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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliographische Daten

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ISBN 978-3-7392-8407-1

November 2015

© Timm H. Lohse

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH

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Was ich von ihm weiß, ist wenig genug, und das Wenige fand und finde ich schon so bedrückend, dass ich nie gewagt habe, weitergehend nachzufragen. Ein einziges Mal hat er mir einen kurzen Bericht gegeben, bevor wir zu meinen Eltern gingen, um ihnen zu sagen, dass wir heiraten wollen. Das klang damals tatsächlich wie ein nüchterner Anamnesebericht, den ich zur Kenntnis nahm. In der Art, wie er mir den vortrug, klang es im Unterton so: Bitte frag mich nie wieder danach. Und das habe ich respektiert, bis gestern dieser Besuch von den Christophersens aus Gadelund in unser Haus platzte.

„Was ist dir, Sünje?“

„Ich kann nicht einschlafen, Ties.“

Ties setzt sich auf und zieht Sünje zu sich heran.

„Weißt du, dieser Besuch gestern, die Christophersens aus deiner früheren Heimat, das hat mich tief bewegt und eine Unruhe in mir ausgelöst. Ich hab dich damals, als wir uns kennenlernten, nur einmal nach deiner Kindheit und frühen Jugend gefragt, und so, wie du mir damals geantwortet hast, wagte ich es nicht, tiefer in dich zu dringen. –

Aber gestern, als du mit Horst Christophersen ins Gespräch kamst – ihr Beide in euerm breiten, kehligen, nordfriesischen Platt – da warst du mir irgendwie fremd, nein, anders: Mir wurde bewusst, den Ties kenne ich nicht. Ich hörte dich in einer Sprache reden und erzählen und lachen und schweigen, ja auch dein Schweigen war anders. Da spürte ich, das ist seine Muttersprache. Da ist er wieder Kind oder Jugendlicher. Das ist aus der Zeit, von der ich nichts weiß. Und zugleich warst du so lebendig. Da lebte was in dir auf, was über all unsere Jahre nicht gelebt hat oder nicht leben durfte – ich weiß es nicht. Ich habe kaum etwas verstanden. Ich kann kein Platt. Und dieses nordfriesische verstehe ich schon gar nicht. Weißt du, ich will sie kennenlernen, deine Kindheit, deine Jugend. Sonst kenne ich dich nicht ganz. Ich war fasziniert von den Lauten, die an mein Ohr drangen. Ich ließ mich nur zögernd auf das Gespräch mit Heike Christophersen ein. Sie fragte mich nach unseren Kindern und erzählte von ihren. Und als ich ihr von Marten erzählte, da berichtete sie mir von ihrer Arbeit in der beschützenden Werkstatt, in der sie und auch Horst arbeiten. Und dann konnte ich euch gar nicht mehr zuhören. –

Seit wir im Bett liegen, gehen mir die Gedanken nicht aus dem Kopf:

Das Kind Matthias, der Jugendliche Ties – wer ist das, was hat er getrieben? Und seine Eltern? Wie war das alles? Wo hat Ties das gelassen? Warum hast du das verlassen und willst es nicht mehr zulassen?“ –

„Gut. Sünje. Ich will und bin bereit, diese Tür zu öffnen. Du betrittst eine gewesene Welt, in die ich mich, seit ich dich kenne und mit dir und den Kindern lebe, nur noch gelegentlich verirre.

Mein Vater stammt aus dem Württembergischen, aus Heilbronn, war Arzt und absolvierte einen Teil seiner Facharztausbildung am nordfriesischen Kreiskrankenhaus. Dort begegnet er meiner Mutter, einer 15-jährigen Schwesternvorschülerin, er 28. Ich kann dir nicht sagen, wie es dazu gekommen ist, Fakt ist, dass meine Mutter von ihm geschwängert wird. In der damaligen Zeit und in der Gegend eigentlich eine Katastrophe und juristisch „Unzucht mit einer Minderjährigen und auch Abhängigen“, denn sie war auf seiner Station eingesetzt.

Ihr Vater, mein Großvater, ein ehrbarer und geachteter Bauer und auch Kirchenältester in Schafsbüll, nimmt die Sache in die Hand und regelt sie nach seiner Art und Vorstellung:

Abtreibung kommt für ihn nicht in Frage, also wird meine Mutter aus der Ausbildung genommen und zu ihrer Tante Christine, einer Schwester ihrer Mutter, nach Tønder gebracht Dort wird sie im Hause gehalten bis zur Entbindung. Deshalb mein Geburtsort „Tønder“ und nicht „Schafsbüll “.

Mein Großvater nimmt sich den Erzeuger, meinen Vater, zur Brust und handelt mit ihm knallhart einen Vertrag aus –ich habe ihn im Nachlass meines Großvater-Vaters gefunden und gelesen. Mein leiblicher Vater verpflichtet sich, sofort wieder nach Süddeutschland zurückzukehren und niemals wieder Kontakt mit meiner Mutter oder später dann mit mir aufzunehmen. Gleichzeitig verpflichtet er meinen leiblichen Vater, bis zum Ende meiner Ausbildung monatlich einen Betrag von eintausend DM auf ein Treuhandkonto zu zahlen. Im Gegenzug erhält er jährlich eine „Lebensbescheinigung“, später stets das Versetzungszeugnis und eine entsprechende Abrechnung.

Mein leiblicher Vater war ein erfolgreicher Schönheitschirurg in der Gegend von Stuttgart, und war, soweit ich weiß, nie verheiratet, verunfallte jedoch mit seinem Porsche auf einer Alkoholfahrt tödlich, als ich 17 Jahre alt war. Damals hoffte ich gerade und hatte schon in Gedanken damit gespielt, ihn mal aufzusuchen. Nach seinem plötzlichen Tod erbte ich sein gesamtes Hab und Gut. Dieses Vermögen hat uns später den mühelosen Start hier in Anderstedt ermöglicht.

Meine leibliche Mutter lernte Dänisch, nahm die dänische Staatsbürgerschaft an, brachte ihre Krankenpflegerin-Ausbildung zu ende, heiratete dann einen Lehrer und zog mit ihm nach Svendborg auf Fyn und wurde fünfmal Mutter.

Diese „Lösung“ wurde offen im Dorf präsentiert und schließlich auch akzeptiert, so dass ich niemals hinterhältig oder bösartig auf meine Herkunft angesprochen wurde. Und da ich mich ausgesprochen wohl bei meinen Vizeeltern fühlte, kamen mir auch keine grüblerischen Gedanken.“

„So ähnlich, nicht so ausführlich hast du es mir damals erzählt, Ties. Aber das sind doch nur die äußeren Fakten. Hast du als Kind, als Jugendlicher nie eine Sehnsucht, ein Verlangen gespürt, deine leibliche Mutter kennenzulernen? Ist sie nie wieder in Schafsbüll gewesen? Haben ihre Eltern, deine Großeltern, deine Vizeeltern nach der Entbindung keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt? Wurde nie über sie gesprochen, von ihr erzählt? Fotos geschickt? Oder wurden ihr Fotos von dir geschickt? Briefe geschrieben? Von deiner Entwicklung berichtet? Tausend Fragen, ich weiß. Aber ich kann mir das nicht wirklich vorstellen -.“

„Nordfriesisches Platt ist meine Muttersprache. Nicht ganz korrekt: Meine Mutter hat mich diese Sprache nicht gelehrt. Das Sprechen habe ich bei Modder-Mia und bei Vadder-Hans gelernt. In unserem Haus, im ganzen Dorf wurde nur Platt gesprochen. Platt ist meine Kind-Sprache, meine sprachliche Heimat. Eine schlichte, unkomplizierte, direkte, warmherzige und irgendwie immer humorvolle Art sich auszudrücken, sich verstehen zu geben, mit dem anderen zusammen das Leben zu bejahen und in Frage zu stellen. Auf Platt kann man sich auch unmissverständlich die Meinung sagen, wird sich aber niemals hinreißen lassen, den anderen bösartig zu erniedrigen.

In dieser meiner plattdeutschen Welt existiert meine leibliche Mutter nicht. Da lebe ich mit Modder-Mia und Vadder-Hans, mit Drees, dem Nachbarjungen in etwa in meinem Alter, mit Pastor Johannes Rohwedder und dem Dorflehrer Hauke Nielsen, dem Landarzt Dr. Petersen, dem Höker Hermann Christiansen, dem Schmied Lars Oldsen und mit unserem langjährigen Dienstmädchen (so nannte man das damals) Elfriede Ketelsen, später verheiratete Christophersen. Da waren noch andere Dorfkinder, mit denen war ich nur während der Grundschulzeit zusammen; mein Kindheits- und Jugendfreund war Andreas Carstensen, genannt Drees, der leider bereits mit 25 Jahren an einem fulminanten Herzinfarkt starb.“

„Aber deine leibliche Mutter? Wieso taucht die da nicht auf?“

„Von klein auf an kannte ich: Modder-Mia und Vadder-Hans – das waren die mir vertrauten Bezugspersonen. Und die waren sehr gut zu mir. Modder-Mia war eine meist stille, stets freundlich-aufmerksame Frau, die mich verlässlich umsorgte und vor allem: mich teilhaben ließ an ihrem Leben. Neben der häuslichen Wirtschaft war der Gemüse-und Blumengarten ihr Lebensinhalt. Sie hat mich in die Pflanzen- und Tierwelt eingeführt, mich die Geheimnisse des Wachsens und Gedeihens gelehrt und die Freude des Erntens. Ich denke bis heute mit großer Bewunderung an diese einfache, und doch so schlicht gebildete Frau zurück. Da könnte ich dir lange und viel erzählen.“

„Hat sie dir denn nie von deiner leiblichen Mutter erzählt?“ „Doch, sehr früh schon hörte ich die Erzählung, mit der mein Dasein erklärt und gerechtfertigt wurde, und zwar von Modder-Mia und Vadder-Hans. Und alle im Dorf respektierten diese Erzählung und – so sehe ich es heute – wagten es nicht, sie mir gegenüber oder hinter vorgehaltener Hand in Frage zu stellen – wegen der Hochachtung, die mein Großvater als fortschrittlicher Landwirt, als Kirchenältester, als Freund des Dorfpastors und Schulmeisters und als engagierter Vertreter der Bauernpartei im Kreistag genoss.

Mir war von Kindesbeinen an klar: Meine Mutter war mit 15 Jahren zu jung, um mit einem Kind zu leben, zumal der Erzeuger sie „betrogen“ hatte und als Vater und Ehemann nicht in Frage kam. Um das Leben des jungen Mädchens doch noch auf eine gute Bahn zu bringen, verlässt sie Schafsbüll und auch Deutschland und wird behutsam auf ein neues Leben in Dänemark vorbereitet. Das Kind, also ich, wird von ihren Eltern adoptiert und in Schafsbüll großgezogen. Sie braucht sich nicht um das Kind zu kümmern; sie will es auch nicht, sowenig sie die Schwangerschaft wollte. Abtreibung, das sagte ich dir bereits, war für sie aus religiösen und moralischen Gründen keine Option, auch für ihre Eltern nicht. Ihre Mutter war während der Schwangerschaft sehr oft bei ihr in Tønder, auch während der Entbindung und in den Wochen danach, bis sie mit mir als Säugling nach Schafsbüll zurückkehrte.

Meine leibliche Mutter hat mich nach der Geburt nicht sehen wollen und hat mich auch nicht gestillt. Die Mutter milch wurde abgepumpt und mir im Fläschchen gereicht. Mutter ist für mich: Modder-Mia und nicht Catherine Jensen verheiratete Sørensen.

Von Angesicht zu Angesicht habe ich Catherine erst mit 15 Jahren gesehen. Im Haus meiner Vizeeltern stand auf der Vitrine im Wohnzimmer nur ein Foto von ihr als Konfirmandin.

Meine leibliche Mutter ist während meiner Zeit nicht wieder in Schafsbüll gewesen: Das stimmt nicht ganz: zur Beerdigung von Modder-Mia und Vadder-Hans kam sie mit ihrer ganzen Familie nach Schafsbüll, aber dazu später.

In der Vorschulzeit war für mich die Welt in Ordnung, und ich stellte auch keine Fragen. Mir ging es gut – zuhause und im Dorf. Etwa mit drei Jahren brachte mich Vadder-Hans zu unserem Dorfpastor, Johannes Rohwedder, ‚Hannespaster‘ (wie man im Dorf sagte), ich sollte bei ihm gutes Hochdeutsch lernen, vor allem eine richtige Aussprache ohne Akzent. An vielen Vormittagen war ich bei ihm, so von neun bis halb elf; er hat mir vorgelesen – aus Büchern und aus der Zeitung – immer so spannende Sachen, dass ich bald Lust hatte, selber lesen zu lernen, und tatsächlich konnte ich schon fließend lesen, als ich eingeschult wurde.

Und Schach hat er mir beigebracht. Meine Faszination für dieses Spiel hat dort seine Wurzeln.

Bei Hannespaster lernte ich auch den Dorfschullehrer, Hauke Nielsen, kennen, der im Nebenamt die Orgel in der Dorfkirche schlug. Oft bin ich nachmittags mit dem Schulmeister in der Kirche gewesen, auf dem Orgelboden, neben ihm auf der Orgelbank. Sehr bald schon als Helfer beim Orgelstimmen, da ich kleiner Wicht viel besser als er an alle Orgelpfeifen herankam. Es dauerte nicht lange, bis ich die erste Orgeltaste anschlug. Dann, nach der Einschulung, begann ich, das Orgelspiel zu erlernen. Das kleine Orgelpositiv in meinem Arbeitszimmer begleitet uns schon durch all die Jahre – hier nahm es seinen Anfang.

Dann war da noch der Dorfschmied Lars Oldsen. Für die Bauern gab es als Schmied kaum noch etwas zu tun, so hatte er sich auf das Kunstschmieden verlegt: Gartenpforten und –zäune, Kerzenständer und Türbeschläge. So gern ich ihm beim Schmieden zusah, vielmehr reizte es mich, mit ihm jeden Sonnabend vor dem Abendläuten den Kirchturm zu besteigen und ihm beim Aufziehen der Uhrgewichte zuzuschauen. Und wie er das Uhrwerk pflegte. Nach seinem Tod wurde alles auf Elektrisch umgestellt, da besuchte ich bereits das Gymnasium. Und dann war da noch Hermann Christiansen, ein Dorfladen, wie es ihn heute nicht mehr gibt: alles konnte man bei ‚Hermann Höker‘ kaufen. Und wenn er mal etwas nicht da hatte, besorgte er es für den nächsten Tag. Zu den offiziellen Ladenöffnungszeiten kam man „von vorne“ in seinen Laden, nach Ladenschluss ging man einfach zur Wohnungstür rein und wurde selbstverständlich bedient. Mich faszinierte seine alte Gewichtswaage: auf der einen Seite die Ware, auf der anderen die Gewichte – bis runter zu 1 Gramm.

Ich war in keiner Kindertagesstätte, aber ich lebte in einem Garten, der für mich als Kind paradiesisch war. Ich vermisste nichts, - auch nicht meine leibliche Mutter. Nicht einen Gedanken verschwendete ich auf sie. Und von Vaterfiguren war ich ringsum umgeben, sodass mir mein leiblicher Vater überhaupt nicht in den Sinn kam, zumal ich auf Beide nicht angesprochen wurde.

Das änderte sich kurz vor meinen ersten Sommerferien. Meine Eltern eröffneten mir, dass ich in diesen Ferien für 14 Tage zu Tante Lisa, der Schwester meines Großvater-Vaters, nach Amrum zur Erholung sollte. Wir hatten Tante Lisa in ihrem Ferienheim für Kinder auf Amrum schon mehrmals besucht, nun aber sollte ich allein dort weilen, da – und jetzt kommt’s - sie, Vadder-Hans und Modder-Mia