Bärbel Hölscher

Kraftvoll!? Reflexe prägen das Leben

Books on Demand

Für meine Kinder
Anna, Michael und Karen

Metanoeite. (Denket um.)

Jesus Christus

Wenn Sie so denken, wie Sie immer gedacht haben, werden Sie so handeln,
wie Sie immer gehandelt haben. Wenn Sie so handeln, wie Sie immer
gehandelt haben, werden Sie das bewirken, was Sie immer bewirkt haben.

Albert Einstein

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mit dem Thema „Frühkindliche Reflexe und deren Auswirkungen auf das spätere Leben bei nicht zeitgerechter Integration“ beschäftige ich mich schon seit einigen Jahren. In meiner Arbeit stelle ich immer wieder fest, dass häufig unzureichend integrierte frühkindliche Reflexe auch noch bei Schulkindern und Erwachsenen vorhanden sind und deren Lernverhalten und Wohlbefinden und damit ihre Lebensqualität erheblich einschränken können.

Mein Anliegen besteht darin, die Sensibilität dafür zu schärfen, welche Reaktion welchem Reflex zugeordnet werden kann. Bei eventuellem Handlungsbedarf können Symptome, die auf Grund von motorischen Restreaktionen im späteren Leben bestehen, besser verstanden werden.

Auch wenn durch dieses Buch eine detailliertere Betrachtungsweise möglich ist, weise ich darauf hin, dass der Blick auf das Gesamtbild dabei nie aufgegeben werden sollte. Verhaltensweisen werden mit von der Erziehung und der Umgebung beeinflusst, jedoch sind die nicht integrierten frühkindlichen Reflexe und die daraus resultierenden Verhaltensmuster häufig der Grund für die vielfältigen Reaktionen der Erziehungsberechtigten.

Das ursprüngliche Bewegungsmuster, also Reflexbewegungsmuster, ist die Basis für die Entwicklung des Säuglings, Kindes und Erwachsenen, damit der Mensch aufbauend darauf in seinen Bewegungen, Emotionen, Gedanken und Handlungen möglichst selbstbestimmt sein Leben gestalten kann. Die Reflexe und deren zeitgerechte Integration sind das Fundament des Lebens.

Ich habe bei der chronologischen Auflistung der Reflexe diese in ihrer Bewegung genau beschrieben und eine Zeichnung hinzugefügt, um das Erkennen zu erleichtern. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass die Bewegungen, die den Reflex auslösen, auf keinen Fall von nicht geschultem Personal beim Kind angeregt werden dürfen. Dies kann der Entwicklung und gesunden Reifung des Kindes schaden.

Die in diesem Buch vorgestellte Übung hilft, die noch bestehende frühkindliche Reflexaktivität nicht mehr wirksam werden zu lassen. Die genaue Ausführung der Übung kann man sich bei YouTube unter http://youtu.be/sNSbKnFBVpg anschauen. Ich biete auf Anfrage Kurse an, in denen ich noch andere Übungen vermittle, die eine hohe Effizienz haben. Weiter gehe ich detaillierter auf die einzelnen Reflexe ein. Ich empfehle dieses Buch allen Eltern, Kinderärzten, Therapeuten und allen interessierten Menschen, die die Entwicklung unserer Kinder fördern und begleiten.

Am Anfang dieses Buches stand nur ein Kurs zu den Bewegungsübungen zur Integration von frühkindlichen Reflexen. Bei meinem „Probelauf“, zu dem ich PsychologInnen, ÄrztInnen, ErzieherInnen, PhysiotherapeutInnen, LehrerInnen und interessierte FreundInnen eingeladen hatte, bekam ich sofort das Feedback, dass ich den Kurs zu einem Buch erweitern solle. Nach zwei Jahren ist es soweit. Ich danke allen, die mich ermuntert und immer wieder nachgefragt haben, wann ich endlich fertig sei. Es war immer ein Ansporn.

Ich bedanke mich bei meiner Freundin Edith Bulle, die die Literatur von Svetlana Masgutova übersetzt hat. Darüber kamen wir natürlich immer wieder zu einem intensiven fachlichen Austausch. Edith hat nach Fertigstellung des Buches dieses dann wieder ins Englische übersetzt. Auch in dieser Sprache ist es erhältlich.

Weiter bedanke ich mich bei den kritischen ProbeleserInnen Frau Dr. med. Brigitte Müller-Krampe, Herrn Dr. theol. Hans-Josef Neufeld, Frau Dr. med. Dr. phil. Christine Ritter und Frau Dr. med. Sabine Woltering, durch deren konstruktive Kritik der Inhalt noch differenzierter geworden ist. Ein ganz besonderer Dank geht an Marita Böggemann, die das Lektorat übernommen und die Erstfassung in eine ansprechende Form gebracht hat.

Bärbel Hölscher, im April 2013

DR. DR. RAJA SELVAM

Ich habe Bärbel Hölscher in meinen Seminaren in Münster kennen gelernt, wo sie sich nach drei Jahren entschloss, auch noch eine Ausbildung in SE (Somatic Experiencing®) zu absolvieren.

Seit Jahren beschäftigt Bärbel sich mit der Problematik von noch persistierenden frühkindlichen Reflexen. Aus den Beobachtungen und Erfahrungen in ihrer Praxis hat sie dieses Buch geschrieben.

Die sorgfältige Recherche und dann exakte Ausführung ihrer Arbeit erleichtern es dem Leser, die Komplexität des Themas zu verstehen. Er bekommt einen Einblick, welche Bedeutung frühkindliche Reflexe für das spätere Leben haben. Nicht nur die persönlichen Auswirkungen werden bei nicht vollständiger Integration angesprochen, sondern auch die gesellschaftlichen Folgen werden diskutiert.

Es ist ihr sehr wichtig, ihren Klienten Material mit an die Hand zu geben, welches diese zu Hause zur Reflexintegration einsetzen können. Dadurch erhöht sich die Lebensqualität der Ausführenden. Die von ihr vorgestellten Übungen werden in ihrem Buch zum ersten Mal beschrieben. Die Übungen sind geeignet, störende Reflexe, die das motorische, emotionale und mentale Erleben beeinträchtigen, in ihrer Wirksamkeit zu reduzieren oder sogar auszuschalten. Ihre sorgfältige Anleitung, sowohl in der Praxis als auch in ihren Kursen, befähigen den Klienten die Übungen auch zu Hause zu machen.

Ich freue mich, Bärbel dieses Vorwort zu schreiben, denn ihr Buch bringt wieder ein Stück mehr Verständnis für einige Probleme, mit denen viele Menschen zu kämpfen haben.

Ich wünsche ihr bei ihrer wertvollen Arbeit weiterhin viel Erfolg.

Dr. Dr. Raja Selvam

1 Einleitung

Reflexe sind unwillkürliche Muskelreaktionen auf einen sensorischen Stimulus, der über die Sinne empfangen wird und im Gehirn zu entsprechenden Verarbeitungsprozessen führt.

Es gibt frühkindliche Reflexe, die dem Säugling nach der Geburt das Überleben sichern, wie z. B. den Such-, Saug- und Schluckreflex, ohne den er verhungern würde. Haben die frühkindlichen Reflexe nach dem ersten Lebensjahr ihre Aufgabe erfüllt, können die Haltungsreflexe voll zur Entfaltung kommen. Sie ermöglichen uns einen aufrechten Gang und lebenslang eine angemessene Anpassung an die jeweilige Situation.

Es kann passieren, dass ein frühkindlicher Reflex über den ihm von Natur aus zustehenden Zeitrahmen hinaus aktiv bleibt. Dies äußert sich dann in unbewussten motorischen Bewegungen. Zum Beispiel wird bei einer Kopfdrehung nach rechts oder links automatisch der gleichseitige Arm mit nach außen geführt. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass der entsprechende Reflex nicht integriert ist und motorische Restreaktionen auftreten.

Muss ein frühkindlicher nicht integrierter Reflex willentlich in seinem Bewegungsmuster kontrolliert werden, so bindet dies viel Energie in bewussten Gehirnarealen, die ansonsten für kognitive Leistungen zur Verfügung stünden. Kinder sind in zunehmendem Maße Stress ausgesetzt und oft ist man als Erziehender ratlos, wie man ihnen gerecht werden soll. Die Kenntnis der frühkindlichen Entwicklung und der einzelnen Reflexe soll hier als Grundlage für eine differenzierte Arbeit sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen angeboten werden.

Um noch motorische Restreaktionen frühkindlicher Reflexe abbauen zu helfen, stelle ich in diesem Buch eine Übung vor, die ich vor einiger Zeit kennen gelernt habe. Sie stammt aus einer ganzen Reihe von Übungen, die bereits vor über 20 Jahren von einer mittlerweile verstorbenen Physiotherapeutin aus den verschiedensten Ansätzen heraus entwickelt wurden. Um diesen Übungen einen Rahmen zu geben, habe ich sie Hirnstamm-Koordinations-Übungen® genannt. Denn genau dort wirken sie, im Hirnstamm, wo sie eine Neuorientierung einleiten. Eine dieser Übungen wird hiermit zum ersten Mal veröffentlicht und somit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Aus meiner Erfahrung haben diese Übungen, im Vergleich zu allem, das mir bekannt ist, die größte Effizienz und Effektivität.

Die Forschungsergebnisse der russischen Neuropsychologin und Kinesiologin Dr. Svetlana Masgutova machen deutlich, welchen Einfluss nicht integrierte frühkindliche Reflexe haben können. Nach über 20 Jahren Forschung und Erfahrung zeigt die Wissenschaftlerin, dass ein Zusammenhang von Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten mit nicht ausreichend integrierten frühkindlichen Reflexen besteht.

In einem sehr beeindruckenden Seminar zu diesem Thema, an dem ich im Jahr 2008 in Vörden teilnahm, bekamen wir nicht nur umfangreiche theoretische Informationen von Svetlana Masgutova, sondern auch praktische Hinweise. Sie zeigte uns einen Film, in dem ein 3 Monate alter Fötus im Uterus zu sehen war, der im Fruchtwasser schwimmend die Reflexbewegungen bereits einübte. Dabei konnte man genau unterscheiden, welches „Bewegungsmuster“ welchem Reflex entspricht. Die Bewegungen des Fötus im Mutterleib sind vorwiegend reflektorisch und werden nicht willentlich von ihm ausgelöst. Neuere Forschungen1 deuten jedoch darauf hin, dass einige Bewegungen des Fötus anscheinend auch willentlich ausgelöst werden.

Im Laufe der Evolution bildeten sich archetypische Bewegungsmuster aus. Mit der Fähigkeit zu diesen Bewegungen ist normalerweise jeder Mensch ausgestattet. Sie helfen ihm, den komplexen Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Diese archetypischen Reflexbewegungsmuster regen die Ausreifung höher entwickelter Fähigkeiten im Menschen an, sind innerhalb eines bestimmten Zeitfensters aktiv und werden dann in das Ganzkörpersystem integriert. Innerhalb dieser Zeitfenster müssen die Reflexe vom Kinderarzt auslösbar sein. Wenn nicht, ist dies ebenso ein Hinweis auf eine Koordinationsstörung im Zentralen Nervensystem wie eine über dieses Zeitfenster hinausgehende Reflextätigkeit.

Restreaktionen frühkindlicher Reflexe verschwinden nicht von alleine. Sie bleiben bestehen und können sich hinderlich auswirken. Sie können geforderte Bewegungsabläufe in ihrer gesamten Ausführung sogar verhindern.

Stellen Eltern, Erzieher, Kinderärzte oder Therapeuten eine verzögerte Integration der Reflexe fest und merken, dass die Etappen der Bewegungsentwicklung vom Kind nicht zeitgerecht durchlaufen werden, sollte durch geschultes Fachpersonal so früh wie möglich eine geeignete Therapie zur Integration durchgeführt werden. Genauso wie bei Kindern sollten die Reflexbewegungen auch bei Erwachsenen nicht ausgelöst werden, da bei bestehenden Restreaktionen der jeweilige Reflex wieder aktiviert wird und zu nicht gewünschten Reaktionen führen kann. Die Kompensationsstrategien des Körpers werden dann durchbrochen. Damit kommt dieser nur schwer zurecht, da ihm noch keine Alternativstrategien zur Verfügung stehen.

Um eine nachträgliche Integration zu erreichen, ist die hier vorgestellte Übung mit aufmerksamer Sorgfalt anzuwenden, da es bei Restreaktionen auch zu unerwünschten körperlichen Reaktionen kommen kann. Bei weiterem Bedarf muss unbedingt fachkundige kompetente Begleitung sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gefunden werden.

Da die Übungen meiner Erfahrung nach eine sehr starke Wirkung haben - je deutlicher motorische Restreflexbewegungen zu beobachten sind, desto stärker ist die Reaktion - habe ich mich dazu entschlossen, ab der zweiten Ausgabe dieses Buches, nur noch eine Übung zu veröffentlichen.

Es ist wichtig, dass das begleitende Personal weiß, was zu tun ist, wenn ein Anwender aus seinen Kompensationsstrategien herausfällt.

In meinen Kursen vermittele ich dieses Wissen, und auch die Trainerinnen, die ich ausbilde, können mit solchen Situationen umgehen.

Als Kinesiologin hat Svetlana Masgutova eine Zuordnung der einzelnen Reflexe zu den Brain-Gym®-Übungen vorgenommen. Diese Übungen können in entsprechenden Kursen bei autorisierten TrainerInnen erlernt werden. Das System, nach dem die Übungen den Reflexen zugeordnet werden, stelle ich in meinem Kurs vor.

Innerhalb der Reflexbeschreibungen in diesem Buch wird immer wieder der „Sehnenschutzreflex“ erwähnt, ohne dass er in besonderer Weise aufgelistet ist. Dieser Terminus wurde aus der Kinesiologie übernommen. Der Begriff des Sehnenschutzreflexes ist auf Beobachtungen von KinesiologInnen zurückzuführen, die gesehen haben, dass, wenn die Sehnen der Wade verkürzt sind, die Angst ansteigt. Werden die Sehnen durch isometrische Übungen gelängt, steigt wieder die Aufmerksamkeit.

Die Sammlung von Auffälligkeiten, die jeweils nach den Reflexbeschreibungen aufgelistet sind, geht auf Dr. Svetlana Masgutova, das Institut für Neurophysiologische Psychologie (INPP) von Sally Goddard und die Beobachtungen zahlreicher KinesiologInnen zurück, wobei ich keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebe.

 

1 Vgl. Hüther, Gerald und Inge Krens, Das Geheimnis der ersten neun Monate. Unsere frühesten Prägungen, 5. Auflage, Düsseldorf 2007

2 Die motorische Entwicklung des Säuglings im ersten Lebensjahr1

Die Tonusentwicklung (Muskelspannung) des Säuglings folgt einem physiologischen Ablauf. Dabei läuft die posturale Reifung (Körperaufrichtung) nach einem festgelegten inneliegenden Programm ab, so wie dies bei der Zellteilung nach der Befruchtung der Eizelle auch der Fall ist. Die Körperaufrichtung geht von oben nach unten, also vom Kopf zu den Füßen hin. Damit dieser Prozess funktioniert, sind die Umweltfaktoren mitentscheidend. Eine ausgewogene Ernährung ist wesentlich. Wenn das Baby gestillt wird, muss die Mutter sich entsprechend ernähren, denn 50% der Nährstoffe werden für den Aufbau des Gehirns benötigt. Nach der Abstillphase ist natürlich auch auf eine optimale Ernährung zu achten. Die seelische Komponente, also die Liebe und Zuwendung, die das Kind erfährt, sind ebenfalls wichtig. Schmusen und Streicheln fördern das Wohlgefühl und unterstützen die Gesamtentwicklung.

In den ersten Wochen nach der Geburt werden bei einem Säugling nur Massenbewegungen beobachtet, da für willkürliche Bewegungen die Markscheidenbildung (Myelinisierung) der Nervenstränge noch nicht vorhanden ist. Durch die Myelinisierung bekommen die Nervenstränge eine Isolierschicht, die mit für die Weiterleitung eines Nervenimpulses verantwortlich ist. Solange diese Isolierschicht sich über die Bewegungen noch nicht ausreichend gebildet hat, kommt es zu den Massenbewegungen. Das Baby bewegt seinen ganzen Körper in unwillkürlicher Art und Weise. Wenn es sich freut, strampelt es mit Armen und Beinen, ohne eine bestimmte Bewegungsrichtung initiieren zu können.

Es ist zu beobachten, dass der Säugling schon direkt nach der Geburt seinen Kopf in der Bauchlage heben kann. Dies ist bereits der Beginn einer freien Kopfkontrolle, die dem Kind ermöglicht, den Kopf unabhängig vom übrigen Körper zu bewegen. Sie muss trainiert werden, damit sie sich allmählich entwickeln kann und bis zum Ende des ersten Lebensjahres gut etabliert ist. Dafür ist es wichtig, dass das Kind viel auf dem Bauch gelegen hat, damit die Muskeln in Rücken und Bauch trainiert werden können. Schon bei der 3. Vorsorgeuntersuchung U3, das heißt, mit sechs Wochen, kann der Kinderarzt erkennen, ob die Kopfkontrolle sich entsprechend entwickelt. Kinder, die nur auf den Rücken gelegt werden, bekommen nicht die Möglichkeit, diese Bewegung ausreichend zu trainieren.