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Für Daniel

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-8270-7733-2

März 2014

© 2014 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

»Die Zivilisation ist das Allerletzte.«

Mathias Hartmann

»Up on a hill is where we begin

This little story a long time ago

Stop to pretend, stop pretending.«

The Strokes

The Modern Age

Ich gebe Gas.

Vor mir liegen meine blutigen Hände in vorschriftsmäßiger Zehn-vor-zwei-Stellung auf dem Lenkrad. Das Blut gehört Tim, einem Jungen aus dem Nachbarort. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, auf Marias Schoß. Sie drückt ein nasses Tuch gegen seine Nase und sagt immer wieder, dass es ihr leidtut. Dabei war ich der Schütze. Aber mir tut es ja auch nicht leid. Es war schließlich eine Schlacht, und Schlachten fordern Opfer. Tim und seine Freunde haben uns angegriffen und wir haben zurückgeschlagen, so läuft das Spiel. Und heute haben vier zehnjährige Indianer diese Lektion gelernt. »Oh Mann, Flieger, du kannst es einfach nicht lassen …«, hat Jan gesagt und dabei gegrinst.

Tim heult und sagt, dass er nicht sterben will. »An einer gebrochenen Nase stirbt man nicht«, versucht ihn Maria zu beruhigen. »Mama«, wimmert er. »Wenn wir im Krankenhaus sind, rufe ich sie an«, sagt sie, streicht ihm über die Wangen und verschmiert dabei seine Kriegsbemalung. »Wie lange dauert es noch?«, schluchzt er. Ich will antworten, dass es nie aufhört, und sage: »Da vorn ist der Parkplatz.«

Erster Teil: Sommerferien

1

Ich bin ein großer Fan der Tierwelt. Darum sehe ich im Fernsehen am liebsten Dokumentationen, in denen Löwen mit Krokodilen um das letzte Wasserloch kämpfen, Eisbären Robben reißen, Kakadus umeinander balzen oder der Schlammspringer, so ein merkwürdiges Hybridwesen, Löcher in seinen morastigen Lebensraum frisst.

Gerade beobachte ich in gestochen scharfen Bildern die Geburt von acht Stachelschweinbabys und bin zu gleichen Teilen gerührt wie angewidert.

Das pralle Leben flimmert über den Bildschirm, und ich hänge als blasses Gegenstück auf dem Sofa, zwirble meinen Schwanz und das Schamhaar, lutsche alte, hart gewordene Gummibärchen.

In dem Moment, als ein Leopard ein Gnu zerfleischt, läutet das Telefon, und ich bin richtig sauer und will es ignorieren. Aber ein kleiner Funke Gespanntheit lässt mich schließlich doch aufstehen und den Hörer abnehmen.

»Hallo.«

»Hallo Max, ich bin’s, Papa.«

Ich ziehe meine Hand so schnell aus der Hose, dass ich mir selbst einen leichten Kinnhaken verpasse. Ich muss mir unbedingt ein moderneres Telefon besorgen. Eine Rufnummernerkennung macht definitiv Sinn.

»Papa, hallo.«

»Was macht der Lehrer in den Ferien?«

Ich könnte versuchen, mich wieder zu verlieben, oder einfach nur so mit jemandem Sex haben. Ich könnte verreisen. Nach Neapel oder Wien oder Lissabon. Alles Städte, in denen ich noch nie war. Valentin sagt, dass das traurig ist.

Ich könnte die Nachbarjungs fragen, ob sie mich auch mal mit ihrer Gaspistole schießen lassen, zum Beispiel in ihre Stereoanlage, die mich jede zweite Nacht mit Dubstep in den Wahnsinn treibt. Ich könnte endlich kündigen, selbst Dubstep auflegen und die Nachbarn einladen, darauf hoffen, dass sie Freundinnen mitbringen würden. Freundinnen, mit denen man einfach so Sex haben könnte.

Ich könnte mich einfach mal bewegen.

»Nix eigentlich«, sage ich.

»Aha«, sagt mein Vater.

Wir räuspern uns beide und ich bemerke, dass meine Hand schon wieder in der Unterhose herumfummelt, ohne dass ich sie bewusst dahin gesteuert habe.

»Sonst geht’s dir aber gut?«

»Eigentlich schon, ja.«

»Eigentlich?«

»Es geht mir gut.«

Mein rechter Hoden kommt mir leicht vergrößert vor.

»Max?«

Wieder ziehe ich meine Hand aus der Unterhose und mache diesmal eine präventive Faust.

»Bist du noch dran?«

»Ja, bin noch dran … und Mama, wie geht’s der?«

»Der geht’s gut. Gießt gerade Blumen.«

Wir räuspern uns noch einmal, und ich ixe die Beine, schiebe die Hüfte nach vorne, ein Knacken im Rücken.

»Du hast also noch keine Pläne für den Sommer?«

»Nein, nichts Konkretes bis jetzt.«

»Das ist gut.«

»Wieso?«

»Also es ist so: Mama und ich wollen zwei Wochen wegfliegen, nach Kreta. Du müsstest solange auf Lio aufpassen.«

»Oh.«

»Ja, Brückners sind zur gleichen Zeit im Urlaub, und genau genommen ist es ja dein Hund.«

Ich starre in ein Staubnest zwischen den Kabeln am Boden.

»Maximilian?«

»Ja, Papa. Ab wann denn?«

»Nächsten Montag.«

»Okay.«

In seinem Hintergrund ruft meine Mutter, in meinem brüllt ein Leopard.

»Du bist ihr Schatz.«

»Ja.«

»Ich kann mich drauf verlassen?«

»Sicher.«

»Schön. Also, bis nächste Woche.«

»Bis nächste Woche, Papa.«

»Ach, und, Max …«

»Ja?«

»Der Fernseher ist viel zu laut.«

Meine Eltern wissen, dass nicht viel mit mir los ist. Normalerweise beunruhigt sie das, gerade sind sie wohl glücklich darüber. Ich stelle den Fernseher auf volle Lautstärke. Das Traben eines Nashorns wummert bis ins Mark.

2

Ich ziehe alle Stecker, gebe den Pflanzen frisches Wasser und schließe zweimal ab.

In der Straßenbahn stinkt es nach Pisse, Bierflaschen rollen in den Kurven über den Gang, ein verdrecktes Trikot ist um eine Haltestange geknotet.

Am Sielwall funkeln Scherben auf dem Kopfsteinpflaster, ein Fahrradkurier fährt quer über die Gleise.

Es ist nicht Valentin.

Der Straßenbahnfahrer klingelt ihm verärgert hinterher.

Der ICE rollt über flaches Land. In Niedersachsen halten wir auf einer Brücke, Signalstörung, eine Gruppe Kanuten winkt aus dem Strom nach oben.

Als ich zwischen Fulda und Hanau aus einem gekrümmten Schlaf erwache, schaue ich in die Augen eines popelnden Kindes. Es sitzt schräg gegenüber und isst den Schnodder. Sein Blick ist tief und böse.

Das Ende der Sommerferien macht mir Angst.

Frankfurt am Main und seine Hochhäuser rücken näher, ich schiebe die DVD in den Rechner: Jacques Cousteau steht am Bug der Calypso und blickt auf den Ozean.

Mit jedem Halt werden die Bahnhöfe kleiner, die Berge immer höher.

Der Schaffner kontrolliert mich. Er spricht den regionalen Dialekt und hat eine leichte Fahne. Vor den Fenstern wirbeln Pollen, fällt der dichte Nadelwald in Schluchten. Ich sehe Radfahrer auf steilen Straßen, die sich etwas beweisen wollen. Frisch geschorene Schafe dösen am Hang, die Sonne steht hoch und scheint auf meine nackten Beine. Kurz überlege ich mich einzucremen. Als würde ich in den Urlaub fahren.

Die Gleise verlaufen im letzten Streckenabschnitt parallel zu einem schmalen Quellfluss der Donau. Als ich ihm das letzte Mal beim Fließen zugesehen habe, war der Pegelstand sehr niedrig und die Algenpopulation enorm.

Vor noch viel längerer Zeit spielten Maria und ich vom Ufer aus »Wer weiter spucken kann«. Ich brachte ihr bei, wie man richtig rotzt.

Nach regelmäßigem Training versaute sie Stockenten mit nur einem Versuch das Gefieder.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Mein Vater trägt einen Hut, meine Mutter ein Kleid. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je ein Kleid getragen hat. Es flattert im Wind.

Ich sitze breitbeinig auf der Rückbank. Mein Vater steuert den Kombi, wie immer etwas zu schnell, die kurvige Straße hinauf zu unserem Haus. Es ist das letzte Gebäude im Ort, dann beginnt der Wald, in dem so viel passiert ist. Da habe ich zum ersten Mal geraucht, zum ersten Mal gefickt und einmal fast einen umgebracht.

Die Nacken meiner Eltern sind braun. Der meines Vaters ist sauber ausrasiert, bei meiner Mutter erkenne ich zwei lange, schwarze Haare. Eines davon sprießt aus einem Leberfleck.

Dicht gewachsener Wein, nirgends schimmert die Wand durch. Hinter der Terrassentür steht der Hund, bellt und wedelt mit dem Schwanz, der mir viel länger vorkommt als sonst.

Lio springt an mir hoch und meine Mutter ruft: »Pfui, sei brav.« Fiepend tappt er zwei Schritte rückwärts. »Schön, dass du da bist«, sagt sie und schaut mich an, streicht mir zärtlich über die Wange. Ihre Hand ist kalt und rau vom vielen Saubermachen. Eine Putzfrau kommt für sie nicht in Frage. Wenn man weiß, dass man den Dreck selbst wegmachen muss, bleibt man ein ordentlicher Mensch, davon ist sie überzeugt. Mein Vater öffnet die Terrassentür, und sofort summen ein paar Insekten ins Haus. Sonst ist es still. Es ist so still, dass man es mit der Angst zu tun bekommen könnte.

Barfuß stehe ich auf den warmen Holzplanken der Terrasse und luge auf mein Handy: Nur Notrufe.

Meine Mutter trägt Kaffee und Linzer Torte an den Tisch. »Ganz frisch«, sagt sie und schneidet sechs Dreiecke ins Rund. Sie hofft, dass ich mehrere Stücke esse. In ihren Augen bin ich immer zu dünn. Es macht sie glücklich, mich essen zu sehen. Lio streckt sich in der Sonne, seine Flanke hebt und senkt sich und ich gleiche meine Atmung seinem Rhythmus an. Bienen und Hummeln tauchen in den Blumenkelchen um uns herum, für Wespen ist es noch zu früh. »Schön, dass du da bist«, sagt meine Mutter noch einmal und schiebt sich eine Gabel in den Mund. »Wir fahren so gegen sieben«, informiert mich mein Vater. Ich nicke und leere die Kaffeetasse in einem Zug.

Peng!

In der Ferne knallt es. Lio hebt den Kopf, gähnt, lässt den Kopf wieder sinken. Vielleicht ist es sein letztes Jahr, immerhin ist er schon vierzehn. Als er drei war, gaben wir ihn mal für einen Urlaub ins Heim. Während wir im Ijsselmeer segelten, bekam er ein Magengeschwür.

Peng!

Erneut knallt es und dieses Mal zucke ich zusammen und Lio knurrt.

»Da jagt wohl einer«, sagt mein Vater.

Um halb acht sind meine Eltern immer noch nicht weg und diskutieren über Badetücher. Bald schon winkt mein Vater ab: »Ach Claudia, mach doch, was du willst.«

Mit dem Gong der Tagesschau schließe ich endlich die Tür hinter den beiden. Sie hupen im Wegfahren. Auf die Nachrichten folgt eine der Expeditionen ins Tierreich.

Gegen Mitternacht tippe ich eine Mail an Valentin, lade ihn ein, begreife, dass zwei Wochen eine lange Zeit sind. Anschließend hole ich mir Bier und Schokolade aus der Vorratskammer und werfe mich zurück auf die graue Ledercouch. Ich überlege, ein Vollmilchquadrat aus der Tafel zu knacken und es weit zwischen die Polster zu schieben, einen klebrigen Schatz zu verstecken, über den meine Mutter erschrecken und hinwegkommen wird.

Durch die Glastür sehe ich in den Flur. Lio liegt zusammengerollt im Körbchen. Ich denke daran, dass er bald sterben wird.

Als ich um 3 Uhr früh hochschrecke, muss ich mir Spucke vom Mund wischen, eine ganze Menge ist ins Kissen gelaufen. Ich fahre die feuchte Stelle mit den Fingern nach, rieche daran und erinnere mich dabei an Jan Kranig, der mir beim Räuber und Gendarm einmal volle Hacke ins Gesicht gespuckt hat, genau zwischen Oberlippe und Nase.

Im Fernsehen läuft die Wiederholung einer Talkshow. Eine schluchzende Frau ist an einen Lügendetektor angeschlossen.

Wenige Minuten später bin ich in den Bademantel meines Vaters geschlüpft und stehe mit einer Taschenlampe in unserer Garage. Es gibt auch ein Oberlicht hier drin, aber das würde mir jetzt die Stimmung, den Entdeckerdrang, verderben. An der Decke hängt Papas ausrangiertes Surfbrett, ein Relikt aus seiner Jugendzeit, von dem ich schon immer fand, dass es nicht zu ihm passt. Ich leuchte am Boden entlang in den hinteren Teil des Raums, bis der Strahl mein BMX erfasst, und bin froh, dass es immer noch hier herumsteht. Claudia und Hans konservieren eher, statt zu konsumieren.

Zum Zwitschern früher Vögel schlafe ich im Doppelbett meiner Eltern erneut ein.

3

Ich wache auf. Die Uhr sagt Mittag. Im Zimmer ist es heiß und ich spüre ein leichtes Ziehen im Hals. Ich drücke auf den Schalter, und die Rollläden fahren nach oben. Der Himmel ist noch eine Nuance blauer als gestern.

Vor der Schlafzimmertür höre ich den Hund auf und ab tapsen. Es ist höchste Zeit für ihn.

Wir laufen zwischen Mais und Wald, unser Schritt ist zügig. Ein Specht hämmert, und in einiger Entfernung sind die Sägen von Waldarbeitern zu hören. Nach einer Viertelstunde erreichen wir die Bank, zwei dicke Fliegen hocken übereinander auf der abgenutzten Sitzfläche, flüchten, als mein Schatten das Holz trifft. Lio macht Platz und lässt zufrieden die Zunge baumeln. Ich überprüfe die Lehne:

M.M.J.K.H.

Unsere Initialen sind geblieben.

Wie alle richtigen Kinder hatten wir früher eine Bande. Wir, das waren Maria, ich und Jan, Konrad, der später mit seiner Mutter nach München zog, weil die es nicht aushielt, dass der Vater eine andere geschwängert hatte, und Heike, die mit vierzehn starb, ein Schlaganfall im Schlaf, ein später, plötzlicher Kindstod, hieß es, aber ich zweifelte immer daran, denn Kinder haben keinen Busen.

Täglich streunten wir durchs Dorf auf der Suche nach Hauptquartieren, untersuchten totgefahrene Eichhörnchen und Katzen mit angespitzten Stöcken, warfen Quitten von unserem Strauch auf vorbeifahrende Nachbarautos, stopften einmal mehrere davon in den Auspuff von Herrn Brückners BMW, der daraufhin nicht mehr anspringen wollte und auseinandergebaut werden musste. Seltsamerweise sagte er nie etwas deswegen.

In den Sommern leuchteten die Hügel dort, wo Getreide wuchs, im Abendlicht orange, die Wiesen waren grüner als irgendwo sonst. Im Winter bauten wir Sprungschanzen für Schlitten, Reifen, Tüten, und jedes Jahr brach sich einer was.

Wir waren die Kinder mit den strammen Waden, bezwangen auf dem Weg zur Schule die steilen Hänge mit den Rädern. Irgendwann begann ich Maria anders dabei anzusehen, spürte ein Kribbeln beim Anblick ihres festen Hinterns, während wir in den Pedalen stehend unserem letzten Kindersommer entgegenfuhren.

Eine Bremse beißt mich wieder ins Jetzt. Lio buddelt ein Stück weiter nach einem Tier. Ich pfeife und renne los und er rennt mit, und wir sind sofort außer Atem und werden trotzdem nicht langsamer.

Bevor ich duschen gehe, will ich das BMX putzen und den Sattel höher einstellen. Durch die Zähne pfeifend, schiebe ich das Rad aus der Garage. Ein Auto biegt in die Straße ein und hält schließlich vor mir. Auf den Lenker gestützt, erkenne ich die Person hinter der schmutzigen Windschutzscheibe und muss hektisch zwinkern vor Überforderung. Sie steigt aus, das Unterhemd, weiß und zu weit, unterstreicht die Bräune ihrer Arme, und ihre Haare fallen immer noch in dieser einen Strähne über die Augen.

»Hallo«, sage ich und verlagere noch mehr Gewicht auf den Lenker, der fast platte Reifen bläht sich an den Seiten.

»Hallo Max. Ich bring den Honig für deine Eltern.«

Die kleine silberne Eule um ihren Hals glitzert.

Ich habe sie ihr in Schweden gekauft.

In einem Café am Stadtrand von Göteborg aßen wir Schokoladenkuchen. Die Wirtin verkaufte neben Gebäck auch selbstgemachten Schmuck. Als Maria auf dem Klo war, kaufte ich den Anhänger. Auf dem Rückweg zum Auto legte ich ihr die Kette um.

»Eulen sind weise.«

»Denkst du, ich bin zu blöd?«

»Wie kommst du denn darauf? Ich fand sie einfach schön. Außerdem kann man nie weise genug sein.«

»Du denkst also nicht, dass ich nicht schlau genug bin.«

»Nee, Quatsch. Du bist klug.«

»Aber nicht klug genug?«

»Lass gut sein, Maria.«

»Aber Max –«

»Nein.«

»Doch.«

»Was?«

»Vielen Dank.«

Wir umarmten uns lange. So lange wie nie.

Ich lehne das Rad an den Zaun.

»Bist du auch zu Besuch?«, frage ich.

»Ich bin wieder ganz hier.«

»Echt? Wie lange schon?«

»Seit April. Ich wohne mit Freunden auf einem Hof weiter oben.«

Ihre Hand weist in den Himmel, und ich denke, dass ein Luftschloss gut zu ihr passt. Ich ziehe die Nase hoch, obwohl sie nicht läuft, und fingere am Kinn herum, obwohl da nichts wächst.

»Und du, Max? Was machst du in Königsburg?«

»Claudia und Hans sind auf Kreta, und ich hüte Lio.«

Schräg gegenüber rollt Frau Bender, die dickste Frau des Orts, ihre Mülltonne an die Straße. Maria und ich sehen ihr kurz zu, uns wieder an, und ich sage: »Ich denke oft an den Wal.« Sie lächelt.

Wir liefen durch den Slottsskogen, unsere Turnschuhe färbten sich schwarz auf den matschigen Wegen. Auch die Kälte trieb uns bald ins Naturkundemuseum, wo wir nach hunderten Vögeln und Reptilien schließlich in die »Walhalle« gelangten. Dort steht dieses riesige Tier, eingerahmt von schwebenden kleineren Walen, die durch transparente Schnüre in der Luft gehalten werden. Ich ging auf die Empore, suchte das linke Auge des Wals, das mir im Verhältnis zum restlichen Körper so wahnsinnig klein vorkam. Ein Vater hob seinen Jungen an das pechschwarze Auge heran und der steckte seinen Finger hinein. Der Fotoapparat der Mutter blitzte mehrmals hintereinander. Maria kam zu mir, hakte sich unter. »Wahnsinn, oder?«, sagte sie, flüsternd, denn schließlich befanden wir uns auf einem Friedhof. »Früher konnte man sogar in sein Maul steigen, weißt du. Heute ist das nur noch an Wahltagen erlaubt, vor oder nach dem Stimmzettel.«

»Warum nur noch an diesen Tagen?«

»Irgendwann hat man ein Paar beim Sex im Wal erwischt und das fanden viele doch ein bisschen arg.«

»Das ist ja furchtbar«, erwiderte ich und wandte mich ein letztes Mal dem Tier zu.

Dann gingen wir zurück ins Wohnheim.

Marias Auto hat vorne links eine ziemliche Schramme.

»Hattest du einen Unfall?«

»Ein Reh, letzte Woche. Es war gleich tot.«

»Scheiße.«

»Zum Glück war mein Vater schnell da.«

Ihr Vater ist Förster. Früher nahm er uns oft mit in den Wald, zeigte uns Bachen mit ihren Frischlingen, erläuterte den Unterschied zwischen Fuchs- und Dachsbau, trichterte uns die Namen aller Bäume ein. »Sollte man kennen«, sagte er immer.

»Immerhin weißt du es jetzt«, sage ich.

»Was weiß ich jetzt?«

»Dass du nicht einfach weiterfährst.«

Wir fuhren im Mietwagen an der schwedischen Küste entlang.

Wenn wir ausstiegen, um am Meer herumzustehen, dem Impuls folgend, den alle verspüren, die nicht mit der See vor der Haustür groß geworden sind, blies die böige Luft uns die Backen rot und die Lippen trocken. Maria legte sich in den Wind, und ich versuchte ihm den Rücken zuzudrehen, vergeblich, da auch er sich stetig drehte.

In einem der menschenleeren Feriendörfer, auf einer der menschenleeren Inseln, überfuhr Maria beinahe ein Mädchen, als es die Straßenseite wechselte. Wir ruckten nach vorne in unseren Sitzen und Maria starrte das Mädchen an und das Mädchen starrte Maria an und ich rauchte eine Zigarette, obwohl die auf dem Armaturenbrett rot umkringelt und dick durchgestrichen war. Das Mädchen lief davon, niemand folgte ihm und niemand wartete auf der anderen Seite. Maria stellte den Motor ab, nahm mir die Kippe aus den Fingern. Zittrig saugte sie am Filter, sagte leise: »Wäre ich allein gewesen und hätte sie übersehen, vielleicht wäre ich einfach davongefahren und nie mehr glücklich geworden. Keiner kann sagen, was er in so einer Situation tun würde. Das macht mir große Angst.«

Ich wollte ihr klarmachen, wie gut ich das nachvollziehen konnte, dass ich seit meinem Au-pair-Fiasko genau wusste, wovon sie sprach. Stattdessen schwieg ich weiter, hatten wir eine Stunde später sperrigen Sex auf dem Rücksitz. Ich war so zärtlich, wie ich konnte, im Radio lief Classic Rock. Danach wischte ich die beschlagenen Scheiben frei und entschied: »Ich fahre den Rest.«

Wir stehen stumm. Meine Beine jucken, kribbeln gegen die peinliche Stille an. Endlich startet einer der Nachbarn seine Kreissäge. Weil mir nichts Blöderes einfällt, rufe ich in den Lärm hinein: »Kaffee?«

Das Sägeblatt trifft auf Holz, der schrille Ton senkt sich ein wenig.

4

Valentin sagt, Erinnerungen sind beschissen.

5

Die Maschine mahlt Bohnen und füllt unsere Tassen bis zum Rand. Ich schweige wieder und auch Maria streichelt nur energisch Lios Kopf. Unnötigerweise frage ich dann doch: »Was ist mit deinem Studium?«

Sie nimmt die Ohren des Hundes in die Hände, als möchte sie nicht, dass er hört, was jetzt kommt: »Hab abgebrochen. Ging nicht mehr.«

Zack, zack, spricht, spuckt sie das aus, als wäre es Schleim einer Erkältung, den man schnellstmöglich loswerden will, nachdem man ihn hochgezogen hat.

Maria studierte Skandinavistik, wechselte nach der Zwischenprüfung, nach uns, von Bremen nach Freiburg. Sie beschäftigte sich mit dem Werk von Selma Lagerlöf, dem Nils Holgersson, und sagte oft, wie schade sie es finde, dass ich auch eines dieser Kinder gewesen sei, die die Trickserie geglotzt hatten, ohne jemals vom Buch gehört zu haben. In diesen, ihren elitären Momenten, wünschte ich mir immer, ich würde in einem Gewässer treiben, die Ohren unter der Wasseroberfläche, erfüllt von nichts als einem dumpfen Rauschen.

Ich setze neu an: »Dieser Hof, auf dem du wohnst. Wie ist es denn dazu gekommen?«

»Durch Jan.«

»Welcher Jan?«

Sie sieht mich unmissverständlich an.

»Jan Kranig?«

Sie nickt.

Ich werfe meinen Kopf in den Nacken, drehe mich einmal im Kreis auf einem der drei modernen Metallhocker, die meine Eltern neuerdings besitzen, schiebe die leere Tasse mit Schwung über die Anrichte. Erst ganz kurz vor der Kante kommt sie zum Stehen.

Damals im Wald, denke ich.

»Bis morgen also«, sagte Maria und fuhr davon. Zuvor erzählte sie von sich und den anderen auf dem Hof und ich begriff es höchstens ansatzweise. Mehrmals fiel das Wort Autarkie und wie gut es sei, für sich selbst verantwortlich zu sein. Sei still, sei bitte einfach still, dachte ich. Zu fünft leben sie dort, verarbeiten Honig, bauen Gemüse an, Hühner gibt es auch. »Ich glaube, du wirst es mögen«, sagte sie und ich sagte nichts darauf, lachte nur blöd. Wenngleich ich gern geschrien hätte: »Auch ich hab mich verändert, auch ich hab mich weiterentwickelt.«

»Scheiß Hippies« schmierte jemand vor Jahren an das einzige Bushäuschen im Ort.

Ich denke darüber nach, mir einen Edding zu schnappen und den Satz durch ein dickes Ausrufezeichen zu ergänzen.

6

Seit Stunden krame ich in Kisten, schaue Alben und Ordner durch. Nachdem ich mich an einem Foto meiner Großmutter geschnitten, ein wenig Blut auf ihre Schürze geschmiert habe, entdecke ich das Abschlussbild meiner Grundschulklasse. Maria steht zwischen mir und Jan und lächelt. Dort wo heute ihre blitzblanken Schneidezähne sind, ist auf dem Bild nur eine Lücke, durch die sie immer gerne Nudeln oder Strohhalme gesteckt hat.

Eine Seite weiter im Album mit dem Titel 1987–1998: Fastnacht 96. Ich bin dreizehn und als Maus kostümiert, neben mir Maria als Vampir und neben ihr Jan als Zorro, mein Vater mit grimmigem Gesicht im Hintergrund, ohne Verkleidung. Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater schlecht gelaunt war, dafür aber noch genau, dass ich mich ursprünglich als Indiana Jones verkleiden wollte, tags zuvor aber eine Wette verloren hatte.

Und auch dieser bestimmte Nachmittag lag in diesem Jahr.

Maria und Jan waren Räuber, Konrad und ich Gendarmen. Heike war mit ihren Eltern in Finale Ligure, so wie immer in den großen Ferien. Es war ein besonders heißer Tag in einem besonders heißen, trockenen Sommer. Das Gehölz knackte nervös unter unseren Schritten. Wir suchten eine halbe Stunde, dann teilten Konrad und ich uns auf. Ich war flink und trotzdem unauffällig, im Raubkatzenmodus, da entdeckte ich Maria und Jan unter dem Hochstand. Und weil ich so erschrak, ging ich nicht, ich stürzte in Deckung.

Beide hatten ihre Hosen heruntergezogen und streichelten sich und Jan hatte schon Haare am Sack, und ich hasste ihn von null auf hundert in einer Sekunde. Konrad pfiff in die Finger, gab Laut, dass er niemanden entdeckt hatte. Erst jetzt bemerkte ich die Ameisen, die über meinen Handrücken krabbelten, ich war nur wenige Meter neben ihrem Haufen gelandet. Der Pfiff war auch das Zeichen für Maria und Jan, sich die Hosen wieder überzustreifen und im Wald ein neues Versteck zu beziehen. Voller Angst, sie könnten da weitermachen, wo sie aufgehört hatten, sprang ich auf und preschte hinterher. Ich war rasend und zu jung, um zu wissen oder zuzugeben, dass die Eifersucht was mit Mädchen lieben, Jungs lieben zu tun haben könnte. Knurrend und schreiend holte ich auf, Maria knickte um, Jan wollte ihr helfen, und das war sein und mein Verhängnis. Ungebremst rammte ich ihn weg, er hatte Glück, ich hatte Glück, denn in dem Moment war mir vollkommen egal, dass kein Stein oder spitzer Ast dort lag, wo er mit dem Hinterkopf auf den Waldboden traf. Mein Schädel war ganz heiß, ich spürte die aufsteigenden Tränen kommen, pfefferte Jan eine harte Ohrfeige ins Gesicht. Er nannte mich »Hurensohn«, die schlimmste Beleidigung in diesen Zeiten, spuckte mich an, genau zwischen Oberlippe und Nase.

Wild entschlossen, vor allem aber wild, griff ich um seinen Hals, er versuchte sich loszuzappeln, doch ich saß optimal auf seinen Armen und Beinen, ließ ihm keinen Spielraum und drückte und drückte, er wurde ganz rot, ich gab nicht nach, und erst als Maria mir in den Oberarm biss und ein Büschel Haare ausrupfte, ließ ich von ihm ab und strauchelte zurück. Maria beugte sich über Jan und sah mich an wie einen Fremden. Schnell stand ich auf und rannte davon, am Hochstand begegnete mir Konrad, ich blieb nicht stehen und er rief: »Hast du sie gefangen, hast du das Gold?«

Das Gold waren vier Tannenzapfen, die Maria in einem Stoffbeutel am Gürtel trug, und mir scheißegal. Ich rannte weiter, mit der Absicht, nie mehr stehenzubleiben.

Viele Kinder sind irgendwann grausam, wenige sind nachtragend. Maria verzieh mir relativ schnell. Jan ging mir aus dem Weg oder ich ihm, wie das beschämte Gegner eben tun. Wir spielten nie mehr in dieser Konstellation.

Meine Handfläche, der Schnitt darin brennt. Ich drücke unterhalb der Wunde, bis Blut hervorquillt, und lutsche es weg.

Ziemlich aufgewühlt beginne ich an mir herumzuspielen, werde schnell hart. In meiner Vorstellung sind es ihre Hände.

7

»Gu-ten Mor-gen, Herr Flie-ger«, lalle ich den Spiegel an. Meine Stimme ist tief und klingt nicht ansatzweise so enthusiastisch wie der Chor meiner fünften Klasse in Bremen. Ich ratsche mit der Bürste den Belag von der Zunge, das heißt, ich versuche es. Zu zäh ist die weiße Schicht.

»Komm zum Mittagessen«, sagte Maria gestern. Eine genaue Uhrzeit haben wir nicht abgemacht. Ich peile halb eins an.

Mein Handy vibriert dreimal kurz und in der SMS schreibt Valentin:

Ich komme Donnerstag, 16.45 Uhr, in St. Georgen an. Hoffe, du freust dich. Gibt es ein Fahrrad für mich?