Für Nadja, weil Hunde- und Kinderaugen ähnlich leuchten.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Der große Willow

Der Trick, die Liebe und das gemeine Feuer

Autorin: Melanie Schumacher

ISBN 9-7838-4826-890-0

© 2005 Melanie Schumacher

Alle Rechte liegen bei der Autorin (www.Luckyhusky.de)

© Zeichnungen und Titelbild: Johann van Rossum (www.Johannvanrossum.nl)

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Inhalt

So, da bin ich wieder. Eine kurze Pause sei auch dem abenteuerlichsten Schlittenhund einmal gegönnt. Außerdem bin ich inzwischen ein wenig älter geworden. Nein, nicht älter – weiser! Wenn das überhaupt noch geht.

Zuerst möchte ich noch einmal kurz zusammenfassen, wer ich eigentlich bin. Wir leben in einem kleinen Rudel von sieben bildhübschen, intelligenten Schlittenhunden zusammen und haben eine Menge Spaß. Da ist Mama – die Klügste von uns allen, Papa – der stolze weiße Husky mit Eisbärenblick, Bubbaloo mit seinen hängenden Ohren und schwarz-weiß gefleckt wie eine Kuh, und schließlich wir Kinder Smokey, Loucie, Azura und natürlich ich – WILLOW! Gemeinsam haben wir schon viel erlebt. Die ersten Schlittenfahrten waren unglaublich aufregend, der erste Schnee natürlich auch, von meinen Heldentaten ganz zu schweigen.

Möchtet Ihr denn gerne wissen, was ich sonst noch für ein tolles Leben habe? Ich weiß gar nicht, ob ich euch alles erzählen sollte. Ihr glaubt mir vielleicht nicht. Ich bin kein Geschichtenerzähler, der viel Unsinn redet! Ich bin der große Willow. Na gut. Dann lasst mich mal überlegen …

Die Entführung

Ich hatte ein ganz wunderbares Leben als Schlittenhund, manchmal war es auch langweilig. Aber – ein Hund braucht die Langeweile. Sie ist Futter für die Seele. Löcher in die Luft starren und darüber nachdenken, wem man als Nächstes den Knochen klaut, das ist wichtig. All das braucht eine gute Planung, und Planung braucht Zeit. Trotzdem war es langweilig. Ich wollte mal wieder raus in die Welt und Zeitung lesen. Was? Ihr glaubt, ein Hund kann gar nicht lesen? Falsch gedacht. Die Wiesen sind für uns die Zeitung, die Bäume das Titelblatt, Sträucher die Kleinanzeigen und die Laternen, die sind die absoluten Schlagzeilen. Wer hat als Letzter an den Mast gepinkelt? Mit wem hat er als Letztes gespielt? War es ein Dackel? Ein Pudel oder sogar eine Zahnbürste – äh, T´schuldigung – ein Yorkshire Terrier (das sind die mit den rosa Zöpfchen)? Diese Dinge sind äußerst wichtig. Nicht nur für mich. Ich muss doch etwas zu erzählen haben, wenn ich wieder nach Hause komme. Die anderen wollen doch alles ganz genau wissen.

Und genau aus diesem Grund machte ich mich eines schönen Sommertages aus dem Staub. Es war nicht ganz einfach von zu Hause zu verschwinden, ohne dass jemand etwas merkt, aber dafür heiße ich schließlich Willow, der Große.

Ein schwarzer Kater kreuzte meinen Weg, machte einen riesen Buckel, bis er fast umfiel und fauchte wie ein Löwe. Nicht so laut, aber genauso eingebildet. Was der wohl von mir wollte? Ob er sich vorstellen konnte, dass ich mich nicht die Bohne für ihn interessierte? Wahrscheinlich hatte er Angst vor mir, sollte er doch. Ich ließ ihn einfach am Wegrand stehen und tapste zum nächsten Laternenpfahl. Dort schnupperte ich an einer Duftmarke, die mich in den siebten Himmel beförderte. Noch vor nicht allzu langer Zeit muss hier eine Hundedame gewesen sein. Eine hübsche, junge, sportliche und attraktive Hundelady, die sicher jemanden wie mich brauchen könnte, um sie vor den Gefahren der großen Welt zu bewahren.

Sie musste noch ganz in der Nähe sein. Ich konnte sie fast spüren. Ich schloss meine Augen und streckte die Nase in die Luft. Ich schnupperte nach allen Seiten, konnte aber nicht feststellen, in welche Richtung sie gelaufen war. Was sollte ich tun? Wie hypnotisiert wankte ich einfach geradeaus, in der Hoffnung sie zu finden. Nicht, dass ihr noch etwas zustößt. Ein gemeiner Mensch könnte sie einfach ins Auto zerren, eine Katze könnte sie anfallen oder ein Jäger sie erschießen. Ich musste sie finden. Mein Instinkt sagte mir, dass sie irgendwo auf mich wartete. Sehnsüchtig nach Schutz und Geborgenheit, einer großen Schulter (so wie meine) zum Anlehnen. Ich würde an ihren Ohren knabbern, ihren Hals beschnuppern und ihr Fell schlecken, bis es glänzt wie eine Speckschwarte.

Oh Mann, was freute ich mich auf den Augenblick, wenn sie in meine Augen schaut und vor Glück ohnmächtig in meine Pfoten plumpst. Ich sah das Bild genau vor mir, wie ich ihr Halsband etwas weitermachte, damit sie besser Luft bekäme. Dann würde sie wieder zu sich kommen, mich anhimmeln und jedem meiner Schritte folgen. Aber erst einmal musste ich sie finden. Wo steckte sie bloß? Ihr Duft wurde immer stärker. Ich war schon einige Kilometer weit gelaufen. Bald musste ich umkehren, damit ich zum Abendessen wieder zu Hause war. Aber diese Macht war stärker. Stärker als alles andere, was ich zuvor erlebt hatte.

Völlig verhext rannte ich von einer Duftmarkierung zur anderen, und die Spur wurde immer deutlicher. Gleich hinter der nächsten Ecke musste sie sein. Ob sie wohl einen Freund hat, dachte ich? Vielleicht braucht sie mich ja gar nicht und läuft davon? Nein, sie würde sicher ihren Freund nach Afrika schicken, nachdem sie mich angesehen hat. Da war ich mir ganz sicher.

Ich lief immer schneller. Wie ein Kaninchen rannte ich kreuz und quer über die Straße, schnupperte an jeder Seite sorgfältig herum. Mein Puls raste, meine Augen richteten sich nur noch auf den nächsten Laternenpfahl. Unzählige Häuser sah ich nur im Blickwinkel an mir vorbeisausen, Autos hupten, weil ich ihnen keine Beachtung schenkte. Langsam wurde es Zeit. Sollte ich sie nicht bald finden, drohte der totale Kollaps. Fast schon hätte ich die Suche aufgegeben, da sah ich einen großen, weißen Lieferwagen, die Hintertüren geöffnet. Dieser unverwechselbare Duft drang aus dem Inneren in meine zarte Nase und lockte mich an. Ich konnte sie aber nicht sehen. Ich musste näher heran. Etwas ängstlich schlich ich um den Wagen herum, ohne etwas zu erkennen. Sie musste dort drin sein. Wahrscheinlich machte sie einen Schönheitsschlaf und träumte davon, jemanden wie mich kennen zu lernen.

Also gut. Es gab nur eine einzige Möglichkeit. Reingehen und nachsehen. Ich setzte mich erst einmal davor und überlegte kurz. Nur kurz, denn eigentlich hatte ich mich bereits entschieden. Sie duftete einfach wie das pure Paradies. Schwer zu beschreiben. Vor allem euch Menschenkindern.

Der Duft dringt langsam durch die Nase vorbei an den kleinen Härchen, die sich von dieser betörenden Macht berührt fühlen, als wären sie verzauberte, bunte Blüten im Vorgarten eines Königreichs. Der Körper fühlt sich an wie auf Wolken gebettet, während sich im Inneren des Bauchs ein Kindergarten von Schmetterlingen tummelt, deren Flügelschläge hauchzart die Wände berühren.

Vorsichtig schielte ich in die offene Hintertüre. Es war stockdunkel. Kein Fenster, keine Lampe, sicher brauchte sie diese Ruhe. Ganz leise tapste ich auf der Rampe nach oben und streckte den Kopf noch weiter hinein. Nichts zu sehen. Noch einen Schritt … noch einen … dann knallte es laut, die Türe fiel mit einem heftigen Stoß in meinen Hintern zu und schleuderte mich in das Wageninnere.

Ich hörte mich laut heulen, schüttelte mich erst einmal und stand wieder auf. Wo war oben? Und unten? Nichts konnte ich erkennen. Weder eine Hundedame noch sonst etwas. Wo war ich? Es polterte noch einmal laut, die Riegel wurden verschlossen und der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich war in eine Falle geraten! Eine böse, gemeine, gnadenlose Falle. Welches Frauenzimmer hatte mir das eingebrockt? Am Ende ist gar keine Hundedame daran beteiligt. Vielleicht war das auch nur ein Trick. Was sollte ich jetzt nur tun? Der Wagen fuhr los, ich rollte mich ein und fing laut an zu weinen.

Wir fuhren sehr schnell und ruhig. Wahrscheinlich waren wir auf einer Autobahn unterwegs. Einmal konnte ich die Geräusche eines Zuges erkennen, ein anderes Mal die eines Flugzeugs. Mutti hatte mir mal von den Hundefängern erzählt, die wehrlose herumstreunende Hunde mit einem Trick in die Falle lockten, um sie anschließend an große Firmen zu verkaufen, die Tierversuche machen.

Dies hier waren keine Hundefänger. Sie haben versehentlich die Klappe an ihrem Auto offen stehen lassen und mich gar nicht bemerkt. Ja, genau so ist es gewesen. Gleich werden wir anhalten und der Spuk hat ein Ende. Ich werde nach Hause laufen und den anderen alles erzählen. Die werden staunen. So dachte ich. Nicht wirklich glaubte ich an diese Version. Die meiner Mutter klang weitaus realistischer. Ich zitterte am ganzen Körper. Es verging sehr viel Zeit und in meinem Kopf herrschte das Chaos. Alles Mögliche ging in mir vor. An erster Stelle hatte ich Angst.

Der Wagen blieb stehen, jetzt wurde es ernst. Ich hörte zwei laute Männerstimmen, konnte aber leider nichts verstehen. Mit viel Lärm schlugen sie die Türe auf, ein greller Sonnenstrahl traf mich direkt ins Gesicht. Völlig geblendet hielt ich mir schützend die Pfoten vors Gesicht.

Die Männer warfen eine Transportkiste in den Wagen und wollten mich doch tatsächlich dort hineinzwängen. Die hatten keine Ahnung, dass so ein großer Hund wie ich unmöglich dort hineinpassen würde. Ich hatte keine Ahnung – es ging!

Natürlich sollte dieser Akt nicht ganz kampflos über die Bühne gehen. Ich zog meine Lefzen hoch, fletschte die Zähne, erwischte den einen Kerl sogar an der Hand und verpasste dem anderen noch einen hübschen Kratzer mit der Vorderpfote.

Sie hatten gewonnen. Ich saß in diesem Käfig. Mein Schwanz hing an der Seite heraus, ganz zu schweigen von meiner Nase, die ebenfalls herausguckte. Jetzt war alles zu spät. Niemand konnte mir noch helfen. Es sei denn, ich benutzte mein schlaues Köpfchen, um mir einen Plan auszudenken.

Erst einmal musste ich mich umsehen. Mir genau einprägen, wo wir hineingehen, wie viele Türen hinter mir zufallen, wie viele Treppen wir steigen. Schön aufpassen, dachte ich, dann findest du den Weg auch schnell wieder zurück.

Wir kamen über einen schmalen Weg zu einer Halle. Dort schleppten sie mich in meiner Kiste hinein. Ein schrecklicher Geruch lag in der Luft. Eine Mischung zwischen Angst und Desinfektionsmitteln. Überall weiße Kacheln, helles Neonlicht und hohe Decken. Nicht so gemütlich wie bei uns zu Hause. Kalt war es auch.

Dann stellten sie mich armen Kerl einfach auf den Boden. Auf dem Tisch wäre es auch zu gefährlich gewesen, der wäre sicherlich zusammengebrochen. Ich konnte noch andere Käfige erkennen. Ich versuchte genauer hinzusehen, um zu erkennen, was für Tiere dort drinsaßen. Ganz verstört in der hintersten Ecke eines Käfigs saß eine kleine weiße Maus. Sie hatte rote Augen, hatte sich noch kleiner gemacht, als sie sowieso schon war und sah zu mir hinüber. Neben ihr stand ein weiterer großer Käfig. Darin saß eine kleine getigerte Mietzekatze. Nicht, dass Katzen meine größten Freunde wären, aber diese war irgendwie niedlich.

Auf dem Boden standen noch weitere Käfige mit Ratten, Kaninchen und Hasen. Wo war ich bloß? Ich hatte solches Heimweh, musste vor lauter Aufregung hecheln und pinkelte sogar in meine Box, weil ich so viel Angst hatte.

Großes Glück

Endlich war ich mit all den anderen Tieren alleine im Raum. Die bösen Menschen waren gegangen. »Psst, wer bist du denn?«, hörte ich eine piepsige Stimme aus einem der oberen Käfige. Sie gehörte der weißen Maus mit den roten Augen. Sie sah mich an, also war ich sicher, dass sie mich gemeint hatte.

»Ich bin Willow. Der große Willow, leider, sonst hätte ich etwas mehr Platz in dieser Box!«, rief ich ihr zu. »Du solltest gar nicht eingefangen werden, Willow. Für das, was diese grausamen Menschen vorhaben, brauchen sie kleine Hunde. Du bist viel zu groß, mal sehen, was sie mit dir anstellen werden«, sagte sie. »Was meinst du mit – für das, was sie vorhaben –? Was zum Teufel haben sie denn vor?«

Jetzt wurde es spannend. Meine Größe schien mir wieder einmal Glück zu bringen, ich schöpfte Hoffnung. »Weißt du denn gar nicht, wo wir hier sind, Willow?«, fragte mich die getigerte kleine Katze. »Du musst uns unbedingt helfen, hier herauszukommen, sonst sind wir alle verloren. Du bist groß und stark, dir fällt doch sicher etwas ein, damit wir aus dieser schrecklichen Lage befreit werden!«, fügte das Kaninchen noch hinzu. Prima dachte ich, jetzt starren mich alle Tiere hoffnungsvoll an und mir blieb die Sprache weg. Was sollte ich ihnen schon erzählen? – Klar Leute, morgen seid ihr alle wieder zu Hause … –? Oder vielleicht … wartet, ich mach eure Käfige auf, dann kommt ihr schneller raus …?

Nichts fiel mir ein, aber auch absolut gar nichts. Ich konnte mich kaum bewegen in meiner kleinen Box, wie sollte mir denn da etwas Geistreiches einfallen? Es war aussichtslos. Tränen kullerten mir über die Lefzen, meine Ohren hingen weit herunter.

»Lippenstift! …«, hörte ich das Kaninchen flüstern. »Wie bitte?«, fragte ich zurück. »Hast du noch niemals von Lippenstift gehört?« »Was meinst du damit, Kaninchen. Na klar kenne ich Lippenstift, aber warum sprichst du davon?« »Genau das ist der Grund, warum wir hier gefangen genommen werden. Diese verrückten Menschen verkaufen uns für viel Geld an andere Leute, die Lippenstift verkaufen. Und durch uns wollen sie herausfinden, ob dieser Lippenstift für die Menschen gefährlich ist oder nicht.«

»Was meinst du mit – gefährlich?«

»Na, ob er giftig ist, Allergien auslöst oder krank macht!«, »aber … das hieße ja, dass wir dann auch krank werden, wenn dieses Zeug an uns ausprobiert wird!«

»Na sicher, dies bleibt dann den Menschen erspart! Aber glaube mir, Willow, dich werden sie wieder laufen lassen, du bist einfach zu groß!«

»Aber ich kann euch doch nicht eurem Schicksal überlassen, ich werde eine Lösung finden, euch zu befreien. Das schwöre ich, so wahr ich der große Willow bin!«

»Psst, seid leise, ich glaube die Männer kommen zurück!«, rief das Mäuschen ganz plötzlich.

Und tatsächlich, die Türe öffnete sich und die zwei schrecklichen Gestalten, die mich hierher gebracht hatten, betraten den Raum. Ich knurrte sie an, auch wenn ich ihnen in meinem Käfig nichts antun konnte. Aber mir war einfach danach. Sie nahmen meine Kiste wieder hoch und schleppten mich aus dem Raum. Ein kurzer, trauriger Blick traf noch einmal die Maus, das Kaninchen, die Ratte und das Kätzchen. Ob ich sie wohl jemals wiedersehen werde? Wartet ab, ich werde mein Versprechen halten!

Die Tiere hatten Recht. Scheinbar hatten die Tierfänger mit einem kleinen Hund gerechnet, als sie die Falle auf der Straße aufstellten. Ich war für ihre grausamen Vorhaben einfach zu groß, sicher hatten sie auch Angst vor mir. Ich sehe ja auch ganz schön gefährlich aus!