Birgitta Elín Hassell
Marta Hlín Magnadóttir

Dämmerhöhe
Lautlos

Aus dem Isländischen von
Anika Wolff

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Birgitta Elín Hassell
verbrachte den Großteil ihrer Kindheit lesend in der örtlichen Leihbücherei.
Bevor sie Autorin wurde, verkaufte sie Flugtickets für eine isländische
Airline. Heute schreibt sie erfolgreich Jugendbücher und lebt mit ihrem
Mann, ihren beiden Kindern und der Katze Krúsí am Rand von Reykjavik.

Marta Hlín Magnadóttir
wurde in einem kleinen Fischerdorf an der isländischen Westküste geboren.
Bevor sie zu schreiben begann, arbeitete sie als Klavierlehrerin. An der
Universität lernte sie Birgitta kennen, mit der sie 2011 den Kinder- und
Jugendbuchverlag Bókabeitan gründete. Gleichzeitig entwickelten sie
gemeinsam die Idee für die Serie »Dämmerhöhe«. Marta lebt mit ihrer
Familie im Zentrum von Reykjavik.

Unseren Schwestern, Müttern, Töchtern und Freundinnen,
Söhnen, Vätern, Ehemännern und Verwandten,
Guðmunda, Helga und Páll herzlichen Dank
für die guten Ratschläge, die Anmerkungen und das Anspornen

 

 

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1. Auflage 2016
© für die deutsche Ausgabe 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
Rökkurhæðir: Rústirnar bei Bókabeitan, Reykjavík, Island
© Birgitta Elín Hassell, Marta Hlín Magnadóttir 2011
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Isländischen von Anika Wolff
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80550-4

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Rökkurhæðir ist ein Vorort der Stadt Sunnuvík und auf den ersten Blick ein traumhaftes Fleckchen.

Früher einmal war dieses Stadtviertel ein kleines Dorf, an den schattigen Hang des Hügels geschmiegt, nach dem es benannt ist: Dämmerhöhe. Heute bildet dieses Dorf den Kern des alten Teils von Rökkurhæðir, wo sich kurvige Straßen um mehr oder weniger windschiefe Häuser schlängeln, die meisten hinter hohen Bäumen verborgen und somit vor Wind und Wetter geschützt.

Der neue Teil von Rökkurhæðir sieht völlig anders aus. Obwohl die Einzel- und Reihenhäuser nicht besonders hoch sind, spendet ihnen kein Baum Schatten, wenn die Sonne erbarmungslos vom Himmel knallt, und auch der Hügel bietet keinerlei Schutz.

Die Mehrfamilienhaussiedlung am Fuße der Dämmerhöhe heißt Skuggadalir, Schattental. Ein Name, den sie nicht ohne Grund trägt, denn die Häuser liegen fast den ganzen Tag im Schatten, das ganze Jahr über.

Weiter oben am Hang stehen die Ruinen. Vor einiger Zeit noch bildeten sie den neuesten Teil des Viertels: schicke Wohnblocks und große Einfamilienhäuser mit Blick über das Viertel und auf den Fjord. Heute sind davon nur noch Ruinen übrig, von der Natur mit aller Macht zurückerobert. Manchmal reden die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand über das, was dort geschehen sein soll – übernatürliche Ereignisse, sagen manche, andere sprechen von Gräueltaten. Doch ganz genau weiß das niemand.

Zumindest die Kinder nicht.

Niemand spricht laut über die Ruinen, höchstens, um den Kindern zu verbieten, sich dort herumzutreiben – was die meisten von ihnen natürlich trotzdem heimlich tun.

Es geht einiges vor sich in Rökkurhæðir.

Manches ist unglaublich.

Manches unheimlich.

Manches fürchterlich …

1

Anna lief den Weg hinauf, der quer durchs Viertel führte. Lähmende Verzweiflung packte sie, doch sie wusste, dass sie durchhalten musste – zumindest bis sie zu Hause war.

Auf dem Marktplatz blieb sie kurz stehen und warf einen Blick in Richtung Turnhalle. Das letzte Training vor dem Wettkampf am Wochenende würde bald beginnen. Ohne sie.

Ihr Bruder lag todkrank in der Klinik.

Píla war tot.

Und schuld an allem war allein sie.

Es begann zu schneien. Die weißen Flocken schmolzen auf Annas Wangen und mischten sich mit ihren Tränen. Sie schluchzte leise und lief weiter.

Genau dort, an der Turnhalle, war ihr das Mädchen zum ersten Mal begegnet. Das Mädchen? Ein Mädchen war das ganz sicher nicht, so viel stand fest. Anna war sich noch nicht einmal sicher, ob es sich um ein menschliches Wesen handelte. Dafür hatte sie zu viel Unbeschreibliches gesehen.

Doch was immer es auch war – gezeigt hatte es sich immer in Gestalt eines Mädchens.

Eines Mädchens, dessen Namen Anna nicht kannte.

Wenn es nur das wäre.

Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Kalt und nass und dunkel war es gewesen, überall Schnee und an vielen Stellen Matsch auf den Bürgersteigen, aber trotzdem irgendwie angenehm. Ein isländischer Winter, wie er besser nicht sein konnte: genug Schnee auf dem Hügel, um Ski und Snowboard fahren zu können, und die sonst so belebten Straßen und Gehwege von Rökkurhæðir wie leer gefegt. Anna war hastig vom Training aufgebrochen, um sich zu Hause schnell ihre Schneehose zu schnappen und auf den Berg zu kommen. Sie wusste noch, wie gehetzt sie gewesen war, gehetzt und gestresst, weil sie befürchtete, ihre Mutter oder ihr Vater könnte schon zu Hause sein und ihr verbieten, noch einmal loszuziehen.

In der nächsten Woche stand nämlich eine Klassenarbeit an, außerdem musste sie noch einen Aufsatz abgeben. Ihre Eltern hielten ihr ohnehin schon ständig vor, dass sie immer erst auf den letzten Drücker mit dem Lernen anfing und sowieso nicht genug für die Schule tat. In seinem Leben müsse man nun mal »Prioritäten setzen«.

Schließlich war das nicht irgendeine Arbeit, sondern eine Geschichtsklausur bei Schwitze-Sveinbjörg, der Mittelstufen-Geschichtslehrerin der Rökkurskóli. Sveinbjörgs Arbeiten waren immer verdammt schwierig und die Korrekturen extrem pingelig. Trotzdem hatte Anna noch so gut wie nichts gelernt, noch kein Mal das Geschichtsbuch aufgeschlagen.

Sie hatte so viel anderes um die Ohren, dass fürs Geschichtebüffeln einfach keine Zeit blieb.

Zumindest nicht, wenn sie ab und zu auch mal schlafen wollte.

Über diese Dinge hatte sie nachgegrübelt, als sie an jenem kalten Winterabend nach Hause lief. Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie überhaupt nicht auf den Weg achtete und plötzlich mit einem Mädchen zusammenprallte, das mit einem Mal vor ihr aufgetaucht war.

Sie landeten beide im Matsch, Anna verlor ihre Schultasche und Bücher und Blätter flogen in alle Richtungen. Hastig versuchte sie, ihre Schulsachen vom nassen Boden zu retten.

Das Mädchen hatte nichts bei sich, aber anscheinend hatte es sich wehgetan. Zumindest lag es mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und rührte sich nicht. Anna rutschte das Herz in die Hose. Hatte es sich ernsthaft verletzt?

Doch gleichzeitig war sie auch ein bisschen genervt. Warum musste die blöde Kuh auch so plötzlich auftauchen, genau jetzt, wo sie es so eilig hatte?

Anna ging zu ihr und fragte vorsichtig: »Ist alles okay? Bist du verletzt?«

Langsam richtete das Mädchen sich auf, bis es mit ausgestreckten Beinen dasaß, das Kinn auf der Brust. Es trug eine dicke Daunenjacke mit großer Kapuze, die ihm so tief ins Gesicht hing, dass Anna nichts davon erkennen konnte.

Da hob das Mädchen den Kopf, wie in Zeitlupe.

Das Erste, was Anna sah, war das Lächeln. Oder vielmehr: das Grinsen. Danach kam eine Nase zum Vorschein und dann blickte Anna in die finstersten Augen, die sie in ihrem Leben gesehen hatte.

Von einem Moment auf den anderen wurde ihr ganz schwindelig. Es war, als würde sie in einen pechschwarzen Abgrund blicken. Sie hatte das Gefühl, seltsame Geräusche zu hören,

Schreie Kinderweinen Winseln Donner

doch das konnte nicht sein, es war niemand in der Nähe.

»Ist mit dir denn alles okay?«, fragte das Mädchen und fixierte Anna.

»Jaaa … jaja, alles okay … ich … also …« Anna schüttelte den Kopf. »Nein, nichts, alles okay bei mir. Und bei dir? Hast du dich verletzt?«

Das Mädchen stand auf, streckte sich und sagte: »Nein, fühl mich wie neu.« Dann lachte es. »Wohin wolltest du denn in diesem Affenzahn? Sah fast so aus, als wärst du um dein Leben gerannt.«

Anna wurde rot. »Na ja, also … ich muss halt so schnell wie möglich nach Hause. Am besten sofort.«

»Dann gehen wir doch einfach zusammen. Ich glaube, wir müssen in dieselbe Richtung.«

Das Mädchen sah Anna an und lächelte ein irgendwie eigenartiges Lächeln. Anna war froh, endlich weiterzukommen, wenn auch nicht in dem Tempo, das sie selbst gewählt hätte.

»Und warum hast du es so eilig? Musst du etwa vor deinen Eltern zu Hause sein?«

Schon wieder huschte dieses komische Grinsen über das Gesicht. Als wüsste das Mädchen mehr, als es eigentlich wissen konnte.

»Warum fragst du?«

Anna fand dieses Mädchen mehr als eigenartig, trotzdem wollte sie gerne mit ihm reden. Es hatte irgendetwas an sich, das ihr bekannt vorkam, als müsste Anna es eigentlich kennen, doch sie kam nicht darauf, woran das lag. Sie konnte sich nicht erinnern, es je zuvor in Rökkurhæðir gesehen zu haben. Auf die Rökkurskóli ging es jedenfalls nicht, so viel war sicher.

Mit einem Mal musste sie diesem Mädchen erzählen, was sie gerade so aufwühlte. Aus irgendeinem Grund hatte Anna das Gefühl, ihm vertrauen zu können, und etwas in ihr drängte sie dazu, ihm ihre Probleme anzuvertrauen.

Kurz überlegte sie, kam dann aber zu dem Entschluss, dass nichts dagegensprach. Sicher wäre es erleichternd zu erzählen, wie verdammt schwierig es geworden war, alle Dinge in den Griff zu bekommen, die sie tun musste und wollte. Und es gleichzeitig allen recht zu machen – ihren Eltern, den Lehrern, dem Trainer, dem Tanzlehrer, ihren Freundinnen.

Anna trainierte viermal in der Woche Handball beim SVR, dem Sportverein Rökkurhæðir. Sie war im Schülerrat, ging zum Jazzballett und hatte zu Weihnachten ein Snowboard bekommen, das sie gerne jeden Tag benutzen würde. Doch sie wusste, dass ihre Eltern dann endgültig STOPP sagen würden.

Auch mit ihren Freunden musste sie natürlich ab und zu etwas unternehmen – ins Kino gehen, in die Stadt, in Cafés und so weiter.

Und das waren nur ihre Hobbys.

Anna ging in die achte Klasse und der Stoff wurde in der Mittelstufe wirklich deutlich härter. Die Lehrer taten alle so, als müsste man nur für ihren Unterricht lernen und könnte den Rest schleifen lassen.

Um das alles hinzubekommen, hätte jeder Tag doppelt so lang sein müssen.

48 Stunden, ja, das wär toll.

Mittlerweile war Anna an dem Punkt angekommen, sich zwischen ihren Hobbys und der Schule entscheiden zu müssen.

Das Handballtraining aufgeben und ihre Mannschaft im Stich lassen konnte sie auf keinen Fall, zumal sie der einzige Torwart war. Es standen noch drei Spiele um die isländische Meisterschaft aus und sie hatten gute Chancen auf den Titel, wenn sie so weitermachten wie bisher. Der Schülerrat steckte mitten in den Vorbereitungen für Faschingsball und Jahresfeier und auch die Frühjahrsaufführung der Tanzschule stand vor der Tür.

Und dann war da noch das Snowboard. Im letzten Winter war sie zum ersten Mal gefahren und hatte richtig Feuer gefangen. Es war unbeschreiblich, den Hang mit tausend Sachen runterzubrettern, den eiskalten Wind im Gesicht und dieses Flattern im Bauch.

Außerdem fuhren sooooo süße Jungs Snowboard …

Es war total unmöglich, mit derselben Lust über den muffigen Dänischbüchern oder einem alten Geschichtsschinken zu hocken. Meistens kam Anna erst zum Abendessen nach Hause, musste danach aber gleich wieder los, in die Schule oder zum Training. Normalerweise war sie abends nicht vor zehn oder elf Uhr zurück und dann so müde, dass sie sich nur noch mit dem Laptop ins Bett legte und über Facebook einschlief.

Ihre Eltern dachten, dass sie in der Schule lernen würde, doch das war unrealistisch. Das war die einzige Zeit, die ihr blieb, um mit ihren Freundinnen abzuhängen, und manchmal tagte sogar der Schülerrat während der Mittagszeit oder in den Pausen.

All das erzählte Anna dem Mädchen, während sie gemeinsam nach Hause liefen. Das Mädchen starrte sie die ganze Zeit über an, sein Blick war … beinahe gierig. Es sagte »mhm« und »ja genau« an den passenden Stellen und schien mit großer Lust zuzuhören.

»Tja, so sieht es aus«, sagte Anna schließlich. »Und ich habe keine Ahnung, wie ich das alles hinkriegen soll. Aber ich weiß auch, dass das noch in einem Desaster enden wird, wenn ich nicht irgendetwas unternehme. Die Frage ist nur, was.«