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André Kubiczek

Junge Talente

Roman

Leseprobe: Das fabelhafte Jahr der Anarchie

Fünf Tage nachdem wir sie gewaschen hatten, flatterte die Wäsche noch immer auf der Leine im Hof. Sie war jetzt dreimal getrocknet und zweimal wieder nass geworden vom Frühlingsregen, der am Sonntag und am Dienstag in leichten Tropfen niedergegangen war. Wir hatten in der Küche eine gelbe Wäscheleine gefunden und sie sechsmal quer über den Hof gespannt. Ein bisschen sah es aus wie in einer Werbung des Westfernsehens, wo Hunderte Meter Wäscheleine über die grüne Wiese gezogen und bestückt waren, um die formidable Ausdauer eines Waschpulvers zu veranschaulichen.

Nun war es Mittwoch geworden, und die Sonne schien schon wieder den ganzen Tag. Die großen bunten Blumenmuster auf Bettwäsche und Tischdecken und das synthetische Glitzern der Dederon-Hemden von Ulrikes Opa standen in einem prächtigen Kontrast zum Grün des Unkrauts, das in den letzten Tagen noch ein paar Zentimeter zugelegt hatte und nun schon bis an die aufgehängten Laken und Bettbezüge stieß.

In sattem Gelb blühte der Löwenzahn, und die Wäsche roch jetzt nicht mehr nach Tod und auch nicht mehr nach Wofalor, sondern nach Wiese und Sonne und einen Tick nach Wald, und immer, wenn eine etwas steifere Brise über den Hof wehte, fing der ganze grelle Stoff laut zu knattern an, sodass die Hühner ihre Köpfe hoben.

«Das lassen wir jetzt für immer hier hängen», sagte Ulrike, «und wenn wir was brauchen, nehmen wir’s einfach von der Leine, und wenn es schmutzig ist, hängen wir’s wieder hin, und den Rest erledigt die Natur für uns. – Dann kriegste nämlich auch keine Gehirnerschütterung mehr beim Schleudern, du armer Ändie.»

«Das ist überhaupt das beste Argument für einen Freiluftkleiderschrank», sagte ich, denn beim Schleudern der vielen Waschmaschinenladungen hatte ich mir tatsächlich fast die Arme ausgerenkt. Ein fieses Ding war diese Höllenmaschine, die ganz harmlos in der Waschküche herumgestanden hatte. Kaum mit Muskelkraft zu bändigen, sprang sie auf und nieder und brach auch zur Seite weg. Dabei stand sie eigens auf einem aufgepusteten Gummiring, der ihre aggressiven Schwingungen dämpfen sollte.

Jetzt, da die zweite Woche unseres Landaufenthaltes angebrochen war, packte uns beide plötzlich das schlechte Gewissen. Genauer gesagt, exakt am Montagmorgen hatte es zugeschlagen, zu einer Zeit, in der die normalen Menschen nach dem Wochenende wieder zur Arbeit marschierten.

Wir studierten nicht mehr in Berlin, aber wir brachten auch nicht Haus und Hof auf Vordermann, was unsere Entschuldigung gewesen war, mindestens dieses Semester ausfallen zu lassen. Noch nicht mal über Konsequenzen hatten wir uns ernsthafte Gedanken gemacht. Ob wir vielleicht von der Universität fliegen würden oder ob die formlosen Anträge auf ein Urlaubssemester, die wir gestellt und mit der Post verschickt hatten, der Verwaltung genügten. Oder aber bestenfalls die Verwaltung nicht einmal interessierten, weil die Verwaltung ja Wichtigeres zu tun hatte in diesen Tagen, als ihre Studenten penibel zu beaufsichtigen. So wie alle anderen im Land ja auch was Besseres zu tun hatten, als ihre angestammten Tätigkeiten fortzuführen.

Jedenfalls nahm Ulrike am Montag, gleich nach dem Frühstück, eine alte Rezept-Kladde aus dem Küchenbuffet und einen Bleistift zur Hand. Sie setzte eine wichtige Miene auf, und dann spazierten wir zwei Stunden lang durchs Haus und über den Hof. Wir besichtigten die Stallungen und die Scheune und den Dachboden, auf den man durch eine Luke klettern konnte. Wir gingen auf die Dorfstraße hinaus und begutachteten das Haus von dort. Wir versuchten, es mit den Augen der Dorfbewohner zu betrachten und stellten fest, dass unser Haus sehr grau aussah. Wenigstens aber schien der Putz noch intakt zu sein. Der Anstrich der Fenster allerdings begann abzublättern, und der Kitt, der die Scheiben in den Rahmen hielt, war spröde und fiel bröckelnd heraus, als ich mit dem Fingernagel daran herumpulte. Das Dach dagegen hatte der Großvater kurz vor seinem Tod erneuern lassen, genauso wie die Regenrinnen und Fallrohre.

All das notierte Ulrike mit pedantischer Handschrift in ihre Kladde, und am Abend, als wir in der Küche beschlossen, zuerst die Zimmer zu streichen und danach die Fenster zu reparieren, hatten wir beide das Gefühl, etwas Wichtiges getan zu haben, was sich nicht auf das Schwänzen von Seminaren reduzieren ließ.

 

«Weißte was, Ändie, die Hühner haben es auch nicht schön bei uns», sagte Ulrike am Dienstagabend und guckte traurig in die Kerze auf dem Küchentisch.

«Denen geht’s doch prima», sagte ich und ließ eine geschälte Kartoffel in den Topf fallen, wo schon eine Handvoll anderer Kartoffeln lag. «Die toben durchs Unkraut, und über ihnen hängt ein bunter Wäschehimmel. Das ist für die wie ein Urlaub in den tropischen Wäldern der Südsee.»

Bevor Frau Domaschkes Sohn gekommen war, um unsere vier Hühner zu liefern, die platt gedrückt in der abgedeckten Brötchenstiege kauerten, zitterten und vor lauter Furcht keinen Piep sagten, hatten wir den größten Dreck aus dem alten Schweinekoben gefegt. Wir hatten den harten Steinboden mit einer dicken Schicht aus duftendem Heu ausgepolstert, von dem es in der Scheune noch ganze Berge gab.

Herr Domaschke hatte die Stiege in den Koben getragen, den Pappedeckel entfernt, uns einen kurzen Blick hineinwerfen lassen und dann die Hühner unwirsch ins Heu gekippt. So wie seine Mutter jeden Tag die angelieferten Konsumbrötchen in die Konsumbrötchen-Auslage schüttete, dachte ich. Oder wie man einen Eimer mit dreckigem Wischwasser in den Gully entleerte. Mit einem geknurrten Grußwort war er rasch wieder vom Hof verschwunden. Wir hatten noch ein paar Minuten die erschrockenen Tiere betrachtet und waren dann leise davongeschlichen.

Als wir am Abend mit kleingeschnittener Brotrinde und gekochten Nudeln wiederkamen, wackelten die Hühner schon aufgeregt durch ihr neues Heim, und sie gaben dabei kehlige Töne von sich.

Am nächsten Morgen öffneten wir den Koben, und die vier kamen vorsichtig heraus. Wir ließen sie laufen, wohin sie wollten, und sie liefen zur Wiese hinüber, wo sie zu picken begannen und gar nicht mehr damit aufhörten, und als sie doch genug davon hatten, kamen sie langsam zurück. Sie durchquerten die Einfahrt und dackelten in die entgegengesetzte Richtung, hinaus auf die Dorfstraße.

Mir schien, als blickten sie ein ums andere Mal sehnsuchtsvoll die Straße hinunter, dort, wo gleich hinter der Biegung am Heidekrug Frau Domaschkes Hühnerhof lag. Ihre alte Heimat. Aber ich erzählte Ulrike nichts davon, denn ich wollte auf keinen Fall ihr schlechtes Gewissen wecken.

«Wir müssen den Hühnchen noch Namen geben», sagte Ulrike, «oh, und Ändie, mach bloß kein Salz an die Kartoffeln, das vertragen die Kleinen nicht.»

«Man gibt Tieren keine Namen, wenn man sie später essen will», sagte ich und setzte den Kartoffeltopf auf die Herdplatte.

«Was du immer redest!»

«Irgendwann hört jedes Huhn auf, Eier zu legen. Und was ist dann?»

«Mensch, jetzt lass die armen Hühner in Ruhe, die haben ja noch nicht mal angefangen, Eier zu legen», sagte Ulrike.

«Frau Domaschke hat gesagt, dass nicht jedes Huhn jeden Tag ein Ei legt.»

«Dass sie’s nicht jeden Tag können, seh ich ja ein, aber unsre Hühner sind jetzt fünf Tage hier, und keines von denen hat auch nur ein einziges Ei gelegt.»

«Vielleicht hast du die Eier nur nicht gefunden.»

«Das sind Hühner, Herrgott, keine Osterhasen!»

«Oder sie sind wirklich schon zu alt und gehören längst in den Topf.»

«Fang nicht schon wieder an, Freundchen», drohte Ulrike, «die sind höchstens zu jung und unerfahren.»

«Mal ehrlich, Ulli, was willst du denn anfangen mit einem alten Huhn, das zu nichts mehr taugt. Willst du’s an die Leine nehmen und Gassi gehen?»

«Icke mach schon gleich gar nichts damit», sagte Ulrike, «das regeln die Tiere ganz alleine.»

«Und bitte wie?»

«Die wandern nach Bremen aus. Und unterwegs machen sie Musike im Wald.»

«Stimmt», sagte ich, «das geht ja jetzt wieder.»

 

Wir öffneten uns ein Bier und rauchten eine Zigarette, und als die Kartoffeln weich gekocht waren, nahmen wir acht von ihnen ab, für jeden von uns vier, taten sie in tiefe Suppenteller und bestreuten sie mit Salz und Pfeffer und ließen dann kleine Butterstückchen auf ihnen schmelzen, bevor wir sie mit Löffeln zerkleinerten und zusammen mit etwas Petersilie, die wild im Garten wuchs, verspeisten.

Als wir das Essen beendet hatten, stampfte ich den Rest der Kartoffeln zu Brei, und Ulrike rührte noch einen halben zerschredderten Salatkopf unter.

«Wegen der Vitamine.»

«Wir könnten auch ein paar Vitamine vertragen», sagte ich.

«Vitamine braucht man erst im Alter», entgegnete Ulrike, «oder wenn man ein hilfloses Tier ist, das schreckliche Legehemmungen hat. Bei uns, Ändie, reicht noch die Liebe. Das hoffe ich jedenfalls für dich.»

Ulrike warf sich die Strickjacke über und nahm die Taschenlampe, ich schnappte mir den Topf mit dem Kartoffelmatsch, und dann gingen wir rüber zum Schweinekoben, um die Hühner zu füttern. Weil die Kartoffeln noch dampften, als ich den Deckel lüftete, fing Ulrike an hineinzupusten, damit sich die armen Tiere nicht die Schnäbel verbrannten. Sie rührte mit einem Löffel durch den Brei und pustete, sie rührte und pustete, und ich wusste in diesem Moment wirklich nicht, ob sie das ernst meinte oder mich auf den Arm nahm. Aber da sie gar nicht mehr aufhören wollte mit Rühren und Pusten, sagte ich irgendwann dann doch: «Ulli, das ist lächerlich, wir füttern hier doch keine kleinen Kinder», und Ulrike zog den Löffel aus dem Brei, leckte ihn ab und sagte: «Da haste allerdings recht.»

Wir sahen den Hühnern eine Weile beim Fressen zu, dann beschlossen wir, noch eine Runde durchs Dorf zu drehen. Doch wir kamen nur bis zum Krug, vor dem der Wirt höchstselbst stand, um etwas von der frischen Nachtluft zu schnappen. Wir grüßten ihn, aber als er bemerkte, dass wir weitergehen wollten, sprang er uns in den Weg und redete wild auf uns ein, sodass wir schließlich unseren Spaziergang aufgaben und uns an den Tresen seiner Wirtschaft komplimentieren ließen.

«Ihr seht ja selbst, was hier los ist», sagte der Wirt, als wir uns gesetzt hatten, und er wies in die Gaststube, wo nur ein einziger Tisch mit drei Skatspielern besetzt war.

«Nur freitags ist hier richtig Remmidemmi, kommt doch mal am Freitag her, Kinder. – Wohlsein!» Er stellte drei Korn auf den Tresen, stürzte das eigene Glas sofort hinunter und sagte: «Ich will ja nicht jammern, aber …» Und er tat in den folgenden Minuten genau das, was er doch eigentlich nicht wollte. Er klagte über den plötzlichen Geiz der Neu Buckower, die weiterhin tranken, aber nicht mehr im Krug wie früher, sondern allein, in ihren vier Wänden. Nur zu Beginn des Wochenendes kamen sie noch in Strömen. Auch Frau Domaschke im Konsum habe mit diesem Geiz aus Vorsicht zu kämpfen, seit die Leute lieber zum frisch eröffneten Supermarkt nach Senftenberg fuhren, statt bei ihr zu kaufen. Denn keiner wisse ja genau, was komme, alle hätten sie Angst.

«Darum ist es immer so leer im Konsum», sagte ich.

«Na sdarovje», sagte der Wirt, und wir stießen wieder an. Und dann beschwerte er sich über die neue Zeit und über die alte, doch mit diversen Schnäpsen auf seine eigene Rechnung hielt er uns noch eine Weile am Tresen, so lange, bis uns schwindelig war.

Schon um einiges vor zwölf aber wünschten wir ihm eine gute Nacht und wankten ineinander verhakt nach Hause, wo wir im Schlafzimmer unverzüglich zu frieren begannen. Denn mal wieder hatte keiner von uns beiden geheizt, obwohl der Kachelofen doch längst repariert worden war.

6

Als Ulrike am Donnerstag mitbekam, dass morgen ein Freitag der 13. war, geriet sie in helle Aufregung. Arnd hatte sich also für einen Unglückstag angekündigt. Ganze drei Mal liefen wir zu Frau Domaschke in den Konsum hinüber, um zu fragen, ob ein Telegramm für uns eingetroffen sei. Aber Frau Domaschke musste jedes Mal verneinen. Auch dass Ulrike ihre Eltern nicht per Telefon erreichte, trug nicht eben zu ihrer Beruhigung bei.

«Wahrscheinlich sind sie arbeiten», sagte ich.

«Letztens war Mutti auch zu Hause, und das mitten in der Woche.»

«Das war nicht mitten in der Woche, sondern am Freitag. Kennst du nicht den alten Spruch: Freitag um eins macht jeder seins.»

«Aber doch nicht unsere Eltern an ihrer Akademie», sagte Ulrike, «das ist ein Arbeiterspruch. Und einer für Handwerker.»

«Vielleicht hat sie letzten Freitag Haushaltstag genommen.»

«Gibt’s den noch?», fragte Ulrike.

Wir wussten es beide nicht.

Aber zu einer wichtigen Erkenntnis brachte uns der Besuch bei Frau Domaschke durchaus. Sie betraf unser störrisches Geflügelquartett, das sich einen weiteren Tag geweigert hatte, Eier zu legen.

«Nährstoffmangel möglicherweise?», sagte Frau Domaschke mit wenig überzeugter Stimme, als Ulrike ihr von den defekten Hühnern erzählte.

«Und am Heimweh kann’s nicht liegen?», sagte Ulrike. Und statt Frau Domaschke sah sie mich dabei an, wie um mein Mundwerk zu bannen, und fuhr dann ein wenig leiser und wieder an Frau Domaschke gewandt fort: «Ick hab nämlich beobachtet – und das ist jetzt keine Spinnerei –, wie die Hühner jeden Nachmittag durchs Hoftor rausschlüpfen und dann ganz traurig die Straße entlanggucken, und zwar genau in Ihre Richtung, Frau Domaschke. Als ob die Biester genau wissen, was gespielt wird.»

«Ach i wo, Kindchen …», sagte Frau Domaschke und lachte leise vor sich hin. Sie riet uns, auf dem Hof nach Säcken mit Kraftfutter zu suchen, die mit Sicherheit noch irgendwo dort herumstünden. Denn Ulrikes Opa selbst hätte lange Zeit Hühner gehalten, deren Eier der Konsum regelmäßig ankaufen musste, weil er nicht wusste, wohin damit.

«Wo sind denn Opas Hühner?»

«Ich hab sie aufgenommen damals», sagte Frau Domaschke, «die standen doch plötzlich alleine da, hatten doch niemanden, und deine Eltern waren froh, dass sie eine Sorge los waren bei dem ganzen Trubel.»

«Danke, Frau Domaschke», sagte Ulrike, «das war lieb von Ihnen», und sie tätschelte kurz Frau Domaschkes alte, faltige Hand, die von der vielen Arbeit ihres Lebens aussah, als sei sie aus Leder.

«Dann haben wir also vier von den Hühnern deines Großvaters zurückgekauft», sagte ich, als wir über die Dorfstraße zurück nach Hause gingen.

«Und wennschon», sagte Ulrike, und anders als ich schien sie sich kein bisschen darüber zu ärgern. «Das macht mich alles ganz kirre, Ändie», sagte sie, als wir uns wenig später in die Küche gesetzt hatten, um einen Nachmittagskaffee zu trinken. «Keine Nachricht von Arnd, die Eltern verschwunden, Freitag der 13. steht vor der Tür, und dieser vermaledeite Spiegel hängt ja auch noch wie ein Damoklesschwert über uns.»

«Ach Ulli, jetzt hör aber auf!»

«Doch, ich meine es ernst: Ich muss hier weg, und zwar augenblicklich», sagte Ulrike und sprang so ungestüm vom Tisch auf, dass der Kaffee über die Tassenränder schwappte und sich aufs Sprelacart ergoss.

«Aber wieso denn weg?», fragte ich.

Ich musste ziemlich entgeistert ausgesehen haben, denn nach drei, vier Sekunden, in denen wir uns stumm anstarrten, ging Ulrike ein Licht auf, und sie sagte: «Ey, Ändie, ick meine doch nur: Mal raus aus dem Dorf. Für heute! Ist doch kein Grund, gleich zu gucken wie ’n Kalb auf der Streckbank. Komm, wenn wir uns beeilen, schaffen wir noch den Bus um halb nach Senftenberg.»

«Mensch, Ulrike!», sagte ich, erleichtert, dass keine größeren Entscheidungen von mir verlangt wurden, etwa ein spontaner Umzug nach Berlin, und dann: «Wir kommen frühestens halb drei mit dem Bus von hier los, und wenn wir in Senftenberg sind, ist es vielleicht halb vier. Um sechs machen die Läden dicht. Das lohnt sich nicht mehr. Lass uns lieber morgen früh …»

«Du musst ja nicht», unterbrach mich Ulrike und blieb dabei die Liebenswürdigkeit in Person, «dann bleibste eben einfach hier. Kannst ja das Kraftfutter suchen. Und wenn du willst, fahren wir morgen früh noch mal zusammen los.»

«Und wenn ich das Kraftfutter gefunden habe», sagte ich, dankbar für Ulrikes Nachsicht, «kümmere ich mich um die Tapete im Wohnzimmer.»

«Dann besorg ich gleich ein bisschen Farbe.»

«Und was ist mit Tapete und Kleister und Andruckrolle und Bürste und einem Tapeziertisch?»

«Keine Tapete», sagte Ulrike.

«Ich meine ja auch keine Blümchentapete oder welche mit Muster, sondern Raufaser.»

«Wer macht sich denn schon Raufasertapete an die Wände?»

«Meine Eltern zum Beispiel.»

«Fällt dir was auf, Schätzchen?»

 

Ich brachte Ulrike zur Haltestelle am Ortsausgang, wo kurz nach halb drei der Schlenki nach Senftenberg hielt. Ulrike küsste mich auf die Stirn, zischend ging die Bustür auf, sie bezahlte ihren Fahrschein und rannte dann nach hinten zur Rückbank durch, von der aus sie mir zuwinkte, bis ich sie nicht mehr erkennen konnte.

Als der Bus verschwunden war, wurde mir ganz schwer ums Herz. Ich bereute es augenblicklich, Ulrike nicht nach Senftenberg begleitet zu haben, und als ich vor unserem Haus ankam, wo drei unserer vier Hühner auf der Straße standen und immer wieder in jene Richtung blickten, aus der sie vor wenigen Tagen in einer Brötchenstiege angereist waren, fiel mir ein, dass wir nicht mal eine Zeit ausgemacht hatten, zu der Ulrike im Dorf zurück sein wollte. Ich nahm mir vor, sie nie, nie, wirklich nie wieder alleine gehen zu lassen.

Um auf andere Gedanken zu kommen, machte ich mir ein Bier auf und begann, in der Scheune nach dem Hühnerfutter zu suchen. Ich fand zwei volle Säcke mit getrockneten Körnern, von denen ich zur Probe ein paar Handvoll in den Schweinekoben warf, doch ich lockte die Hühner nicht von der Straße weg, weil ich sie nicht in ihrem Heimweh stören wollten. Wir würden früh genug sehen, ob das Futter anschlug. Bis dahin genügten uns die Eier aus dem Konsum.

Stattdessen nahm ich einen Eimer mit Fitwasser und ein Handtuch und begann, die braune Tapete im Wohnzimmer anzufeuchten. Als ich später die Fetzen von der Wand kratzte, hätte ich gern etwas Musik gehört, aber wir besaßen hier weder ein Radio noch einen Rekorder. Es gab auch keinen Fernseher im Haus, und ich fragte mich, ob Ulrikes Großvater keines dieser Geräte besessen hatte oder ob nicht Frau Domaschke die Empfänger vorausschauend adoptiert hatte, um Ulrikes Eltern zu entlasten, so wie sie es schon bei den Hühnern getan hatte.

Mein eigener Plattenspieler und mein Radiorekorder standen noch in der Berliner Wohnung, und so war die einzige Musik, die mir in den letzten zwei Wochen zu Ohren gekommen war, Ulrikes Gesang, der sich derb, schief und sarkastisch anhörte, wenn sie wusste, dass ich zuhörte, und der lieblich und sanft klang, wenn ich ihm heimlich lauschte und mir ein wenig schäbig dabei vorkam.

Nur im Heidekrug lief manchmal Schlagermusik aus dem alten Röhrenradio, oder im Fernseher über der Theke kamen die aktuellen Nachrichten, über die sich die Männer am Tresen mit einer Inbrunst aufregten, als gäbe es noch etwas zu verlieren. So als wären nicht im März die Würfel gefallen. So als hätten sie die richtige Wahl getroffen damals.

«Die haben doch ganz andere Bedürfnisse als du oder ich, das sind ausgewachsene Familienväter, und ihnen läuft die Zeit weg», sagte Ulrike, nachdem ich behauptete hatte, dass man auch seines eigenen Unglückes Schmied sein könne. Die Chance dazu gebe es zwar nicht oft, aber dieses Volk hier, das sogenannte unsere, habe sie ergriffen und äußerst gründlich genutzt.

«Das Hemd ist einem manchmal eben näher als die Hose», setzte Ulrike den Reigen der Sinnsprüche fort.

«Viele Unglücksschmiede verderben aber eben auch den Brei, und das manchmal für alle.»

«Du klingst schon wie Arnd.»

«Wir sind ja auch Freunde», sagte ich, und zwar sagte ich das jedes Mal, wenn Ulrike behauptete, ich klinge wie ihr Bruder, was nicht eben selten geschah.

 

Um sechs Uhr hatte ich zwei der vier Wohnzimmerwände freigelegt und konnte nicht mehr weiterarbeiten. Ständig sah ich auf die Uhr, und ich malte mir die schlimmsten Dinge aus, die Ulrike in der Stadt zugestoßen sein mochten, einer Stadt, die ich noch nie in meinem Leben betreten hatte. Ich beschloss, zur Haltestelle zu laufen, um nachzusehen, wann der letzte Bus aus Senftenberg in Neu Buckow ankäme.

Der Abend draußen war frisch, und es lag ein Geruch von gegrilltem Fleisch in der Luft, der mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Weil ich nichts fürs Abendbrot vorbereitet hatte, nahm ich mir vor, Ulrike nachher in den Krug einzuladen.

Die Busse fuhren einmal in der Stunde Richtung Senftenberg ab, und sie kamen einmal in der Stunde von dort wieder in Neu Buckow an, der letzte um siebzehn Minuten nach neun. Da es gerade viertel sieben war, beschloss ich die Ankunft des nächsten Busses abzuwarten und in einer Stunde wiederzukommen, falls Ulrike nicht darinsäße.

Als die Rücklichter des Ikarus-Schlenkis in der Dämmerung kleiner wurden, ging ich zurück ins Dorf. Mir schien, als sei der Grillgeruch stärker geworden, was vielleicht nur daran lag, dass mir jetzt der Magen knurrte wie ein böses Tier. Ich musste gar nicht erst überlegen hineinzugehen, meine Füße trugen mich wie von selbst in den Krug, wo ich eine Bockwurst bestellte und ein Bier.

Der Wirt fragte nach Ulrike, und ich erzählte ihm, dass sie in die Stadt gefahren sei, um Besorgungen zu machen. Ich aß die Bockwurst und trank das Bier, und weil es noch so lange hin war, bis der nächste Bus kam, trank ich noch ein Bier. Um zehn nach sieben stand ich wieder an der Haltestelle und wartete, und um zwanzig nach saß ich wieder im Krug, alleine und vor einem weiteren Bier, um mir die Zeit bis zur Ankunft des nächsten Busses zu vertreiben.

Eine Stunde später passierte das Gleiche noch einmal, und als Ulrike um kurz nach viertel zehn aus dem letzten Bus des Tages stieg, konnte ich kaum noch gerade stehen und mir nur mit großer Mühe die Tränen der Erleichterung verkneifen, die ziemlich locker in meinen Augenwinkeln saßen. Ulrike setzte ihre Taschen ab, der Bus entschwand in der Dunkelheit, und ich packte sie und drückte sie an mich und ließ erst wieder los, als sie sagte: «Junge, Junge, du hast aber ganz schön einen im Tee.»

Ich versuchte ihr zu erklären, warum ich so froh war, sie wieder bei mir zu haben, und auch warum ich so viel getrunken hatte, aber meine Zunge verhedderte sich ein ums andere Mal in den Worten der Rechtfertigung.

«Das ist wirklich sehr schön, dass du mich so gerne hast», sagte Ulrike ganz langsam. Dann nahm sie die Netze und Tüten und verschnürten Bündel auf, die sie aus den Läden Senftenbergs mitgebracht hatte, und wir gingen los. «Und weißte was, Ändie, deshalb hab ich dir auch was Kleines mitgebracht, aber das gibt’s erst morgen früh, denn zu Hause gehn wir gleich ins Bett. Du weißt ja: Morgen ist Freitag der 13., und da müssen wir ausgeschlafen sein.»