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Salomo Friedlaender/Mynona

Kant und die sieben Narren

Ein Philosophiegeschichtchen

Kantholizismus

Utopie

Philosophischer Dialog

zwischen einem Vernunftmenschen

und einem Naturmenschen

Dialog übers Ich

Aus dem Nachlaß herausgegeben von

Detlef Thiel

WAITAWHILE

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

This is a WAITAWHILE book. Alle Rechte vorbehalten.

© 2007 bei Hartmut Geerken, Wartaweil 37, D-82211 Herrsching

Umschlaggestaltung: Hartmut Geerken und Dr. Anton J. Kuchelmeister unter Verwendung von Mynonas Unterschrift auf einem Brief an Herwarth Walden vom 16. September 1915 (Archiv der Akademie der Künste Berlin, Mynona Archiv, vormals Friedlaender/Mynona Archiv Geerken, FMAG).

Gesetzt in Adobe Garamond Pro.

Layout und Formatierung: Dr. Anton J. Kuchelmeister.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN 978-3-7386-8875-7

Inhalt

Detlef Thiel

Ein Altkantianer in Paris Unterwegs zum transzendentalen Polarismus

And whistle while you work Come on, get smart, tune up and start To whistle while you work ...

(aus Walt Disneys erstem Trickfilm Swan White and the 7 dwarfs, 1937)

Vier Erstveröffentlichungen aus dem Nachlaß von Friedlaender/ Mynona (im folgenden: F/M). Drei davon – nicht ganz – fiktive Dialoge; die vierte, Kantholizismus, eine der spätesten Grotesken, eher eine Parabel. Alle vier Texte entstanden im Pariser Exil; alle kreisen, jeder auf andere Weise, um die Lehre Kants und um F/Ms geistigen Mentor Ernst Marcus, Justizrat in Essen (1856-1928).

Dessen Name erscheint in zwei Texten in der Umkehrung „Sucram“ – wie ‚Mynona’ von ‚Anonym’. Die Figur des Sucram findet sich erstmals 1922 in F/Ms „Berliner Nachschlüsselroman“ Graue Magie. Dort wie hier bedeutet die Umkehrung, daß nicht nur der historische Marcus gemeint ist, sondern auch der Gesprächspartner und Lehrer, das Gegen-Ich, Anreger und Widerleger ineins. Wie Nietzsche zeitlebens einen inneren Dialog mit Schopenhauer führte, so setzt sich F/M fast fünfzig Jahre lang mit Marcus auseinander, zugleich mit Schopenhauer und Nietzsche, Kant und Goethe. Nach Marcus’ Tod 1928 intensiviert er sein Studium. Er veröffentlicht 1930 den Mahnruf, schließt 1931/32 eine Zusammenfassung aller Schriften seines Lehrers ab.1 Zum Dezennium des Todestages 1938 verfaßt er einen Aufsatz, den zu publizieren er kaum noch hoffen konnte; fünf Jahre später sucht er zum letzten Mal eine Verständigung in dem hier veröffentlichten Dialog übers Ich.

Die Vorgeschichte von F/Ms Emigration ist an anderer Stelle zu schildern (GS 13). Am 16. Oktober 1933 fährt er mit seiner Frau von Berlin nach Paris. Er ist 62 Jahre alt. Der zwanzigjährige Sohn Heinz-Ludwig wurde vorausgeschickt, um eine Unterkunft zu finden. Die Familie wohnt im Nordosten, 20. Arrondissement, Rue Stanislas Meunier; seit 1935 Avenue de la Porte de Ménilmontant.

Was sich in F/Ms letzten Berliner Jahren immer deutlicher abzeichnete, wird im Exil endgültig: geistige Isolation, Versiegen aller Publikationsmöglichkeiten: Außer einer Handvoll Leserbriefe im Pariser Tageblatt erscheinen Ende 1935 das Büchlein Der lachende Hiob, 1943 der Aufsatz Das Wunder der Selbstverständlichkeit, 1946 ein mit Kants roter Tinte geschriebener Verriß von Sartres Ist der Existenzialismus ein Humanismus? (GS 3). Am 14. April 1934 hält F/M vor der Kulturphilosophischen Vereinigung im Café Mahieu, Blvd. St. Michel, einen Vortrag über Kant: Der geistige Kompaß. 2 In einem Brief an den englischen Verleger Victor Gollancz kennzeichnet er wenig später seine philosophische Position:

„Vor einem Jahrzehnt etwa erlebte ich durch Immanuel Kant meine geistige Revolution, und zwar wurde ich nicht Neu-, sondern Alt-Kantianer im Sinne von Mellin, L. Goldschmidt und besonders Ernst Marcus.“ 3

In den folgenden Jahren berichtet F/M mehrfach von seinem Studium dieser Autoren, die er stets in einem Zug nennt:

„Vergebens strengten sich Kant, Schultz, Mellin, Goldschmidt, Marcus and last I an, wenigstens die Gelehrten zu belehren – – –“ „Daß ich aber während dieser ganzen Zeit tagtäglich mit Kant, Marcus, Mellin, Goldschmidt verkehrt habe, immer auch eigene Gedanken notierend, versteht sich“ ... „Tagsüber repetiere ich immer wieder die selben Werke: Kant, Marcus, Mellin, Goldschmidt, Philosophiegeschichte.“4

Ein Altkantianer in Paris? Praktisch und theoretisch unmöglich! Noch war die französische Philosophie beherrscht von „einem intellektualistischen oder spiritualistischen Humanismus (Brunschvicg, Alain, Bergson usw.)“5 ... Surrealismus, Psychoanalyse ... Im März 1936 gründen Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois, Schüler von Marcel Mauss, gegen die Maschinerie der Sorbonne das Collège de Sociologie; an der École Pratique hält Alexandre Kojève Vorlesungen über Hegel, die eine ganze Generation von Hörern beeinflussen: Lacan, Merleau-Ponty, Hyppolite, Benjamin, Horkheimer, Adorno ... auch Julien Benda, der in seiner berühmten Streitschrift Trahison des clercs (1927) das Engagement der Intellektuellen im Ersten Weltkrieg brandmarkte, ihre Unterwerfung unter weltliche und geistliche Mächte, ihren Opportunismus, ihre Anfälligkeit für totalitäre Ideologien, kurz: ihr Versagen angesichts ihres ursprünglichen Auftrags: „Offizianten der abstrakten Gerechtigkeit“ zu sein. Mit dem Bergson-Kritiker Benda, der später zwei Kant-Anthologien herausgab, hätte sich F/M gut verstanden.6 Doch scheint es ihn zur falschen Zeit an den falschen Ort verschlagen zu haben.

1. Kant und die sieben Narren

„Ein Philosophiegeschichtchen“ – eine philosophische Geschichte, die von Philosophen erzählt und eine ganz bestimmte Geschichte der Philosophie entwirft, mit philosophischer Absicht: aus der Erinnerung an die Existenz und die Funktion von Wahrheit unreflektiert umlaufende Meinungen zu korrigieren. F/M, der Außenseiter, prüft aus spezifisch kantischer Position seine akademischen Zeitgenossen. Viele von ihnen sind heute, 70 Jahre später, fraglos berühmt; andere selbst bei Fachleuten vergessen. So geht der Blick durch das hier aufgestoßene Fenster auf das sehr bunte Treiben im Hof des Kulturlebens im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik – alles andere als eine vergangene Welt, die erledigt und begraben läge im Staub zerbröselnder Bücher.

Was F/M polemisch verhandelt, ist vielmehr von geradezu unheimlicher Aktualität: die immensen Wirkungen Schopenhauers und Nietzsches, die blütenreichen Projekte der Neukantianer, Empirismus und Historismus, die frühe Soziologie und experimentelle Psychologie, Vitalismus und Biologismus, Theologisches, Exotisches, okkultistische und esoterische Wucherungen. Dabei kommen unter den Talaren und anderswo verborgene Wurzeln faschistischer Ideologie zum Vorschein. Gegen alle Formen der Unterordnung des Individuums unter solche vagen Größen wie ‚Leben’, ‚Kraft’, überpersönlichen Allgeist usw., gegen die Macht der Gewohnheit, Autoritäten zu vergöttern oder Gott oder Götter zu autorisieren, gegen alle wie auch immer säkularisierte oder rationalisierte Heilsgeschichte setzt F/M unbeirrt kantische Vernunft und autonomen Geist.

Also ein radikales Anti-Philosophiegeschichtchen: gegen die geläufige Doxographie, gegen bloße bürokratische Registration. Nichts wäre für F/M unbegreiflicher als ein Satz wie: „Die schriftlich fixierten Aussagen der Philosophen bilden in ihrer Gesamtheit das ‚Corpus doctrinae’, den Lehrbestand des philosophischen Wissens.“ Das stammt von Lutz Geldsetzer (1971, 150), einem gewiß verdienstvollen Philosophiehistoriker und Systematiker. Doch ist der Satz ebenso wahr wie falsch. Die bloße Existenz irgendwelcher Texte besagt gar nichts über ihre Funktion, ihren Gehalt und Wert. Philosophiegeschichte ohne praktisch orientierte Leitidee ähnelt einem Friedhof. Freilich bleibt F/M selbst bestimmten Schablonen verhaftet. Er blickt durch die Brille des von der Zunft totgeschwiegenen Marcus, der in seiner Weise auf Kant blickte. Zug um Zug breitet F/M allerhand Arten der Kantkritik aus, die er jeweils als Mißverständnisse hinstellt. Leitmotiv ist jene harmlose Formel:

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).“ (Kant: KrV, A 51, B 75)

Einige Verfehlungen dieses „Kernsatzes“ hat F/M 1925 klar benannt:

„Warum ist die Schwärmerei (‚Romantik’) die falsche Freundin der Magie? Weil sie die Magie im alten Sinn des faulen Zaubers, des Hokuspokus liebt. Sie schwelgt in vermeintlichem unmittelbaren Anschauen (‚Schau’) und Fühlen, setzt blinde Triebe, dumpfe Ahnungen, Witterungen, Instinkte, ‚Blut’, ‚Rasse’ an Stelle der stets durch Begriffe vermittelten Erfahrung. Schwärmer schmähen die Unzulänglichkeit der Sprache, wenden sich unsäglich verschwommen ans Gemüt, dessen echte magische Macht aber Vernunft, Vorsatz, Absicht ist. [...] Nach Kant gehören diese Schein-Genies, weihevoll bemäntelten und bebarteten Seher und ‚Übermenschen’, Auserwählten, innerlich finster Erleuchteten in besondere Irrenhäuser.“ (Katechismus, 84 f.)

In der Tat spielen die Formen der Un- und Widervernunft für Kant eine zentrale Rolle. 1764 entwirft er im Versuch über die Krankheiten des Kopfes ein Miniatursystem der Verrücktheit; dann erklärt er sich damit einverstanden, daß der Leser all jene Geisterseher vom Schlage Swedenborgs „kurz und gut als Candidaten des Hospitals abfertigt“.7 1794 bringt er die „widrigen, zum Teil ekelhaften“ Gleichnisse, mit denen „sich dünkende Weise (oder Philosophen)“ aller Zeiten „unsere Erdenwelt, den Aufenthalt für Menschen, recht verächtlich vorzustellen“ suchen, unter vier Rubriken: Wirtshaus, Zuchthaus, Tollhaus, Kloake.8 Auch F/M beansprucht, jene Krankheiten – bzw. die eine schwere, allgemeine Krankheit, die der Menschheit selbst – heilen zu können. Das Programm läßt sich schon in einem frühen Aufsatz erkennen:

„Daß alles Endliche ein Irrtum, ein Traum und Albdruck, höchstens ein Gleichnis sei, ist der Gesang aller Zeiten. Vielleicht gab es einmal eine so göttliche Gesundheit des Lebens, daß man nicht erst über die Welt und in Märchenphantasien oder zur Kunst zu flüchten brauchte, das ewig Wirkliche gewahr zu werden – es klingt uns heute wie Mythologie. Jedenfalls hat man sich sehr früh pathologisch zum Wirklichen gestellt, indem man entweder gegensätzliche Ideale bildete oder allen Idealen entsagte. Den Anfang des Endes dieser langen Quälerei bedeutet uns Kant, der den Geist gesetzgebend für die Erfahrung, ihn ihren Schöpfer sein ließ.“9

In seiner Dekonstruktion Erich Maria Remarques bringt F/M 1929 eine Blütenlese aus den Urteilen „der siebenhundert Weisen, die wir heute außer uns sieben Narren haben“, über besagten Pazifisten. Einer der – nur sprichwörtlich sieben – Weisen des Alterums, Bias von Priene, wird genannt; einmal ist von jenem „dritten Reich“ die Rede,

„das der fast achte Weise, Bloch (wie war doch der Vorname?), längst etabliert hat, und in das der ebenso weise wie närrische Nietzsche (gleich Napoleon vom Jenenser Landgrafenhügel, neben Binswangers Irrenheim) wie Moses vom Berge Horeb geblickt hat“.10

Kant und die sieben Narren entstand Ende 1934. In den beiden Jahren zuvor hatte Romain Rolland Weltfriedenskongresse in Amsterdam und Paris organisiert; er lehnt die Goethemedaille der Nazis ab, erhält in Deutschland Druckverbot, prangert unbeirrt den deutschen und italienischen Faschismus öffentlich an. Am 26. Dezember 1934 schreibt ihm F/M einen langen Brief, bittet um Unterstützung und legt seine Ansichten dar:

„[...] theoretisch zwar ist Fleisch und Blut koordiniert mit dem logischen, dem geistigen Ich. Ethisch aber sind sie ihm ewig subordiniert. Nietzsche mißverstand diese Subordination als ‚asketisches’ Ideal und schüttete das Kind, Kant, mit dem schmutzigen Bade dieses Ideals der Abtötung aus. Aber Nietzsche war halt nur Psycholog, er begriff Kant ebenso wenig, wie ihn die gesamte Moderne begreift, sonst sie alles andere stehen und liegen ließe, um Kants Lehrling zu werden. Selbstverständlich aber haben sie inzwischen auch die exakte formale Logik historisiert und problematisiert; genau wie das Kausalgesetz und überhaupt die Geometrie und Chronologie. Denn nichts existiert mehr für sie als der Strom des Werdens, der Historie, der Entwickelung. Zwar hat Kant die ewige Form auch alles Werdens längst entdeckt; aber Kant muß natürlich selbst mit allen seinen Formen sich ebenfalls nett weiterentwickeln; sonst würde er zu berühmt, und wir andern sind auch noch da und müssen ihn überbieten. So sieht der sorgfältig kultivierte Defekt der Moderne aus. Er kulminiert in der Revolution um der Revolution willen und verdient vollauf seine Behandlung in der Gummizelle.“11

Kants Revolution der Denkungsart: keine historische Kuriosität, sondern das einzige Mittel zur Erkenntnis der wahren Verhältnisse; die Form alles Werdens nicht selbst dem Werden unterworfen; Nietzsche und die Moderne mißverstehen das, wenn sie alles in Geschichte und Entwicklung auflösen – ob Rolland mit solchen Thesen etwas anfangen konnte? Er antwortet am 31. Dezember: Wegen vieler Dringlichkeiten könne er nicht direkt helfen; F/M möge sich an Albert Schweitzer wenden, der „eine religiöse Achtung für Kant“ habe und einer solchen Bitte nicht gleichgültig begegnen werde: „Il a un respect religieux pour Kant. Il se peut que votre appel ne le laisse pas indifférant.“12

Zu diesem Zeitpunkt war das Narrenbuch bereits abgeschlossen. Um die Jahreswende 1934/35 notiert sich F/M im Tagebuch einige Namen, die im Text vorkommen: „Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, James, Bahnsen, Keyserling, Husserl“.13 Am 9. Januar 1935 berichtet er seiner Nichte Eva Samuel und ihrem Bruder Ludwig:

„Der ‚alte’ Kant oder gar Marcus haben keine Presse. Grotesken wollen sie am liebsten entweder ganz banale oder russische oder eben nur altberühmte. Dabei habe ich ironischerweise hier gut arbeiten können. Es sind schon drei neue Bücher druckfertig: ‚Kant für Künstler’, ‚Der lachende Hiob’ und ‚Kant und die sieben Narren’.“14

Das druckfertige Typoskript, 68 Seiten auf jener Remington getippt, die F/M von 1920 bis 1937 benutzte, blieb trotz aller Bemühungen unveröffentlicht. Über ein Jahr später bietet er dem Verlag Menno Hertzberger in Amsterdam verschiedene Texte an:

„Es entzieht sich mir, ob Sie auch philosophische Werke verlegen. Sollte dies der Fall sein, so empfehle ich Ihnen vor allem mein Manuskript ‚Das magische Ich’. Dies ist eine Frucht der Kantischen Philosophie, eine Lösung des Problems Mensch [...]. Aber vielleicht interessiere ich Sie mehr in belletristischer Hinsicht? Ein Misch-Produkt aus Philosophie und Groteske ist mein Manuskript ‚Kant und die sieben Narren’. –“15

Am 14. August 1937 teilt er Alfred Kubin mit, daß er Verbindung zu einem Dr. Slekow – offenkundig in Österreich – aufgenommen habe, der eine Buchgemeinschaft unter dem Namen „Erasmus-Stiftung“ aufbauen wolle und Abonnenten suche:

„Immerhin gefallen mir die Grundsätze der Stiftung. Auch hat sich Dr. Sl. ein Manuskript von mir: ‚Kant und die sieben Narren’ eingefordert. Das ist eine Satire auf die moderne Philosophie. Diese Narren der Weisheit sitzen hier in einem Irrenhaus und werden von Kant und Marcus psychiatrisch in die Kur genommen, z. B. auch Nietzsche und Schopenhauer. Ich glaube übrigens kaum, daß Dr. Sl. diese Sache nehmen wird; es ist ein zu hohes Niveau.“16

Die letzte Spur im Brief an Kubin vom 8. April 1939:

„A propos eine Frage: Was ist aus Dr. Slekow und seiner Erasmus-Stiftung geworden? Vor dem Anschluß hatte er der Stiftung ein Manuskript von mir übergeben: ‚KANT UND DIE SIEBEN NARREN’. Bereits viermal habe ich vergebens an die Stiftung geschrieben, einmal sogar rekommandiert und einmal durch Karte mit Rückantwort. Angekommen scheint alles zu sein, da meine Adresse immer angegeben war; aber Niemand antwortet. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen Rat geben könnten.“ (Briefe Kubin, 255)

Durch einen glücklichen Zufall wissen wir von der wichtigsten Quelle. Als Hartmut Geerken nach dem Tode Heinz-Ludwigs im März 1988 die Wohnung auflöste, übernahm er alle dokumentarischen Gegenstände in sein Archiv – außer F/Ms völlig zerschlissenem Morgenmantel, der immer noch an seinem Haken gehangen hatte. Im verstaubten Keller des achtstöckigen Mietshauses fand sich eine Kiste mit Papierkram. Darunter zwei lädierte Exemplare eines Buches, das eine mit Randbemerkungen von F/M, das andere mit aufgelöstem Rücken, starkem blauem Tintenfleck vorn und Lesespuren von Anselm Ruest: Die auferstandene Metaphysik. Eine Abrechnung, von Dr. Dietrich Heinrich Kerler, Ulm: Verlag von Heinrich Kerler, 1921. Auf dem Papiereinband ein Vermerk von unbekannter Hand – vermutlich von Kerler selbst: „Mit besonderer Bezugnahme auf Kapitel II Em. Lasker zur gefl. Besprechung in der ‚Neuen Rundschau’“.17

Kerler hatte mit 23 Jahren ein hagiographisches Lexikon veröffentlicht, das noch heute als Standardwerk gilt; dann Aufsätze über Nietzsche, Meinong, Lask, Bergson, Scheler und juristische Fragen sowie eine Ethik.18 Er holt das Abitur nach, studiert Philosophie in Berlin und München, wo er 1917 bei Clemens Baeumker, dem bedeutenden Mittelalterforscher, mit einer Arbeit über Fichte und Schelling promoviert.19 Trotz eines schweren Herzfehlers wird er zum Militär eingezogen; ein Offizier holt ihn heraus; er stirbt 1921 in München an einer Blutvergiftung. Seinen Nachlaß erhält Kurt Port (1896-1979), der Sohn jenes Offiziers; er führt Kerlers Philosophie weiter.20

Die auferstandene Metaphysik, seine letzte Veröffentlichung, ist eine scharfsinnige Bestandsaufnahme, die Kerler, laut Vorwort, „in einem freilich noch in weiter Ferne liegenden System der Philosophie nachholen zu können“ hoffte. Wie die „großen Denker der Vergangenheit“ behaupten auch die 27 modernen Metaphysiker das Vorhandensein eines göttlichen Urgrundes der Wirklichkeit. Doch beide, die Alten wie die Neuen, seien unvermögend, den „Wahrscheinlichkeitsnachweis anders als auf dem Wege der Begriffsver-quickung und des Fehlschlusses zu erbringen“. Kerler wirft ihnen „typische intellektuelle Unredlichkeit“ vor. Demgegenüber setze er sich ein „für reines, ‚interesseloses’ Denken und, als dessen Ergebnis, für einen atheistischen ‚Okkasionalismus’ und für eine atheistischimpersonalistische Ethik und Philosophie des Geistes“.

Das Buch findet, wie Kerlers übrige Publikationen, Anerkennung. In den Kant-Studien bescheinigt ihm ein Rezensent: „Es steckt eine selbständige Haltung hinter dem allen.“ (Lindau 1924) Arnold Kowalewski, Herausgeber kantischer Vorlesungen, lobt es und verfaßt 1926 eine Würdigung in den Kant-Studien.21 Fritz Heinemann urteilt:

„Darum hatte Kerler nicht Unrecht, ob der ‚auferstandenen Metaphysik’ zu höhnen; aber sein Werk ist ein richtiges Nußknackerbuch, das die einzelnen metaphysischen Nüsse der Generation mit großem Vergnügen aufknackt, aber doch keinen prinzipiellen Fortschritt bedeutet.“ (Heinemann 1929, 9)

Wie die Verbindung zwischen Kerler und F/M zustande kam, ist dunkel. Beide nennen einander nirgends. 1913 wurde F/Ms Nietzschebuch zusammen mit Kerlers kleiner Schrift Nietzsche und die Vergeltungstheorie besprochen (M. R. 1913). Jene handschriftliche Empfehlung hat F/M auf seine Weise befolgt: In der Neuen Rundschau erscheint Anfang 1921 seine harte Kritik von Emanuel Laskers Hauptwerk Die Philosophie des Unvollendbar, die sich allerdings nicht auf Kerler stützt (GS 2, 633-641). 1923 listet er in einem Referat über den Stand der zeitgenössischen Philosophie zehn Autoren auf, die auch von Kerler untersucht werden:

„Die berühmten Eucken, Bergson, Boutroux, Simmel, Husserl, Scheler, James, Driesch, Rickert, Croce usw. usw., diese sehr geistreichen Denker, Ethiker, Ästhetiker, können oder wollen entweder die ungemeine Kantische Revolution nicht verstehen, oder sie geben auch nicht einmal von fern ein so klares Bild derselben wie der einzige Marcus.“ (Philosophie der Gegenwart; GS 3, 722)

Gut zehn Jahre nach dieser ersten, stillschweigenden Entlehnung greift F/M auf Kerlers Buch zurück. Besonders in der zweiten Hälfte von Kant und die sieben Narren schöpft er daraus Namen, Zitate, Thesen. Trotz aller Übernahmen und Paraphrasen wird man ihm kein wissenschaftliches Fehlverhalten in Form mangelnder Zitierethik vorwerfen können (Frankenberg 2007). Er gibt ein Beispiel produktiver Anverwandlung, ja ein Meisterstück literarischer Collage. Souverän verfolgt er sein eigenes Ziel, sortiert unterwegs die Materialien und liefert im Durchblick durch die Quelle noch schärfere Urteile. Der Leitgedanke hält alle Fäden zusammen; Kerlers Atheismus und einige Autoren bleiben beiseite. Wie kritisch F/M gelesen hat, zeigen seine zahlreichen Anmerkungen.22

Es gibt noch eine zweite direkte Quelle. In F/Ms Nachlaß liegt ein Blatt mit Exzerpten aus einem 1933 gedruckten Heft von 42 Seiten: Die Ontologie der Gegenwart in ihren Grundgestalten. Der Verfasser, Gerhard Lehmann, stellt zunächst „die eine Wurzel moderner Ontologie“ dar – Bolzano, Brentano, Meinong, Husserl –, sodann Heidegger, Nicolai Hartmann und Günther Jacoby. Die herausgeschriebenen Eingangs- und Schlußsätze übernimmt F/M zusammen mit einem Zitat aus Heideggers Sein und Zeit.23

Lehmann hat F/M mehrmals erwähnt. 1926 übt er pauschale Kritik.24 In einer Rezension zu Marcus’ Buch Die Zeit- und Raumlehre Kants spielt er auf F/M an:

„Marcus hätte nicht eine so begeisterte Anhängerschaft, wenn seine Lehre in der Durchführung nicht von bewundernswertem Scharfsinn wäre [...]. Im Ernste jedoch von seiner ‚Philosophie’ reden und ihn als den echten Nachfolger Kants bezeichnen, -das ist zuviel.“25

1931, in einem launigen Abschnitt über Marcus, zitiert er F/Ms Beschreibung von dessen Physiognomie und führt in Literaturangaben mehrere Bücher F/Ms an.26 Dieser nennt in seinen Veröffentlichungen Lehmann nur einmal, an exotischer Stelle.27 Am 23. April 1936 schickt er einen Aufsatz Lehmanns an Ruest, mit ätzendem Kommentar:

„Lehmann tendiert dazu, im Opus posth. Ansätze zur Umstoßung der Kantischen Basis zu sehen. Das ist schädlicher Unsinn. Durch den Kommentar von Adickes kenne ich das O. P. genug, um zu wissen, daß Kant sich abmühte, mit dem Apriori noch tiefer als in den metaph. Anfangsgründen der Naturwissenschaft ins Aposteriori einzudringen. Sogar spürt man noch deutlich, daß er in der Polarität eine solche Brücke, aber sehr im Nebel, entdeckte (damals kam der Galvanismus auf, und Kant nennt seine Transzendentalphilosophie buchstäblich ‚Galvanismus’). – Lehmann versteht den Lehmann ausgezeichnet, aber nicht den Kant. Beweis: er redet von ‚transzendentalem Solipsismus’, dem allerhölzernsten Eisen, das es irgend geben kann, indem doch das Transzendentale gerade allen Solipsismus zu Boden schlägt. Wer das noch nicht einmal einsieht, hat von Kant keinen Schimmer und verdeckt diese Ignoranz durch Problematistik, ‚Dämonie’ u. a. Nonsens. – Bitte gib mir das Blatt zurück.“28

Kant und die sieben Narren läßt sich wie folgt gliedern:

Vorspiel: Ein vom „Erdbund der Geistigen“ gebildetes Komitee soll „alle Übel der Menschheit“ radikal beenden. Man einigt sich darüber, daß das „Grundgebrechen“ im Mangel einer „einheitlichen geistigen Orientierung“ bestehe. Allein der Vorsitzende hält sämtliche Orientierungen, Lebensinterpretationen, „Einstellungen“ für gleichberechtigt, auch die einander widersprechenden. Streit entsteht. Kant tritt auf, gebietet Einhalt und schlägt vor, ein „Heilhaus für verirrte Philosophen“ zu errichten, die er nach seiner Methode kurieren wolle – jeweils sieben Narren, welche nach ihrer Heilung durch andere ersetzt werden sollen. Der Vorschlag wird angenommen, das Hospital an der Ostsee errichtet. Kant geht an die Arbeit.

Szene 1: Schopenhauer

Szene 2: Nietzsche (die längste Szene)

Bis hier agiert Kant allein. Nun tritt Marcus auf als Assistent, Referent, Stichwortgeber. Fortan wechseln Zellenbesuche mit Zwiegesprächen und Referaten.

Szene 3: Bergson

Szene 4: James (mit einem ersten Zitat aus AM)

Zwischengespräch: Marcus berichtet kurz über Heidegger, Husserl, N. Hartmann und G. Jacoby. F/M stützt sich hier auf Lehmann 1933.

Szene 5: Bahnsen

Zwischengespräch über transzendentale Polarität; erwähnt werden Barthel, F/M, Goethe und Marcus. Dieser referiert knapp über Driesch, Spengler, Lasker, Schleich, Geißler, nennt Klages, Lessing, Sorel, Becher. Dies und das Folgende nach AM.

Szene 6: Keyserling (zweitlängste Szene)

Szene 7: Husserl (kürzeste Szene)

Szene 8: Steiner

Schlußgespräch: Marcus referiert über Eucken, Dessoir, Rehmke, Scheler, nochmals und ausführlich über Driesch sowie knapp über Stern, Heymans, Wundt, Boutroux, Otto, Schrempf, Blüher, Becher und Lask.

Epilog: Schopenhauer hat Kants Ratschläge bedacht und ist geheilt.

Über die sieben bzw. acht ‚Hauptnarren‘ hinaus werden also noch über zwanzig weitere indirekt vorgestellt; außer Schopenhauer und Nietzsche, James, Eucken und Lask waren es allesamt Zeitgenossen.

F/Ms initiale Hypothese erscheint auf den ersten Blick absurd: Wie könnte ein solcher Erdbund der Geistigen jemals gebildet werden? Und wie könnte er sich ausgerechnet auf Kant einigen? Jedoch war er es, der die Idee eines Völkerbundes entwickelte (Zum ewigen Frieden, 1795). In F/Ms Fassung: „Es sollte endlich ein sublimierter geistiger Völkerbund in Permanenz tagen, um die 1781 proklamierte Revolution der Denkungsart zum Unisono zu bringen.“ (Autobiographie, 13) Den Gedanken der Einzeltherapie hatte er schon in jener „Utopie“ angedeutet, deren Drucklegung seine Emigration veranlaßte; dort gründet der Held ein Institut,

„worin Gelehrte, denen er den geistigen Star durch Kant gestochen hatte, sich mit philosophischer Orthopädie, mit Einrenkung der Platonischen Ideen, Entbucklung scholastischer Auswüchse, Entschnürung des Spinozischen Korsetts, Zwangsbejackung des blinden Schopenhauerschen Willens, psychiatrischer Behandlung des Nietzscheschen Naturalismus und transzendentallogischer Fieberdämpfung der sogenannten Relativisten befaßten.“ (Der antibabylonische Turm, 191)

Die Architektur des Hospitals entspricht dem von Jeremy Bentham 1791 entworfenen Plan. Michel Foucault (1976, 257 ff.) hat dieses Panopticon interpretiert als „das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus“; es verbinde die Kontrolle der Körper der Inhaftierten, des Raumes überhaupt, mit einem Machtwissen.

Die acht Einzelgespräche sind sorgfältig inszeniert, bis in Details wie Schopenhauers goldener Buddha, James’ „delikater Füllhalter“, Steiners Priesterhabit. Was Kants roten Regenschirm angeht, so ersparen wir uns hier, die entsetzliche Vielfalt möglicher Bedeutungen dieses Utensils auf- oder zuzuklappen; derlei ist in moderneren Kreisen hinlänglich bekannt.29

Zwar huschen nur wenige weibliche Figuren vorüber: Athene, die Gräfin Keyserling, Cosima Wagner und die Marlitt; es nerven jene „stadtbekannte Schwester des weltbekannten Bruders“30 sowie eine mittlerweile matt gewordene Peitsche über einer Pantherkatze. Doch am Schluß werden, epochal parenthetisch, sämtliche „Herren (und Damen) Erlöser“ auf die Schulbank verwiesen, vor welcher Professor Kant doziert:

„Das Wort Närrin, gegen ein Frauenzimmer gebraucht, hat nicht die harte Bedeutung; weil ein Mann durch die eitle Anmaßung des letzteren nicht glaubt beleidigt werden zu können. Und so scheint Narrheit bloß an den Begriff des Hochmuts eines Mannes gebunden zu sein.“31

Die folgenden Bemerkungen zu einzelnen Szenen beschränken sich auf Zusammenfassungen und Querverweise auf andere Schriften F/Ms. Es kann nicht darum gehen, in allen Fällen Sachdiskussionen zu beginnen und F/Ms – mitunter erschreckend harte – Urteile auf ihre Berechtigung zu untersuchen. Dafür sind die Dinge viel zu komplex.

Der „schöne Februartag“, an dem Kant Schopenhauer visitiert, ist des letzteren Geburtstag, 22. Februar 1788. F/M faßt seine seit 1896 geführte Auseinandersetzung zusammen: Schopenhauer hat Kant indisch-platonisch-christlich mißverstanden. Furcht vor Wiedergeburt, Weltverneinung, Kasteiung – das führt nicht zur Glücks-, sondern zur Unglücksforderung. Damit habe Schopenhauer einen „Kerl“ hochgezüchtet, der in einer Überreaktion gegen das christliche Ideal glaubte, zugleich auch Kant mit hinauswerfen zu müssen: Nietzsche. Und mit seiner Überbetonung des Willens, der sich am reinsten im Sexualakt äußere, habe er Freud inspiriert.32 Wenn Schopenhauer aus den Sinnesdaten die Fremdkörper als Ursachen konstruiert, übersieht er, daß es der Affekt ist, der in die Sinnlichkeit (Raum und Zeit) fällt. Wenn er von Anschauung ohne Begriff redet, läßt er alle kritische Kontrolle außer Acht. Er kennt nur den Naturwillen, den er mit dem Ding an sich identifiziert, weiß nichts vom Vernunft- bzw. Gesetzeswillen, vom Vernunftgesetz. Trotz allem ist er ein ehrlicher Mann – und heilbar.

Mit der Nietzsche-Szene zieht F/M ebenfalls einen Schlußstrich unter eine jahrzehntelange Auseinandersetzung. Sie kulminierte in der Monographie von 1911, wurde weitergeführt bis zur Schöpferischen Indifferenz, um 1920 jedoch abrupt beendet. Die Gründe für diesen Bruch liegen einerseits in Marcus’ Einspruch, der zu jener eingangs erwähnten „geistigen Revolution“ führt, andererseits in dem durch die Schwester eingeleiteten, zusehends plakativer werdenden Mißbrauch Nietzsches für völkische Zwecke. Bei dem gewaltigen Schlagabtausch im Narrenbuch schöpft F/M noch einmal aus dem Vollen. In den drei knappen Sätzen, mit denen Kant sich bei Nietzsche vorstellt, wird ein ganzes Bündel von Zitaten verdichtet. Da sie durchaus den Wert eines Schlüssels für Nietzsches Kantbild besitzen, seien sie hier ausgeschrieben:

„Unsere neuen Philosophen werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch der große Chinese von Königsberg war nur ein großer Kritiker.“ (Jenseits, 210)

„Daß die Deutschen ihre Philosophen auch nur ausgehalten haben, vor allem jenen verwachsensten Begriffs-Krüppel, den es je gegeben hat, den großen Kant, gibt keinen kleinen Begriff von der deutschen Anmut.“ (Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen abgeht, 7)

„Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? fragte sich Kant, – und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tiefund Schnörkelsinn, daß man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt.“33 „Meine Unmöglichen. – Seneca [...] Rousseau [...] Schiller: oder der Moral-Trompeter von Säckingen. – Dante [...] Kant: oder cant als intelligibler Charakter.“34

„Anbei gesagt: selbst noch in dem Kantischen Begriff ‚intelligibler Charakter der Dinge’ ist etwas von dieser lüsternen Asketen-Zwiespältigkeit rückständig, welche Vernunft gegen Vernunft zu kehren liebt: ‚intelligibler Charakter’ bedeutet nämlich bei Kant eine Art Beschaffenheit der Dinge, von der der Intellekt gerade soviel begreift, daß sie für den Intellekt – ganz und gar unbegreiflich ist.“35

Das damit umrissene Zerrbild demontiert F/M seit den frühen zwanziger Jahren. Hauptvorwurf: Nietzsche hat Kant schlecht gelesen, daher falsch verstanden; gerade an dieser entscheidenden Schaltstelle „ist er nur ein seichter Philolog.“36 Gelegentlich spielt F/M die beiden gegeneinander aus. Das echte animal metaphysicum käme zustande, wenn man „Kants praktische Vernunft in das irrationale Herz des Nietzscheschen Dionysos flößen“ könnte:

„Ähnlich wie Schopenhauer, mißversteht Nietzsche Kant. Solange Kant nicht erfaßt wird, bleibt man reaktionär – sei es, daß man sich heidnische Naivität einbilde, sei es, daß man Christ der Offenbarung werde.“37 ... „Es war das Malheur des Dionysos, ein miserabler Kantkenner zu sein; wie es das Unglück der Kantianer ist, sich nicht dionysisch, d. i. schöpferisch in sich selber versetzen zu können, um wirklich erd- und weltschöpferisch zu werden – diesseitig, irdisch.“38

Hier ist nicht der Ort, um diese These F/Ms im Licht der neueren Nietzscheforschung zu betrachten. Nur ein Hinweis. Im Frankreich der dreißiger Jahre waren es Außenseiter wie Bataille, die Nietzsche entdeckten; 1955 übersetzt Pierre Klossowski Die fröhliche Wissenschaft; 1962 vermutet Gilles Deleuze in einem einflußreichen Buch, Nietzsche wolle „die radikale Transformation des Kantianismus, die neuerliche Hervorbringung der Kritik, die Kant im selben Augenblick auch schon verraten hatte, als er sie entwarf.“39

F/M behauptet exakt das Gegenteil: „Kant ist in der Tat, was Nietzsche sich nur einbildete zu sein: Dynamit.“ (Mahnruf, 56) Nachdem die Wärter die Watte herausgezogen haben, die er sich in die Ohren steckte, um Gegenreden – die Stimme der Vernunft – nicht hören zu müssen,40 beginnt Nietzsche langsam zu begreifen: Kant war es, der umgewertet hat! Er zwang die anämische Vernunft zur Erfahrung. Den kategorischen Imperativ mit christlicher Moral zu identifizieren, heißt, Kants Religionskritik völlig zu verkennen. Stattdessen hätte Nietzsches Kritik am Christentum erst Kants wahre Absichten enthüllen sollen.

Allerdings war das Mißverständnis nur schwer zu vermeiden. Schopenhauer hatte darauf hingewiesen, daß „Kant aus der ältern, sogar scholastischen Philosophie Worte und Formeln nahm, die er zu seinen Zwecken miteinander verband“, etwa „den in ganz anderem Sinne gebrauchten intellectus theoreticus und practicus der Scholastiker“.41 Marcus und F/M übernehmen das. In der Tat bewahrt Kant mehr mittelalterliche Termini und Redensarten, als man, irritiert durch polemische Aversionen gegen jene angeblichen dark ages, wahrnehmen möchte, doch wurde das vermengt mit dem bequemen Trivialbild des unleserlichen, unverständlichen Autors. Daran ist etwa Heine beteiligt:

„Warum aber hat Kant seine Kritik der reinen Vernunft in einem so grauen, trockenen Packpapierstyl geschrieben? Ich glaube, weil er die mathematische Form der Descartes-Leibnitz-Wolfianer verwarf, fürchtete er die Wissenschaft möchte etwas von ihrer Würde einbüßen, wenn sie sich in einem leichten, zuvorkommend heiteren Tone ausspräche. Er verlieh ihr daher eine steife, abstrakte Form, die alle Vertraulichkeit der niederen Geistesklassen kalt ablehnte. [... ] Kant hat durch den schwerfälligen, steifleinenen Styl seines Hauptwerks sehr vielen Schaden gestiftet.“ (Heine 1979, 83)

Also bloß Distanz zur Popularphilosophie? F/M gibt eine ganz andere Erklärung. Im Ministerium, läßt er seinen Kant sagen, witterte man den Antichristen in mir – „Ich maskierte mich.“ Die literarische Form als notwendige Mimikry, Schutz, Tarnung? Nietzsche, der doch die Camouflage, vor allem seine eigene, stets hervorkehrt – „die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinterdem-Rücken-Reden, das Repräsentiren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskirtsein, die verhüllende Convention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst“ 42 – ‚ gerade er vermag Kant nicht zu erkennen. Kant aber beschreibt nicht nur Nietzsches oberlehrerhaftes Äußeres, sondern durchschaut, ja zitiert ihn. Er legte die Lunte und zündete sie an – hundert Jahre später löscht Nietzsche sie aus, anstatt die Bombe explodieren zu lassen. „Sie sind auf meine scholastische Vermummung hineingefallen“ ... „Hätten Sie meine Geheimschrift entziffert, so hätten wir gemeinsame Sache machen und längst siegen können.“ ... „Überlegen Sie bitte unsere Revolution triftiger!“ Freilich: Um durch solche Vermummung zum echten Kant durchzudringen, dazu verhilft einzig und allein Marcus.

Das Vorgespräch über Bergson lehnt sich an Kerler an (AM 184 ff.). Doch F/M wußte längst, von wem er spricht. 1913/14 hatte er drei Beiträge über Bergson veröffentlicht und die Ergebnisse später mehrfach resümiert.43 Der élan vital, das Herz des Lebens, erscheint, wie Schopenhauers blinder Wille und Nietzsches Wille zur Macht, als „Naivetät“. Bergson, der „naive Sensualist“, ist fasziniert vom organisch blitzartigen Denken und Urteilen. Doch erst die zeitlupenhafte Reflexion vermag den Schein aufzudecken. Bergson übertreibt Instinkt und Intuition, die doch nur eine Facette des lebendigen Intellektes darstellen; sieht nicht, daß der Begriff selber lebendig ist, übersieht die Mitte, das Ich. Er verwischt die polare Heterogenität, wenn er den einen Pol aus dem anderen ableitet oder mittels Nuancen und Graden vom einen zum andern will.

William James, von Kerler nur knapp behandelt, legt seine Ansichten ausführlich dar: Kants Vernunft sei Empirie, der Mensch ein Affe, das Leben dämonisch. Der Pragmatist und „radikale Empirist“ kennt Erfahrungen, die keinem Begriff erreichbar sind: den Strom des Bewußtseins, religiöse Phänomene, das Unbewußte, Esoterisches. Kant muß zu kräftiger Therapie greifen. James leidet unter „Wundersucht“ (Brouillon, 13) und „Obskurantismus“: Er will eine unendliche Erfahrung, Erfahrung des Unendlichen; also schafft er alle kritischen Grenzen ab, streicht die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, arbeitet mit einem vorsätzlich unpräzisen Erfahrungsbegriff, verwischt die Differenz zwischen notwendigen Wahrheiten und willkürlichen Annahmen. Erfahrung wäre biologisch und durchs Unbewußte bedingt? Aber das Unbewußte liegt doch nur unterhalb der Reflexion! James degradiert die Wahrheit zur Zweckmäßigkeit. Mit Hilfe von Wahrheit und Logik beweist er, daß Logik und Wahrheit untauglich seien – dafür erhält er eine kalte Dusche. Ohne Kants scharfe Trennung zwischen zweckmäßigen Suggestivvorstellungen und notwendiger Gültigkeit wäre James heute Sieger. Aber nicht das Leben ist der höchste Wert, sondern Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – intelligibel, nicht phänomenal. Ja, Wahrhaftigkeit steht noch höher als das Leben.

Julius Bahnsen, von Kerler übergangen, hat wie Bergson F/M zur Schärfung und Präzisierung seiner Argumente veranlaßt (das bleibt zu untersuchen). Im Spätsommer 1915 schreibt F/M an Kubin: „Bahnsen lernte ich erst vor ein paar Jahren kennen & liebe ihn mehr als den Hartmann.“ 12. November: „Mainländern habe ich nie gelesen. Dieser Hartmann hat ja auch den bedeutenderen Bahnsen in den Hintergrund gedrängt.“44 Jahre später notiert F/M folgende Episode:

„1916 morgens gegen acht Uhr lese ich Bahnsens Einleitung zur Realdialektik. Während ich lese, höre ich eine Postsache dumpf durch den Briefkastenschlitz fallen. Ich finde ein kleines Bücherpaket, abgesandt von L. Fernau, Leipzig. Der Name macht mich stutzig – kurz vorher hatte ich ihn ebenfalls gelesen – aber wo? ... Mechanisch sehe ich auf den Umschlag des Bahnsenschen Werkes und lese: L. Fernau, Leipzig, 1882. Aber damit noch nicht genug! Ich löse das Bücherpaket aus der Umhüllung. Diese ist bedrucktes Papier, es enthält nichts anderes als eben Bahnsens Einleitung zur Realdialektik.“ (Das widerspenstige Brautbett, 1919)

Take what you have gathered from coincidence, sang Bob Dylan, neuerdings durch eine Frankfurter Tagung plus Suhrkamp-Band auf akademisches Diskussionsniveau gehoben – Bahnsen wartet seit über 100 Jahren auf solche Ehren. An anderer Stelle wird Urteil gesprochen:

„Tatsächlich hat auch einer der geistreichsten Nachfolger Schopenhauers, der Philosoph Julius Bahnsen, diese concordia discors zum Prinzip seiner Lehre gemacht und einen noch hoffnungsloseren Pessimismus daraus hergeleitet“ ... „Die Realdialektik, von Kant eingeleitet, von Julius Bahnsen ausgezeichnet illustriert, ist natürlich nur eine Analogie zur logischen; der gemeinsame Grund aller Erscheinung, also aller Polarität ist die differenzschöpferische Indifferenz.“ ... „Julius Bahnsen war von Schopenhauer auf die Polarität des schöpferischen Prinzips, des Willens, auf dessen sich selbst entzweiende Identität geführt worden, erlebt sie aber nicht göttlich, sondern tragikomisch menschlich, nihilistisch-pessimistisch.“45

Anselm Ruest erkennt um 1930 in Bahnsen „einen dem stirnerischen nihil nächstverwandten individualistischen Metaphysiker & Polaristen“ und sucht „durch Neuausgaben seiner Werke einen auch für die Stirner-Erkenntnis günstigeren Boden zu bereiten“.46

Bis zur Emigration Anfang Mai 1933 widmet er sich dieser Aufgabe.47

Im Narrenbuch gibt F/M seine ausführlichste Diskussion. Wie Schopenhauer ignoriert Bahnsen den Vernunftwillen. Selbstentzweiung: Ja, aber nicht ohne Identität! Die Gegensätze realdialektisch im Nichts, in der Null aufzuheben, heißt ein Monstrum zu produzieren, nämlich das „Wesen“ zwischen den Polen auszulassen, die Angel und Achse, das Ich, den „apriorischen Organismus“ (Marcus). Bahnsen sucht die Polarität dogmatisch zu fassen, statt die Logik zu polarisieren: als polare Batterie. Er treibt „dogmatischen Polarismus“ statt transzendentalen.

Damit ist das Stichwort gegeben. Marcus erwähnt seinen „etwas schwächlichen Schüler“, einen „gewissen Friedlaender“, der ein Schwarmbuch, Schöpferische Indifferenz, losgelassen, dann allerdings revoziert habe. Hier wie sonst hat F/M kein Problem damit, von sich selbst wie von einem Anderen zu sprechen. So figuriert bei andrer Gelegenheit „der leidlich bekannte Humorist Friedrich Salomon (der sich daneben als Philosophen einschätzte)“ (Graue Magie, 100).

Graf Hermann Keyserling, der nach seinem Bestseller Reisetagebuch eines Philosophen seit 1920 in seiner Darmstädter Schule der Weisheit erlauchte Geister aus aller Welt begrüßt, wird von F/M sogleich kritisiert.48 Daran ändert sich nichts, als Keyserling 1923

F/M erwähnt, ja sogar einen Aufsatz von Marcus aufnimmt.49 Im Narrenbuch wird der Graf mit allen physikalischen Therapien nach Kneipp behandelt: kalte Rückengüsse, Massagen, Frottagen, Eisbeutel, Brom – außer der Gummizelle und dem „Gummidolman“, der Zwangsjacke.50 Vergebens. Statt damit aufzuhören, sich in wissenschaftliche Philosophie einzumengen, produziert er unverdrossen geläufige Pseudo-Esoterismen: Kraft und Stoff, die Zahlen als Gesetze, kosmische Rhythmik, Liebe, Intuition, Buddhistisches, zweite Unschuld usw., bramarbasiert gar vom Opfer des Einzelnen für die Gesamtheit, vom Individuum als Organ des Volkes bzw. Staates, von Universum, Allgeist, Überseele. Kants Diagnose: Naturalisierung der Idee, kombiniert mit Biologismus und politischem Obskurantismus.

Mit Husserl, den er hier eher am Rande als alten, schwachen Logiker auftreten läßt, hat F/M vielleicht mehr gemeinsam, als er selbst glaubte. An Kubin, 22. Juni 1917:

„Husserl kenne ich noch nicht; les amis de Scheler ne sont pas aussi les miens; ich will ihn aber lesen, obgleich ich den Eindruck habe, daß er in die Logik grammatikalisch hineinpfuscht.“51

Ungleich gravierender ist der Fall Rudolf Steiner. F/M zählt ihn seit 1918 rigoros zu den Theosophen und Okkultisten, denen er stets kräftige Ohrfeigen verabreicht:

„Auf dem schwierigen Weg vom Himmel zur Erde kann die beste Urteilskraft sehr leicht irren, und dann fährt man, wie die Herren Großinquisitoren, Propheten, Theosophen, Okkultisten, Spiritisten, Steinerianer und wie sich das edle Gesindel sonst nennen mag, recht kräftig in die Säue.“52

„Einige, die das Unheil immer näher kommen sehen, legen Gasmasken aus indischer oder indoformer ‚Weisheit’ an, die, mit der Kants verglichen, kindisch ist, Gemengsel aus Halbwahrem, Halbfalschem, Träumerei an Darmstädter, wo nicht gar an Steinernen Kaminen ...“ (Mahnruf, 46)

Zu Steiner muß man hinaufsteigen, nach ‚oben’, wenn auch nur in eine Dachkammer. Er beansprucht, leibhaftig, unmittelbar zum Ding an sich, zu Gott zu gelangen; dabei läßt er alle Kritik geflissentlich beiseite, auch den Intellekt, das (transzendentale) Prisma zwischen Sonne (Ding an sich) und Ich. Blockiert ist so die Einsicht, daß Raum und Zeit Organe des Ich sind. Wie Keyserling soll er das Philosophieren aufgeben. F/Ms Kritik zielt auf das in der Tat von Steiner entworfene geschlossene Weltbild mit Absicht auf Welterlösung; der latente Rassismus bleibt im Hintergrund.53

Eucken, Dessoir, Rehmke, Scheler – auch sie spekulieren von „oberen Mächten“, vom All-Einen, Überpersönlichen, Jenseits der Seele, von einem unendlichen göttlichen Geist, dem das Individuum sich unterzuordnen habe. Das erscheint gebündelt bei Hans Driesch, dessen Wirklichkeitslehre, von Kerler ausführlich analysiert, von F/M weiter zerpflückt wird.54 Teleologie, Biologie, Theologie, Geschichte, Politik ... der unvermittelte Rekurs auf ein „konkretes Allgemeines“, auf Gott usw. ist unstatthaft, weil heteronom; zwischen Immanenz und Transzendenz gibt es noch das Dritte, das Transzendentale. Wenn Driesch soweit geht, die Form durch den Stoff gesprengt zu denken, läßt er sich nicht einmal mehr in die Gummizelle sperren, denn mit seinem Dickkopf wird er selbst diese noch durchkrachen.

William Stern faßt Volk, Staat, Rasse als höhere Personen auf, den Menschen als Werkzeug, das Opfer für die Gattung als ein Ideal. Er wirft die Autonomie weg zugunsten eines hierarchischen Panpsychismus – er „hitlert bereits“. Ähnlich führt Heymans’ psychischer Monismus zur Allbeseelung und zum Determinismus. Wilhelm Wundt, auf den F/M sich 1907 noch passagenweise stützte (Psychologie, GS 5), pfuscht in die Philosophie hinein: das Bewußtsein komponiert er aus bewußtlosen Formen, die Ethik bindet er an einen überindividuellen Willen usw.

Sind F/Ms Urteile übertrieben? ungerecht? Wie beruhigend wäre es, könnte man sie als zeitbedingte Angstreaktionen abhaken. Was Kerler kaum ahnen konnte, ist für F/M zwölf Jahre später zur Tatsache geworden. So erweist sich Kant und die sieben Narren als eine ungeheure elliptische Stenographie, deren Tempo zusehends rasender wird; als ein kulturpolitisches Theaterstück, welches lehrt, wie die Elemente der Barbarei durch einen recht verstandenen Kant an der Wurzel abgeschnitten werden können.

2. Kantholizismus

„Die Vernunft ist katholischer (universaler) als der Katholizismus.“55 Das lapidare Fazit von F/Ms dritter Rezension zu Scheler enthält bereits 1921 das Programm der späten „Utopie“ oder Parabel Kantholizismus. Ihre Entstehungszeit läßt sich genau bestimmen. Am 15. September 1934 schreibt F/M an seine langjährige, philosophisch interessierte Freundin Lisa Gerbea in Uruguay. Nachdem er seine Situation geschildert hat, kommt er, wie stets, auf Philosophisch-Politisches. Statt wie die „sog. ‚geistigen’ Führer und Leithämmel“ die Alternative der Kultur immer nur zwischen „,Rechts’ (Tradition, Papst, Militarismus, Krieg, Adel, Patriziat etc.) und ‚Links’ (Sowjet)“ zu sehen – „In der Mitte schwafeln verschwommene ‚Humane’“ –, gehe es um „die einzige echte ‚Diktatur’, die es gibt, die autonome der Vernunft, des kategorischen Imperativs“:

„Beide, Rechts und Links, sind im Grunde genommen einig in der Versklavung des Individuums zugunsten der Gesamtheit. In diesem Punkte sind Stalin und der Papst (der grundsätzliche Mörder der Autonomie und Kants) edle Konkurrenten. Wir brauchen aber einen autonomen Individualismus mit sozialer Konsequenz. [...] Hitlerei ist die echte Rechnungsprobe auf die Wahrheit Kants. Streicht Kant (aber tatsächlich ist Kant gestrichen), und die Barbarei, der Untergang aller Freiheit meldet sich zu weißem oder rotem Wort. Ob der Zar weiß oder rot angestrichen wird, Papst oder Stalin heißt, ist egal. Kantholizismus statt Katholizismus ist die echte Rettung: Vernunft statt Offenbarung oder russischer Talmivernunft.“56

Mitte Juni 1935 notiert F/M im Tagebuch:

„Exoterisch/esoterisch. Groteske: der Papst als Kantmarcusianer: aber exoterisch wäre für das Vulgus die katholische Popanzerei, das Sinnen-Brimborium nötig. Symbol unentbehrlich & im Lauf der Zeiten immer adäquater allegorisch. Ergo: Kant als Papst. [...] ‚Kantholizism.’: es gibt nicht nur betrogene Betrüger, es gibt auch gegängelte Autonomisten.“57

Zur selben Zeit tagt in Paris der Erste Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Unter den Teilnehmern André Malraux, Ilja Ehrenburg, Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Boris Pasternak, Aldous Huxley, Louis Aragon, Anna Seghers, Robert Musil, Ernst Bloch; Hauptredner und Ehrenvorsitzender: André Gide.58 F/M wiederholt seinen grimmigen Kommentar: