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200 Jahre Wiley - Wissen für Generationen

John Wiley & Sons feiert 2007 ein außergewöhnliches Jubiläum: Der Verlag wird 200 Jahre alt. Zugleich blicken wir auf das erste Jahrzehnt des erfolgreichen Zusammenschlusses von John Wiley & Sons mit der VCH Verlagsgesellschaft in Deutschland, einschließlich des Ernst & Sohn Verlages für Architektur und technische Wissenschaften, zurück. Seit Generationen vermitteln Wiley und Wiley-VCH als auch Ernst & Sohn die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und technischer Errungenschaften in der jeweils zeitgemäßen medialen Form.

Jede Generation hat besondere Bedürfnisse und Ziele. Als Charles Wiley 1807 eine kleine Druckerei in Manhattan gründete, hatte seine Generation Aufbruchsmöglichkeiten wie keine zuvor. Wiley half, die neue amerikanische Literatur zu etablieren. Etwa ein halbes Jahrhundert später, während der „zweiten industriellen Revolution“ in den Vereinigten Staaten, konzentrierte sich die nächste Generation auf den Aufbau dieser industriellen Zukunft. Wiley bot die notwendigen Fachinformationen für Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler. Das ganze 20. Jahrhundert wurde durch die Internationalisierung vieler Beziehungen geprägt – auch Wiley verstärkte seine verlegerischen Aktivitäten und schuf ein internationales Netzwerk, um den Austausch von Ideen, Informationen und Wissen rund um den Globus zu unterstützen.

Wiley begleitete während der vergangenen 200 Jahre viele Generationen und fördert heute den weltweit vernetzten Informationsfluss, damit auch unsere global wirkende Generation ihre Ansprüche erfüllen kann und ihr Ziel erreicht. Immer rascher verändert sich unsere Welt, und es entstehen neue Technologien, die unser Leben und Lernen zum Teil tief greifend verändern. Beständig nimmt Wiley diese Herausforderungen an und stellt für Sie das notwendige Wissen bereit, das Sie neue Welten, neue Möglichkeiten und neue Gelegenheiten erschließen lässt.

Generationen kommen und gehen: Aber Sie können sich darauf verlassen, dass Wiley Sie als beständiger und zuverlässiger Partner mit dem notwendigen Wissen versorgt.

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William J. Pesce

President and Chief Executive Officer

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Peter Booth Wiley

Chairman of the Board

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Vorwort

Für die Untersuchung von Tragwerken des Bauwesens hat sich die Methode der finiten Elemente (FEM) in den letzten 30 Jahren allgemein durchgesetzt. Möglich wurde dies durch die stürmische Entwicklung der Computertechnologie und die gezielte Weiterentwicklung computerorientierter Berechnungsverfahren. Die FEM ist heutzutage eine universelle Berechnungsmethode, die jeder Statiker sicher beherrschen muss.

Das vorliegende Buch konzentriert sich auf FE-Methoden zur Ermittlung von Schnittgrößen, Verformungen, Verzweigungslasten (Eigenwerten) und Eigenformen für Stahlkonstruktionen. Neben linearen Berechnungen für Tragwerke bilden die Stabilitätsfälle Biegeknicken, Biegedrillknicken und Plattenbeulen im Hinblick auf Verzweigungslasten und Berechnungen nach Theorie II. Ordnung wichtige Schwerpunkte. Hinzu kommen FE-Methoden für die Untersuchung von Querschnitten, die zurzeit noch relativ selten zur Anwendung kommen, zukünftig aber sicherlich stark an Bedeutung gewinnen werden.

Das vorliegende Buch ist für Studierende an Fachhochschulen, Technischen Hochschulen und Universitäten sowie Ingenieure in der Baupraxis konzipiert. Es werden daher die Grundlagen der FEM behandelt, Finite Elemente für die Untersuchungen von Stahlkonstruktionen entwickelt und neben Erläuterungen zum Verständnis Anwendungshinweise gegeben. Darüber hinaus wird mit zahlreichen Berechnungsbeispielen die Lösung baupraktischer Aufgabenstellungen gezeigt und Folgendes vermittelt:

Die Verfasser danken Herrn Dipl.-Ing. Niebuhr von der Ingenieursozietät Schürmann-Kindmann und Partner, Dortmund, sowie den Herren Dr.-Ing. Wolf und Dipl.-Ing. Vette für die wertvollen Anregungen und fachlichen Diskussionen. Ein besonde-rer Dank gilt Frau Habel für die druckfertige Erstellung des Manuskriptes und Herrn Steinbach für die Anfertigung der Bilder. Aktuelle Hinweise zum Buch werden unter www.kindmann.de, www.rub.de/stahlbau und www.skp-ing.de veröffentlicht.

Bochum, Februar 2007

R. Kindmann, M. Kraus

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung und Übersicht

1.1 Erforderliche Nachweise und Nachweisverfahren

1.2 Verfahren zur Schnittgrößenermittlung

1.3 Elementtypen und Anwendungsbereiche

1.4 Lineare und nichtlineare Berechnungen

1.5 Bezeichnungen und Annahmen

1.6 Grundlegende Beziehungen

1.7 EDV-Programme

2 Grundlagen der FEM

2.1 Allgemeines

2.2 Grundideen und Methodik

2.3 Ablauf der Berechnungen

2.4 Gleichgewicht

2.5 Ansatzfunktionen für die Verformungen

3 FEM für lineare Berechnungen von Stabtragwerken

3.1 Vorbemerkungen

3.2 Stabelemente für lineare Berechnungen

3.3 Knotengleichgewicht im globalen Koordinatensystem

3.4 Bezugssysteme und Transformationen

3.5 Gleichungssystem

3.6 Berechnung der Verformungsgrößen

3.7 Ermittlung der Schnittgrößen

3.8 Ermittlung der Auflagerreaktionen

3.9 Einwirkungen/Lastgrößen

3.10 Federn und Schubfelder

3.11 Gelenke und Gelenkfedern

3.12 Einflusslinien

3.13 Übertragungsmatrizenverfahren

3.14 Schubweiche Stabelemente

4 FEM für nichtlineare Berechnungen von Stabtragwerken

4.1 Allgemeines

4.2 Gleichgewicht am verformten System

4.3 Ergänzung der virtuellen Arbeit

4.4 Knotengleichgewicht unter Berücksichtigung von Verformungen

4.5 Geometrische Steifigkeitsmatrix

4.6 Sonderfall: Biegung mit Druck- bzw. Zugnormalkraft

4.7 Vorverformungen und geom. Ersatzimperfektionen

4.8 Berechnungen nach Theorie II. Ordnung und Nachweisschnittgrößen

4.9 Stabilitätsuntersuchungen/Verzweigungslasten

4.10 Eigenformen/Knickbiegelinien

4.11 Fließgelenktheorie

4.12 Fließzonentheorie

5 Anwendungsbeispiele für Stabtragwerke

5.1 Übersicht

5.2 Träger

5.3 Stützen und andere Druckstäbe

5.4 Fachwerke

5.5 Rahmen und Stabwerke

5.6 Trägerroste

6 FEM für ebene Flächentragwerke

6.1 Scheiben und Platten

6.2 Spannungen und Schnittgrößen

6.3 Verschiebungsgrößen

6.4 Grundlegende Beziehungen

6.5 Prinzip der virtuellen Arbeit

6.6 Scheiben und Platten im Stahlbau

6.7 Steifigkeitsmatrix für ein Plattenelement

6.8 Geometrische Steifigkeitsmatrix für das Plattenbeulen

6.9 Längs- und querausgesteifte Platten

6.10 Nachweise beim Plattenbeulen

6.11 Ermittlung von Beulwerten und -flächen mit der FEM

6.12 Anwendungsbeispiele zum Plattenbeulen

7 FEM für Stabquerschnitte

7.1 Aufgabenstellungen

7.2 Normierte Bezugssysteme und Querschnittskennwerte

7.3 Prinzip der virtuellen Arbeit

7.4 Eindimensionale Elemente für dünnwandige Querschnitte

7.5 Zweidimensionale Elemente für dickwandige Querschnitte

7.6 Berechnungsablauf

7.7 Anwendungsbeispiele

8 Gleichungssysteme

8.1 Problemstellung

8.2 Lösungsverfahren

8.3 Gaußscher Algorithmus

8.4 Cholesky-Verfahren

8.5 Gaucho-Verfahren

8.6 Berechnungsbeispiel

8.7 Ergänzende Hinweise

9 Lösung von Eigenwertproblemen

9.1 Problemstellung

9.2 Erläuterungen zum Verständnis

9.3 Matrizenzerlegungsverfahren

9.4 Inverse Vektoriteration

9.5 Kombination der Lösungsverfahren

Literaturverzeichnis

Sachverzeichnis

1

Einleitung und Übersicht

1.1 Erforderliche Nachweise und Nachweisverfahren

Für Tragwerke des Bauwesens ist die Trag- und Lagesicherheit sowie die Gebrauchstauglichkeit nachzuweisen, siehe z. B. DIN 18800 Teil 1. Da die Bauteile im Stahlbau in der Regel schlank und dünnwandig sind, haben Tragsicherheitsnachweise für stabilitätsgefährdete Konstruktionen bezüglich Biegeknicken, Biegedrillknicken und Plattenbeulen große Bedeutung und bilden daher einen wichtigen Schwerpunkt in statischen Berechnungen. In diesem Zusammenhang ist die Ermittlung von Schnittgrößen, Verformungen und Verzweigungslasten eine zentrale Aufgabe, deren Lösung in dem vorliegenden Buch mit Hilfe der Finiten-Elemente-Methode (FEM) behandelt wird.

Die Berechnungen und Nachweise müssen die gesetzlichen Anforderungen erfüllen und dem Stand der Technik entsprechen. Für Stahlkonstruktionen sind die Grundnorm DIN 18800 und die entsprechenden Fachnormen bzw. der Eurocode 3 zu beachten. Tabelle 1.1 enthält eine Zusammenstellung der Nachweisverfahren nach DIN 18800 und der Nachweise, wie sie üblicherweise geführt werden. Der Eurocode 3 enthält vergleichbare Regelungen.

Tabelle 1.1 Nachweisverfahren nach DIN 18800 und übliche Nachweise

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Die Verwendung eines Nachweisverfahrens setzt voraus, dass die einzelnen Querschnittsteile (Stege und Gurte) die Druckspannungen aufnehmen können, so dass kein Beulen auftritt und eine ausreichende Rotationskapazität vorhanden ist. Hilfen für die Überprüfung der b/t-Verhältnisse finden sich in Profiltabellen, s. z. B. [30]. Sofern nur Längsnormal- und Schubspannungen auftreten, ist c01_img02.jpg. Der Nachweis der Vergleichspannung (Nachweisverfahren Elastisch-Elastisch) ist nur erfordaher andere derlich, wenn σ/σR,d und τ/ τ R,d > 0,5 sind. Vollplastische Schnittgrößen für Walzprofile finden sich in den Profiltabellen [30], Interaktionsbedingungen und Nachweise mit dem Teilschnittgrößenverfahren in [30] und [27].

Der Index „d“ bei Sd und Rd in Tabelle 1.1 kennzeichnet, dass die Beanspruchungen mit den Bemessungswerten der Einwirkungen zu berechnen sind und es sich um die Bemessungswerte der Beanspruchbarkeiten handelt. Auf die Berechnung der Beanspruchungen und Beanspruchbarkeiten wird im Abschnitt 1.5 „Lineare und nichtlineare Berechnungen“ näher eingegangen.

1.2 Verfahren zur Schnittgrößenermittlung

Bekanntlich können die Schnittgrößen in statisch bestimmten Systemen mit Hilfe von Gleichgewichtsbedingungen und Schnittprinzipien ermittelt werden. Dies ist bei statisch unbestimmten Systemen nicht möglich und man benötigt daher andere Lösungsverfahren, wie z. B. das Kraftgrößenverfahren, das das klassische Verfahren der Baustatik ist. Es ist für die Handrechnung gut geeignet und sehr anschaulich, da es dem ingenieurmäßigen Verständnis unmittelbar zugänglich ist. Der Nachteil ist jedoch, dass man für die unterschiedlichen baustatischen Systeme stets einen neuen Lösungsansatz entwickeln muss und es darüber hinaus für viele Aufgabenstellungen gänzlich ungeeignet ist.

Bild 1.1 Unbekannte Größen beim Kraftgrößen-, Weggrößen- und Übertragungsmatrizenverfahren für ein ausgewähltes Beispiel

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Bild 1.1 zeigt als Beispiel einen einfach unbestimmten Biegeträger. Beim Kraftgrößenverfahren muss daher eine unbekannte Kraftgröße bestimmt werden. Danach kann der Momentenverlauf unter Verwendung der Gleichgewichtsbedingungen bestimmtwerden. Ausgangspunkt des Verfahrens ist stets die Wahl eines statisch bestimmten Hauptsystems. Da man dabei mehrere Möglichkeiten hat, sind die beiden Systeme in Bild 1.1 ausgewählte Beispiele.

Bei allgemeiner Betrachtung unterscheidet man drei Verfahren für die Schnittgrößenermittlung:

Darüber hinaus gibt es zu den drei Verfahren noch zahlreiche Varianten, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Während beim Kraftgrößenverfahren die Kraftgrößen die Unbekannten des entstehenden Gleichungssystems sind, sind es beim Weggrößenverfahren die Weggrößen, d. h. die Verschiebungen und Verdrehungen, weshalb es auch Verformungsgrößenverfahren genannt wird. Wenn man die baustatischen Systeme in Finite Elemente (z. B. Stabelemente bzw. -abschnitte) einteilt, ist das Weggrößenverfahren in hervorragender Weise für eine verallgemeinerte Formulierung geeignet und daher universell in einem weiten Anwendungsbereich einsetzbar. Ingenieurmäßig anschaulich ist es nicht und es ist stark mathematisch-mechanisch ausgerichtet, weil große Datenmengen zu verarbeiten und große Gleichungssysteme zu lösen sind. Dies hängt natürlich vom statischen System und der FE-Modellierung ab und ist hier daher im Vergleich zum Kraftgrößenverfahren gemeint.

Bild 1.1 zeigt beispielhaft die Anwendung des Weggrößenverfahrens. Unbekannte Größen sind bei diesem Verfahren die Verformungsgrößen in den Knoten, d. h. beim untersuchten Biegeträger die Verschiebung w und die Verdrehung φ. Pro Knoten treten also zwei Unbekannte auf. Für das Beispiel ergeben sich dann unter Berücksichtigung der geometrischen Randbedingungen eine bzw. 19 Unbekannte. Bei der FE-Modellierung mit zehn Elementen treten relativ viele Unbekannte auf (19). Vorteilhaft ist dabei aber, dass keine weiteren Handrechnungen erforderlich sind, weil verfahrensbedingt alle Zustandsgrößen (Biegemomente, Querkräfte, Durchbiegungen, Verdrehungen) in den Knoten, d. h. praktisch im gesamten Träger, berechnet werden.

Aufgrund des numerischen Aufwandes ist die weite Verbreitung der FEM unter Verwendung des Weggrößenverfahrens eng mit der stürmischen Entwicklung leistungsfähiger Computer verbunden. Noch bis etwa 1985 war es eine wichtige Aufgabe, Tragwerke so durch finite Elemente zu modellieren, dass der begrenzte Speicherplatz ausreichte und Rechenzeiten nicht ausuferten. Heutzutage sind derartige Überlegungen nur noch bei außergewöhnlichen Tragwerken und Berechungen von Bedeutung. Andererseits stellt man häufig bei statischen Berechnungen fest, dass mit übertrieben feinen FE-Modellierungen oder ungeeigneten Finiten Elementen „überflüssig viel Papier erzeugt wird“. Wie Bild 1.1 zeigt kann es durchaus sinnvoll sein Einfeldträger mit einem FEM-Programm zu berechnen, weil vom Programm direkt alle Größen für die erforderlichen Nachweise ermittelt werden und man mit geringem Aufwand die entsprechenden Seiten für die statische Berechnung ausdrucken kann.

Als drittes Verfahren ist in der obigen Aufzählung das Übertragungsmatrizenverfahren aufgeführt. Es wird auch Reduktionsverfahren genannt und eignet sich für durchgehende Stabzüge, wie z. B. Durchlaufträger, die auch Knicke enthalten können. Unbekannte des entstehenden Gleichungssystems sind die unbekannten Schnittund Weggrößen am Beginn des Stababzuges (siehe auch Bild 1.1), so dass sich bei Stäben maximal sieben Unbekannte ergeben. Entsprechend gering ist der Bedarf an Speicherplatz und Rechenzeit, was wie bereits oben erwähnt bis etwa 1985 von großer Bedeutung war. Man hat mit dem Übertragungsmatrizenverfahren früher häufig z. B. Vollwandträgerbrücken bemessen, da sich selbst bei Durchlaufträgern über mehrere Felder nur zwei Unbekannte ergeben (Hauptträger, Abtragung der Vertikallasten). EDV-Programme, die das Übertragungsmatrizenverfahren verwenden, sind heutzutage selten. Das Verfahren findet sich aber durchaus in aktuellen FEM-Programmen für Stäbe und Stabwerke, wobei jedoch zuerst mit einer relativ groben Einteilung in Finite Elemente nach dem Weggrößenverfahren gerechnet wird. Anschließend werden die einzelnen Stäbe meist in fünf bis zehn Elemente aufgeteilt und detaillierter mit dem Übertragungsmatrizenverfahren untersucht. Weitere Einzelheiten zum Übertragungsmatrizenverfahren finden sich in Abschnitt 3.13.

1.3 Elementtypen und Anwendungsbereiche

Bei Berechnungen mit der FEM werden Tragwerke durch möglichst zutreffende baustatische Systeme (Stabwerke, Platten, Scheiben usw.) idealisiert und dann in geeigneter Weise in finite Elemente eingeteilt, s. Bild 1.3. Man unterscheidet:

Bild 1.2 Elementtypen und mögliche Knotenfreiwerte

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In Bild 1.2 sind entsprechende Elemente beispielhaft dargestellt. Sofern Stäbe oder Stabwerke untersucht werden, kann es in einigen Anwendungsfällen sinnvoll sein, die Stabquerschnitte mit Hilfe der FEM zu untersuchen. Dabei werden je nach Aufgabenstellung

Bild 1.3 Beispiele zur Diskretisierung unterschiedlicher Problemstellungen des Stahlbaus mit finiten Elementen

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Für die Berechnung von Tragwerken aus Baustahl werden fast ausschließlich Stabelemente verwendet (s. Bild 1.3a), die häufig Bestandteil der folgenden baustatischen Systeme sind:

Die hier aufgeführten baustatischen Systeme kommen vornehmlich im Hoch-, Industrie- und Anlagenbau vor. Sie erfordern aufgrund unterschiedlicher Beanspruchungen Stabelemente mit bis zu sieben Verformungsgrößen in den Knoten (Knotenfreiwerte). Auf die Anzahl der erforderlichen Verformungsgrößen pro Knoten wird in den Kapiteln 3 und 5 näher eingegangen.

Stabelemente sind auch für die Berechnung von Brücken die üblichen finiten Elemente. Ob Vollwandträger-, Fachwerkbalken-, Stabbogen- oder Schrägseilbrücken, Flächenelemente (Scheiben, Platten, Schalen) werden nur selten verwendet. Ein wesentlicher Hintergrund dazu ist, dass die aktuellen Vorschriften fast ausschließlich auf die Berechnung mit Stabtragwerken abgestimmt sind. Hinzu kommt, dass die Genauigkeit dieser Berechnungen von Ausnahmen abgesehen völlig ausreichend ist.

Ein durchaus interessanter Verwendungsbereich von finiten Flächenelementen im Stahlbau ist das Plattenbeulen. Bild 1.3b zeigt beispielhaft den Obergurt eines Stabes, der für die Untersuchung des Plattenbeulens in finite Elemente eingeteilt worden ist. Das Thema wird in Kapitel 5 behandelt und ein rechteckiges Plattenelement für die Berechnung von Eigenwerten und Eigenformen hergeleitet. Ansonsten werden Flächenelemente natürlich bei wissenschaftlichen Untersuchungen und Entwicklungen gezielt eingesetzt. Da, wie erwähnt, Flächenelemente nur selten und Volumenelemente praktisch gar nicht im Stahlbau zum Einsatz kommen, soll hier zusammenfassend Folgendes festgehalten werden:

Finite Elemente für die Untersuchung von Stabquerschnitten werden in Kapitel 7 behandelt. Als Beispiel dazu ist in Bild 1.3c die FE-Modellierung eines gewalzten I-Querschnitts durch krummlinig berandete Flächenelemente dargestellt.

1.4 Lineare und nichtlineare Berechnungen

Lineare Berechnungen (Theorie I. Ordnung) bilden in der Regel gedanklich und rechnerisch den Ausgangspunkt. Grundlage sind folgende Annahmen:

Nichtlineare Berechnungen erfordern in der Regel einen höheren Aufwand als lineare. Man unterscheidet physikalische und geometrische Nichtlinearitäten. Bei der physikalischen Nichtlinearität wird die Annahme „linear-elastisches Werkstoffverhalten“ aufgegeben und das Plastizieren von Tragwerksteilen berücksichtigt, weil dann wirtschaftlichere, d. h. leichtere Konstruktionen ausgeführt werden können. Sofern das Plastizieren nur bei der Tragfähigkeit der Querschnitte ausgenutzt wird, ist diese Vorgehensweise dem Nachweisverfahren Elastisch-Plastisch in Tabelle 1.1 zuzuordnen. Die Schnittgrößen werden nach der Elastizitätstheorie berechnet („elastische“ Systemberechnung) und maximal ein Lastzustand zugelassen, bei dem sich ein Fließgelenk bildet. Im Gegensatz dazu werden beim Nachweisverfahren Plastisch-Plastisch plastische Tragfähigkeiten der Querschnitte und des Systems ausgenutzt, d. h. es wird die Ausbreitung von Fließzonen oder die Ausbildung mehrerer Fließgelenke zugelassen.Während das physikalisch nichtlineare Werkstoffverhalten überwiegend aus wirtschaftlichen Gründen berücksichtigt wird, muss die geometrische Nichtlinearität bei stabilitätsgefährdeten Stahlkonstruktionen unter Sicherheitsaspekten unabdingbar erfasst werden. Relativ große Verformungen führen dabei zu größeren Schnittgrößen und höheren Beanspruchungen im Vergleich zu linearen Berechnungen, so dass Nachweise zum Biegeknicken, Biegedrillknicken oder Plattenbeulen geführt werden müssen.

Im Zusammenhang mit geometrisch nichtlinearen Berechnungen ist zu erwähnen, dass die Nachweise in den geltenden Vorschriften, wie z. B. DIN 18800 Teil 2, auf einer Linearisierung nach Theorie II. Ordnung basieren. Diese Näherung ist daher die Grundlage für die vorschriftengerechte Ermittlung von Verformungen, Schnittgrößen und Verzweigungslasten (Eigenwerten). In der Regel sind Berechnungen nach Theorie II. Ordnung im Hinblick auf baupraktische Anwendungsfälle ausreichend genau, da die Verformungen bei Tragwerken aus Stahl normalerweise relativ klein sind. In seltenen Ausnahmefällen können jedoch auch genaue geometrisch nichtlineare Berechnungen erforderlich sein. Dies ist immer dann der Fall, wenn große oder sogar sehr große Verformungen auftreten. Beispiele dazu sind Kunstwerke, die sich im Wind bewegen und bei denen sich die Einzelteile stark durchbiegen.

Zusammenfassend soll hier Folgendes festgehalten werden:

1.5 Bezeichnungen und Annahmen

Im Folgenden werden Bezeichnungen und Annahmen zusammengestellt, die für Stabtragwerke benötigt werden. Teilweise gelten sie auch für Flächentragwerke und die FE-Untersuchung von Querschnitten. Zu diesen Themen werden in den Kapiteln 6 und 7 weitere Bezeichnungen und Annahmen ergänzt. Grundlage für die Bezeichnungen sind DIN 1080 und DIN 18800.

Größen im globalen X-Y-Z-Koordinatensystem

Stabtragwerke werden in Stabelemente eingeteilt, die in den Knoten miteinander verbunden sind. Gemäß Bild 1.2 können auch innerhalb der Stabelemente Knoten angeordnet werden (Zwischenknoten). Knoten werden im globalen X-Y-Z-Koordinatensystem (KOS) durch ihre Koordinaten Xk, Yk und Zk gemäß Bild 1.4 definiert. Darüber hinaus werden auf dieses KOS alle globalen Verformungs- und Lastgrößen in den Knoten bezogen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist der Index k bei diesen Größen in Bild 1.4 weggelassen worden.

Die Verformungsgrößen im globalen KOS werden durch einen Querstrich gekennzeichnet, der über den Größen steht. Dieser Querstrich wird auch bei Vektoren und Matrizen verwendet, sofern sie für das globale KOS gelten.

Bild 1.4 Definition von Verformungs- und Lastgrößen im globalen X-Y-Z-Koordinatensystem

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Größen in lokalen x-y-z-Koordinatensystemen

Koordinaten, Ordinaten und Bezugspunkte

x Stablängsrichtung im lokalen KOS
y, z Hauptachsen in der Querschnittsebene (lokales KOS)
ω normierte Wölbordinate
S Schwerpunkt
M Schubmittelpunkt

Bild 1.5 Stab im lokalen Koordinatensystem mit Verschiebungs- und Schnittgrößen

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Stabelemente werden auf lokale x-y-z-KOS bezogen und als Stabachse die x-Achse durch den Schwerpunkt S definiert. Die Achsen y und z sind die Hauptachsen des Querschnitts. Gemäß Bild 1.5 werden einige Verschiebungs- und Schnittgrößen auf den Schwerpunkt S und andere auf den Schubmittelpunkt M (y = yM, z = zM) bezogen. Für die Wölbkrafttorsion wird eine normierte Wölbordinate co verwendet.

Verschiebungsgrößen

u, v, w Verschiebungen in x-, y- und z-Richtung (lokales KOS)
φx = ϑ Verdrehung um die x-Achse
φy ≅ -w′ Verdrehung um die y-Achse
φz ≅ v′ Verdrehung um die z-Achse
ψ ≅ ϑ′ Verdrillung der x-Achse

Bild 1.6 Definition positiver Verschiebungsgrößen im lokalen KOS

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Lastgrößen

qx, qy, qz Gleichstreckenlasten
mx Streckentorsionsmoment (konstant)
MωL Lastwölbbimoment

Bild 1.7 Positive Wirkungsrichtungen und Angriffspunkte der lokalen Lastgrößen

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Schnittgrößen

N Längskraft, Normalkraft
Vy, Vz Querkräfte
My, Mz Biegemomente
Mx Torsionsmoment
Mxp, Mxs primäres und sekundäres Torsionsmoment
Mω Wölbbimoment
Mrr siehe Tabelle 4.1
Index el: Grenzschnittgrößen nach der Elastizitätstheorie
Index pl: Grenzschnittgrößen nach der Plastizitätstheorie
Index d: Bemessungswert (design)

Bild 1.8 Schnittgrößen an der positiven Schnittfläche eines Stabes

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Bei der üblichen Definition positiver Schnittgrößen (Schnittgrößendefinition I) haben die Schnittgrößen an der negativen Schnittfläche Wirkungsrichtungen, die zu den in Bild 1.8 festgelegten Richtungen entgegengesetzt sind. Bei der Schnittgrößendefinition II sind die Wirkungsrichtungen an beiden Schnittflächen wie in Bild 1.8 definiert. Die beiden Schnittgrößendefinitionen sind in Bild 1.9 für einachsige Biegung mit Normalkraft an einem Stabelement dargestellt. Dabei werden, wie bei der FEM üblich, zur Unterscheidung der Stabelemente und Knoten weitere Indizes verwendet.

Bild 1.9 Schnittgrößen am Stabelement „e“ für einachsige Biegung mit Normalkraft und Schnittgrößendefinitionen I und II

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Spannungen

σx, σy, σz Normalspannungen
τxy, τxz, τyz Schubspannungen
σv Vergleichsspannung

Bild 1.10 Spannungen an der positiven Schnittfläche eines Stabes

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Querschnittskennwerte

A Fläche
Iy, Iz Hauptträgheitsmomente
Iω Wölbwiderstand
IT Torsionsträgheitsmoment
Wy, Wz Widerstandsmomente
Sy, Sz statische Momente
iM, ry, rz, rω Größen für Theorie II. Ordnung und Stabilität, s. Tabelle 4.1
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Weitere Bezeichnungen und Annahmen

Werkstoffkennwerte (isotroper Werkstoff)

E Elastizitätsmodul
G Schubmodul
ν Querkontraktion, Poissonsche Zahl
fy Streckgrenze
fu Zugfestigkeit
εu Bruchdehnung

Teilsicherheitsbeiwerte

γM Beiwert für die Widerstandsgrößen (material)
γF Beiwert für die Einwirkungen (force)

Bild 1.11 Annahmen für das Werkstoffverhalten

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Matrizen und Vektoren

s Schnittgrößenvektor
K Steifigkeitsmatrix
G geometrische Steifigkeitsmatrix
v Verformungsgrößenvektor
p Lastgrößenvektor
Index e: Element

Ein Querstrich über den Matrizen und Vektoren weist daraufhin, dass sie für das globale Koordinatensystem (X, Y, Z) gelten.

Sofern nicht anders angegeben, gelten folgende Annahmen und Voraussetzungen:

1.6 Grundlegende Beziehungen

Verschiebungen (lineare Stabtheorie)

Wie bei Stäben allgemein üblich sind y und z die Hauptachsen des Querschnitts und ω ist die normierte Wölbordinate, [27]. Die Längsverschiebung uS bezieht sich auf den Schwerpunkt S und die Verschiebungen vM sowie wM beschreiben die Verschiebung des Schubmittelpunktes M. Für die Stablängsverschiebung u eines beliebigen Querschnittspunktes gilt folgende Beziehung:

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Der erste Anteil ist die Verschiebung infolge einer Normalkraftbeanspruchung, der zweite und dritte resultiert aus den Biegemomenten und stellt die Verschiebung aufgrund von Querschnittsverdrehungen φy und φz dar. Dabei können mit Gl. (1.1) nur Verschiebungen erfasst werden, bei denen der Querschnitt eben bleibt. Der vierte Anteil erfasst die Stablängsverschiebung aus Torsionsbeanspruchungen in Abhängigkeit von der Verdrillung ψ.

Die Verformungen v und w in der Querschnittsebene ergeben sich aus der Verschiebung des Schubmittelpunktes M sowie aus zusätzlichen Verschiebungsanteilen, die aus der Verdrehung ϑ resultieren:

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Verzerrungen

Die Verzerrungen werden durch geometrische Beziehungen mit den Verschiebungsgrößen verknüpft. Nach [27] gelten für die lineare Stabtheorie die nachstehenden Beziehungen, wobei für die Verschiebungen die Gln. (1.1) bis (1.3) berücksichtigt werden. Außerdem gilt mit der Vernachlässigung sekundärer Schubverformungen c01_img28.jpg

(1.4a)c01_img16.jpg

(1.4b, c)c01_img17.jpg

(1.4d)c01_img18.jpg

(1.4e)c01_img19.jpg

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Werkstoffgesetz und Spannungen

Mit dem Werkstoffgesetz wird der Zusammenhang zwischen Spannungen und Verzerrungen beschrieben. Unter Vernachlässigung der Querdehnungen ergeben sich mit dem Hookeschen Gesetz, also dem Materialgesetz für isotropes, linearelastisches Werkstoffverhalten, und den Verzerrungen der Gln. (1.4) folgende Spannungen:

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Schnittgrößen

Die Spannungen können zu resultierenden Schnittgrößen zusammengefasst werden. Dabei ist zu beachten, dass die Normalkraft und die Biegemomente im Schwerpunkt angreifen, während die Querkräfte, die Torsionsmomente und das Wölbbimoment im Schubmittelpunkt wirken, vgl. Bild 1.8.

Tabelle 1.2 Schnittgrößen als Resultierende der Spannungen

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Aufteilung der linearen Theorie schubstarrer Stäbe in vier Teilprobleme

In Tabelle 1.3 sind vier Teilprobleme - zweiachsige Biegung mit Normalkraft und Wölbkrafttorsion - der linearen Theorie schubstarrer Stäbe zusammengestellt. Die Tabelle enthält eine Zuordnung der Lastgrößen, Verformungen und Schnittgrößen sowie Angaben zum Gleichgewicht am Stabelement und zur Normalspannung σx.

Tabelle 1.3 Aufteilung der linearen Stabtheorie nach [27]

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1.7 EDV-Programme

Für die Berechnungsbeispiele in dem vorliegenden Buch und für ergänzende Untersuchungen wurden im Wesentlichen folgende Programme angewendet:

Hierbei handelt es sich um lehrstuhleigene Programme des Lehrstuhls für Stahl- und Verbundbau der Ruhr-Universität Bochum. Informationen zu KSTAB, FE-Rahmen, Beulen und einer Vielzahl weiterer Programme können [31] entnommen werden, s. a. www.ruhr-uni-bochum.de/stahlbau. Für Hinweise zu den Programmen QSW-FE und QSW-FE ML wird auf [51] verwiesen.

Zu Vergleichszwecken und für weiterführende Untersuchungen sind auch Berechnungen mit den folgenden Programmen durchgeführt worden:

•  RSTAB Ing.-Software Dlubal GmbH, Tiefenbach
•  RFEM Ing.-Software Dlubal GmbH, Tiefenbach
SUSI CSI GmbH, Dortmund
•  BT II Friedrich + Lochner GmbH, Stuttgart
•  ESK Friedrich + Lochner GmbH, Stuttgart
•  DRILL FIDES DV-Partner GmbH, München
•  ABAQUS ABAQUS, Inc., Providence, Rhode Island, USA
•  ANSYS ANSYS, Inc., Canonsburg, Pennsylvania, USA