen Verdächtigen erklärt und wohnte den Verhören bei, was den Widerstandswillen der Verdächtigen beträchtlich stärkte. Zum Schluss hatte niemand etwas Unlauteres geplant und niemand hatte an dem Tisch vor dem Paravent Mitte links gesessen.

Ahab versuchte ein allerletztes Mal sein Glück und ging auf Gusch Pliete zu. »Haben Sie mir nicht aufgeholfen, als ich gestürzt war?«

»Oh Entschuldigung, ich hatte gar nicht bemerkt, dass jemand gestürzt war. Sonst hätte ich selbstverständlich geholfen.«

»Aber Sie haben doch geholfen.«

»Ich hatte wirklich nichts bemerkt. Sie waren hereingekommen, fragten, wer an dem Tisch gesessen hat und …«

»Nein, vorher!«

»Vorher?«

Ahab hatte einen Verdacht, aber er war sich zu unsicher. In dieser Nacht wurde niemand festgenommen, dafür sorgte Spiegel. Und Ahab blieb nicht mal ein kleiner Triumph.

III. Kapitel

Der Kaiser war aufgebracht, mehr noch, entrüstet, empört, man könnte auch sagen, er hatte eine Stinkwut, nachdem ihm der Vorschlag unterbreitet worden war, aus Gründen der Sicherheit nicht zur Einweihung des neuen Rathauses nach Kiel zu fahren. Seine ganze Freude über die neue Uniform eines Großadmirals der Kaiserlichen Marine, die er gerade anprobierte und die er zu dem Besuch in Kiel anlegen wollte, war dahin.