Andre Pfeifer wurde 1968 in Weimar geboren und lebt zur Zeit in Portugal. Auf zahlreichen monatelangen Reisen von Alaska bis Australien entdeckte er seine Liebe zu Natur und Abenteuer, die auch in seine Romane einfließt. www.andre-pfeifer.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2014 Andre Pfeifer
4. Auflage 2020

Umschlagbild:
Melkor3D/Shutterstock.com
Andre Pfeifer

Illustrationen:
Annika Henne

Landkarte:
Anne Rikta Grobe
www.rikta-illustrationen.de

Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7386-6251-1

Für Maximilian und Nicole
und alle Kinder die Träume haben

Stell dich mitten in den Regen,
spüre seinen Tropfensegen.

Stell dich mitten in das Feuer,
liebe dieses Ungeheuer.

Stell dich mitten in den Wind,
glaub an ihn und das Gute gewinnt.

Stell dich in den Strom aus Erde,
sodass aus Wüste Waldland werde.

Frei nach Wolfgang Borchert

Inhalt

Einleitung

In Akragas, einem Teil des alten Griechenland, lebte vor zweieinhalbtausend Jahren ein Gelehrter namens Empedokles. Er war der Meinung, dass alles auf der Welt miteinander im Zusammenhang stehe. Und dass alles, was auf Erden geschehe, mit vier Elementen zu tun habe.

Wasser, Feuer, Luft und Erde.

Aber erst unter der Wirkung von Liebe oder Hass auf diese Elemente begann unsere Welt zu leben.

Sie ist nicht die einzige im Universum. Es gibt unzählige Welten neben der unsrigen.

Viele dieser Welten sind natürlicher und zauberhafter. Sie sind erfüllt von Magie und geheimnisvollen Kräften und bewohnt von manch fabelhaftem Wesen. In unseren Träumen können wir in jene Welten gelangen und sind dann stärker, mutiger und klüger als in unserer Welt. In den Traumwelten können wir Dinge tun und Entscheidungen treffen, von denen wir nur zu träumen wagen.

Eine dieser Traumwelten heißt Naterra.

Wasser

Ein Mädchen erwacht im Wald aus tiefem Schlaf. Morgentau liegt auf dem Land. Kleine Wassertropfen glitzern im Licht der aufgehenden Sonne. Aber das Mädchen ist ganz trocken. Nicht ein einziges Tröpfchen ziert seine Kleidung.

Es liegt auf dem Rücken im weichen Moos und betrachtet die goldgrünen Kronen mächtiger Bäume. Die Bäume wiegen sich im Wind und ihre Blätter rauschen, als wollten sie dem Mädchen etwas erzählen.

Aber nicht die Bäume reden mit dem Mädchen, sondern eine kleine Wespe, die um es herumschwirrt. „Enola, komm mit!“

Enola? Ist Enola ihr Name? Sie richtet sich auf und neigt nachdenklich den Kopf zur Seite. Mit der Hand fährt sie durch ihr dunkelblondes langes Haar, während sie die Wespe anblickt. Hat tatsächlich dieses kleine Wesen zu ihr gesprochen? Oder entstehen die Worte nur in ihrem Kopf?

„Enola, komm schon. Komm mit! Du musst uns helfen.“ Schon fliegt die Wespe voraus.

Zögernd folgt ihr das Mädchen in ein Labyrinth aus dicken Stämmen und mannshohen Farnen. Überall entdeckt Enola bunte Blumen. Selbst an den Baumstämmen sprießen sie aus der groben Borke und zieren diese bis in große Höhe. Der Blütenduft lockt Schmetterlinge und ganze Scharen brummender und summender Tierchen an.

Gern möchte Enola verweilen, aber die rätselhaften Worte der Wespe haben sie neugierig gemacht. An einem Bach, dessen munteres Plätschern die Geräusche des Waldes übertönt, holt sie die Wespe ein. „Wem soll ich helfen? Und wobei? Ich …“

Die Wespe hat auf Enola gewartet. Aber nur, um ihr den Weg zu zeigen. Schon fliegt sie am Bach entlang stromaufwärts. Bald verliert Enola sie aus den Augen. Von Stein zu Stein springend folgt sie dem Bachlauf. Ab und zu streicht sie aufdringliche Farne zur Seite oder überklettert alte umgestürzte Bäume, die mit dickem Moos überzogen sind, aus dem bunte Blümchen herausschauen. Sie genießt ihren Lauf, die frische Luft des Waldes, das fröhliche Plätschern des Baches. Bis ein Rauschen alles übertönt.

Enola läuft schneller und mit einem Mal tritt das Grün des Waldes zurück. Sie findet sich am Ufer eines kleinen Sees wieder, in den sich aus großer Höhe ein Wasserfall ergießt.

Ehrfurchtsvoll gleitet ihr Blick an den tosenden Wassern nach oben. Auf halber Höhe sieht sie ein Schwert, das im Wasserfall zu schweben scheint. Kein Strudel, kein Spritzen stört den bezaubernden Anblick. Das Wasser fällt durch das Schwert hindurch, als ob dieses nur ein Traumbild wäre.

Gebannt tritt Enola näher. Das Schwert beginnt zu glühen, zu leuchten, immer heller. Als sie neben dem Wasserfall steht, strahlt es, als wäre es die Sonne selbst.

Die Wespe fliegt zu Enola hin. „Das Schwert. Du musst es holen.“

Enola kann die Worte im lauten Tosen der Wassermassen kaum verstehen. Ungläubig sucht sie die Wespe in der feuchten Luft neben sich. „Ich? Wie soll ich das Schwert holen?“

„Kennst du nicht deine Verbindung mit dem Wasser?“

Enola schaut die Wespe fragend an. „Was für eine Verbindung?“

„Wasser, Feuer, Luft und Erde. Die vier Elemente. Jeder Mensch ist mit einem dieser Elemente verbunden. Geh ins Wasser und du wirst sehen.“

Behutsam setzt Enola einen Fuß aufs Wasser. Er geht nicht unter. Die Wasserfläche fühlt sich ganz fest an. Staunend betritt sie den See. Sie kann auf dem Wasser laufen.

Enola strahlt. Sie dreht sich im Kreis und muss lachen. Was für ein Wunder. Am Ufer entdeckt sie die Wespe, winkt ihr zu und schaut dann zum Schwert in die Höhe. Wie kann sie es erreichen? Sollte sie den Wasserfall hinauf klettern?

Ein gedämpfter Schrei entfährt ihr, als sich das Wasser um sie herum bewegt. Eine Wassersäule steigt aus dem See empor und hebt Enola in die Höhe.

Sie sieht das Schwert näher kommen, ist geblendet von seinem Strahlen und hebt die Arme schützend vor ihren Kopf. Das Schwert gleitet wie von selbst in ihre Hand. Das Strahlen erlischt und die Wassersäule fährt herab. Es scheint Enola, als falle sie und werde über dem See vom Wasser wieder aufgefangen.

Begeistert springt sie an Land und streckt das Schwert dem Himmel entgegen. Es ist leicht wie eine Feder. Enola betrachtet es genau. Unendlich viele Wassertropfen sind durch Zauberkraft in diesem Schwert vereint. Im Licht der Sonne funkeln sie wie Diamanten. Wunderschön.

Die Wespe reißt Enola aus ihrer Faszination. „Komm. Wir müssen weiter.“

Enola hat Mühe zu folgen. Immer wieder lässt sie sich ablenken und erfreut sich an Moosen, Flechten und Farnen, an den kleinen Dingen, in denen die Schönheit des Waldes zu Tage tritt. Auf einmal ist der Wald zu Ende. Enola schreitet an den letzten Bäumen vorbei und sieht sich einer trostlosen Steinwüste gegenüber. Kein Baum, kein Strauch, kein noch so kleines Tier. Nicht einmal einen Grashalm kann sie entdecken. Stattdessen Sand, Kies, Stein und Fels. Ödland. Totes Land.

Unbeirrt schwirrt die Wespe weiter.

Enola bleibt stehen. „Ich geh da nicht raus. Niemals.“ Bestürzt schüttelt sie den Kopf.

Die Wespe kommt zurück. „Aber du musst. Siehst du die Burg in der Ferne?“

Tatsächlich kann Enola im Flimmern der Hitze eine Festung erkennen. Sie steht auf einem Hügel inmitten mächtiger Felsen.

„Dort haust ein böser Dämon. Seinetwegen ist hier alles Leben erloschen.“

Fragend blickt Enola die Wespe an. „Was ist ein Dämon?“

„Ein Wesen mit Zauberkräften, stark, mächtig und oft sehr böse. Doch du kannst ihn besiegen, Enola.“

„Ich? Ein Kind? Wie sollte ich einen Dämon besiegen?“

„Du hast das Zauberschwert.“

„Das Schwert.“ Enola hebt es ehrfurchtsvoll vor ihre Augen. Es funkelt sie an, in allen Farben des Regenbogens. Sie sieht seine Schönheit und spürt seine Macht. „Ja, ich habe das Schwert.“ Aber Zweifel kommen in ihr auf. „Glaubst du, es genügt, das Schwert zu besitzen?“

Die Wespe lässt sich auf Enolas Schulter nieder. „Natürlich nicht. Du musst auch wissen, was zu tun ist. Verlass dich auf dein Gefühl. Hab Vertrauen in die Natur. Auch wenn du meinst, sie hier nicht entdecken zu können. Und nun geh los, Enola!“

Kein Schatten, wie im Wald. Keine frische Luft, kein Wasser, kein Leben. Mechanisch geht Enola ihren Weg. Sie wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und schaut vom Boden auf.

Schlagartig bleibt sie stehen. Aus dem Flimmern der Luft lösen sich dunkle Gestalten und kommen auf sie zu. Enola kann im Schatten ihrer Kapuzen starre Gesichter erkennen und sieht mit Unbehagen die dunklen Schwerter, die nur teilweise von ihren Umhängen verhüllt werden.

„Geh nach Hause, kleines Mädchen.“ Die Worte klingen hart und verächtlich.

Enola senkt ihren Blick. Ihr Atem geht schnell, unregelmäßig. Sie spürt ihren Herzschlag bis zum Hals und versucht vergeblich, das Zittern ihrer Hände zu kontrollieren. Als sie zurückweicht, fliegt die Wespe von ihrer Schulter. Die dunklen Krieger beginnen, nach der Wespe zu schlagen.

Augenblicklich fällt alle Furcht von Enola ab. Sie fährt dazwischen. „Hört auf! Wieso tut ihr das? Sie hat euch nichts getan.“

„Sie lebt. Das gefällt uns nicht.“

„Aber …“ Enola ist fassungslos. „Aber das Leben ist der Sinn der Welt. Was wäre die Welt ohne Leben? Seht ihr den Wald dort hinten?“ Enola blickt über ihre Schulter zurück. „Jede noch so kleine Pflanze, jede Spinne, jeder Käfer oder Wurm hat seine Aufgabe …“

„Genug!“ Die dunkelste der Gestalten reißt ihr Schwert in die Höhe und lässt es auf Enola herabsausen.

Sie pariert den Hieb mit ihrem Zauberschwert, dann den nächsten und noch einen. Mit einem Mal findet sich Enola mitten in einem Kampf wieder. Sie weiß nicht, woher ihre Fähigkeiten kommen.

Das Zauberschwert scheint sie zu führen.

All ihre Bewegungen und Drehungen zur Abwehr der Hiebe der Angreifer sind fließend und schnell. Sie spürt, was sie tun muss. Rechts parieren, dann links, abducken, drehen. Das Knie auf dem Boden, das Schwert über ihrem Kopf.

Obwohl sie die Angreifer mit Leichtigkeit abwehren kann, ist Enola verzweifelt. Wie können diese Krieger auf ein Kind einschlagen? „Hört auf damit! Wir haben euch doch nichts getan!“

Aber sie hören nicht auf. Es werden immer mehr und Enola gibt sich in ihrer Verzweiflung dem Schwert hin, das sie dazu bewegt, nicht nur abzuwehren, sondern selbst anzugreifen.

Jeder vom Zauberschwert getroffene Gegner verwandelt sich, zu ihrer Überraschung, in grauen Nebel. Nach kurzer Zeit findet sich Enola in einer riesigen Nebelwolke wieder. Alle Krieger sind verschwunden.

Entsetzt starrt Enola auf das Schwert in ihrer Hand. Sie spürt, wie es ihrem Griff entgleitet. Durch einen Tränenschleier sieht sie es zu Boden fallen. Sie will es nicht mehr. Sie will nicht mehr kämpfen.

Nicht so. Dieses Schwert hat von ihr Besitz ergriffen. Es hat sie verändert und zu einer Kriegerin gemacht. Sie allein konnte alle Gegner besiegen. Aber dem trockenen Land, auf dem sie steht, hat das nichts geholfen. Still weint Enola vor sich hin.

Währenddessen verdunkelt sich der Nebel. Enola schaut auf. Eine einzige düstere Gestalt erscheint in der Ferne.

Schnell kommt sie näher.

„Der Dämon, Enola. Nimm das Schwert!

Du musst es wieder aufnehmen.“ Aufgeregt kreist die Wespe über dem Zauberschwert.

Enola tritt einen Schritt zurück. Ihr Gesicht ist feucht von Tränen. Ohne etwas zu sagen, schüttelt sie heftig mit dem Kopf.