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Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den Preis der moralischen Selbstaufgabe.

Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt –, präsentieren die »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Sara Berger

Experten der Vernichtung

Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern
Belzec, Sobibor und Treblinka

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Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© E-Book 2013 by Hamburger Edition

© der Printausgabe 2013 by Hamburger Edition

Inhalt

Einleitung: Das »T4-Reinhardt-Netzwerk«

Voraussetzungen für den Völkermord

Die Verfolgung der Juden und erste Giftgasexperimente bis zum Herbst 1941

Das Generalgouvernement, der Distrikt Lublin und die Judenverfolgung

Das T4-Personal und seine Einbeziehung in den Massenmord

Der Aufbau des T4-Reinhardt-Netzwerks (Oktober 1941 bis Juni/Juli 1942)

Belzec: Konstituierung des Netzwerks und Aufbau des »Versuchslagers«

Die Führungsgruppe und die Schaffung von Innen- und Außennetzen (Oktober bis Dezember 1941)

Verstärkung des Netzwerks und Konstituierung der Lagermannschaft unter Wirth (Januar bis März 1942)

Erste Versuche mit Giftgas

Belzec in der ersten Transportphase (März bis April 1942)

Sobibor: Ausweitung des Netzwerks und Aufbau des zweiten Lagers

Baubeginn unter Thomalla (Februar bis März 1942)

Konstituierung der Lagermannschaft unter Stangl (April 1942)

Der Ausbau Sobibors zum Vernichtungslager (April 1942)

Sobibor in der ersten Deportationsphase (Mai bis Juni 1942)

Treblinka: Aufbau des dritten Lagers

Die Aufbaumannschaft unter Eberl und Thomalla (April bis Juli 1942)

Die Errichtung des Vernichtungslagers

Das Deportationsnetz in der Aufbauphase (März bis Juni 1942)

Transporte nach Belzec: Testphase im März und April 1942

Transporte nach Belzec und Sobibor im Mai und Juni 1942: von der »Aktion Globus« zur »Aktion Reinhardt«

Verstärkung des Netzwerks: Konsolidierung und Optimierung der Lagerstrukturen (Juni/Juli bis Dezember 1942)

Reorganisation in Belzec: Ausbau der Vernichtungsstrukturen

Optimierung des Gasmordes (Juni bis August 1942)

Personelle Umstrukturierung und Erweiterung (Juni bis November 1942)

»Transportabfertigung« in Belzec (Juli bis Dezember 1942)

Reorganisation in Treblinka: Ausbau der Vernichtungsstrukturen

Erste Transporte und Personalaufstockung (Juli bis August 1942)

Reorganisation I: Umbauarbeiten und funktionale Struktur (August bis Oktober 1942)

Reorganisation II: Personalia (August bis Dezember 1942)

»Transportabfertigung« in Treblinka (September bis Dezember 1942)

Reorganisation in Sobibor: Ausbau der Vernichtungsstrukturen

Personelle Umstrukturierung des Netzwerks

Umbauarbeiten und funktionale Struktur des Lagers

»Transportabfertigung« in Sobibor (Oktober bis Dezember 1942)

Das verdichtete Deportationsnetz (Juli bis Dezember 1942)

Reaktionen und Folgen auf Himmlers Vernichtungsbefehl (Juli bis November 1942)

Transporte nach Belzec, Sobibor und Treblinka (Juli bis Dezember 1942)

Das Raubnetz: Die »Endstelle der Aktion Reinhardt«

Diebstahl, Korruption und Zentralisierungsversuche der »Sachverwertung«

SS-Standortverwaltung, »Kochschule«: Geld, Gold und Wertgegenstände

Alter Flughafen und Chopinstraße 27: Kleidung und Gebrauchsgegenstände

Das T4-Reinhardt-Netzwerk vom Höhepunkt seiner Macht bis zur Auflösung (Januar bis November 1943)

Auflösung von Belzec und Restrukturierung in Treblinka und Sobibor 1943

Leichenverbrennung und Liquidierung des »Versuchslagers« Belzec

Ausbau und Modernisierung in Sobibor: Verbrennung der Leichen und Raubgutverwaltung

Ausbau und Modernisierung in Treblinka: »Verschönerung«, Raubgutverwaltung, Leichenverbrennung

Interne Vernetzung, Innen- und Außennetze: Zwischen institutioneller Zusammenarbeit, Kollaboration und Zwang

Interne Vernetzung, die »Inspektion Einsatz Reinhardt« und die T4

Innennetze I: Die Trawniki-Männer – kollaborierende Wachmannschaften

Innennetze II: Die »Arbeitsjuden« – Arbeitskräfte und Häftlinge

Außennetze I: Einbindung in den deutschen Besatzungsapparat

Außennetze II: Die lokale Bevölkerung

Die europaweite Ausdehnung des Deportationsnetzes (Januar bis Oktober 1943)

Funktionale Ausdehnung des T4-Reinhardt-Netzwerks: Die SS-Arbeitslager und das Zwangsarbeitsnetz

Das T4-Reinhardt-Netzwerk und die Ostindustrie GmbH: Die »sogenannte Rüstungsproduktion« im Distrikt Lublin

Arbeitslager Alter Flughafen in Lublin: »Altsachenverwertung«, DAW und Osti-Werke

SS-Arbeitslager Poniatowa: Textilien

SS-Arbeitslager Dorohucza: Torfwerk

SS-Arbeitslager Budzyn: Flugzeugwerke

Die Aufstände in Treblinka und Sobibor und das Ende der »Aktion Reinhardt«

Der Aufstand am 2. August 1943 in Treblinka und die Auflösung des Lagers

Der Aufstand am 14. Oktober 1943 in Sobibor und die Auflösung des Lagers

T4-Reinhardt-Männer im »Adriatischen Küstenland« (1943 bis 1945)

Die »Sonderabteilung R«

Partisaneneinsätze

Verhaftung von Juden und Konfiszierung jüdischen Eigentums

Das »Polizeihaftlager« Risiera di San Sabba

Das Profil des T4-Reinhardt-Netzwerks

Sozial- und Milieustrukturen des Täterkollektivs

Altersstruktur: Kriegsjugendgeneration und Kriegskindheitsgeneration

Geografische Herkunft: reichsweit mit regionalen Konzentrationen

Politische Herkunft: NS-Organisationen

Beruflicher Hintergrund: Arbeiter, Angestellte und Handwerker

Familiäre Situation: Familienväter in instabilen Beziehungen

Konfession: vorwiegend protestantisch und »gottgläubig«

Herkunft von der T4: »Das Umbringen war schon ihr Beruf«

Motive und situative Bedingungen für die Beteiligung am Massenmord

Zwischen Freiwilligkeit und Zwang, Befehl und unterstellter Rechtmäßigkeit

Antisemitismus als weltanschauliche Grundlage

Vernichtung als Arbeit: Funktionslust und Versuche der Rationalisierung

»Schöne Zeiten«: Anreizstrukturen und individueller Nutzen

Kameradschaft und Gruppendruck

Gewaltformen und Gewaltmilieu

Typologien der Täter: Gewalttätigkeit und Einsatzbereitschaft

Die Aufarbeitung des Massenmords in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«

Die strafrechtliche Verfolgung der Täter

Selbstinszenierung der Täter als kleine Befehlsempfänger

Die deutsche Öffentlichkeit und die Prozesse gegen die T4-Reinhardt-Männer

Die historiografische, kulturelle und erinnerungspolitische Aufarbeitung

Fazit

Danksagung

Anhang

Kurzbiografien der T4-Reinhardt-Männer

Liste der Deportationen in die drei Vernichtungslager

Abkürzungsverzeichnis

Quellen und Literatur

Anmerkungen

Einleitung: Das »T4-Reinhardt-Netzwerk«

In den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka wurden über anderthalb Millionen Juden insbesondere aus Polen, aber auch aus den Niederlanden, aus Frankreich, Deutschland und Österreich, aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien und Griechenland, aus Weißrussland und Litauen getötet. Auch Sinti und Roma befanden sich unter den Opfern. Allein in den vier Monaten Juli bis Oktober 1942 wurden in den drei Vernichtungslagern über eine Million Menschen mit Motorenabgasen ermordet. Die Lager der »Aktion Reinhardt« übertrafen somit die Opferzahl des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, das auch in den mordintensiven Monaten im letzten Kriegsjahr nicht die täglichen Opferzahlen des Lagers Treblinka erreichte. Dennoch wird die Bedeutung der »Aktion Reinhardt« angesichts der Rolle von Auschwitz als Symbol für den Massenmord an den europäischen Juden häufig unterschätzt.

Der Großteil der verantwortlichen Akteure hatte bereits Erfahrung mit dem Töten: Die Leitungsmannschaften der Lager wurden fast ausschließlich durch Personal der »Euthanasie«-Anstalten und der Berliner T4-Zentrale1 gestellt. Nach Vereinbarungen zwischen der Kanzlei des Führers (KdF) und dem SS- und Polizeiführer (SSPF) von Lublin wurden die etwa 120 Männer in das Generalgouvernement geschickt und bestimmten in den zwei Jahren der Existenz der Lager maßgeblich das dortige Geschehen. Beim Auf- und Ausbau der Lager sowie der Entwicklung der Tötungsstrukturen verfügten sie über einen großen Handlungsspielraum. Zur Umsetzung des mörderischen Projekts bedienten sie sich der »Trawniki«-Wachmänner und der zur Arbeit gezwungenen »Arbeitsjuden«.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht die Frage, wie eine Gruppe von Tätern die Vernichtung der Juden geplant und umgesetzt hat und welche Faktoren die »Effektivität« des Massenmords in diesen Lagern bewirkt haben. Sie ist verbunden mit der Frage nach den Umständen, die aus Menschen Massenmörder machten. Dabei soll mit der Vorstellung der Vernichtungslager als industrialisierte »Todesfabriken«,2 die mit ihren Fließbändern weitgehend ohne verantwortliche Täter und ohne direkte Gewaltanwendung auskommen, gebrochen werden. Dass die verharmlosende Metapher einer Vernichtungsmaschinerie nicht der gewaltsamen Realität entsprach, war auch führenden Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels bewusst, der in seinem Tagebuch den alltäglichen Massenmord in Belzec als ein »ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren«3 bezeichnete.

Im Fokus dieser Studie stehen daher die Täter und die Strukturen. Das Interagieren der Täter in der Gruppe sowie das Ineinandergreifen und die Vernetzung der personellen und institutionellen Ebenen sowohl innerhalb der Lager als auch nach außen sollen methodisch mithilfe des Netzwerk-Konzepts untersucht werden. Das Netzwerk-Konzept bietet die Möglichkeit – wie es der Rechtswissenschaftler Herbert Jäger ausdrückte –, die »individuellen Taten und Tatbeiträge« mit dem »Kollektivnetz des Verbrechens«4 wieder zusammenzuführen, das heißt, Täter und Tat, Organisation und Lager als eine miteinander verbundene Einheit zu sehen. Zudem kann auf diese Weise die Kollaboration verschiedener deutscher wie auch ausländischer Gruppierungen bei der Ermordung der Juden analytisch mit einbezogen werden. Die Frage nach den institutionellen und personellen Kontexten der Täter des Massenmords beschäftigt die Täterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1990er Jahren unter unterschiedlichen Aspekten. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Konzept des Netzwerks wurde bislang in diesem Zusammenhang nicht angewandt.

Zur Täterforschung

Hinsichtlich der Frage, welche Merkmale die Täter aufwiesen, die den NS-Massenmord in einem derartigen Ausmaß ermöglicht haben, schwankten die Argumentationen bis in die 1990er Jahre zwischen zwei Extremen, die an den alten Streit zwischen Intentionalisten und Strukturalisten erinnern. In der einen wurden die NS-Täter »dämonisiert«, zu pathologischen Sadisten und Asozialen erklärt und als solche nicht mehr als »normale« Elemente der deutschen Gesellschaft, sondern allenfalls als »gescheiterte Randexistenzen« wahrgenommen. Täter, die von ihrer Persönlichkeit scheinbar nicht in dieses Konzept passten, wurden mit dem Bild der gespaltenen Persönlichkeit eines »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« beschrieben. Dieser Blick auf die Täter war in der Öffentlichkeit sehr präsent und wurde auch durch die Erfahrungen der Opfer und das Ausmaß der von ihnen erlittenen Gewalt geprägt.5 Die entgegengesetzte Argumentation stützte sich auf ein »funktionalistisches Täterbild«.6 Dieses anonymisierte die Verbrechen, tendierte dazu, die Institutionalisierung des Massenmordes zu betonen, und vernachlässigte dabei die aktive Beteiligung von Personen. Die Täter wurden als angepasste Funktionäre oder verführte Idealisten beschrieben, die in stark hierarchisierte Strukturen eingebunden waren. Ihnen wurde zwar der Vorwurf gemacht, einen »politischen Irrtum« begangen zu haben, aber keine Schuld am Massenmord zugesprochen, weil davon ausgegangen wurde, dass sie – insbesondere aufgrund von Befehls- und Unterordnungszwängen – nicht anders hätten handeln können. Solche durch die NS-Prozesse und die Verteidigungshaltung der Täter geförderten Argumentationen und Konzepte versuchten der Tatsache Rechnung zu tragen, dass neben den zahlreichen »passiv« Beteiligten eine ebenso unüberschaubare Anzahl von SS-Männern, Polizisten und Verwaltungsangehörigen auch aktiv an den NS-Verbrechen beteiligt war. Die Täter selbst, ihre Handlungsspielräume und ihre unterschiedlichen Interessen an der Beteiligung am Massenmord wurden in diesen Erklärungsansätzen ausgespart; stattdessen wurden sie als motivlose, autoritätshörige und unterwürfige Marionetten ohne eigenen Willen, als einfache Glieder einer anonymen Vernichtungsmaschinerie wahrgenommen.7

In den 1990er Jahren hat sich die Täterforschung von diesen monokausalen, letztlich nicht überzeugenden Argumentationen gelöst und versucht seither immer mehr, sowohl Intentionen als auch Persönlichkeitsdispositionen sowie die soziale Praxis und situative Dynamiken in die Analyse mit einzubeziehen. Der Historiker Gerhard Paul hat aus den verschiedenen bisher erschienenen Studien zusammenfassend verschiedene Typologien der Täter entwickelt, die naturgemäß Idealtypen darstellen: »Weltanschauungstäter« wussten und wollten, was sie taten, und verstanden sich als »Exekutoren der rassistischen NS-Weltanschauung«. »Utilitaristisch motivierte Täter« sahen Juden vor dem Hintergrund antisemitischer Vorprägung in der Kriegssituation als »überflüssige Esser«. »Kriminelle Exzesstäter« begingen ihre Taten aus niederen sexuellen und materiellen Motiven und nutzten hierfür den staatlich propagierten Antisemitismus. Als weitere Typen hat Paul die »traditionellen Befehlsempfänger« identifiziert, wie sie Browning mit seinen ordinary men untersucht hat, die »willigen politischen Konformisten«, welche die sich durch den Nationalsozialismus bietenden Gelegenheiten nutzten, um Karriere zu machen, sowie die reinen »Schreibtischtäter«.8 Der amerikanische Soziologe Michael Mann versuchte die Täter in ähnlicher Weise als peculiar people (eigenartige Menschen) und ordinary people (normale Menschen) zu klassifizieren: Peculiar people handelten aus ideologischen Motiven; in diese Kategorie fielen auch Personen mit gestörter Persönlichkeit, die ein sadistisches Verhalten an den Tag legten. Ordinary people bestanden aus vier Untergruppen: die ordinary bigoted, die engstirnigen (antisemitischen) Täter wie bei Goldhagens ordinary Germans; die ängstlichen und konformistischen Täter, wie sie auch Browning herausgearbeitet hatte, die unter Hierarchie- und Kameradschaftszwängen handelten; moderne Bürokraten, die mechanisch, rational und unpersönlich mordeten, sowie gewöhnliche Männer, die eigennützig nach materiellen Vorteilen oder nach Karriere strebten.9

Die Täterstudien haben deutlich gemacht, dass sich alle Segmente der deutschen Gesellschaft am Völkermord beteiligt haben. Keine soziale Schicht, kein Berufsfeld, auch nicht der akademische Bereich waren frei von Tätern. Jede Berufsschicht nutzte die neuen Möglichkeiten, die ihr der Nationalsozialismus bot: Ärzte experimentierten, promovierte Juristen übernahmen die Schaltpositionen in der Verwaltung, Polizisten weiteten ihre Handlungsfelder aus. Gerade die oberen sozialen Schichten, insbesondere das akademische Bildungsbürgertum, wurden in den letzten Jahren in der Täterforschung in den Blick genommen, weil hier Schlüsselpositionen und damit eine größere Verantwortung für die Ingangsetzung, Planung und Durchführung der Morde vermutet wurden. Doch auch die T4-Reinhardt-Männer, die zum großen Teil aus unteren Bevölkerungsschichten kamen, waren – wie in dieser Studie deutlich wird – nicht nur Exekutoren vor Ort, sondern hatten ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Konzipierung und Durchsetzung des Massenmords.

Mehr und mehr hat sich in der Täterforschung der letzten Jahre der Ansatz durchgesetzt, dass der Blick sowohl auf die Prozesse und Strukturen des Nationalsozialismus, das heißt auf die Organisation selbst, als auch auf die darin eingebundenen und diese gleichsam tragenden Täter gerichtet werden muss. Daran anknüpfend geht diese Studie von der Grundannahme aus, dass es gerade das komplexe Wechselspiel zwischen Akteuren und Organisation war, das den Massenmord möglich gemacht hat. Verhaltens- und Interaktionsmuster der Täter werden einerseits durch die Organisation konstituiert und geprägt, andererseits wird die jeweilige Organisation selbst von diesen Tätern geformt, weiterentwickelt und durch diese repräsentiert. Dieser methodische Ansatz des Zusammenspiels von Tätern und Organisation bei der Ermordung der Juden oder anderer verfolgter Gruppen wurde bislang noch nicht systematisch umgesetzt. Browning hat zwar mit seiner multiperspektivisch angelegten Studie und deren Konzentration auf situative Bedingungen bereits versucht, nicht nur eine spezielle Tätergruppe, sondern auch die Art ihrer Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe in den Blick zu nehmen, um die Massenerschießungen und die Hilfestellung der Polizeibataillone bei der Deportation der polnischen Juden zu analysieren.10 In seiner Studie steht allerdings eine relativ große Gruppe von etwa 500 Tätern im Mittelpunkt, die zudem kein stationäres, eigenständiges Vernichtungssystem wie die Lager der »Aktion Reinhardt« aufgebaut hat, das sich durch feste Strukturen und arbeitsteilige Abläufe kennzeichnen lässt. Die Verbindung von Tätern und Organisation ist hier weniger ausgeprägt. Gerade diese lässt sich jedoch an der überschaubaren Tätergruppe der Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« besonders deutlich zeigen. Um die Verflechtung von Tätern und Organisation zu analysieren, wird in dieser Studie das methodische Konzept des Netzwerks zugrunde gelegt.

Das Netzwerk-Konzept und die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt«

Der Netzwerkgedanke wird im Folgenden in zweierlei Hinsicht genutzt.11 Zum einen ermöglicht das Netzwerk-Konzept ganz allgemein, die systematische Beteiligung verschiedener Akteure an der Ermordung der Juden konkret und differenziert herauszuarbeiten und neue Ergebnisse bezüglich der »Aktion Reinhardt« zu generieren. Dies wird hier unter die Begriffe »Innen-« und »Außennetze« gefasst. Die Analyse der interorganisatorischen Zusammenarbeit mithilfe von Netzwerk-Konzepten hat mittlerweile durch neue Arbeiten, wie die Studie von Peter Klein zur »Gettoverwaltung Litzmannstadt« sowie durch die theoretischen Analysen des Verwaltungswissenschaftlers Wolfgang Seibel, Eingang in der historischen Forschung zu NS-Verbrechen gefunden.12

Zum anderen dient der Terminus Netzwerk auch zur Beschreibung der Organisationsform der »Aktion-Reinhardt«-Lager. Eine solche Betrachtung einer speziellen Tätergruppe als Gesamtheit eines Kollektivs von interagierenden Individuen beziehungsweise Einheiten mit einem gemeinsamen Ziel ist in der Täterforschung neu. Dieses Verständnis von Netzwerk als Organisationsform knüpft an die Definition der Soziologin Renate Mayntz an. Sie definiert Netzwerk als eine soziale Gruppe von Akteuren, die unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Strukturen voneinander abhängig sind, deren Handeln aber nicht ausschließlich durch geregelte Vorschriften und hierarchische Befehlsketten, das heißt durch Autorität und Gehorsam, bestimmt wird. Die in diesen offen konfigurierten Strukturen handelnden Akteure sind teilautonom, haben Handlungsspielräume und Entscheidungsmöglichkeiten und müssen einen Interessenausgleich zwischen dem Nutzen des Systems und dem individuellen Nutzen finden. Dabei kommt es weniger auf die Organisation an sich als auf das Organisieren an.13

Für den Kontext der Arbeit sind weitere Begriffe aus der Netzwerk-Forschung hilfreich. Zunächst ist hier der Begriff des Gesamtnetzwerks zu nennen, der in Anknüpfung an Mayntz als ein abgegrenztes Ensemble aller mit einem gemeinsamen Ziel agierender Akteure verstanden wird. Wichtig ist überdies der Begriff des Akteurs, der sich auf individuelle oder kollektive soziale Einheiten bezieht. Mehrere Akteure bilden – aufgrund von Zusammengehörigkeit, aber auch aufgrund von vergleichbaren Merkmalen – Gruppen. Die flexible und relationale Kategorie der Gruppe ermöglicht eine Perspektive über die Einzelpersonen hinaus; sie dient beispielsweise der Beschreibung von Führungsgruppen innerhalb des Netzwerks.

Der Begriff der Subgruppe wiederum bezieht sich auf den Begriff des Gesamtnetzwerks, und zwar auf einen abgrenzbaren Teil, in dem jeder Akteur mit jedem anderen verbunden ist. Im vorliegenden Fall sind die Lager der »Aktion Reinhardt« Subgruppen im Gesamtnetzwerk. Der Begriff bezieht sich sowohl auf individuelle und kollektive Akteure und Gruppen als auch auf die Organisation dieser Akteure. Des Weiteren ist für die Analyse das Konzept der Verbindungen zentral. Es lenkt den Blick insbesondere auf die Wechselbeziehungen zwischen den Akteuren und auf das Interagieren von Gruppen und Subgruppen. Nicht zuletzt ist der Begriff des Merkmals von Bedeutung, der sich sowohl auf die Akteure als auch auf das Netzwerk bezieht. Dabei ist zwischen »absoluten Merkmalen«, die sich auf den einzelnen Akteur beziehen und unabhängig von Beziehungsgeflechten sind, wie zum Beispiel Alter oder Herkunft, und »relationalen Merkmalen«, die die Beziehungen und Verbindungen zwischen den Akteuren beschreiben, zu unterscheiden.14

Mit diesen Begriffen und Ansätzen der Netzwerk-Forschungkönnen das Interagieren der Täter und die Tötungsprozesse innerhalb der Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« systematisch herausgearbeitet werden. Die Täter und die Lager sollen als Gesamtnetzwerk betrachtet werden, das sich aus einem Akteurset von 121 Männern zusammensetzt. Dabei handelt es sich um das gesamte Täterkollektiv der in den Osten zum Aufbau der Lager versetzten T4-Angehörigen. Dieses Akteurset und die Lager als Gesamtnetzwerk werden im Folgenden als T4-Reinhardt-Netzwerk bezeichnet. Diese Bezeichnung soll die doppelte Zugehörigkeit der Akteure zum Ausdruck bringen: Zum einen dient sie dazu, das Dienstverhältnis zur »T4« sowie die vorherige Tätigkeit in der »Euthanasie« herauszustellen, zum anderen können damit andere in die »Aktion Reinhardt« involvierte Personengruppen, die nicht zum Lagerpersonal gehörten, abgegrenzt werden. Das T4-Reinhardt-Netzwerk wirkte nach Abschluss der »Aktion Reinhardt« weiter: Mindestens 78 Personen wurden Ende 1943 in die »Operationszone Adriatisches Küstenland« versetzt, wo sie jeweils als Abteilung R I, R II und R III eingesetzt wurden. Somit bildeten Teile des T4-Reinhardt-Netzwerks nach der Auflösung der Lager ein neues Netzwerk im »Adriatischen Küstenland«.

Die Beziehungen zwischen »Euthanasie«, »Aktion Reinhardt« und dem »Adriatischen Küstenland« werden in der folgenden Grafik veranschaulicht. Die Pfeile verdeutlichen jeweils die Versetzungen der Tätergruppen.

Das T4-Reinhardt-Netzwerk setzte sich zur Zeit seiner vollen Ausprägung aus vier Subgruppen zusammen, wobei die drei Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka jeweils eine Subgruppe bildeten, die vierte bestand aus der Inspektion der »Aktion Reinhardt« in Lublin mit den Arbeitslagern Alter Flughafen, Poniatowa, Dorohucza und zum Teil Budzyn. Die Vernichtungslager selbst bezeichneten sich jeweils als »SS-Sonderkommandos«.

Das T4-Reinhardt-Netzwerk insgesamt und seine Subgruppen im Besonderen waren nach innen und außen mit zahlreichen Akteuren vernetzt. Zur begrifflichen Unterscheidung wird als Netzwerk lediglich das Gesamtnetzwerk, bestehend aus 121 T4-Reinhardt-Männern (in der folgenden Grafik [S. 16] Ebene I), bezeichnet. Es wird ferner zwischen Innennetzen und Außennetzen unterschieden. Der Begriff Innennetze (= Ebene II) bezieht sich weitgehend auf die Interaktion mit den in den Lagern beschäftigten Trawniki-Männern, sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Lager in Trawniki ausgebildet worden waren, sowie den sogenannten »Arbeitsjuden«, jüdischen Häftlingen, deren Arbeitskraft ausgebeutet wurde. Die Kategorie Außennetze (= Ebene III) bezieht sich auf die arbeitsteilige Zusammenarbeit des T4-Reinhardt-Netzwerks mit anderen Organisationen und Akteuren und umfasst sehr vielfältige Kontakte. Die T4-Reinhardt-Männer arbeiteten beispielsweise mit Angehörigen des SSPF Lublin, mit der Lubliner SS-Standortverwaltung, der T4-Verwaltung und der in der Nähe der Vernichtungslager lebenden Bevölkerung zusammen. Das wichtigste funktionale Außennetz war das »Deportationsnetz«, in das Belzec, Sobibor und Treblinka als Endstationen eingebunden waren. Es zeichnete sich durch eine hochgradige lokale und funktionale Arbeitsteilung Tausender Mitglieder von SS und Polizei, der Zivilverwaltung, der Reichsbahn und anderer, auch ausländischer Gruppierungen aus. Ein weiteres wichtiges Außennetz war das »Raubnetz«, innerhalb dessen die jüdischen Besitztümer sortiert und verteilt wurden. Das »Zwangsarbeitsnetz« bildete in der dritten Phase des T4-Reinhardt-Netzwerks eine Mischform. Hier kam es zu einer strukturellen Vernetzung der Subgruppe der Inspektion der Vernichtungslager mit Akteuren der Außennetze. Diese interne Vernetzung fand zum Teil auch im Raubnetz und in Ausnahmefällen im Deportationsnetz statt.

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Abbildung 1: Das T4-Reinhardt-Netzwerk mit Vorläufer und Nachfolger (1940–1945)

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Abbildung 2: Das T4-Reinhardt-Netzwerk mit Innen- und Außennetzen

Weder die Aufgaben noch die Größe des stetig wachsenden T4-Reinhardt-Netzwerks waren zu Beginn der Tätigkeit klar bestimmt. Gleiches gilt für die qualitative und quantitative Konsistenz der Innen- und Außennetze. Zwar bestand die Aufgabe der T4-Reinhardt-Männer bereits zu Anfang in der Ermordung der Juden, doch die Reichweite dieser Aufgabe war noch begrenzt. Im Laufe eines mehrmonatigen Prozesses nahm die Vernichtung der Juden immer größere Dimensionen an und es kristallisierten sich weitere, damit verbundene Aufgaben heraus. An dieser Entwicklung hatte das T4-Reinhardt-Netzwerk selbst maßgeblichen Anteil. Im Rahmen von Effektivierungsprozessen übernahmen die T4-Reinhardt-Männer neben der Ermordung der Juden auch Aufgaben bei der »Verwertung der Arbeitskraft« in den Arbeitslagern sowie bei der »Sachverwertung« des in den Lagern angehäuften Geldes, der Wertgegenstände und Kleidung der Opfer. Diese Aufgabenbereiche gehörten ebenfalls zu den zentralen Bestandteilen der »Aktion Reinhardt«.15

In den zeitgenössischen Berichten wurden nicht nur die drei Vernichtungslager und die Inspektion von Christian Wirth in Lublin unter dem Decknamen »Reinhardt« gefasst, sondern auch zwei andere Lubliner Einrichtungen, die in die Ermordung der Juden involviert waren und die im Weiteren als Außennetze betrachtet werden: zum einen eine Abteilung beim SSPF, welche die Deportationen organisierte, zum anderen das für die Wertgegenstände zuständige Referat bei der SS-Standortverwaltung. Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das von Repräsentanten des SS-Wirtschafts und Verwaltungshauptamts (WVHA) und teilweise von Historikern ebenfalls als Teil der »Aktion Reinhardt« gesehen wurde, wird in dieser Arbeit nicht zu Einrichtungen der »Aktion Reinhardt« gezählt.16

Dass sich die Gruppe der T4-Reinhardt-Männer sowie die Organisation der drei Vernichtungslager als Netzwerk beschreiben lässt, drückt sich auch in der Aussage des Lagermitglieds Erich Bauer über die besondere Organisation der Lagermannschaften aus. Er erklärte den Gruppenzusammenhalt folgendermaßen: »Wir waren ein verschworener Haufen in einem fremden Land, umgeben von ukrainischen Hilfswilligen, auf die kein Verlass war. Unter diesen Umständen waren wir aufeinander angewiesen.«17 Auch in der Zeichnung eines T4-Mitarbeiters, der die T4-Anstalten im Zuge der Nachkriegsermittlungen in ähnlicher Weise wie die Vernichtungslager als zusammengehörendes System dargestellt hat, wird deutlich, dass sich die beteiligten Akteure bereits damals als »Netzwerkende« wahrgenommen haben, selbst wenn dieser moderne Terminus nicht benutzt wurde.18

In dieser Studie wird von einer rein individualisierenden Betrachtung der Täter abgesehen und stattdessen das Netzwerk-Konzept mit dem Instrument der kollektiven Biografie verbunden, um über die Beschreibung von Einzeltätern hinaus allgemeine Aussagen über das gesamte Kollektiv machen zu können.19 Dazu werden die grundlegenden absoluten Merkmale der 121 T4-Reinhardt-Männer wie Alter, geografische, konfessionelle und berufliche Herkunft, Familienstand, Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen sowie während der »Euthanasie« ausgeübte Tätigkeiten erfasst, quantitativ-statistisch ausgewertet und die individuellen Lebensläufe miteinander verglichen, um dann wesentliche relationale Merkmale des Täterkollektivs zu bestimmen. Von Interesse sind hier zum einen Indikatoren zur Begründung des Verbleibs im Täterkollektiv und für die Teilnahme am Massenmord an den Juden. Zum anderen werden bei der Betrachtung der formellen und informellen Beziehungen die Führungsgruppen, Hierarchien und Machtkonstellationen herausgearbeitet. Auf diese Weise wird deutlich, auf welche Weise die Täter interagierten, welchen Beitrag sie zur Organisierung des Massenmords an den Juden leisteten, welche Handlungsspielräume sie besaßen und welche Verantwortung ihnen somit für die Verbrechen zugesprochen werden muss. Hierfür wurde anhand der Kriterien Gewalttätigkeit und Einsatzbereitschaft eine Tätertypologie erstellt, mit der die einzelnen Täter nach ihrem jeweiligen Verhalten in den Lagern bestimmten Tätertypen zugeordnet werden.

Forschungsstand zur »Aktion Reinhardt« und Materialgrundlage

Die »Aktion Reinhardt« gilt als zentral für die Vernichtung der Juden. In der historischen Forschung sind jedoch nach wie vor viele Aspekte der Lagerorganisation und -struktur wie auch des Täterverhaltens unklar, zum Teil auch fehlerhaft dargestellt. Dies hat zur Folge, dass auch die Opferzahl, die Betriebszeiten der Lager und ihre verschiedenen Phasen teilweise inkorrekt rekonstruiert wurden. Ein Großteil der vorhandenen Quellen wurde überdies bisher nur sporadisch ausgewertet.

Ausgangspunkt dieser Arbeit sind allgemeine Studien zu den drei Lagern der »Aktion Reinhardt«. Das Standardwerk ist nach wie vor die 1987 erschienene Monografie des Historikers Yitzhak Arad, die vor allem den Opfern großen Raum gibt und sich bei der Auswertung der Prozessakten auf die Dokumentation in Yad Vashem beschränkt.20 Neueste Versuche einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse zu den Lagern finden sich in der von Wolfgang Benz und Barbara Distel herausgegebenen Reihe »Der Ort des Terrors« und in dem von Bogdan Musial herausgegebenen Tagungsband über die »Aktion Reinhardt«, in dem den drei Vernichtungslagern selbst allerdings nur wenig Raum zugestanden wurde.21

Die institutionellen Rahmenbedingungen der Verfolgung und Deportation der Juden im Generalgouvernement wurden durch Fallstudien für die Distrikte Lublin, Galizien und Radom weitestgehend aufgearbeitet, während für die Distrikte Krakau und Warschau ähnliche Studien bislang noch fehlen. Die Regionalstudien waren insbesondere bei der Rekonstruktion des Deportationsnetzes hilfreich.22

Bei der Auswertung der biografischen Daten der T4-Reinhardt-Männer waren Studien zum Personal der »Euthanasie«23 sowie Einzelanalysen zu einigen Tätern hilfreich, wie beispielsweise Gitta Serenys auf Gesprächen mit Franz Stangl, drei weiteren Tätern sowie Überlebenden beruhende Untersuchung.24 Studien, die systematisch und auf breiter Quellenbasis die Täter und ihre strukturelle Eingebundenheit untersuchen, fehlen bislang noch. Obwohl mittlerweile anerkannt ist, dass es eine Kontinuität von Krankenmord und »Aktion Reinhardt« gab, ist die Dimension, die diese Personalüberstellung hatte, bisher in der Forschungsliteratur nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht worden. Diese Schnittstelle zwischen »Euthanasie« und »Aktion Reinhardt« betrachtete der dänische Historiker Torben Jørgensen, der sich allerdings nur auf die Bestände der »Zentralen Stelle« in Ludwigsburg stützte und seine Untersuchung auf die 40 Männer des Lagerpersonals, gegen die vonseiten der Staatsanwaltschaften ermittelt wurde, beschränkte.25 Für die spätere Einbeziehung der T4-Reinhardt-Männer in die Verfolgung der Juden und die Partisanenbekämpfung in der Operationszone »Adriatisches Küstenland« konnten Studien zur Okkupationspolitik in Italien herangezogen werden.26

Darüber hinaus wurde auch die veröffentlichte Erinnerungsliteratur der Überlebenden von Belzec,27 Sobibor28 und Treblinka29 einbezogen.

Viele Aspekte der »Aktion Reinhardt« können aufgrund der vergleichsweise geringen Zahl an Überlebenden und der in den Lagern vernichteten Akten nicht mehr aufgearbeitet werden. Dennoch lassen die vorhandenen Quellen, wie die Ermittlungsakten und die Erinnerungsberichte, und nicht zuletzt auch die neue Perspektive auf das T4-Reinhardt-Netzwerk präzisere Aussagen zu, als sie bisher in der Sekundärliteratur zu finden sind.

Wesentlichen Raum nehmen in dieser Arbeit die Vernehmungsakten der deutschen NS-Prozesse ein, die umfassend als Quelle herangezogen wurden. Diese Prozessakten wurden zwar auch bisher punktuell und jeweils unter unterschiedlichen Gesichtspunkten von der Forschung ausgewertet, allerdings nicht in so systematischer Weise, wie dies hier geschieht. Die umfangreichen Prozessakten schließen Material aus den Prozessen in der BRD, der DDR und Italien ein, wobei insbesondere die Vernehmungsmitschriften von besonderer Bedeutung waren. In der BRD wurden insgesamt neun Prozesse gegen 26 Mitglieder des Lagerpersonals von Belzec, Sobibor und Treblinka geführt. Die Unterlagen dieser Prozesse bilden den quellenmäßigen Schwerpunkt der Studie. Zusätzlich wurden Akten aus Prozessen gegen Mitarbeiter des Planungsstabs »Aktion Reinhardt«, der Kanzlei des Führers (T4), des persönlichen Stabs von Himmler, des Lagers Trawniki sowie des Reichsverkehrsministeriums analysiert, um die Vernetzungen des T4-Reinhardt-Netzwerks aufzuzeigen. In den Ermittlungsunterlagen finden sich sowohl die durch die deutschen Staatsanwaltschaften angeregten Vernehmungen als auch Aussagen aus den polnischen Ermittlungsverfahren sowie Berichte der Opfer, die bei Institutionen wie Yad Vashem archiviert sind. Die Staatsanwaltschaft in München erhielt – allerdings erst nach dem Belzec-Prozess – auch Aussagen von Trawniki-Männern aus Gerichtsverfahren der UdSSR. Aktenmaterial aus in der DDR geführten Prozessen und Ermittlungen zur »Euthanasie«-Aktion und den Morden in Treblinka wurde ebenfalls ausgewertet, ein Großteil der Unterlagen dieser Prozesse ist jedoch verloren gegangen. Als weiteres Quellenmaterial dienten die Akten des 1976 in Italien geführten Prozesses gegen das ehemalige Personal des Durchgangslagers Risiera di San Sabba in Triest sowie die Dokumentation des parallel dazu bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt geführten Ermittlungsverfahrens.30

Die in großer Zahl ausgewerteten Justizakten ermöglichen mit einer Vielzahl an Vernehmungsprotokollen eine systematische Analyse des T4-Reinhardt-Netzwerks insgesamt und speziell der Akteure. Auf der Suche nach individueller Verantwortung gingen die Staatsanwälte personenbezogen vor und sammelten zielgerichtet unterschiedlichstes Material mit biografischen Daten der Täter und Indizien zu den Tatmotiven und -einstellungen. Seit der Einrichtung der »Zentralen Stelle« in Ludwigsburg bestand zudem der Anspruch, nicht nur die Verbrechen der einzelnen Täter, sondern die Gewalttaten in ihrem institutionellen Kontext auszuleuchten.

Die Problematik bei der Verwendung von Justizakten und Zeugenberichten liegt auf der Hand: Die Täter versuchten, ihre persönliche Verantwortung für die Taten herunterzuspielen, was ihnen insbesondere im Fall von Belzec aufgrund der fehlenden Zeugen aufseiten der Opfer gelang. Sie brachten bestimmte Aspekte nicht zur Sprache und leugneten andere. In den späteren Ermittlungsverfahren – mehr als 20 Jahre nach der Tat – war das Erinnerungsvermögen bei den Tätern und selbst bei den um Exaktheit bemühten Opfern beeinträchtigt. Daher wurden zahlreiche Darstellungen untereinander und im Vergleich zu zeitgenössischen Dokumenten minutiös miteinander abgeglichen, um fundierte Aussagen treffen zu können. Die Zeugenaussagen der Opfer ergänzten und korrigierten die Täteraussagen und dienten insbesondere der Konfrontation der Täter mit ihren Taten. Allerdings hatten die Überlebenden aufgrund ihrer Gefangenschaft häufig nur ein begrenztes Wissen über das Geschehen im Lager, so war ihnen beispielsweise der Vernichtungsbereich von Sobibor nicht aus eigener Anschauung bekannt.

Als weitere Quelle neben den Justizakten und den Berichten der Überlebenden dienten Unterlagen des Bundesarchivs, insbesondere des ehemaligen Berliner Document Center. Die Akten haben gegenüber den Justizakten und Opferberichten den Vorteil, dass sie – etwa als Personalakten von SS-Mitgliedern – zeitnah zu den Taten entstanden sind. Sie beziehen sich meistens auf die Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen und geben insbesondere Aufschluss über biografische Daten. Einzelne Erinnerungsberichte stammen außerdem aus den Archiven von Yad Vashem und Washington. Aus der Sammlung des Office of Special Investigation in Washington konnte ebenfalls Material zu den Vernichtungslagern und den Trawniki-Männern, das aus den Archiven der ehemaligen sozialistischen Länder stammte, gesichtet werden. Das Material gibt nicht nur Aufschluss über die bislang nur sehr wenig erforschte Gruppe der Wachtruppen, sondern auch über die Organisation der Lager.31

Insgesamt konnten auf diese Weise allein von den 44 T4-Reinhardt-Männern, die sich nach 1945 zu den Verbrechen geäußert haben, weit über 500 Aussagen, Briefe und Berichte ausgewertet werden. Hunderte Aussagen von weiteren Tätern vervollständigen das Bild auf der Seite der Täter. Von 52 Sobibor-Überlebenden konnten über 250 Aussagen, Interviews sowie veröffentlichte und unveröffentlichte Berichte in die Analyse einbezogen werden sowie in mehr als 240 weiteren Aussagen und Berichten die Erlebnisse von über 70 Treblinka-Überlebenden.

Aufbau der Arbeit

Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Herbst 1941, als die Entscheidung gefällt wurde, T4-Personal an den SSPF in Lublin, Odilo Globocnik, abzugeben. Zu Beginn der Zusammenarbeit zwischen der Kanzlei des Führers und dem SSPF gab es noch kein Programm für einen systematischen Völkermord, dieses entwickelte sich erst in einem dynamischen Prozess im Zusammenspiel verschiedener Akteure. In der Aufbauphase von Herbst 1941 bis zum Juni/Juli 1942 wurden die drei Lager eingerichtet und das T4-Reinhardt-Netzwerk konstituiert. Nach Belzec und Sobibor wurden bereits die ersten Transporte geleitet. Eine Zäsur stellte die zweiwöchige Transportsperre im Juni 1942 dar, danach begann die Konsolidierungs- und Optimierungsphase, die bis Dezember 1942 anhielt. Die ersten Deportationen nach Treblinka setzten erst im Juli 1942 ein, als Belzec bereits seine erste Umstrukturierung hinter sich hatte. Von Juli bis Ende 1942 war das modifizierte Vernichtungssystem im ständigen Einsatz, der größte Teil der Opfer starb in diesem halben Jahr. Das Täterkollektiv wuchs in dieser Phase weiter und die Vernichtungskapazität wurde erweitert. In dieser Phase formierte sich auch das Raubnetz, in dem die »Verwertung« von Kleidung und Wertgegenständen aus den Beständen der Lager der »Aktion Reinhardt« organisiert wurde.

Die dritte Phase kann als die der Restrukturierung der Lager und der Übernahme weiterer Funktionen bezeichnet werden, die bis zum Ende der Tätigkeit des T4-Reinhardt-Netzwerks in Polen Ende 1943 währte. Sobibor und Treblinka nahmen erst in dieser Phase ihre endgültige Gestalt an, während Belzec bereits keine Transporte mehr aufnahm. Diese Phase ist trotz des Rückgangs an ursprünglichen Aufgaben – der Großteil der polnischen Juden war zu diesem Zeitpunkt bereits ermordet – durch die größte Machtentfaltung des T4-Reinhardt-Netzwerks gekennzeichnet. Sie entstand einerseits durch die Ausweitung der Deportationen auf west-, süd- und osteuropäische Länder, andererseits durch die Übernahme zusätzlicher Aufgaben im Zwangsarbeitsnetz in den SS-Arbeitslagern Poniatowa, Dorohucza, Budzyn und im Alten Flughafen in Lublin. Das T4-Reinhardt-Netzwerk weitete damit seine Tätigkeit über das ursprüngliche »Primärziel«, die Ermordung der Juden, auf »Sekundärziele« wie die Zwangsarbeit und die »Sachverwertung« aus. Dieses Kapitel beschäftigt sich auch mit der Vernetzung innerhalb des T4-Reinhardt-Netzwerks sowie mit den inzwischen voll ausgebauten funktionalen Innennetzen, die die T4-Reinhardt-Männer, die »Arbeitsjuden« und die Trawniki-Männer konstituierten, sowie mit den Außennetzen, das heißt der Zusammenarbeit mit anderen deutschen Einheiten und mit der lokalen Bevölkerung. Daran schließt sich eine Darstellung der Aufstände in Sobibor und Treblinka sowie der Liquidierung der Lager an. Die T4-Reinhardt-Männer folgten Ende 1943 dem SSPF von Lublin fast geschlossen nach Norditalien in die neu gebildete Operationszone »Adriatisches Küstenland«, um dort als »Abteilung R« Partisanen zu bekämpfen, Juden festzunehmen und deren Eigentum zu konfiszieren.

Auf der Grundlage dieser Analyse werden dann die Merkmale des Täterkollektivs systematisch herausgearbeitet. Dabei werden auch Legitimationsund Rechtfertigungsmuster sowie die Gruppendynamiken und Eigeninteressen in Bezug auf die Beteiligung am Massenmord betrachtet, um zuletzt eine Tätertypisierung anhand der Kriterien Gewalttätigkeit und Einsatzbereitschaft vorzunehmen. Im Anschluss geht es um die juristische Aufarbeitung der »Aktion Reinhardt« nach 1945, den Umgang der Täter mit ihrer Vergangenheit und die Auseinandersetzung der deutschen Öffentlichkeit mit den drei Lagern. Das letzte Kapitel legt zusammenfassend noch einmal die Faktoren dar, die für die Effektivierung des Massenmords maßgeblich waren.