Erich Fromm in Zitaten:

„Der Weg der Liebe ist dem Weg der Gewaltausübung entgegengesetzt. Liebe versucht zu verstehen, zu überzeugen, zu beleben. Aus diesem Grund verwandelt sich der Liebende ständig selbst. Er spürt mehr, beobachtet mehr, ist produktiver, ist mehr er selbst. Liebe bedeutet weder Sentimentalität noch Schwäche. Sie ist vielmehr eine Methode, etwas zu beeinflussen und zu verändern, ohne daß es zu den gefährlichen Nebenwirkungen wie bei der Gewaltanwendung kommt. Anders als bei der Gewalt, setzt Liebe Geduld, innere Anstrengung und vor allem Mut voraus.“ (1967e, GA XI, S.243 f.)

„Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, dem produktiven Gebrauch der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder - wenn auch in verschiedenem Maß - ausgestattet ist. Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben.“ (1976a, GA II, S.334)

„Das sogenannte Pflichtgefühl jedoch, wie es von der Reformation bis heute in seinen religiösen und weltlichen Rationalisierungen das gesamte Leben der Menschen durch-dringt, ist stark von Feindseligkeit gegen die eigene Person gefärbt. Das „Gewissen“ ist ein Sklaventreiber, den der Mensch in sich selbst hineingenommen hat. Es stachelt ihn an zu Wünschen und Zielen, von denen der Betreffende glaubt, es seien seine eigenen, während es sich tatsächlich um die Internalisierung äußerer, gesellschaftlicher Anforderungen handelt.“ (1941a, GA I, S.271)

„Die Religion des Industriezeitalters stützt sich auf einen neuen Gesellschafts-Charakter, dessen Kern aus folgenden Elementen besteht: Angst vor mächtiger männlicher Autorität und Unterwerfung unter diese, Heranzüchtung von Schuldgefühlen bei Ungehorsam, Auflösung der Bande menschlicher Solidarität durch die Vorherrschaft des Eigennutzes und des gegenseitigen Antagonismus. „Heilig“ sind in der Religion des Industriezeitalters die Arbeit, das Eigentum, der Profit und die Macht, obwohl sie - in den Grenzen ihrer allgemeinen Prinzipien - auch den Individualismus und die persönliche Freiheit förderten.“ (1976a, GA II, S.373)

„Das oberste Ziel des Marketingcharakters ist die vollständige Anpassung, um unter allen Bedingungen des Persönlichkeitsmarktes begehrenswert zu sein. Der Mensch dieses Typus hat nicht einmal ein Ich, an dem er festhalten könnte, das ihm gehört, das sich nicht wandelt. Denn er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: „Ich bin so, wie du mich haben möchtest.“ Menschen mit einer Marketing-Charakterstruktur haben kein Ziel, außer ständig in Bewegung zu sein und alles mit größtmöglicher Effizienz zu tun.“ (1977a, GA II, S.374f.)

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme

Erich Fromm als Vordenker. „Haben oder Sein“ im Zeitalter der ökologischen Krise

Herausgeber: Marko Ferst

Die Autoren: Burkhard Bierhoff, Marko Ferst, Erich Fromm, Rainer Funk, Helmut Johach, Maik Hosang, Heike Koall, Roman Kotliar, Milan Machovec, Rainer Otte, Johannes Rau, Hans Jürgen Schultz , Helmut Wehr

© Edition Zeitsprung, Berlin 2002

ISBN 9-7837-3224934-3

Alle Nachdrucke sowie Verwertung in Film, Funk und Fernsehen und auf jeder Art von Bild-, Wort-, und Tonträgern honorar- und genehmigungspflichtig. Alle Rechte Vorbehalten. Das Urheberrecht liegt bei den Autoren.

Umschlag: Heike Müller

Umschlagfoto: Erich Fromm, 1970 (© Rainer Funk)

Technische Unterstützung: Firma Thomas Ferst Computer; www.ferst.de

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Inhalt

Einleitung

MARKO FERST

„Viele spüren, ein Leben, das dem Erfolg, der Konkurrenz, der Ausbeutung dient, ist in Wirklichkeit ein Leben, das die Menschen unglücklich macht,“ schreibt Erich Fromm. Er ist jemand gewesen, der so unterschiedliche Geisteswerke wie die von Sigmund Freud, Karl Marx, Baruch de Spinoza und Meister Eckhart zusammendachte, natürlich im Sinne des Hegelschen Aufhebens. Eine erneuerte Psychoanalyse und marxistische Soziologie bekommen bei ihm ganz eigene Wesenszüge. Auch der buddhistische Zugang interessierte ihn, mit der jüdischen Religion war er sozialisiert worden. Religion begreift er als einen Rahmen der Orientierung, als ein Objekt der Hingabe, das nicht notwendigerweise an Gott, Idole und herkömmliche Religionssysteme gebunden sein muß.1

Als Psychotherapeut, Sozialwissenschaftler und Philosoph gehört Erich Fromm zu den wegweisenden Gestalten des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt kritisierte er vehement die Hochrüstungsspirale, die leicht in einen Atomkrieg mit einem globalen Overkill hätte münden können, plädierte für einseitige Abrüstung und sprach in seinem letzten Lebensjahrzehnt auch die ökologische Fragestellung an. Schon überaus früh stellte er die westlichen Uberflußgesellschaften in Frage und meinte, wir müssen unseren Lebensstil und unser Konsumverhalten verändern. Auch die ungerechte Weltwirtschaftsordnung, die zwischen den reichen Industriestaaten und ärmeren Ländern des Südens wirkt, prangerte er an.

Sein Arbeitsschwerpunkt waren die psychologischen Prozesse der menschlichen Seele im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund befaßte er sich auch damit, auf welche Weise man zu demokratischen Wirtschaftsstrukturen kommen könnte und wie eine Verbesserung der Partizipation der Bürger und Bürgerinnen an den politischen Strukturen möglich ist.

In seinen vielen, weltweit bekannten Büchern wirft er unter anderem Fragen auf: Wie können wir die Werte des Seins über die des Habens stellen? Oder vermag Politik und Ethik Zusammenkommen? Wie kann die Kunst des Liebens gelingen? Gibt es eine Furcht vor der Freiheit?

Zum 100. Geburtstag von Erich Fromm erschien der Sammelband „Erich Fromm heute“, herausgegeben von Rainer Funk, Helmut Johach und Gerd Meyer mit verschiedensten Beiträgen, um die unverminderte Aktualität des Sozialpsychologen zu würdigen und sich mit seinem Werk auseinanderzusetzen. Hier nun ist eine Auswahl von Reden dokumentiert, auf verschiedenen Konferenzen gehalten, die zum großen Teil aus Anlaß des 100. Geburtstages stattfanden. Im Zentrum des Bandes steht, Fragen, die die ökologische Krise betreffen, mit den sozialpsychologischen Fragen zusammenzudenken in einer ersten Lesung. Weitere Texte zu den Themenspektren des Sozialpsychologen findet man vor. Es werden angesprochen zum Beispiel Fragen, in wie weit unsere normale Alltagswahrnehmung die inneren Möglichkeiten des Menschen einschränken, welche Probleme bereitet der Marketingcharakter, was kann Spiritualität und Religion heute heißen. Des weiteren geht es um Formen des seelisch-geistigen Produktiv-seins und unzureichenden Zugängen dafür, wirtschaftliche Demokratie und neue politökonomische Strukturen werden thematisiert.

Die Entstehungsgeschichte von „Erich Fromm als Vordenker“ beginnt mit einem Gespräch nicht weit entfernt von einem Ökohof in Hausen im Sommer 1998. Die Ökologische Plattform hielt dort ihr Bundestreffen ab. Wir hatten gerade die fragwürdigen Segnungen einer neuen Autobahn, quer durch Thüringen, besichtigt und ich kam mit Elke Wolf auf Erich Fromm zu sprechen und ob man nicht dazu mal eine Veranstaltung machen könnte. Im März des folgenden Jahres organisierte ich dann in Berlin eine Lesung von Zitaten Erich Fromms, dazu ein paar Lebensdaten und weiteres. Die Veranstaltung war sehr gut besucht, und das ermutigte mich dazu, über eine Erich-Fromm-Konferenz im folgenden Jahr nachzudenken. Mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, für die hier noch mal herzlich gedankt sei, ließ sich dies dann auch praktisch umsetzen. Unter dem Titel „Vom Haben zum Sein - Seele und Ökologie“ fand diese dann am 20. Mai 2000 in Berlin statt. Beiträge von Rainer Funk, Burkhard Bierhoff und mir in dem vorliegenden Band stammen von dieser Konferenz. Im Nachgang zu dieser Tagung unterbreitete Burkhard Bierhoff den Vorschlag, die Unterlagen dieser Konferenz mit weiteren Texten zu dokumentieren. Im Laufe der Zeit wurde daraus das jetzt hier vorliegende Kompendium.

Zur Einführung sei hier an dieser Stelle noch mal die Krise zwischen Mensch und Natur jenseits der oft üblichen Beliebigkeit skizziert. Wir müssen uns heute damit auseinandersetzen: Die Menschheit treibt mit hoher Geschwindigkeit auf eine ökoglobale Richtstatt zu. Rettungsboote wird es bei dieser ultimativen Titanik-Tour nicht geben, wenngleich wohl Passagiere erster und dritter Klasse teilhaben. Viele Länder des Südens fahren mit den schlechtesten Tickets. Die Chance, daß wir eine ökologische Selbstzerstörung noch einmal abwenden können, ist sehr gering. Darüber muß man sich im klaren sein, bei allem Umweltmarketing, das um Aufmerksamkeit wirbt und uns über die Dimension menschlichen Scheiterns auf unserem Planeten hinwegzutäuschen sucht. Am Ende zählt nicht die schöne Vorstellung, die sich der Mensch von sich selber macht, ein Wunschfabrikat, am Ende zählt die Wirklichkeit hinter der Scheinwelt, mit der wir uns täglich neu, über unsere Stellung im Kosmos etwas vormachen. Unsere bisherige sozial-kulturelle Alltagserfahrung läßt sich nicht halten gegen die Koordinaten der Naturgesetze. Die psychischen Bastionen des „weißen Mannes“ als bestorganisiertes Patriarchat werden fallen, so wie andere Hochkulturen zuvor untergegangen sind - materiell und geistig. Wettkampfgesellschaften mit ihrem Drang zu immer neuen olympischen Wirtschaftserfolgen passen nicht in die Zyklen einer begrenzten Erde. Der sozialkulturelle Aktionszwang, unter dem unsere Kultur steht, ist der innere Motor, mit dem wir die Störkapazität maximieren. Auch die innere Produktivität des Menschen, auf die Erich Fromm soviel Wert legt, steht in Teilen im Verdacht, in einer Komplizenschaft mit dem zerstörerischen Sog unserer heutigen gesellschaftlichen und intellektuellen Kräfte zu stehen. Im ersten Durchgang ist es notwendig, etwas über die Tiefenstruktur der ökologischen Krise zu wissen, damit Aufklärung in uns selbst erst mal einen Zugang hat.

Die ökologische Weltkrise ist ein Grundlagenproblem in der seelisch-kulturellen und gesellschaftsstrukturellen Entwicklung der Gattung Mensch. Es geht hier nicht nur um einen Querschnittssektor in der Politik. Sie ist der markanteste Ausdruck für gravierende gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die spätestens mit der Errichtung patriarchaler Großreiche in der menschlichen Geschichte beginnen. Die industriellen Revolutionen brachten eine Massenlast des Industriesystems hervor, die die ökologische Tragekapazität der Erde überfordern. Das zentrale Problem ist also nicht der einzelne Schadstoffeintrag, sondern die Gesamtlast, mit der wir die irdischen Gleichgewichte überbaut haben. Friedrich Schmidt-Bleek spricht davon, die stoffstromreichen Industrieländer müßten im Mittel um rund einen „Faktor Zehn“ dematerialisiert werden, um eine globale Stoffstromreduktion von 50 Prozent zu realisieren. Dabei ist ihm klar, daß dies nur ein Zwischenstand sein kann.2 Analoge Einschätzungen wird man bei Robert Havemann, Herbert Gruhl oder Rudolf Bahro finden.

Zwei Beispiele, die auf eine akute Gefährdung hindeuten: Bisher sind etwa 1,45 Millionen Tier- und Pflanzenarten wissenschaftlich beschrieben. Zwischen 5 und 30 Millionen liegt der Gesamtbestand an Arten. Geht man für die Rechnung von 10 Millionen Arten aus, dann leben davon im Regenwald etwa 6 Millionen. Anfang der neunziger Jahre betrug die jährliche Vernichtung des Gesamtbestandes des Regenwalds 2,3% . Von daher rechnet Wolfgang Engelhardt mit 370 ausgestorbenen Arten pro Tag, also um die 135000 im Jahr.3 Gibt es mehr Arten als veranschlagt, oder wird vermehrt Regenwaldfläche zerstört, und nimmt das Sterben der Korallenriffe, das zweitartenreichste Refugium, das unmittelbar durch die Klimaerwärmung zerstört wird, zu, muß man die Zahlen nach oben korrigieren.

Beispiel zwei: Der Treibhauseffekt wird in jedem Falle verstärkt die Polarregionen der Erde erwärmen. Man rechnet mit acht bis zwölf Grad im Schnitt. Dort lagern aber unter dem Eis und am Meeresboden riesige Mengen an Methanhydraten, die schon bei einer geringen Temperaturerhöhung binnen weniger Jahre freigesetzt würden. Mindestens 10000 Gigatonnen sind dort gespeichert, bis zu einer Million Gigatonnen reichen die Schätzungen. Auch im Permafrostboden finden sie sich. Methan besitzt eine bis zu 32-fache Wärmewirkung wie CO2 und bleibt ca. 17 Jahre in der oberen Atmosphäre und zerfällt in andere Treibhausgase. Könnte von diesem Methaneis nur ein geringer Bruchteil in die Atmosphäre entweichen, so käme es zu einem „Supertreibhauseffekt“. Schritt für Schritt würde ein Prozeß in Gang gesetzt, bei dem das Klima durch die ständig wachsende Methanzufuhr völlig außer Kontrolle gerät und die Wärmekatastrophe im Selbstlauf über uns hereinbricht. Auch die radikalste Verminderung des Ausstoßes an klimawirksamen Substanzen kommt dann absolut zu spät.4 Ausführlich stellte ich den Problemhorizont, der die Fakten des ökologischen Overkills umreißt, auch in dem Band „Wege zur ökologischen Zeitenwende“ vor.

Wir müssen uns heute, wie es noch nie zuvor eine Generation mußte, darüber Gedanken machen, wie wir zu einer Gesellschaft kommen könnten, in der die Balance mit der Bio Sphäre zurückgewonnen werden kann. Da haben wir es zu allererst auch mit geistigen Voraussetzungen zu tun. Ein größerer Freiheitsgrad unseres Denkens und Fühlens wäre erforderlich. Es ist zu begreifen, es kommt auf uns alle an, auf jeden einzelnen, wenn noch etwas zu richten sein soll. Die gesamte Gesellschaft in ihren sozialpsychologischen Grundlagen wird neu zu bedenken sein. Den Wandel stoßen diejenigen an, in deren Köpfen und Herzen er beginnt.


1 vgl.: Erich Fromm; Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München, 1990, S. 130

2 Friedrich Schmidt-Bleek; Wieviel Umwelt braucht der Mensch? mips. Das Maß für ökologisches Wirtschaften, Berlin, Basel, Boston, 1993, S. 168, 228

3 Wolfgang Engelhardt; Das Ende der Artenvielfalt. Aussterben und Ausrottung von Tieren, Darmstadt, 1997 S. 19 und 66

4 vgl. Jeremy Leggett (Hrsg.); Global Warming. Die Wärmekatastrophe und wie wir sie verhindern können, München, 1991, S.70, 71; Franz Alt, Rudolf Bahro, Marko Ferst; Wege zur ökologischen Zeitenwende. Reformalternativen und Visionen für eine zukunftsfähiges Kultursystem, Berlin, 2001

Grußwort

JOHANNES RAU

Ich freue mich darüber, daß die Erich-Fromm-Gesellschaft aus Anlaß seines hundertsten Geburtstages öffentlich an das Leben und das Werk Erich Fromms erinnert.

Erich Fromm gehörte zu den vielen jüdischen Gelehrten, die der Ungeist des national-sozialistischen Deutschlands gezwungen hatte, ihr Vaterland zu verlassen. Allein an seiner Person kann man ermessen, welchen Schaden und welchen Verlust die braune Schreckensherrschaft ihrem eigenen Land und ihrer eigenen Kultur zugefügt hat.

Erich Fromm war ein Mann, der sein Leben lang intellektuelles Neuland gesucht und sich dabei nicht an enge Fachgrenzen gehalten hat. Er wußte, daß es viele verschiedene Blickwinkel auf die Welt gibt und darum hat er sich intensiv und mit innerer Anteilnahme mit den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Schulen, mit Kulturen und Lehrtraditionen auseinandergesetzt. So ist ein höchst anregendes, immer wieder auch überraschendes Werk entstanden.

Herausragend ist für mich Erich Fromms leidenschaftlicher Humanismus, sein Engagement für ein menschliches und menschenwürdiges Leben im umfassenden Sinne. Es ist kein Zufall, daß sein Werk von jungen Menschen immer wieder neu entdeckt wird, auf die sein lebenskluger Idealismus besonders ansteckend wirkt.

Nach dem Krieg haben seine Werke gerade in Deutschland, aus dem er flüchten mußte, eine unüberschaubare Schar von Leserinnen und Lesern gefunden. Ob „Die Kunst des Liebens“, die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ oder das Buch, das die grundlegende Alternative des menschlichen Lebens skizziert, „Haben oder Sein“: immer wieder sind Menschen durch das Denken Erich Fromms angeregt worden, ihre eigene Existenz zu reflektieren und sich der Sache des Menschen anzunehmen.

Ich wünsche mir, daß die Auseinandersetzung mit dem anregenden Werk Erich Fromms weitergeht, damit seine Leidenschaft für menschenwürdiges Leben und menschenfreundliche Lebensverhältnisse weiterwirkt. Ich wünsche mir vor allem, daß die Frage nicht verstummt, die er mit „Haben oder Sein“ formuliert hat. Sie rührt auch heute - vielleicht sogar mehr denn je - an die Grundlagen der persönlichen Existenz jedes Einzelnen, aber auch an die Grundlagen unseres gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens.

Schriftliches Grußwort von Bundespräsident Johannes Rau zum Festakt aus Anlaβ des 100. Geburtstages von Erich Fromm

Sich nicht vom Schein trügen lassen

Fernsehinterview zu seinem Buch „Haben oder Sein“

ERICH FROMM

SPRECHER: Erich Fromm wurde am 23. März 1900 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Frankfurt am Main geboren. 1918 begann er in Heidelberg, Psychologie, Philosophie und Soziologie zu studieren. Gleichzeitig studierte er den Talmud und nahm am jüdischen Religions- und Geschichtsunterricht teil. 1922 promovierte er mit einer Arbeit über das jüdische Gesetz. Von 1926 bis 1928 studierte er in München und absolvierte zwischen 1928 und 1930 in Berlin eine psychoanalytische Ausbildung. Ab 1930 gehörte Fromm mit Marcuse, Löwenthal, Benjamin und Pollock zu dem Kreis junger Gelehrter um Max Horkheimer, die die kritische Theorie der sogenannten Frankfurter Schule entwickelten.

1934 verließ er unter dem immer stärker werdenden Druck des Nationalsozialismus auf die Juden Deutschland und ging nach Amerika, wo er an den größten Universitäten des Landes arbeitete. Seit 1963 widmet er sich hauptsächlich der Forschung. In den USA gilt Erich Fromm neben Freud und Jung als der Begründer einer dritten Richtung der Psychoanalyse. Seine Bücher erreichen in Amerika Millionenauflagen; sie werden auch als Lehrbücher bei psychologischen und sozialpsychologischen Kursen benutzt.

Die Theorie Erich Fromms ist die einer ganzheitlichen Sicht des Menschen. Für Fromm ist der Mensch ein Bedürfniswesen, seine Bedürfnisse ergeben sich aus seiner Situation. Er ist abhängig von ökonomischen Verhältnissen und Gesellschafts Strukturen. Fromm sieht den Menschen nicht als das einzig durch Triebe bestimmte Instinktwesen - wie beispielsweise Freud. Fromm ist engagiert in allen Bereichen des Lebens. Dieses Engagement ist begründet in seiner eigenen jüdischen und humanistischen Tradition.

LITERATURMAGAZIN: Herr Professor Fromm, die Herkunft Ihrer Eltern und Ihre Ursprünge aus Ihrem Elternhaus, welche Rolle haben diese bei dem gespielt, was Sie geschrieben haben?

FROMM: Ja, die haben wohl eine ziemlich große Rolle gespielt wie bei jedem Menschen und auch besonders im Blick auf das, was ich geschrieben habe. Ich wurde als einziges Kind geboren - was schon ganz schlimm ist - von zwei sehr neurotischen, überängstlichen Eltern. Ich komme aus einer sehr orthodox jüdischen Familie auf beiden Seiten mit Rabbinern als Vorfahren. Die Welt, in der ich lebte, das heißt also, was mir erzählt wurde oder was mir nahesteht von meinen Vorfahren, war die Welt des traditionellen Judentums. Dies war im Grunde genommen eine mittelalterliche Welt, noch nicht die bürgerliche Welt. Aus dieser mittelalterlichen Welt bezog ich meine Traditionen und meine Bewunderungen und meine Vorbilder. So lebte ich eigentlich halb in dieser Welt der altjüdischen echten Tradition und halb in der modernen Welt: Ich ging in Frankfurt auf die (Wöhler-) Schule und hatte die Einflüsse, die jeder andere junge Deutsche hatte in dieser Zeit. Aber ich blieb damit eben sehr allein: Nicht nur, weil man als Jude in Deutschland immer etwas eine Ausnahmestellung hatte, wenn auch keineswegs eine unangenehme. Ich blieb aber auch alleine, weil ich mich nie ganz zu Hause fühlte in der Welt, in der ich lebte, aber natürlich auch nicht in der alten Welt der Traditionen, denn diese war eben auch nicht mein täglicher Umgang.

Mein Vater war ein Kaufmann. Er schämte sich wohl dessen, weil er eigentlich auch hätte Rabbiner werden wollen. Wenn jemand sagte, ich bin Kaufmann, dann schämte ich mich als kleiner Junge sehr für ihn, weil ich dachte: Gott muß der sich schämen, zuzugeben, daß er sein ganzes Leben damit zubringt, Geld zu verdienen. Das war also der mittelalterliche gegen den modernen Standpunkt. Und so war ich ein recht einsames Kind, aus all diesen Gründen. Und ich war sehr bereit und offen für alles, was mich aus dieser Einsamkeit erlösen könnte. Das waren für mich von früh an die Propheten und speziell die Begriffe wie Hoffnung auf die messianische Zeit, daß der Messias kommen würde und daß der eine bessere Welt aufrichten würde. Die Hoffnung, daß der Messias kommt, war tatsächlich für die traditionellen Juden eine sehr starke. Das hat nichts mit Zionismus zu tun, sondern mit dem Glauben, daß die Welt erlöst werden wird, und zwar nicht durch Katastrophen, sondern in einer großen Weltverbesserung, wie Sie das bei den Propheten finden.

Dieses messianische Motiv hat ja zwei Dinge in sich: einmal etwas Religiöses - die Vollendung des Menschen, die Perfektion des Menschen, die Konzentrierung des Lebens auf geistige, religiöse, moralische Normen - und etwas Politisches, nämlich die wirkliche Änderung der Welt und eine neue Gesellschaftsverfassung, die diese religiösen Prinzipien durchsetzt. Diese messianische Vorstellung war die erlösende und beeindruckende Vorstellung für mich damals und sie ist es eigentlich bis heute geblieben, nämlich eine Vorstellung, in der das Religiöse und das Politische voneinander nicht zu trennen sind.

LITERATURMAGAZIN: Die Propheten und die messianische Zeit spielen auch noch in Ihrem letzten Buch eine wichtige Rolle. Aber wie sind Sie nun gleichzeitig auch zur Psychologie gekommen?

FROMM: Ja nun, auf die Psychologie bin ich wohl deshalb gekommen, weil ich allmählich immer neurotischer wurde. Daß ich nicht ganz verrückt wurde bei so überängstlichen Eltern, das kann ich nur Gott verdanken oder den Eindrücken, wie ich es sagen würde, die sich so stark positiv auf mich auswirkten. Aber immerhin war ich ein sehr neurotisches Kind und ein junger Mann mit ungeheuer vielen Konflikten. Aus diesem Grunde kam ich zur Analyse. Ich wurde von meinen eigenen Problemen dazu gedrängt.

LITERATURMAGAZIN: Sind sie damals zunächst ohne Konflikte zur Freudschen Analyse gekommen oder hat sich bei Ihnen gleich ein Zweifel...

FROMM: Oh nein, ich war ein sehr guter Schüler. Ich habe gar keine Zweifel gehabt. Die Psychoanalyse hat mich sehr beeindruckt. Ich kann mich jetzt erinnern, wie manche Zweifel allmählich kamen. Aber wie das bei solchen Doktrinen ist, die wurden verdrängt, und so blieb ich ein guter Freudianer durch meine ganze Studienzeit hindurch. Allerdings, die Zweifel vermehrten sich ein bißchen, aber immerhin - ich graduierte vom Berliner Psychologischen Institut 1930, was ganz orthodox war, und analysierte dann für 5 oder 6 Jahre strikt nach dem, was ich gelernt hatte. Ich erwartete, das vom Patienten zu hören, was die Theorie oder - wenn Sie wollen - das Dogma sagte, also was ich erwarten sollte und was ich, wenn ich ein richtiger Analytiker war, auch finden würde, wenn ich nur genug Geduld hätte.

LITERATURMAGAZIN: Das heißt also, diese Erwartung ist eine - wie Sie sagen - typisch Freudsche Erwartungshaltung. Man hat eine Theorie und legt sie seinen Patienten auf. Ist das der Punkt, an dem Sie dann Ihre Kritik ansetzten?

FROMM: Ja. Ich fand schließlich nach ein paar Jahren heraus, daß immer das kam, was ich erwartet hatte und nie was Neues. Es kamen nur bestimmte Routinebegriffe vom Ödipuskomplex, der Kastrationsangst und alles mögliche. Ich sah, ja, das kommt hier und dort und war sehr froh, wenn der Patient einen Traum brachte, der darauf zu passen schien, bis ich allmählich sah, daß ich eigentlich vom Patienten selbst wenig wußte. Ich kannte nur seine Komplexe: diesen Komplex, jenen Komplex. Und zweitens wurde mir mehr und mehr langweilig. Ich hatte keine lebendige Beziehung zum Patienten. Ich sah ihn nicht als Menschen. Dies werden Ihnen wohl die meisten Analytiker bestätigen, die so erzogen worden sind. Ich fühlte mich auch schuldig, wenn ich irgend etwas anderes tat, wenn ich zum Patienten etwas freier gesprochen hätte. Es war einem ja gelehrt worden, daß man ganz passiv bleiben soll und daß die Beziehung eine ganz unpersönliche bleiben solle. Allmählich aber langweilte dies mich, denn ich sah nun immer wieder dieselben Sachen. So fing ich an, mich zu fragen, was ich denn wirklich sehe und begann den Patienten mehr in seiner Gesamtheit zu sehen. Langsam begann ich, mich von der Libidotheorie loszulösen, die ungeheuer einengend war. Ich versuchte, den ganzen Menschen zu sehen und die Struktur des Einzelmenschen, nicht nur der Familie - das war ja die Freudsche Basis - sondern seine Strukturiertheit in der Gesellschaft und durch die Werte, die sein Leben bestimmen. Da kam ich ganz, ganz allmählich zu anderen Ergebnissen, zu anderen Methoden und habe eigentlich nie aufgehört, in dieser Hinsicht mich zu entwickeln.

LITERATURMAGAZIN: Was war zum Beispiel zeitbedingt an Freud?

FROMM: Nun, erstens einmal die ganze bürgerliche Einstellung, bei der die Familie als die letzte Realität gesehen wird. Freud hat über die Familie, über die bürgerliche Familie überhaupt nicht hinausgesehen, im Gegensatz zu anderen Denkern, wie z. B. einem viel radikaleren Denker, John Stuart Mill, gar nicht zu reden von Marx. Freud war ganz in seiner Welt eingeengt. Die ganze Welt, die ganze Menschheit erschien in der Art, wie das Bürgertum und die bürgerliche Struktur sich darbot: mit Besitz, Erfolg, Titeln usw.

LITERATURMAGAZIN: Auch Freuds Bild von Frau und Mann?

FROMM: Nun ja, das ist wirklich eines der tollsten Dinge, daß das möglich war für einen so großen Psychologen, daß er aus seiner ungeheuer starken männlich-chauvinistischen Haltung heraus das übliche Vorurteil gegen Frauen nun auch noch wissenschaftlich rationalisierte und beweisen wollte, daß Frauen biologisch mindere Wesen seien. Das ist ungefähr so wie die Argumentation gegen die Neger oder die Hitlersche gegen die Juden.

LITERATURMAGAZIN: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Religiosität und dem Marxismus?

FROMM: Um auf diese Frage zu antworten, müßte man zunächst fragen, was man sich heute unter Marx vorstellt. Es ist wohl kaum ein bedeutender Philosoph so völlig entstellt worden wie Marx, sowohl von den Kommunisten wie aber auch von den Sozialdemokraten. Beide interpretierten Marx dahingehend, daß es ihm darauf angekommen sei, daß die Arbeiter ebenso glücklich leben wie die Bürger, also Bürgertum für alle. Das ist die stalinistische und das ist die reformistische Lösung. Nun, Marx war eben ein Gegner, ein Kritiker der bürgerlichen Werte. Marx sah, daß der Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft ein Gefangener ist, nicht nur die Arbeiter. Er meinte, die Arbeiter seien die allerentfremdetsten und unglücklichsten. Heute kann man sehen, daß die Gesellschaft der Angestellten, der Manager, der Ingenieure noch entfremdeter ist als zum Beispiel die der gelernten Arbeiter.

Marx kam es darauf an, den Menschen wieder ins Zentrum zu stellen. Noch am Ende des dritten Bandes des „Kapital“ sagt er: Die Aufgabe ist, daß der Mensch so lebt, daß der Zweck und das Ziel seines Lebens die volle Entfaltung aller seiner Kräfte sind als ein Selbstzweck und nicht als ein Mittel zur Erreichung anderer Zwecke. Wenn Sie sich diese Formulierung einmal ansehen und sie - sagen wir einmal - mit der Formulierung von Maimonides, dem größten jüdischen Religionsphilosophen, vergleichen, wie der die messianische Zeit definiert, dann ist fast kein Unterschied. Das Pathos hinter Marx war ein religiöses Pathos, obwohl er die Religion kritisiert hat, ja sehr scharf kritisiert hat. Aber warum hat er sie kritisiert? Er hat sie kritisiert, aber nicht von einem bürgerlich-atheistischen Standpunkt aus, sondern von einem - wenn Sie so wollen - religiös-atheistischen Standpunkt aus, also so, wie zum Beispiel ein Mann wie Ernst Bloch ihn sehr klar und sehr radikal vertritt.

Marx war der Meinung: Solange die reale Welt, die gesellschaftliche Welt, so weit von der Verwirklichung - sagen wir mal - der Prinzipien der Propheten oder der Evangelien entfernt ist, so lange braucht man eine Religion als Extra-Institution, die sozusagen die Ideen wachhält, die aber in Wirklichkeit doch auch wiederum die Spaltung schafft zwischen dem realen sozialen Leben und der religiösen Ideologie und dem religiösen Gefühl, das dann am Sonntag befriedigt wird und in der Kirche.

Worauf es Marx ankam, war die Verwirklichung der Religiosität im realen Leben: Daß die Gesellschaft so aufgebaut ist, daß die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Liebe, der Wahrheit, der menschlichen inneren Produktivität und Lebendigkeit, oder - wie ich es in diesem Buch ausgedrückt habe - des Seins und nicht des Habens - daß diese Prinzipien in der Gesellschaft selbst durchgesetzt sind im täglichen Leben. Dann allerdings braucht man keine Religion mehr als Extra-Institution, weil sich die Religiosität, die Normen, die Erlebnisse, die Daseinsart in der Praxis der Gesellschaft durchgesetzt hat. Dann sind eben die Gesetze menschliche, humane, die Lebensweise ist eine menschliche, humane. Dann wird man das Prinzip des Seins, das auch dem Buddhismus wie dem prophetischen Judentum und der Bergpredigt gemeinsam ist, in der Gesellschaft und in deren Gesetze, Bräuche, Werte zu verwirklichen versuchen. Eben dies war das Ziel von Marx. Eigentlich kam Marx hundert Jahre zu früh. Marx lebte in einer Zeit, wo er glaubte, das kapitalistische System sei schon am Ende. Er irrte sich sehr: In Wirklichkeit war vor hundert Jahren das kapitalistische System noch vor seinem höchsten Aufschwung. Wenn Marx heute leben würde, in der Krise des Kapitalismus, wo viele Menschen schon sehen, der Kapitalismus als Gesellschaftsform läßt sich auf die Dauer nicht halten, da allerdings würde seine Botschaft vielleicht eine viel größere Wirkung haben und sie könnte auch nicht so leicht entstellt werden.

LITERATURMAGAZIN: In Wirklichkeit, sagen Sie, sei der Marxismus die Stiftung einer religiös-atheistischen Bewegung?

FROMM: Ja, dies würde ich sagen. Dabei hat er etwas sehr gemeinsam mit dem Buddhismus. Dieser war eine Philosophie, streng rational - nicht rationalistisch - ohne Mystifikationen, die an die Menschen appelliert hat und dazu aufgefordert hat, im Sein zu leben, das heißt, das Leben, die Gesellschaft so zu gestalten, daß der Mensch seine Kräfte entwickelt. Allerdings hat der Buddhismus nicht von der Gesellschaft gesprochen. Der Buddhismus hat geglaubt, das hat nichts mit der Gesellschaft zu tun, sondern mit der allgemeinen Existenz Struktur des Menschen. Beiden ist gemeinsam, daß sie Appelle streng rationaler Art waren, daß der Mensch zu sich kommt und das aus sich macht, was er aus sich machen kann.

LITERATURMAGAZIN: Sie meinen also, die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft ist erst jetzt in einer Krise, die sie schon aus ökonomischen Gründen zwingt, zu einer solchen Art von Religiosität umzukehren?

FROMM: Ich glaube, daß heute schon sehr viele Menschen bereit sind, nach einem Weg zu suchen, der den Menschen befriedigt, der den Menschen respektiert. Viele Menschen fühlen, daß ein Leben, wo alles dem Erfolg, dem Geld, der Konkurrenz, der Ausbeutung dient, in Wirklichkeit ein Leben ist, das die Menschen unglücklich macht. Dies ist auch der Grund, warum heute so viele Menschen auf östliche Lehren - ja, ich würde sagen - hereinfallen, denn das ist zum großen Teil reiner Schwindel: Es ist die Kommerzialisierung dieser religiösen Bedürfnisse. Nicht ausschließlich! Ich bin selbst am Buddhismus und Zen-Buddhismus und an Taoismus sehr ernsthaft interessiert und nicht nur interessiert. Aber was heute vor sich geht, ist ja kein ernsthaftes Interesse; vielmehr werden mit den Methoden der modernen Geschäftswelt, mit den Methoden der Reklame, der Publizität, den Menschen religiöse Gefühle und Sehnsüchte verkauft, und es dreht sich ums Verkaufen dabei. Dabei sind die Menschen so entfernt von echten religiösen Erfahrungen, daß sie den Schein für die Realität nehmen und hereinfallen auf Dinge, die sie in Wirklichkeit gar nicht aktivieren, sie gar nicht ändern, sondern die man dann in den bestehenden Religionen wirklich viel schöner und besser findet.

LITERATURMAGAZIN: Sie schreiben an einer Stelle: Europa ist bis heute nicht christlich gewesen. Das ist eigentlich eine ungeheure Aussage. Wie kommen Sie dazu?

FROMM: Nun, sie ist gar nicht so ungeheuer, sie ist vielleicht nur etwas überraschend, weil man sich einer Illusion hingegeben hat. Was heißt Christentum? Christentum heißt Glaube an, Bewunderung von Jesus als dem Heiland, dem Retter. Doch Jesus war ein Mann, der arm war, der nichts haben wollte, der keine Macht wollte. Er wurde zur Macht versucht, doch gerade die hat er abgelehnt. Er war ein Mann voller Liebe, der sein Leben hingegeben hat für die Menschen. Ihm steht das heidnische Prinzip der alten Griechen, der alten Teutonen gegenüber, das sagt, worauf es ankommt, sei Macht, Überlegenheit; es sei schön zu sterben, wenn man weiß, daß man siegt.

Jetzt fragen wir einmal: wo ist denn der christliche Geist in Europa? Wen bewundern wir denn heute? Bewundern wir in Europa heute oder ein paar Jahrhunderte früher den Armen? Den Aufopfernden? Den Liebenden?

LITERATURMAGAZIN: Sie schreiben einmal: Wir leben in einer Gesellschaft von notorisch unglücklichen Menschen. Wie kommen sie zu dieser eigentlich ungeheuren Aussage?

FROMM: Für mich ist sie gar nicht ungeheuer, im Gegenteil. Wenn man nur die Augen aufmacht, sieht man es. Die meisten Menschen geben vor, auch für sich selbst, daß sie glücklich sind, denn wenn man unglücklich ist, dann ist man - im Englischen würde man sagen; eine „failure“, dann ist man ein Mißerfolg. So muß man die Maske des Zufriedenseins, des Glücklichseins tragen, denn sonst verliert man den Kredit auf dem Markt, dann ist man ja kein normaler Mensch, kein tüchtiger Mensch. Aber sehen Sie sich doch nur die Menschen an! Man braucht nur zu sehen, wie hinter der Maske Unruhe, Gereiztheit, Ärger, Depressionen, Schlaflosigkeit, Unglücklichsein liegt, also das, was die Franzosen die „malaise“ nennen. Man hat ja schon am Beginn des Jahrhunderts von der „malaise du ciècle“ gesprochen. Das, was Freud das Unbehagen in der Kultur genannt hat.

Aber es ist gar nicht das Unbehagen in der Kultur, es ist das Unbehagen in der bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen zum Arbeitstier macht und alles vernachlässigt, was wichtig ist: die Fähigkeit zu lieben, für sich und für andere dazusein, zu denken, kein Instrument für die Wirtschaft zu sein, sondern der Zweck alles wirtschaftlichen Geschehens.

Das macht eben die Menschen so, wie sie sind, und ich glaube, es ist eine allgemeine Fiktion, die die Menschen miteinander teilen, daß der moderne Mensch glücklich sei. Aber diese Beobachtung habe nicht nur ich gemacht, das können Sie bei einer ganzen Reihe von Leuten finden, und man braucht nur selbst die Augen aufzumachen und sich nicht vom Schein trügen zu lassen.

LITERATURMAGAZIN: Sich nicht vom Schein trügen zu lassen, das haben Sie ja als Therapeut gemacht. Sie greifen bei dieser Aussage also auf Ihre Erfahrungen als Therapeut zurück.

FROMM: Ja, genau. Ich habe seit 1926 analysiert und viele Hunderte von Patienten analysiert und jüngeren Kollegen supervidiert. Es sind also empirische Dinge, die sich heraus stellten. Die Leute, die als Patienten kamen, kamen gewöhnlich, weil sie irgendein kleines Symptom hatten oder dieses oder jenes. Wozu sie erst aufwachen mußten, war, daß sie tief unglücklich sind, daß sie mit dem Leben unzufrieden sind, das Leben keinen Sinn macht und daß daraus erst die verschiedenen Symptome kommen, weil die Symptome Versuche sind, dieses Unglücklich sein zu kompensieren.

LITERATURMAGAZIN: Heißt das auch, daß jene Menschen, die wir gemeinhin als normal bezeichnen, von Ihrem Standpunkt aus krank sind?

FROMM: Oh ja. Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt. Aber es ist mir ganz ernst damit, es ist nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, so daß sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, daß etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt!

Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen, das heißt, die Normalen, sind so angepaßt, daß sie alles, was ihr eigen ist, verlassen haben. Sie sind so entfremdet, so sehr Instrumente geworden, so roboterhaft, daß sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden. Ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Haß sind schon so verdrängt oder sogar verkümmert, daß sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie geben.

LITERATURMAGAZIN: Sehen Sie die Ursachen dafür in unserer Gesellschaft?

FROMM: Nun, die Ursachen scheinen mir ganz offenliegend zu sein: Unsere Gesellschaft ist auf dem Prinzip aufgebaut, das Ziel des Lebens sei größere Produktion sowie als Kompensation und auch als Notwendigkeit die größere Konsumtion. Wir leben für die Wirtschaft, den Fortschritt der Wirtschaft und den Fortschritt der Technik. Das Ziel des Lebens ist nicht der Mensch! Und was dem Menschen nützt, das interessiert wenig. Nicht einmal, was dem Menschen schadet, spielt eine Rolle. Das ist ja notorisch: Viele Anzeigen und Reklamen preisen Dinge an, die ausgesprochen schädlich sind. Ich denke zum Beispiel an die Milch, die man nach Afrika schafft und dann die Frauen dazu verführt, die Kinder nicht mit der Brust zu nähren. Aber viele Kinder sterben daran, weil die Mütter gar nicht die Möglichkeit haben, das Milchpulver richtig und genügend anzuwenden. Aber darauf kommt es ja auch gar nicht an. Wenn's um den Profit geht, hat man kein Gewissen, Menschen zu schaden. Ein noch drastischeres Beispiel sind die Profite in der Rüstungsindustrie, der Verkauf von Rüstung in der ganzen Welt, an alle Menschen, ja selbst atomarer Energie. Was mit den Menschen dabei geschieht, ist ganz gleichgültig.

Dies hat erst im industriellen Zeitalter angefangen. Im Mittelalter war es eben nicht so, und in den meisten Kulturen war es nicht so, denn da diente die Kultur dem Menschen und die Wirtschaft war Zweck. Freud hat selbst eine der schärfsten Kritiken an der bürgerlichen Gesellschaft gegeben, ohne es zu wissen, wenn er die bürgerliche Gesellschaft als eine neurotische Gesellschaft sah, weil sie vom Prinzip des Habens, des Ansammelns, des Akkumulierens, des Behalten wollens - letzten Endes des Geizes beherrscht wird.

LITERATURMAGAZIN: Daraus würde aber doch folgen, Herr Fromm, daß die Industriegesellschaft die eigentlich unterentwickelte Gesellschaft ist.

FROMM: Menschlich ist sie die unterentwickelte Gesellschaft, sicher. Wenn ich mir die Gesellschaft eines Stammes in Afrika ansehe oder das noch urwüchsige Bauernleben - wo es das doch gibt -, diese Gesellschaften sind doch menschlich viel höherentwickelt als wir! Der moderne Mensch glaubt, man sei um so entwickelter, je mehr Maschinen man braucht. Und je weniger Maschinen man braucht, desto unentwickelter sei man. Deshalb sieht er auf die nicht-Maschinen-bauenden und die nicht-Maschinen-benutzenden, nicht-maschinisierten Menschen herab, als seien sie kindlich, unentwickelt.

Weil die weiße Rasse bisher die einzige ist, die Maschinen entwickelt hat und die darauf Macht entwickelt hat, sieht die weiße Rasse auf alle anderen Rassen herab, sieht sie als inferior, angeblich - und ideologisiert - weil sie die falsche Hautfarbe habe. In Wirklichkeit aber, weil sie keine Macht haben, weil sie keine Maschinenmenschen sind. Sie sehen es ja heute: die Japaner sind schon keine Farbigen mehr, sind keine Gelben mehr, sondern genauso gut wie weiße Gentlemen. Warum? Die haben genau die selben Maschinerien wie wir. Und man kann schon sehen: Die Chinesen werden auch keine Gelben mehr sein. Aber die Schwarzen, die sind Schwarze. Und die Araber, das sind auch noch Schwarze, und von den Israelis auch so angesehen mit derselben Verachtung, wie der weiße Mann überhaupt die nicht-maschinell ausgestatteten Völker verachtet. Die Israeli sehen auf die Araber herab, nicht weil sie schwarz sind - sie sind ja rassenmäßig dasselbe wie die Israelis; aber die Israelis haben die westliche Kultur, Armeen, Maschinen. Die Araber sind ein noch unindustrialisiertes Volk, die, glaube ich, in vieler Weise wohl noch menschlicher leben, als der industrielle Mensch.

LITERATURMAGAZIN: In ihrem Buch „Haben oder Sein“ schreiben Sie, daß unsere Gesellschaft heute schon aus ökonomischen Gründen gezwungen ist, sich zu besinnen, weil sonst die Katastrophe bevorsteht. Sie verweisen auf den Club of Rome, der aus innerkapitalistischen Argumenten auf eine solche Katastrophe hinweist.

FROMM: Ich glaube, es gibt heute nicht nur von den Veröffentlichungen, die vom Club of Rome veranlaßt worden sind, sondern bei einer ganzen Reihe von Forschern die Einsicht: Wenn wir so weitermachen und alles verkonsumieren, die Natur zerstören, unseren Nachkommen nichts hinterlassen, nichts als eine zerstörte und verarmte und vergiftete Welt, und wenn die Menschen weiter nicht am Leben hängen, sondern am Profit und an der Macht, dann wird das mit Notwendigkeit zur atomaren Katastrophe, zum Krieg führen.

Es sieht heute schon viel schlimmer aus. Man sagt, heute seien schon vierzig Mächte imstande, atomare Energie zu benutzen. All dies wird verkauft aus Profitgründen. Eine ganze Reihe von Forschern hat darüber hinaus gezeigt, daß aus rein ökonomischen Gründen in 20, 50, 60 Jahren die Erde, unsere Ressourcen so verarmt sind, daß die armen Völker immer ärmer werden, die reichen Völker immer reicher, so daß es dann zur Katastrophe kommen muß: Wenn schließlich zwei Drittel der Welt, oder der Teil der Welt, der arm ist, immer ärmer wird - und heute ist die Welt eine Welt -, dann wird sich eben diese arme Welt rächen mit hundert Möglichkeiten. Die Festung, die weiße Festung - die Festung der Industriegesellschaft ist heute nicht mehr uneinnehmbar.

LITERATURMAGAZIN: Zu dieser Industriegesellschaft zählen Sie aber die östliche, sogenannte marxistische Gesellschaft hinzu?

FROMM: Die ist genauso, ja die ist noch viel schlimmer. Denn die hat noch nicht einmal die lebendigen Elemente, die fortschrittlichen Elemente, die der Kapitalismus hat, sondern nur den Staatskapitalismus, der einem konservativen Stadium zur Metternichzeit entspricht.

LITERATURMAGAZIN: Sehen Sie nicht hier auch eine aufklärende Aufgabe der Wissenschaft?

FROMM: Ich glaube schon. Und die Wissenschaft hat auch schon viel aufgeklärt. Das phantastische ist ja, daß heute jeder Mensch, und gewiß auch die Regierungsvertreter, alle Daten zur Verfügung hat, die zeigen, daß wir ökologisch schwer bedroht sind. Daß, wenn das so weitergeht, Katastrophen kommen müssen. Daß wir in einem Maße verschwenden, wozu wir überhaupt keine Rechte haben. Wir leben wie Bankrotteure. Wir können die Folgen sehen. Aber keiner zieht die Konsequenz! Man macht so weiter, weil man nicht den Mut, nicht die Initiative hat, zu sehen: Wo gibt es etwas Neues?

LITERATURMAGAZIN: Wie können Sie hoffen, daß es zu einem solchen Umdenken kommt? Sie verweisen in Ihrem Buch „Haben oder Sein“ auf das Buch von Erhard Eppler, einem deutschen Politiker, mit dem Titel „Ende oder Wende?“ Dieses Buch hat aber in dem vergangenen Bundestagswahlkampf keinerlei Rolle gespielt. Die Probleme, von denen Sie so bewegt sind und mit denen Sie uns bewegen wollen, werden offenbar verdrängt. Wie wollen Sie diese Mauer durchbrechen?

FROMM: Ich schreibe in dem Buch sehr klar, daß ich die Aussichten für fast hoffnungslos halte. Fast alle Argumente sprechen dafür, daß, wenn wir so weitermachen, in die Katastrophe schlittern. Ich sage aber auch: Solange noch in Fragen des Lebens eine kleine Chance besteht, sagen wir von 1 oder 2 Prozent, so lange darf man nicht aufgeben. So lange muß man alles versuchen, die Katastrophe zu vermeiden. Denn wenn es um das Leben geht, ist es anders als wenn man mit Geld handelt. Wenn man Geld investieren will, und nur 2% Chance hat, daß es einem nicht verloren geht, dann wird nur ein Narr es investieren. Wenn ein Mensch schwer krank ist, und nur 2% Chance besteht, daß sein Leben gerettet werden kann, wird die Medizin wegen dieser 2% alle Mittel einsetzen, um sein Leben zu retten. Bei den gesellschaftlichen Fragen geht es schließlich um das Leben der Menschheit. Man muß also den Standpunkt der Hoffnung einnehmen, selbst wenn die Chancen ganz gering sind! Solange man den Glauben haben kann, daß doch noch fast ein Wunder geschehen kann, solange man nicht beweisen kann, daß es unmöglich ist - und das kann man, wo es sich um lebende Prozesse handelt, eigentlich nie oder sehr selten -, solange muß man jeden Versuch machen.

Mein Buch ist ein Teil eines solchen Versuches, die Menschen aufzuwecken und die ungeheuren Verdrängungen der Realität aufzulockern, um die Menschen das sehen zu lassen, was Millionen von Menschen wissen, ohne sich dessen klar bewußt zu sein. Ich glaube, wir wissen alle viel mehr, als wir uns bewußt sind. Wir verbrauchen einen großen Teil unserer Energie für das Verdrängen der Wahrheit und rennen vor unseren Einsichten davon und ersetzen sie durch alle möglichen Rationalisierungen. Das sehen Sie als Analytiker im Einzelfall, bei Individuen, und das sehen Sie gesellschaftlich, etwa wenn Menschen alle Daten haben, es auch im Grunde wissen, aber so erschreckt sind, sich so unfähig zeigen oder fühlen, daß sie lieber alles verdrängen.

LITERATURMAGAZIN: Herr Fromm, Sie sagen: nicht nur Einzelpersonen können verdrängen, sondern ganze gesellschaftliche Gruppen können verdrängen. Haben Sie dafür Beweise?

FROMM: Was Einzelpersonen anlangt, so gibt es reichlich Beweise. Der beste Beweis sind vielleicht Träume. Da habe ich allerdings eine verschiedene Auffassung als Freud, der meinte, Träume seien immer Wunscherfüllungen von relativ primitiven instinktiven und hauptsächlich sexuellen Wünschen. Mindestens ebensooft, oder ich glaube sogar noch öfter, sind Träume Einsichten, die nicht in das bewußte Bild passen, das wir haben.

Wenn man Menschen etwas über sie oder über andere sagt, selbst wenn es für sie nicht schmeichelhaft ist, wenn man es ganz klar, ohne Ärger, sondern sehr freundlich sagt, so daß es offensichtlich nicht als Angriff erlebt wird, dann kann der andere plötzlich sagen: Ja, das ist ja wahr, das habe ich ja eigentlich schon immer gewußt; ich habe es nur nie gewagt zu denken! Dies gilt besonders, wenn es um einen Vorgesetzten, die Eltern, Autoritätspersonen geht - den Kaiser in Andersens Märchen, der keine Kleider hat.

Sie sehen das ziemlich häufig. Manchmal führt das zu direkten Konversionen, wo ein Mensch plötzlich intuitiv etwas von der Wahrheit sieht, und wo dann aus einem Saulus ein Paulus wird. Aber der Paulus war schon immer in dem Saulus, sonst wäre der Saulus nie ein Paulus geworden. Es war ihm nur nicht bewußt. Es war verdrängt.

LITERATURMAGAZIN: Ich glaube, in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, liegt schon ein Fall von kollektiver Verdrängung vor.