Patrick Leigh Fermor

Zwischen Wäldern
und Wasser

Zu Fuß nach Konstantinopel:
Von der mittleren Donau bis zum
Eisernen Tor

Der Reise zweiter Teil

Aus dem Englischen von Manfred Allié
und Gabriele Kempf-Allié

Patrick Leigh Fermor

Zwischen Wäldern
und Wasser

Zu Fuß nach Konstantinopel:
Von der mittleren Donau bis zum
Eisernen Tor

Der Reise zweiter Teil

Aus dem Englischen von Manfred Allié
und Gabriele Kempf-Allié

DÖRLEMANN

Die englische Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel
»Between the Woods and the Water. On Foot to Constantinople:
the Middle Danube to the Iron Gates«
by John Murray Publishers in London.



Deutsche Erstausgabe
Zweite Auflage 2007
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2006 Dörlemann Verlag AG, Zürich
© 1986 Patrick Leigh Fermor
Umschlagfoto: Kim Steele, Spiegelungen in der Donau
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und E-Book.Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-908778-04-2
www.doerlemann.com

>Fermor.jpeg

Patrick Leigh Fermor

  

  

        Völker verrauschen,

        Namen verklingen,

        Finstre Vergessenheit

        Breitet die dunkelnachtenden Schwingen

        Über ganzen Geschlechtern aus

        Friedrich Schiller, Die Braut von Messina

  

    Ours is a great wild country:

    If you climb to our castle’s top,

    I don’t see where your eye can stop;

    For when you’ve passed the corn-field country,

    Where vine-yards leave off, flocks are packed,

    And sheep-range leads to cattle-tract,

    And cattle-tract to open-chase,

    And open-chase to the very base

    Of the mountain where, at a funeral pace,

    Round about, solemn and slow,

    One by one, row after row,

    Up and up the pine-trees go,

    So, like black priests up, and so

    Down the other side again

    To another greater, wilder country.

    Wir leben in einem großen Land:

    Steigst du hinauf zu der Berge Rand,

    Geht dein Blick hinaus in die Ferne gebannt;

    Denn hin über Kornfelder wandert er dann,

    Wo die Weingärten enden, fangen Felder an,

    Und Schafweiden führen zu Wiesen heran,

    Wiesen zum Wald für den Jägersmann,

    Den sein Weg hinaufführt, bis der Berg ihn bannt,

    Wo Kiefern stehen an steiniger Wand,

    Sich in Reih und Glied strecken galant,

    Eine um die andere wie Hand in Hand,

    Als hielt’ sie zusammen ein unsichtbar Band,

    Still und starr, Priester in schwarzem Gewand,

    Und jenseits vom Kamm zu Tale wieder ins Land,

    Zu einem größeren, wilderen Land.

    Robert Browning, The Flight of the Duchess

Zur Einführung:

Ein Brief an Xan Fielding

Lieber Xan,

der erste Teil dieses Berichtes, Die Zeit der Gaben, endete auf einer Donaubrücke zwischen der Slowakei und Ungarn, und da der Wechsel hoch über dem Wasser nicht ganz unkompliziert ist, will ich den zweiten Band genau wie den ersten mit einem Brief an Dich beginnen. Und es soll nicht der letzte sein: Ein dritter Band wird folgen, der uns bis ans Ende der Reise und darüber hinaus bringt.

Als ich 1934 in Holland aufbrach, sollte niemand außer Zufallsbekanntschaften und anderen Wanderern mich begleiten, doch fast unmerklich wurde, nun wo ich nach Ungarn und Transsilvanien kam, meine Reise um einiges bequemer und angenehmer, als ich sie ursprünglich geplant hatte: Ich zog auf dem Rücken großzügig überlassener Pferde dahin, von einem Herrenhaus zum nächsten, und blieb oft Wochen oder sogar Monate unter dem Dach geduldiger und bisweilen wohl auch insgeheim leidender Gastgeber. In mancherlei Hinsicht war dieser Teil der Reise ganz anders als die anderen. Es war eine Zeit, die ich genossen habe; alles schien uralt und zugleich auch nagelneu und ganz und gar fremd, und da ich so lange auf den Stationen meiner Reise verweilte, ergab sich manch lebenslange Freundschaft daraus.

Bisweilen plagten mich Gewissensbisse, weil ich meinem ursprünglichen Plan so untreu geworden war, doch wenn ich nun, wo ich die Chronik jener Monate niedergeschrieben habe, zurückblicke, schwinden die Bedenken. Das folgende Jahrzehnt fegte diese ferne, ländliche Welt hinweg, und heute weiß ich, was für ein Glück es war, daß ich sie in solcher Muße kennenlernen, ja sogar für eine Weile meinen Anteil daran haben durfte. Es war beinahe, als steuerte ein unterschwelliges Wissen diesen Teil der Reise, und als er südlich der Donau zu seinem Ende kam und ich in meinem alten, rascheren Tempo über die Balkanpässe stieg, da begriff ich, wie außerordentlich die Gegenden waren, durch die ich gekommen war: Schon da hatten sie den magischen Schimmer angenommen, den das letzte halbe Jahrhundert nur umso kräftiger zum Strahlen gebracht hat.

Das Notizbuch zu diesem Teil der Reise, zu Beginn des Krieges in Moldawien verlorengegangen und vor einigen Jahren durch ein Wunder zurückgekehrt, war mir eine große Hilfe, aber nicht immer die verläßliche Stütze, die es eigentlich sein sollte. Während meiner langen Ruhepausen hatte ich auch das Schreiben eingestellt – es war ja ein Reisetagebuch, und ich lebte im falschen Glauben, wenn ich nicht reiste, gebe es auch nichts aufzuzeichnen. Und wenn ich weiterzog, dauerte es oft eine Weile, bis ich das Schreiben wieder aufnahm, und auch da waren es nur hingeworfene Notizen, keine zusammenhängende Erzählung. Als ich diesen zweiten Band begann, plagte mich die Sorge, daß manche Einzelheiten vielleicht nicht mehr in der richtigen Reihenfolge waren, und ich umgab diese Passagen mit einer ganzen Wolke aus Warnungen und Entschuldigungen. Aber dann sagte ich mir, daß ich schließlich keinen Reiseführer schrieb und daß solche Dinge keine Rolle spielten, und von da an ließ ich der Geschichte Raum ohne all die störenden caveats.

Bücher über diesen Teil Europas widmen sich hauptsächlich, oft sogar ausschließlich, der Politik, und da sie reichlich zu haben sind, muß mein schlechtes Gewissen, daß in meinem Bericht fast gar nicht davon die Rede ist, nicht allzu groß sein; hier kommen diese Dinge nur in den Blick, wenn sie unmittelbar mit meiner Reise zu tun haben. Ich mußte ein wenig ins Detail gehen bei der Frage, wie die Geschichte Transsilvaniens das Leben dort geprägt hat – die Spuren waren allgegenwärtig –, doch meine müßigen Gedanken biete ich mit gutem Grund in aller Bescheidenheit dar. Nichts könnte weniger professionell oder »europakundig« sein, und von meinem politischen Unverstand in jungen Jahren war in Die Zeit der Gaben ausführlich die Rede (S. 163–72). Aus der Welt draußen kamen ständig neue Nachrichten von grauenhaften Ereignissen, doch in der Stimmung dieser Berge und Täler lag etwas, das ihren Ansturm dämpfte. Sie waren Vorzeichen, und düstere dazu, doch es sollte noch drei weitere Jahre dauern, bevor sie deutlich genug vor dem warnten, was fünf Jahre später Schreckliches geschah.

Ortsnamen sind kein großes Thema, aber doch eines, das mich immer wieder quält. Bei bekannten Orten bin ich bei den Formen geblieben, die sich im Laufe langer Jahre durchgesetzt haben, bei kleineren nehme ich die Schreibungen, wie sie waren, als ich dort war. Die Moden der Politik haben viele verändert, weitere Änderungen folgten; in Rumänien wurde die Rechtschreibung reformiert, und selbst bei den kleinsten Weilern haben sich Namen durch wechselnde Herrschaft verändert. Ich habe mich bemüht, zuerst den offiziellen Namen zu nennen, dann die anderen, wo sie erforderlich sind. Ich weiß, daß es an manchen Stellen unklar ist, doch da das Buch kein Reiseführer ist, wird sich auch niemand deswegen verirren. Ich muß für diese Unzulänglichkeiten um Verzeihung bitten und hoffe nur, daß niemand politische Absichten darin sehen wird. In einigen Fällen, in denen ich es angebracht fand, habe ich Namen geändert, doch nur selten und nur bei Freunden, die noch unter uns wandeln, wo andere uns schon verlassen haben. »Von« gebe ich durchweg als »v.« wieder.

Der Dank, den der Verfasser eines solchen Buches schuldet, ist vielfältig, und vieles liegt lange zurück, und wenn ich nicht allen danke, dann heißt das weder, daß ich sie vergessen habe noch daß ich sie nicht für des Dankes wert hielte. Besonders verpflichtet bin ich meinem alten Freund Elemer v. Klobusiczky, der Familie Meran damals wie heute, Alexander Mourouzi und Constantine Soutzo. Danken möchte ich auch Steven Runciman für seine aufmunternden Worte nach dem ersten Band, Dimitri Obolensky für kluge Ratschläge beim Abfassen des vorliegenden sowie David Sylvester, Bruce Chatwin, Niko Vasilakis, Eva Bekássy v. Gescher und wie immer John Craxton. Außerdem großen verspäteten Dank an Balaşa Cantacuzène für Hilfe bei der Übersetzung von Mioritza, in Moldawien vor so langer Zeit. Was ich Rudolf Fischer verdanke, ist grenzenlos. Sein unermeßliches Wissen und seine Begeisterung mit genau dem richtigen Maß an Strenge waren mir während der Niederschrift dieses Bandes ein ständiger Ansporn und eine tägliche Freude; seine Aufmerksamkeit hat mich vor vielen Fehlern bewahrt, und ich könnte mir vorstellen, daß die verbliebenen genau diejenigen sind, bei denen ich nicht auf seinen Rat gehört habe.

Großen Dank Stella Gordon für die Geduld und die Kunst eines Champollion oder Ventris, mit der sie eine unleserliche Handschrift entzifferte.

Zuletzt ergebenen Dank für ein Refugium in der Zeit ruheloser literarischer Wanderungen an Barbara und Niko Ghika (denen ich diesen zweiten Band widme), für viele Wochen zwischen den Schwalben und Loggien von Korfu; an Janetta und Jaime Parladé für ihr andalusisches Asyl hoch oben in den Bergen von Tramores; an die Besitzer des Stake Parlour bei Bakewell für den Gleichmut, mit dem sie die hektischen Korrektursitzungen ertrugen, an meine Verleger Jock und Diana Murray für ihre Geduld und ein Dach über dem Kopf während der letzten Arbeitsphase und schließlich, lieber Xan, Dir und Magouche für schöpferische Tage in der klösterlichen Einsamkeit der Serrania de Ronda.

Kardamyli, 11. Februar 1986

P.

1

Auf der Brücke

Vielleicht hatte ich zu lange auf der Brücke innegehalten. Über dem slowakischen und dem ungarischen Ufer der Donau dunkelte es schon, rasch und bleich strömten die Wasser vorüber, umspülten die Kais der alten Stadt Esztergom, wo der steile Hügel die Basilika in die Abenddämmerung hob. Die große Kuppel auf ihrem Säulenring, die zwei palladianischen Glockentürme, deren Läuten nun verstummte, beherrschten das zunehmende Dunkel meilenweit. Mit einem Male waren die Uferpromenade und die steile Straße zum Erzbischofspalast menschenleer. Die Grenzstation lag am anderen Ende der Brücke, und so eilte ich mich, nach Ungarn zu kommen. Alle, die sich an diesem Ostersamstag am Fluß versammelt hatten, waren zum Kathedralplatz hinaufgestiegen, und dort sah ich sie von neuem; sie flanierten unter den Bäumen, standen erwartungsvoll in Grüppchen beieinander, unterhielten sich. Die Dächer zu ihren Füßen gingen steil in die Tiefe, dann erstrecken sich Wald und Fluß und Wiesen schon undeutlich bis weit ins letzte Abendlicht.

Ein Freund hatte an den Bürgermeister von Esztergom geschrieben: »Nehmen Sie sich freundlich dieses jungen Mannes an, der zu Fuß nach Konstantinopel will.« Ich hatte vor, mich am nächsten Tag bei ihm zu melden, und fragte jemanden nach dem Weg, und ehe ich mich versah, hatte er mich, zu meiner großen Verwirrung, zum Bürgermeister selbst geführt. Er war umgeben von jenen prächtig gekleideten Granden, die ich am Donauufer bewundert hatte. Ich versuchte ihm zu erklären, daß ich der Wanderer sei, den man ihm angekündigt habe, und er sah mich höflich, doch ratlos an; dann ging ihm auf, was ich meinte, und nach einer kurzen, allem Anschein nach lustigen Unterhaltung mit einer der prachtvollen Gestalten überließ er mich deren Obhut und eilte über den Platz davon zu wichtigeren Aufgaben. Mein Mentor nahm seinen Auftrag mit Gusto an – die Wahl war wohl auf ihn gefallen, weil er ein ausgezeichnetes Englisch sprach. Er trug schwarz schimmernde Prachtgewänder, den Krummsäbel lässig in die Armbeuge gelegt, und im linken Auge blitzte ein ungefaßtes Monokel.

Doch nun wandten sich aller Häupter zum Fuße des Platzes. Hufeklappern und Harnischglöckchen hatten den Bürgermeister zu den Stufen der Kathedrale gerufen, über die ein scharlachroter Läufer gebreitet war. Geistliche und kerzentragende Ministranten hatten sich feierlich versammelt, und als die Kutsche zum Halten gekommen war, erhob sich darin eine flammend rote Gestalt; der Kardinal, Monsignore Serédy, der Erzbischof von Esztergom und Fürstprimas von Ungarn, entstieg ihr gelassen, bot der Versammlung die beringte Hand, und alle knieten, wenn sie sie küßten. Sie folgten ihm in die große Kirche; dann führte ein Küster die Gesellschaft des Bürgermeisters zu den vorderen, mit Scharlach drapierten Bänken. Ich wollte mir einen bescheideneren Platz suchen, doch mein Mentor bestand darauf, daß ich mitkam: »Vorn sieht man viel besser.«

Der Ostersamstag hatte die gewaltige Kathedrale zur Hälfte gefüllt, und ich sah viele wieder, die mir schon am Fluß aufgefallen waren: die Bürger im Sonntagsstaat, die Bauern in Stiefeln und schwarzen Gewändern, die Mädchen mit ihren kunstvollen Frisuren, den bunten Röcken und den Blusen mit den bestickten Ärmeln, dieselben, die ich mit ihren Lilien- und Hahnenfuß- und Narzissensträußen auf der Brücke gesehen hatte. Ich sah schwarze und weiße Dominikaner, etliche Nonnen und hie und da eine Uniform, und nahe dem großen Portal standen ein paar Zigeuner an die Kirchenmauer gelehnt und redeten leise miteinander. Es hätte mich kaum gewundert, wäre einer ihrer Bären aufgetaucht, hätte eine Tatze in das große muschelförmige Weihwasserbecken getaucht und sich bekreuzigt.

Wie anders als die gespenstische Finstermette zwei Tage zuvor! Dort in der kleinen slowakischen Kirche war eine Kerze nach der anderen gelöscht worden, bis alles in Dunkelheit gehüllt war. Hier war der mächtige Bau ganz von Licht erfüllt, neue Kerzenkonstellationen standen in allen Kapellen am Himmel, im Chor brannte die Osterkerze, und reglos wie Sterne schwebten die Flammen über den langen Wachsstöcken, die sich wie Lanzen entlang des Hochaltars reihten. Vom Rot der ersten Bänke abgesehen, erstrahlten die Kathedrale, die Geistlichen, der Priester am Altar, die Diakone und die Meßdiener in Weiß. Der Erzbischof, nun in Weiß und Gold und gänzlich verwandelt von seiner früheren scharlachroten Erscheinung als Kardinal, saß auf seinem Thron unter flammendem Dach, zu seinen Füßen die Vertreter seines kleinen Hofstaats in Reihen auf den Treppenstufen. Derjenige, der zuunterst saß, hütete den schweren Krummstab, und hinter ihm stand ein weiterer Ministrant bereit, die hohe weiße Mitra zu heben und zu ersetzen, wenn der Augenblick in der Liturgie dafür gekommen war, und jedesmal zog er die Bänder auf den palliumgeschmückten Schultern glatt. In den vorderen Reihen des Kirchenraums setzte sich dies Bild mit der beinahe militärischen Ordnung der Würdenträger nach Kräften fort und paßte – die bunten Wämser aus Seide und Brokat und Pelz, die goldenen und silbernen Ketten, die Reitstiefel in Blau und Karminrot und Türkis, die vergoldeten Sporen, die Kalpaks aus Bärenfell mit ihren diamantbesetzten Schließen und die hohen Aigretten und die Adler- und Kranichfedern – zur ekklesiastischen Pracht ebenso vortrefflich wie der Zierat beim Begräbnis des Grafen Orgaz, und die schwarzen Kleider – wie die meines neuen Freundes und im Gemälde die Rüstungen der Ritter von Toledo – waren das Prächtigste daran. Die Krummsäbel, die sie an die Bänke gelehnt hatten, mit Einlegearbeiten in Gold und Elfenbein am Heft und mit prunkvoll edelsteinbesetzten Scheiden, waren doch gewiß Erbstücke aus der Zeit der Türkenkriege? Als ihre Besitzer sich unter Rasseln zum Credo erhoben, fiel eines der Schwerter klappernd zu Boden. Einst waren auf den Schlachtfeldern der Pußta unter den Hieben dieser Klingen die Türkenköpfe geflogen; Ungarnköpfe natürlich auch …

Bald kündete, nach einem Augenblick der Stille, Orgelbrausen vom auferstandenen Heiland. Ein vielstimmiger Chor hob auf der Empore zu singen an, das Halleluja hallte durch den Saal, Weihrauchwolken waberten um die steinernen Akanthusblätter, stiegen auf und verloren sich in den Schatten der Kuppel, und nun kam Bewegung in die Gesellschaft. Angeführt von einem Kreuz, war die Vorhut aus Priestern und Ministranten kerzenstarrend bereits halb den Gang hinuntergezogen. Als nächstes kam, unter einem Baldachin, die Monstranz mit der Hostie, dann der Erzbischof, der Bürgermeister, darauf schleppte sich der älteste, weißbärtigste unter den Magnaten, auf ein Malakkastöckchen gestützt, mühsam voran, dann folgte der Rest. Auf einen freundlichen Wink hin reihte ich mich ein, und bald, als hätten Rauch- und Musikschwaden uns zur Tür hinausgeweht, fanden wir uns alle vor dem Kirchenportal wieder.

Der Mond schien riesengroß, erst in der Nacht zuvor war Vollmond gewesen, und so war alles beinahe so hell erleuchtet wie am Tage. Inzwischen war die Prozession die Treppe heruntergekommen und begann ihren Zug durch die Stadt; doch als die Kapelle, die draußen bereitgestanden hatte, sich hinter uns einreihte und die ersten Takte eines langsamen Marsches anstimmte, gingen ihre Noten sogleich wieder unter. Räder ächzten über uns, ein Stöhnen im Gebälk, und das tosende, taumelnde Geläute schickte seinen Klang hinaus in die Nacht; und dann mischten sich andere Töne unter die bronzenen Schläge, etwas wie ein durchdringendes Klappern, und alle hoben den Blick. Ein oder zwei Stunden zuvor hatten sich zwei Störche, müde von ihrer Reise aus Afrika, in dem zerzausten Nest im Glockenturm niedergelassen, und alle hatten ihnen dabei zugesehen. Nun hatte der Lärm sie aufgeschreckt, aufgeregt spreizten sie ihre Flügel, mit gerecktem Hals flogen sie wieder auf, die scharlachroten Beine lang nach hinten gestreckt. An den Enden der mächtigen weißen Schwingen zeigten sie schwarze Schwungfedern, als sie sich nun unter unseren Blicken mit gemächlichen, gleichmäßigen Schlägen über die Kronen der Kastanienbäume erhoben. »Die haben sich einen schönen Abend für den Einzug ausgesucht«, meinte mein Nachbar, als wir unsere Schritte wiederaufnahmen.

Kein einziges Licht brannte in der Stadt außer den Flammen von Tausenden von Kerzen auf den Fensterbänken und in den Händen der wartenden Menge. Die Männer standen barhäuptig, die Frauen in Kopftüchern, und der Schein von den Händen, mit denen sie die Flammen schützten, kehrte das Chiaroscuro des hellichten Tages um, faßte die Konturen von Kinn und Nase, ließ ihre Brauen Halbmondschatten werfen, und alles jenseits dieser erleuchteten Masken blieb im Dunkel. Stille flammengesäumte Straßen folgten eine auf die andere, und wo die Prozession anlangte, knieten alle nieder, und ein paar Sekunden darauf, wenn das Kruzifix sie passiert hatte, erhoben sie sich wieder. Schließlich kamen wir in eine schimmernde Pappelallee; von Zeit zu Zeit verstummte die feierliche Musik, und in diesen Pausen zwischen den Gesängen mischten sich das Kettenklirren des Weihrauchkessels und das Klicken des erzbischöflichen Hirtenstabs auf dem Pflaster mit dem Quaken von Millionen von Fröschen. Von Glocken und Gesängen geweckt, hatten sich die Störche der Stadt erhoben, schwebten hoch oben und blickten hinab auf unsere kleine Lichterkette, wie sie sich nun wieder bergaufwärts zur Basilika wandte. Die Intensität des Augenblicks, der Gesang, der Kerzenschein, der Weihrauch, die Frühlingsstimmung, die Vögel am Himmel, die Glocken, der Chor, der aus dem Schilf klang, die flüchtigen Schatten und der gespenstische Mond über den Wäldern – all das legte seinen Zauber über die Nacht, eine Nacht voller Zeichen und Wunder.

Als die Prozession vorüber war, versammelten sich wiederum alle auf der Kathedraltreppe. Die Kutsche wartete, und der Erzbischof, nun wieder in seinen Kardinalsgewändern und dem weiten Hermelinmantel zum Zeichen, daß er nicht nur Kirchen-, sondern auch weltlicher Fürst war, stieg gemächlich ein. Sein Leibgardist faltete, unter Mithilfe eines Kaplans mit Zwicker und vorstehendem Adamsapfel und eines Postillons in Husarenuniform, Elle um Elle seine Schleppe ein wie ein Fischernetz, bis die ganze Kutsche überquoll von geranienrotem Seidenmoiré. Der Kaplan folgte und setzte sich auf den Platz gegenüber, dann der Leibgardist, aufrecht, die schwarz behandschuhten Hände am Heft seines Krummschwerts. Der Postillon klappte den Tritt ein, ein kleiner livrierter Diener mit Pelzmütze schlug die mit dem Wappen unter quastenverziertem Hut bemalte Tür zu, und als beide hinten aufgesprungen waren, zog der Kutscher, ebenfalls einen Kalpak auf dem Kopf, leicht am Zügel, die Straußenfedern wippten, und die vier Grauen setzten sich in Bewegung. Als die Equipage den Hügel hinunterschaukelte, begann die Menschenmenge zu applaudieren, alle zogen den Hut, und am Kutschenfenster erschien eine Hand im roten Handschuh mit den Insignien des Hirtenamtes und winkte ihnen segnend zu.

Auf den mondbeglänzten Kirchenstufen umarmten sich alle, tauschten Ostergrüße und küßten sich auf Hände und Wangen. Die Männer setzten die Pelzmützen wieder auf, zupften die Dolmane zurecht, und nach Stunden des Lateins erklangen nun wieder die munteren magyarischen Daktylen.

»Wir wollen nachsehen, wie es den Vögeln geht«, sagte mein Mentor und putzte sein Monokel mit einem seidenen Taschentuch. In aller Ruhe ging er ans Ende der Treppe, lehnte sich auf seinen Stock wie auf eine Jagdflinte und spähte hinauf in die Nacht. Die Schnäbel lugten Seite an Seite zwischen den Zweigen hervor, und im Dunkel waren die beiden schlafenden Vögel gerade noch auszumachen. »Gut!« sagte er. »Die ruhen sich ordentlich aus.«

Wir gesellten uns wieder zu den anderen, und er bot allen Zigaretten aus seinem Etui an, suchte sich selbst nach langem Überlegen eine aus und klopfte sie auf dem gemaserten Gold fest. Aus seinem Feuerzeug kamen drei Flammen, die kurz eine Pyramide bildeten, bevor sie sich wieder voneinander lösten. Er nahm einen tiefen Zug, hielt ihn ein paar Sekunden lang in der Lunge und blies dann mit einem langen Seufzer den Rauch langsam ins Mondlicht hinaus. »Darauf habe ich mich gefreut«, sagte er. »Meine erste seit Fastnachtsdienstag.«

Der Tag endete mit einer Abendgesellschaft beim Bürgermeister, mit Barack als Aperitif, Wein in Strömen die ganze Mahlzeit lang, zum Abschluß Tokaier, und am Ende nahm ich die prächtig gekleideten Gestalten nur noch wie durch einen Nebel wahr. Entschuldigend erklärte mir der Bürgermeister, in seinem Haus seien alle Zimmer belegt und er habe mich bei einem Nachbarn untergebracht. Und ich solle ja nicht glauben, ich müsse bezahlen! Am nächsten Morgen erschien wieder mein Freund, der Storchenliebhaber, jetzt im Tweedanzug und Rollkragenpullover, und holte mich in einem furchteinflößenden Bugatti ab, und nur das Krummschwert bei seinem Gepäck auf dem Rücksitz erinnerte noch an die vorabendliche Pracht. Wir sahen uns die Gemälde im erzbischöflichen Palast an; er fragte, warum ich nicht in seinem Wagen mitfahren wolle – wir könnten im Handumdrehen in Budapest sein. Aber ich blieb, wenn auch widerwillig, bei meinem Grundsatz – niemals per Anhalter außer bei schlechtestem Wetter –, und wir verabredeten ein Treffen in der Hauptstadt. Winkend und mit qualmenden Reifen fuhr er davon, und nachdem ich mich vom Bürgermeister verabschiedet hatte, holte ich meine Sachen und machte mich ebenfalls auf den Weg. Ich fragte mich, ob womöglich ganz Ungarn so war.

Von dem Pfad, der am Waldrand bergaufwärts stieg, schweifte der Blick zurück über Sümpfe und Bäume und eine endlose Landschaft aus hohen Binsen, und der mächtige Fluß teilte sich, umspülte eine Kette von Inseln und vereinigte sich wieder. Wasservögel schossen empor und tanzten wie Staubkörnchen im Licht und ließen auf der Lagune zahllose kleine Fontänen aufspritzen, wenn sie wieder niedergingen. Dann stieg ich höher, und das Bild verschwand zwischen den Bäumen. Auf der anderen Seite ragten die Gebirgsausläufer auf, niedrigere Hügel spielten flußabwärts ineinander, die verwobenen Baumwipfel wichen Klippen aus Kalkstein und Porphyr, und wo sich das Tal verengte, floß der grüne Fluß schnell und tief.

Stromabwärts erschien bald darauf ein Dorf, und Störche standen auf einem Bein in ihren alten Nestern auf Strohdach und Schornstein. Unter heftigem Flügelschlagen hoben sie sich in die Lüfte, und wenn sie bis auf die Tiefe der Baumwipfel hinabstießen und dann den Fluß in Richtung Slowakei kreuzten, glänzte die Oberfläche ihrer Flügel in der Sonne; dann gingen sie in Schräglage und kehrten nach Ungarn zurück, und kaum eine Feder rührte sich. Zweige im Schnabel, balancierten sie auf den Dächern, die schwarzen Schwungfedern gespreizt wie die Finger der Hochseilartisten, wenn sie nach Gleichgewicht tasten. Stumm, wie sie sind, improvisierten sie einen seltsamen Werbegesang, indem sie in großem Tempo ihre scharlachroten Schnabelhälften wie flache Stäbe aneinanderschlugen, und ein Dutzend solcher Brautwerbungen in einem der Flußdörfer klang wie ein Orchester aus Kastagnetten. In plötzlicher Verzückung sprangen sie ein Stück in die Höhe und landeten unsicher, rutschten oft gefährlich die strohgedeckten Dächer hinunter. Am Abend zuvor hatte ihre wunderbare Prozession sich über den ganzen Himmel erstreckt; jetzt waren sie allgegenwärtig, und in all den folgenden Wochen habe ich nicht aufgehört, sie zu bestaunen – ihr seltsam anrührendes Klappern wurde zur Begleitmusik meiner Reise, und sie verzauberten die Gegenden, durch die ich kam, bis zum August und in die bulgarischen Berge hinein, wo ich ihnen nachsah, wie sie in Scharen am Horizont verschwanden, auf dem Weg zurück nach Afrika.

Es war der 1. April 1934, Ostersonntag; zwei Tage nach Vollmond, elf seit der Tagundnachtgleiche, siebenundvierzig seit meinem neunzehnten Geburtstag und hundertundelf seit meinem Aufbruch, jedoch nicht einmal vierundzwanzig Stunden, seit ich die Grenze überquert hatte. Das andere Ufer war nach wie vor slowakisches Gebiet, doch ein oder zwei Meilen vor mir wand sich ein Nebenfluß durch die nördlichen Hügel, und die Ziegeldächer und Kirchtürme eines Städtchens mit dem melancholischen Namen Szob markierten den Treffpunkt der beiden Gewässer. Hier wandte die Grenze sich nordwärts das Seitental hinauf, und zum erstenmal erstreckte sich auf beiden Seiten der Donau Ungarn.

Die meiste Zeit meiner Reise hatte die Landschaft unter Schnee gelegen, mit Eiszapfen bedeckt und oft von fallenden Flocken verborgen; doch in den letzten drei Wochen hatte sich das gründlich geändert. Vom Schnee blieben nur noch ein paar schmutzige Flecken, und das Eis auf der Donau war gebrochen. Wenn der Fluß ganz zugefroren ist, reißt es mit einem Geräusch wie Donnergrollen. Ich war außer Hörweite und weiter flußabwärts gewesen, als die großen Schollen sich lösten, doch mit einem Male war das Wasser erfüllt von rasenden, taumelnden Eisstücken. Zwecklos der Versuch, mit ihnen Schritt zu halten: Dreiecke, Polygone eilten vorüber, rieben sich, von Tag zu Tag glatter an den Kanten, stießen aneinander mit immer sanfteren Stößen, bis sie dünn waren wie Hostien, und schließlich, eines Morgens, waren sie verschwunden. Dies waren nur milde Vorzeichen. Wenn die Sonne ihre ganze Kraft entfaltet, mag zwar der ewige Schnee, mögen die Gletscher der Alpen und die steilen Gipfel der Karpaten aus der Ferne unverändert scheinen, doch aus der Nähe hat man den Eindruck, das ganze eisige Herz von Europa sei in Auflösung begriffen. Tausende von Rinnsalen erscheinen an den Bergflanken, die Bäche treten über die Ufer, die Donau selbst verwildert und überflutet die Wiesen, ersäuft Kühe und Schafe, zerstört Heuschober, entwurzelt Bäume und reißt sie mit, bis selbst die größten und stärksten Brücken entweder vom Treibgut verstopft sind oder mit ihm davongespült werden.

Der Frühling hatte wie auf einen Startschuß begonnen. Die Vögel sangen um die Wette, überall wurden fieberhaft Nester gebaut, Schwalben und Mauersegler schlugen ihre Haken am Himmel. Mehlschwalben besserten alte Bauten aus, Eidechsen huschten zwischen den Steinen, überall in den Binsen tauchten neue Nester auf, im Wasser wimmelten Fischschwärme, und die Frösche, die mit einem langen Sprung im Wasser verschwanden, wenn ein Fremder kam, waren sogleich wieder da, und es klang, als würde ihr Chor von Stunde zu Stunde um tausend neue Stimmen verstärkt; sie sorgten dafür, daß die Nistplätze der Reiher verwaist lagen, bis das letzte Abendlicht schwand. Die Reiher selbst glitten über die Wasseroberfläche und wateten durch die Schwertlilien mit ruckhaften doch zielstrebigen Bewegungen oder taten, genauso raffiniert wie die Störche, auf einem Bein stehend, als seien sie Pflanzen. Lilien wuchsen in den Ufersümpfen, und dicke Stengel hoben riesige Sumpfdotterblumen in die Höhe, zwischen den Blättern der rosaweißen Seerosen, die ihre Blüten des Abends schlossen.

Zwischen den Ufern und den rötlich-malvenfarbenen Klippen standen schlank die Espen und Pappeln, ragten in die Höhe hinaus aus dem flimmernd milden Licht der Weiden, ließen ihre Wurzeln ins Wasser baumeln und neigten sich tief über den rasch fließenden Fluß. Nun, wo sein Bett eng geschnürt war, schwoll er zu einem Wirbel aus Kräuseln und Kaskaden an, und nach den Wochen, die ich nun schon an den Ufern der Donau verbracht hatte, erkannte ich diese gurgelnden Strudel auf Anhieb, wie sie sich drehten und drehten und verrieten, mit welcher Wucht sich das Wasser in der Mitte des Flusses wälzte.

Der Pfad stieg empor, die Hitze des Nachmittags ging vorüber, und es schien kaum zu glauben, daß das beinahe mythische Land Ungarn mich nun endlich auf allen Seiten umgab; auch wenn die Gegend, die Berge von Pilis, nicht entfernt dem entsprach, was ich mir vorgestellt hatte. Als ich schließlich so weit aufgestiegen war, daß die Donau unter mir verschwand, verlor sich der Pfad in Hügeln und Wäldern, und schräge Sonnenstrahlen drangen durch die Äste der jungen Eichen. Alles roch nach Farnkraut und Moos, die Hasel- und Birkenknospen brachen auf, und der Pfad, weich von zergangenen Blättern, wand sich zwischen großen flechtenbewachsenen Bäumen mit Hundsveilchen und Schlüsselblumen zwischen den Wurzeln. Wenn der Wald einmal für eine Meile oder zwei zurückwich, zogen sich an den steilen Flanken beiderseits Wiesen hinauf bis zum Bergwald am Kamm, und Bächlein, von Brunnenkresse gesäumt, eilten hurtig und klar den Tälern zu. Ich überquerte eben eines von ihnen auf ins Wasser gelegten Trittsteinen, als ich Glockenklirren und das Blöken von Schafen vernahm; dann kam Hundegebell, und die drei Furien, die mit gebleckten Zähnen auf mich zugestürmt kamen, wurden vom Schäfer zur Ordnung gerufen. Seine Schafe standen bis zum Bauch im margeritenübersäten Gras; die Lämmer mußten um die Weihnachtszeit gekommen sein, und manche waren sogar schon geschoren. Ich ging schon seit Tagen in kurzen Ärmeln, doch der Schäfer hatte einen knöchellangen Schaffellmantel über die Schultern geworfen; bis Bauern ihre Kleider ablegen, dauert es seine Zeit. Ich rief »Jó estét kivánok!« – ein Viertel meiner Ungarischkenntnisse –, und er antwortete mit demselben Abendgruß und lüpfte dazu feierlich seinen schwarzen Hut mit der schmalen Krempe. (Schon seit ich in der südlichen Slowakei den ersten Ungarn begegnet war, sehnte ich mich nach einer Kopfbedeckung, mit der ich den zeremoniellen Gruß erwidern konnte.) Seine Herde war noch in der Ferne zu erkennen, weiße Flecken und ein leises Glockenklingeln, als ich einer zweiten begegnete. Ein Rudel junger Damhirsche, noch ohne Geweih, äste am Waldrand des gegenüberliegenden Flußufers. In ihrem Rücken ging die Sonne unter und ließ ihre Körper riesige Schatten werfen; jetzt, wo in diesen stillen Gefilden meine Schritte ertönten, hoben sie alle im selben Moment die Köpfe und blickten mir nach, bis ich außer Sichtweite war.

Ich hatte überlegt, ob ich im Freien übernachten sollte, und als ich die geschorenen Lämmer sah, war die Entscheidung gefallen; der Wind hatte sich fast gelegt, und kaum ein Blatt rührte sich. Mein erster Versuch, zwei Nächte zuvor in der Slowakei, hatte zu meiner vorübergehenden Festnahme unter dem Verdacht der Schmuggelei geführt; doch hier in diesen Wäldern hoch über allen Gefahren der Grenze fühlte ich mich sicher.

Auf der Suche nach einer geschützten Ecke ließ ich den Blick schweifen und entdeckte im Dämmerlicht auf der anderen Seite einer Lichtung, wo Krähen lärmend schlafen gingen, ein Lagerfeuer. Im lichteren Teil des Waldes unter einer uralten Eiche war aus Pfählen und Ästen ein Pferch errichtet, ein Schweinehirte verschloß ihn eben mit einer Stange, die er zwischen zwei Weidenbüsche klemmte, und die lockigen, mattschwarzen Schweine rangelten drinnen lautstark um die besten Plätze. Die Hütte daneben war mit Binsen gedeckt, und als ich zu den zwei Hirten hinzutrat, blickten mich beide im Lichtschein des Feuers verwundert an: wer ich sei, wollten sie wissen, und von wo ich komme. Mit den Antworten – »Angol« und »Angolország« – konnten sie nicht viel anfangen, doch ihre Mienen hellten sich auf, als ich eine Flasche Barack hervorholte, das Abschiedsgeschenk meiner Freunde in Esztergom, und ein dritter Schemel fand sich für mich.

Sie waren in groben weißen Wollstoff gekleidet, steif wie Fries. Statt Stachelstock und Hirtenstab trugen sie dicke Knüttel, glatt vom langen Gebrauch, mit kleinen metallenen Klingen wie Äxten, und ihre Füße steckten in Mokassins, wie ich sie zuerst bei den Slowaken in Bratislava gesehen hatte: cremefarbene Kähne aus grobem Leder, an den Spitzen nach oben gebogen, einen rundum laufenden Riemen eingeflochten, der dann um den ledernen Schaft gewunden wurde bis auf halbe Höhe der Unterschenkel; so überstanden die Füße wohlig im weißen Fell den Winter bis zum ersten Kuckucksruf.

Der Jüngere von beiden war ein wilder Bursche mit flammenden Augen und wirrem Haar. Er konnte ungefähr zehn Worte Deutsch, von den »Schwobs« in Nachbardörfern gelernt (Schwaben, die dort siedelten, wie ich später erfuhr), und er hatte ein ansteckendes, geradezu irrsinniges Lachen. Sein weißhaariger Vater sprach nur Magyarisch, doch aus seinen Augen, tief zwischen Runzeln verborgen, schwand das Mißtrauen, je weiter sich die Flasche leerte. Immerhin verstand ich, daß die Hirsche, deren fehlendes Geweih er mit gespreizten Fingern anzeigte, dem föherceg gehörten, dem Erzherzog. Weiterhin in Zeichensprache meldete der Jüngere sich mit einem Grunzen zu Wort, knurrte gefährlich und deutete mit gebogenem Zeigefinger die Hauer der wilden Eber an, die hier im Unterholz lauerten; dann drehte er sie in Spiralen, was nur soviel wie Mufflons bedeuten konnte. Die Zeichen wurden noch unverblümter, als er übermütig vorführte, wie die wilden Eber in die Pferche einbrachen, die zahmen Sauen deckten und für eine Unzahl an halbblütigem Nachwuchs sorgten. Ich steuerte hartgekochte Eier zu dem schmackhaften Schinken bei, den es zum Abendessen gab; sie bestreuten ihn mit Paprika, und wir aßen ihn mit Schwarzbrot und Zwiebeln und einem schon beinahe versteinerten Stück Käse.

Die Schweinehirten hießen Bálint und Géza, und die Namen sind mir im Gedächtnis geblieben, weil der Klang mir damals noch so fremdartig vorkam. Im Licht des Feuers sahen sie aus wie Gestalten aus dem tiefsten Mittelalter, und eigentlich hätten wir ein Trinkhorn von Hand zu Hand reichen sollen statt meiner viel zu modernen Flasche. Als wir sie schließlich geleert hatten und da keine Sprache uns verband, schüttelte uns alle drei ein unbezähmbares Lachen. Eine urtümliche Form des Einverständnisses hatte alle Hürden überwunden, und der Alkohol und die unbekümmerte gute Laune des Jungen hatten wohl für den Rest gesorgt. Das Feuer war fast verloschen, und die Stimmung in der Lichtung änderte sich; der Mond, noch beinahe so voll wie in der Nacht zuvor, stieg zwischen den Zweigen auf.

Es war eng in ihrer Hütte, und als sie begriffen, daß ich lieber draußen schlafen wollte, streuten sie Reisig im Schatten eines Schobers aus. Der Alte legte seine Hand aufs Gras und berührte dann mit mitleidiger Miene die meine: Sie war feucht vom Tau. Mit Zeichen bedeutete er mir, ich solle alles anziehen, was ich dabeihätte, und dann gingen sie und legten sich auf ihr Lager.

Wir sagten gute Nacht, doch ich lag noch lange wach und blickte hinauf zum Mond. Die Schatten der Bäume überzogen die Lichtung mit einem Muster wie durchbrochenes Tuch. Ganz in der Nähe riefen Eulen, und aus dem Pferch kam bisweilen ein verschlafenes Grunzen, ein Zeichen von Träumen vielleicht oder von Magenbeschwerden, und manchmal hörte ich ein Schwein, vom nächtlichen Hunger geweckt, selig schmatzen.

Es war noch dunkel, als wir aufstanden, ich klamm von der Feuchtigkeit, wie die beiden es mir prophezeit hatten, und während wir uns mit Brot und Käse stärkten, öffnete Bálint, der Ältere, den Stall. Die Schweine stürmten in wilder Jagd ins Freie; dort machten sie sich, sichtlich gelassener, an ihr Tagwerk und wühlten nach Eicheln und Bucheckern, die in großer Zahl unter den Bäumen verstreut lagen. Damit ich auch den richtigen Weg einschlug, begleitete Géza mich durch den Wald; pfeifend stapfte er durch das Farnkraut, wirbelte seine lange Axt durch die Luft, schleuderte sie in die Höhe und fing sie wieder auf. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wanderte ich allein noch zwei Stunden bei Mondlicht weiter und erreichte mit Tagesanbruch die Ruine einer gewaltigen, ganz von Bäumen überwucherten Burg. Zu ihren Füßen fiel der bewaldete Abhang mehr als dreihundert Meter steil ab, und in der Tiefe sah man das Tal der Donau, das sich, gesäumt von baumbestandenen Hügeln, in östlicher Richtung stromaufwärts schlängelte. Der Pfad führte unter Buchen und Haselsträuchern entlang einer Festungsmauer bergab bis zu einem großen Turm oben auf dem Hügel, und nach einer letzten Kletterpartie durch das nasse Unterholz stand ich in Visegrád.1

Ich hatte schon viel über diese Festung gehört.

Die Magyaren, die sich am Ende des neunten Jahrhunderts in Mitteleuropa niederließen, waren wilde, heidnische Eroberer. Vier Jahrhunderte später und seit gut dreien davon gesellschaftsfähig, hatten sie aus ihrem Land ein bedeutendes christliches Königreich gemacht, und das Haus der Arpaden, eine uralte Dynastie von Kriegerkönigen, Gesetzgebern, Kreuzfahrern und Heiligen, pflegte freundschaftliche Beziehungen zu den meisten großen Herrscherhäusern der christlichen Welt; König Béla IV., Bruder der heiligen Elisabeth, war der bedeutendste unter ihnen. Er lebte in bewegten Zeiten. In den Jahrzehnten zuvor hatten Dschingis Khan und seine Nachkommen Asien vom Gelben Meer bis zur Ukraine verwüstet, und im Frühjahr 1241 erreichte die Kunde von der drohenden Gefahr Ungarn: Nach der Zerstörung von Kiew war der Enkel des Khans, Batu, auf dem Weg zu den Pässen im Osten. Béla versuchte die Verteidigung des Landes zu organisieren, aber die Mongolen drangen so schnell durch die Karpaten vor, daß sie, als sie die trägen magyarischen Adligen erst einmal überrascht und vernichtend geschlagen hatten, das Ungarische Tiefland überrannten und den ganzen Sommer hindurch die Städte entvölkerten und niederbrannten. Sie versprachen den Bauern, sie zu schonen, wenn sie die Ernte einbrachten, und machten sie dann im Herbst, als alles unter Dach und Fach war, doch noch nieder; am Weihnachtstag überquerten sie den zugefrorenen Fluß und überfielen die westlichen Landesteile. Einige wenige Städte hielten dem Ansturm dank Befestigungen oder sumpfiger Umgebung stand, doch Esztergom wurde niedergebrannt, und auch die meisten anderen lagen bald in Schutt und Asche, die Bewohner hingemetzelt oder als Sklaven verschleppt.

Plötzlich ließ der Ansturm nach. Im mongolischen Lager waren Boten mit der Nachricht eingetroffen, daß Ogodai, der Nachfolger des Dschingis Khan, im fünftausend Meilen entfernten Karakorum gestorben war; und allenthalben, in den sibirischen Sümpfen und jenseits der Chinesischen Mauer, in den verwüsteten Königreichen des Kalifats, zwischen den Trümmern von Krakau und Sandomir, in den mährischen Kiefernwäldern und den rauchenden magyarischen Städten wandten wilde, schlitzäugige Fürsten mit Jungengesichtern plötzlich den Blick nach Osten auf die chinesische Tartarei; der Wettlauf um die Nachfolge hatte begonnen, und bis zur Mitte des Monats März waren sie allesamt verschwunden. Als König Béla, der auf einer dalmatinischen Insel Zuflucht gefunden hatte, in sein Land zurückkehrte, fand er es zerstört. Tod und Verschleppung hatten die Bevölkerung halbiert, und die Überlebenden wagten sich nur zaghaft aus den Wäldern hervor. Béla mußte sein Reich neu gründen, und als erstes widmete er sich der Absicherung gegen die Mongolen. Daher die Burg in Visegrád, die ich nun durchstreifte. So entstand diese trutzige Festung, und viele andere folgten, und als die Mongolen das nächstemal einfielen, behauptete Ungarn sich.

Am erst halb erwachten Kai von Visegrád hörte man ebensoviel deutsche wie ungarische Stimmen, denn hier wohnten Gézas Schwaben. Nach der Vertreibung der Türken waren Tausende von süddeutschen Bauernfamilien vom Oberlauf der Donau, vornehmlich aus der Gegend von Ulm, aufgebrochen und mit flachen Booten den Fluß hinuntergefahren und hatten sich an den entvölkerten Ufern niedergelassen. Wie es hieß, hatten sich ihre Sprache und ihre Festtagstrachten seit der Zeit Maria Theresias nicht verändert. Gewiß hatte es viele Heiraten zwischen ihnen und der einheimischen Bevölkerung gegeben, und doch glaubte ich, wenn ich Menschen mit flachsblonden oder rabenschwarzen Haaren sah – vielleicht zu Unrecht –, ich könne die typischen Deutschen von den typischen Magyaren unterscheiden.

Als der Weg entlang der Donau eine Biegung nach Osten machte, erstrahlte das Tal im hellen Morgenlicht. Wenig später teilte die Spitze einer langgezogenen Insel mit buschigen Weiden und einem Flickenteppich aus jungen Weizenfeldern den Fluß in zwei Arme. Netze spannten sich von Ast zu Ast, Fischerboote lagen an Espen, Pappeln und Weiden vertäut, und zinngraue Stämme breiteten einen silbrig schimmernden blaßgrünen Schleier vor das dunklere Laub der Uferwälder. Die Insel folgte fast zwanzig Meilen weit den Windungen des Flusses. Hin und wieder sorgte ein schmucker Dampfer für ein paar kräuselnde Wellen, und im Laufe des Tages wurde der spärliche Bootsverkehr dichter.

Aber nach ein bis zwei Stunden tat der Fluß etwas, was er seit unserer ersten Begegnung im verschneiten Ulm elf Wochen zuvor noch nie getan hatte. (Erst elf Wochen! Es kam mir vor wie ein halbes Leben!) Genauer gesagt, seit der Fluß im Schwarzwald zum erstenmal aus dem Untergrund hevorgesprudelt war, im Park des Fürsten von Fürstenberg. Denn nach zwei symmetrischen Bögen machte die Donau nun einen Knick nach Süden, und diese neue Richtung sollte sie einhundertachtzig Meilen lang beibehalten, durch ganz Ungarn – sozusagen vom oberen bis zum unteren Rand der Landkarte –, bis sie sich dann am Fuße der Stadtmauer von Belgrad erneut nach Osten wandte. Es war ein erregender Augenblick.

Am späten Nachmittag, am anderen Ende der Insel, die mich den ganzen Tag über begleitet hatte, erreichte ich Szentendre, ein barockes Landstädtchen mit schmalen Gassen, Kopfsteinpflaster, Ziegeldächern und Zwiebeltürmen. Die Hügel ringsum waren nun nicht mehr so hoch, an die Stelle der schroffen Felsen und bewaldeten Steilhänge traten Weinberge und Obstgärten, und man spürte die Nähe einer großen Stadt. Die Einwohner waren Nachkommen von Serben, die drei Jahrhunderte zuvor vor den Türken geflohen waren; sie sprachen noch immer Serbisch und besuchten den Gottesdienst in der griechisch-orthodoxen Kathedrale, die ihre Vorfahren erbaut hatten. Als Anhänger der griechisch-orientalischen Glaubensrichtung unterscheiden sie sich von den weiter östlich ansässigen, griechisch-katholischen Uniaten, die, obwohl sie dem orthodoxen Ritus folgen, die Oberhoheit des Papstes anerkennen. Das wußte ich damals noch nicht, aber die Ikone, die anstelle eines Kreuzes meine Schlafzimmerwand zierte, hätte mich eigentlich auf die Fährte bringen müssen.