978-3-401-80124-7.tif

Autor

Susanne Mischke,
Jahrgang 1960, konnte mit vier »Max und Moritz« auswendig,
mit acht Jahren entschloss sie sich zu publizieren: eine Geschichte
über ihren Hamster für die Vitakraft-Packung. Das Werk wurde
nie gedruckt. Aus Verlegenheit studierte sie BWL.
Ein zweiter Schreib-Anlauf hatte mehr Erfolg. Seit 1993 arbeitet sie
als freie Schriftstellerin und wurde 2001 mit dem Frauen-Krimipreis
der Stadt Wiesbaden ausgezeichnet. Zahlreiche ihrer Romane
sind Bestseller geworden, darunter auch »Zickenjagd«, »Nixenjagd«,
»Waldesruh« und »Rosengift«, ihre vier Jugendthriller.

Titel

Susanne Mischke

Röslein stach

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80124-7
www.arena-thriller.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

1.

Bis zu diesem Morgen war Antonias Leben so zäh verlaufen wie ein langweiliger Schwarz-Weiß-Film. Doch nun saß sie am Frühstückstisch und brachte vor Aufregung keinen Bissen hinunter. Gerade verabschiedete ihre Mutter Ralph mit Küsschen rechts, Küsschen links und noch einem Küsschen auf den Mund. Antonia schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken, wie man einen Mann wie Ralph – wenig Haar, wenig Kinn, viel Bauch – küssen konnte. Sie wartete, bis sie seinen Wagen wegfahren hörte. Zum Glück würden sie ihn für den Rest der Woche los sein, er reiste zu einer Messe nach Berlin. So musste Antonia es erst einmal nur mit ihrer Mutter aufnehmen. Sie trank einen Schluck Kaffee, nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte: »Mama, ich will ausziehen!«

Noch während sie es aussprach, wurde ihr mulmig zumute. Sie hatte sich auf sehr dünnes Eis gewagt. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ihre Mutter, die gerade Ralphs marmeladenverschmierten Teller abräumte und in die Spülmaschine stellte, richtete sich auf und drehte sich zu ihrer Tochter um, eine tiefe Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Wie bitte? Was ist denn das für ein Unsinn?«

Mit einer Reaktion wie dieser hatte Antonia gerechnet, dennoch merkte sie, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Nicht heulen, beschwor sie sich, jetzt bloß nicht losheulen! Sie hatte sich fest vorgenommen, während des folgenden Gesprächs vernünftig und ruhig zu bleiben, damit ihre Mutter sie ernst nehmen würde. Aber in letzter Zeit fiel es ihr immer schwerer, sich zu beherrschen, egal, ob es um eine neue Klamotte oder die Erlaubnis für eine Party ging, die sie sich erstreiten musste. Ungewollt und überfallartig stiegen beim geringsten Anlass diese verdammten Tränen in ihr hoch. Das Fatale daran war, dass ihre Mutter und Ralph ihr unterstellten, das Weinen wäre eine Masche von ihr, um ihren Willen durchzusetzen. Und natürlich schalteten sie dann erst recht auf stur. Doch obwohl Antonia klar war, dass die Heulerei alles nur verschlimmerte, war sie völlig machtlos dagegen.

Auch jetzt hatte ihre Stimme schon wieder diesen verdächtigen, zittrigen Unterton. »Ich will ausziehen. Ich will nicht jeden Morgen eine Dreiviertelstunde bis zur Schule fahren.«

Nach den Sommerferien würde Antonia in die elfte Klasse kommen. Antonias jetzige Schule besaß jedoch keine Oberstufe. Die meisten ihrer Mitschüler, die das Abitur machen wollten, würden dafür ab August in die nächstgelegene Gesamtschule am Stadtrand Hannovers gehen, was jeden Tag eine umständliche Fahrt mit Bus und S-Bahn bedeutete.

»Was willst du dann? Die Schule schmeißen? Bei deinen guten Noten?«

»Ich möchte die Oberstufe am Helene-Lange-Gymnasium in Hannover-Linden besuchen und dort will ich auch wohnen.« So, jetzt war es raus. Antonia fühlte sich, als hätte man ihr gerade eine schwere Last abgenommen.

Doris Reuter sah ihre Tochter an. In ihrem Blick lag Verwirrung, Zorn und – was war das – Angst? Dann schüttelte sie den Kopf und lachte bitter auf. »Und woher soll ich das Geld nehmen, um dem Fräulein eine Stadtwohnung zu finanzieren? Sehe ich aus wie eine Millionärin?«

Nein, wie eine Millionärin sah ihre Mutter wirklich nicht aus. Ihre Jeans und das T-Shirt hatten schon deutlich bessere Zeiten gesehen und ihr dunkles Haar, dem die Dorffriseurin einen rigorosen Kurzhaarschnitt verpasst hatte, müsste mal wieder nachgefärbt werden. Auch sonst ging es in der Familie nicht luxuriös zu: Die Lebensmittel stammten von Aldi, auch Antonias heiß geliebtes Toastbrot, und das hässliche kleine Haus, in dem sie lebten, gehörte Ralph. Ralph mit ph. Ein Name, der klang wie das Geräusch, das entsteht, wenn eine Hängematte reißt. Ralph war der Mann ihrer Mutter. So nannte ihn Antonia in Gedanken: Der Mann meiner Mutter. Nicht etwa Papa, was ihm sicher gefallen hätte, zumindest hatte er es ihr angeboten. Aber sie wollte die vertrauliche Anrede für ihren richtigen Vater reservieren, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo dieser sich aufhielt, ob er noch lebte und ob er überhaupt von ihrer Existenz wusste. Antonia war sicher, dass er eines Tages auftauchen würde. Zumindest verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte, fiktive Lebensläufe für ihn entwarf und sich den Moment ihrer Begegnung in rosaroten Tönen ausmalte. Ihre Mutter hüllte sich, was das Thema Vaterschaft anging, in Schweigen. Je bohrender Antonias Fragen mit den Jahren geworden waren, desto ablehnender hatte sie reagiert.

Antonia jedoch fühlte sich wie ein Puzzle, bei dem die Hälfte der Teile fehlte. Nicht einmal ein Foto hatte sie von ihrem Erzeuger. Vermutlich hatte sie dessen Haar- und Augenfarbe geerbt, denn in der Familie ihrer Mutter hatte niemand rötliches Haar und blaugrüne Augen. Der Rest aber war wie eine Leinwand, auf die man nach Belieben Bilder malen konnte.

Vor fünf Jahren hatten sich Antonias Mutter Doris und Ralph Reuter kennengelernt und kurz darauf waren Antonia und ihre Mutter zu ihm aufs Dorf gezogen, wo er bei einer Reparaturwerkstatt für Landmaschinen arbeitete. Antonia, die bis dahin ihre Kindheit in der Südstadt von Hannover verbracht hatte, hatte sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt. Sie wollte nicht in eine andere Schule, wollte nicht von ihren Freundinnen getrennt werden und schon gar nicht auf dieses langweilige Dorf ziehen. Und am allerwenigsten wollte sie unter einem Dach mit Ralph leben. Sogar in einen Hungerstreik war sie getreten, den sie immerhin vier Tage durchgehalten hatte. Vergeblich.

»Du gewöhnst dich schon an die neue Umgebung, es ist doch schön da draußen, kein Lärm, kein Gestank. Wir werden einen Garten haben, du wirst neue Freunde finden und Ralph hat dich wirklich gern. Gib ihm wenigstens eine Chance«, hatte ihre Mutter sie gebeten. Bald nach dem Umzug hatten Doris und Ralph geheiratet, was Antonia mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen hatte. Ralph hatte sogar vorgeschlagen, sie zu adoptieren, damit alle in der Familie einen gemeinsamen Namen tragen würden, aber dagegen hatte Antonia ebenfalls vehement protestiert. Denn wie sollte ihr richtiger Vater sie jemals finden, wenn sie ihren Nachnamen wechselte? Wenigstens in dieser Angelegenheit wurde ihr Protest gehört: Ralph verzichtete auf die Adoption und Antonia durfte ihren Nachnamen Bernward behalten, während ihre Mutter nun Doris Reuter hieß.

Antonia hatte Ralph von Anfang an nicht leiden können und sie war sicher, dass es Ralph umgekehrt genauso ging. Ihre gegenseitige Abneigung war vermutlich das Einzige, das sie gemeinsam hatten, auch wenn Ralph gegenüber Antonias Mutter so tat, als läge ihm Antonias Wohlergehen am Herzen. Es war nicht so, dass Ralph Antonia schlecht behandelte, sie konnte ihm keine konkreten Untaten vorwerfen. Aber Antonia hatte feine Antennen, sie spürte, dass sie für ihn nur das lästige Anhängsel ihrer Mutter war. Also blieb Antonia am Abend meist in ihrem Zimmer, las, chattete oder sah fern. Den Fernseher hatte ihr Ralph geschenkt. Es war ein altes Röhrengerät, das er wahrscheinlich für zehn Euro gebraucht gekauft hatte. Antonia wusste: Das war seine Art, sich seine Stieftochter nach Feierabend vom Hals zu halten. Knickerig war er zu allem hin auch noch. Das einzig brauchbare »Geschenk«, das sie je von ihm erhalten hatte, war sein abgelegtes Fotohandy gewesen, nachdem er seinen Vertrag verlängert und ein neues bekommen hatte. Mit einer leisen Wehmut dachte Antonia an die Zeit zurück, als es noch keinen Ralph gegeben und sie die Abende mit ihrer Mutter auf dem großen Sofa verbracht hatte; lesend oder fernsehend, aber jedenfalls zusammen. Doch ihre Beziehung zu ihrer Mutter war seit Ralph deutlich distanzierter geworden. Selbst wenn Ralph auf Reisen war, blieb Antonia in ihrem Zimmer. Wie ein Wellensittich, der sich an seinen Käfig gewöhnt hatte und mit der offenen Tür nichts anzufangen wusste.

Manchmal hörte Antonia spät am Abend von unten herauf laute Stimmen. Sie stritten. Dann hoffte Antonia jedes Mal inständig, dass die zwei sich trennen und sie und ihre Mutter wieder in die Stadt ziehen würden. Vor etwa einem Jahr schienen sich ihre Hoffnungen zu erfüllen, als ihre Mutter am Tag nach einem solchen Streit ihr bläulich verfärbtes Auge unter einer großen Sonnenbrille zu verstecken versuchte. Damals war Antonia überzeugt gewesen, dass ihre Koffer gepackt sein würden, wenn sie aus der Schule zurückkam. Doch nichts dergleichen geschah. So oft und heftig sich Ralph und ihre Mutter auch stritten, schienen sich die beiden doch immer wieder zu versöhnen. Worum sich die Streitereien drehten, wusste Antonia nicht. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Kopfhörer aufzusetzen und Musik zu hören, wenn es unten mal wieder rundging. Sie fragte auch nicht nach. Bestimmt stritten sie ihretwegen, denn oft genug nörgelte Ralph, sie sei egoistisch und verzogen, und dann fing ihre Mutter jedes Mal an, sie zu verteidigen, während Antonia dachte: Soll er doch von mir denken, was er will, mir ist es egal.

Entgegen der Prophezeiung ihrer Mutter hatte sich Antonia in ihrem neuen Zuhause nie wohlgefühlt. Hier war es einfach nur öde. Es gab keinerlei Abwechslung, vom Fußballplatz und der dort herumlungernden Dorfjugend mal abgesehen. Aber das waren Gestalten, denen Antonia lieber aus dem Weg ging. Und von wegen »kein Krach und kein Gestank«! Irgendwo knatterte immer ein Trecker, jaulte eine Motorsäge, schnurrte ein Rasenmäher oder bellte ein Köter. Zur Erntezeit umkreisten riesige Mähdrescher nächtelang das Dorf, bei Westwind roch es erbärmlich nach Schweinemist. Der süßlich-dumpfe Geruch kam von einer monströsen Schweinemastanlage außerhalb des Ortes und von der Gülle, die in regelmäßigen Abständen ausgebracht wurde. Dann konnte man sich kaum draußen aufhalten und manchmal glaubte Antonia, dass sogar ihre Kleidung und die Handtücher im Badezimmer nach Schweinescheiße rochen. Was durchaus sein konnte, da ihre Mutter die Wäsche gerne draußen, »an der frischen Luft«, aufhängte. Vermutlich hatte sich der Gestank schon in ihren Poren festgesetzt und sie würde diesen Dorfgeruch nie mehr loswerden.

Es war schwierig gewesen, neue Freunde zu finden. Die Jugendlichen aus dem Dorf kannten sich alle von klein auf und akzeptierten Antonia nicht. Antonia wiederum hatte auch kein großes Interesse an ihnen gezeigt. Inzwischen zwar sie mit zwei, drei Mädchen aus ihrer Schule locker befreundet, aber selbst die wohnten nicht im Ort, sondern in den umliegenden Nachbardörfern. Antonia verbrachte viel Zeit im Netz. Das Internet war ihr Draht zum Rest der Welt. Es vermittelte ihr das tröstliche Gefühl, am Leben der anderen teilhaben zu können, irgendwie dazuzugehören, auch wenn sie an diesem tristen Ort hier festsaß. Ohne Internet, das war ihr klar, würde sie ihr Leben wohl kaum ertragen.

Über Facebook hatte sie seit einigen Monaten wieder Kontakt zu Freundinnen aus ihrer Kinderzeit in der Südstadt aufgenommen. So war Antonia auch auf die Idee auszuziehen gekommen: Katharina Buchmann, Katie genannt, war vor zehn Jahren zusammen mit Antonia eingeschult worden. Sie hatten in der Grundschule nebeneinander gesessen und waren dicke Freundinnen gewesen. Kürzlich hatte Katie beschlossen, die Schule nach der zehnten Klasse zu verlassen, und in den nächsten Tagen würde sie eine Lehre als Tontechnikerin beginnen. Vor zwei Wochen schon hatte ihr Katie voller Begeisterung mitgeteilt, dass sie in eine WG gezogen sei. »Es ist eine alte Villa am Lindener Berg. Bisschen baufällig, aber okay. Und total billig, mit allem Drum und Dran kostet das Zimmer nur zweihundert Euro. Es ist übrigens noch eins frei…«

»Das wird meine Mutter nie erlauben!«, war Antonias erste Reaktion gewesen. Aber Katie hatte entgegnet: »Dann frag sie doch gar nicht. Meine Eltern waren auch dagegen, aber was wollen sie groß machen? Sie können mich ja schließlich nicht anbinden. Und inzwischen finden sie es ganz okay.«

»Aber du verdienst bald schon dein eigenes Geld, ich nicht«, hatte Antonia erwidert.

»Du kannst doch jobben«, hatte Katie vorgeschlagen. »Und du kriegst bestimmt Schüler-BAföG. Überleg es dir. Dann wären wir zu viert, es wohnen noch zwei Jungs im Haus.«

Katies Worte waren Antonia nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ausziehen! Jetzt! Sie war völlig fasziniert von diesem Gedanken.

Als sie in Ralphs Haus gezogen waren, hatte Antonia im Stillen beschlossen, noch am Tag ihres achtzehnten Geburtstags wieder zurück in die Stadt zu ziehen. An diesem Gedanken hatte sie sich festgehalten, wie ein Häftling, der die Tage bis zu seiner Entlassung herunterzählt. Doch auf einmal schien der lang gehegte Traum zum Greifen nah. Sie musste lediglich ein paar Hürden überwinden…

Gleich nach dem Gespräch mit Katie hatte Antonia im Internet über das Thema Schüler-BAföG recherchiert und herausgefunden, dass die Voraussetzungen, es zu bekommen, gut für sie standen: Das nächste Gymnasium lag so weit von ihrem Dorf entfernt, dass ein Umzug in die Stadt gerechtfertigt war. Auch wenn es ihr im Grunde egal war, ob sie an einer Gesamtschule oder einem Gymnasium ihr Abitur machte oder ob sie einen langen Schulweg hätte: Antonia wollte einfach weg aus diesem Dorf, weg von Ralph, zurück in die Stadt.

Katie mailte Fotos. Antonia war begeistert. Hinter einem romantisch verschnörkelten Eisenzaun stand eine prächtige Villa aus der vorigen Jahrhundertwende. Was machte es schon aus, dass der Putz stellenweise schon ein wenig abbröckelte und das freie Zimmer ein recht enger Schlauch zu sein schien. Egal! Wenn man das Ganze hübsch einrichtete, könnte es ein kleines Paradies sein. Ihr Paradies. Schließlich hatte sie Katie angerufen und sie gebeten, das Zimmer für sie freizuhalten. Sie würde noch diese Woche mit ihrer Mutter sprechen.

»Aber beeil dich, wir kriegen ständig Nachfragen«, hatte Katie gedrängt und dann gesagt: »Mensch, Toni, zieh das durch, das wäre so cool!«

Cool. Das sagt sich so leicht, dachte Antonia nun, unter dem erbosten Blick ihrer Mutter. Sie holte tief Luft und hörte sich dann sagen: »Du musst mir keine Stadtwohnung bezahlen. Ich will kein Geld von euch.« Das euch hatte abfälliger geklungen als beabsichtigt und sie bemerkte, wie ihre Mutter dabei zusammenzuckte. Etwas gemäßigter fuhr sie fort: »Ich werde einen BAföG-Antrag stellen und jobben. Und wohnen werde ich bei Katie in ihrer WG, das ist nicht teuer.«

Zwar hatte ihre Stimme zuletzt brüchig wie Zwieback geklungen, aber sie hatte es geschafft, ihre Argumente vorzubringen, ohne in Tränen auszubrechen. Sie war stolz auf sich – ganz egal, was nun passieren würde.

»Das alles hast du hinter meinem Rücken angezettelt?« Die Fassungslosigkeit war ihrer Mutter deutlich anzuhören.

»Was heißt ›angezettelt‹? Ich habe mich nur informiert, im Internet. Katie hat mir das Zimmer reserviert, ich soll mich noch diese Woche entscheiden. Ich muss mich ja auch rechtzeitig bei der Schule anmelden.«

»Wer ist Katie?«

»Katharina Buchmann, sie ging früher in meine Klasse. Sie hat uns doch früher ganz oft besucht, sag bloß, du weißt das nicht mehr?«

Hatte ihre Mutter ihr früheres Leben schon so sehr aus ihrem Gedächtnis getilgt, dass sie sich nicht einmal mehr an die beste Freundin ihrer Tochter erinnerte? Antonia schluckte ihren Ärger darüber hinunter und erklärte: »Sie fängt jetzt eine Lehre an, ihre Eltern haben auch nichts dagegen, dass sie in eine WG zieht.« Dass Katie fast ein Jahr älter war als Antonia, ließ sie bewusst unter den Tisch fallen. Aber ihre Mutter ging ohnehin nicht darauf ein, sondern ereiferte sich jetzt: »Ausziehen? Wie stellst du dir das vor? Das werde ich auf gar keinen Fall erlauben!«

»Wieso denn nicht? Wenn ich statt des Abiturs eine Lehre machen würde, müsste ich ja auch in die Stadt ziehen, hier gibt es ja nichts.« Unwillkürlich wurde nun auch Antonias Stimme laut: »Und schließlich bin ich auch nicht gefragt worden, ob ich in dieses Scheißdorf ziehen will, zu deinem Macker…«

Klatsch! Die Ohrfeige traf Antonia an der linken Wange. Vor Schreck stieß sie ihre Tasse um, der Kaffee lief über die Tischplatte und tropfte auf die gelblichen Bodenfliesen.

Antonia sprang auf, rannte hinauf in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Ihre Wange brannte, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie fühlte sich gedemütigt, aber gleichzeitig war ihr klar, dass diese Ohrfeige den Schlusspunkt hinter ihr bisheriges Leben gesetzt hatte. In einem Haus, in dem sie geschlagen wurde, würde sie nicht länger bleiben.

»Entschuldige, ich… das wollte ich nicht«, hörte Antonia ihre Mutter durch die Tür rufen. »Antonia, mach bitte auf! Es tut mir leid.«

Antonia versuchte, ihre Mutter, die gegen die Tür hämmerte, zu ignorieren. Mit zitternden Händen nahm sie ihr Handy aus der Schultasche und tippte eine SMS an Katie: Ich nehme das Zimmer. Als sie auf Senden drückte, war ihr erneut ein wenig flau im Magen, doch sie spürte auch, wie der fest um sie geschlossene Kokon der vergangenen Jahre von ihr abfiel und sich eine völlig neue Perspektive auftat. Ja, sie würde ein neues Leben anfangen. Ein selbstbestimmtes, neues Leben in der Stadt, in einer angenehmen Atmosphäre, ohne kleinliche Vorschriften, ohne Ralph…

»Antonia, lass uns miteinander reden!«

Reden? Jetzt wollte sie reden? All die Jahre hatte sich alles nur um Ralph gedreht, es war ihr egal gewesen, wie einsam Antonia sich hier gefühlt hatte, und jetzt also wollte sie reden. Antonia fand, dass alles gesagt war. Die Arme um die Knie geschlungen, setzte sie sich auf ihr Bett und wartete, bis ihre Mutter das Klopfen und Rufen aufgab. Dann raffte sie ihre Schulsachen zusammen und lief die Treppe hinunter, vorbei an der Küche. Als sie Antonia hörte, drehte sich ihre Mutter nach ihr um. »Antonia, warte!«

Sie hatte geweint, das sah Antonia, und es versetzte ihr wider Erwarten einen Stich.

»Du kannst mich doch hier nicht allein lassen!« Ihre Stimme klang flehend, so hatte sie ihre Mutter noch nie reden hören. Jedenfalls nicht mit ihr.

Was sollte das denn nun wieder bedeuten, sie allein lassen? Soll sie doch froh sein, kann sie ihren Ralph endlich ungestört genießen – und so viel würde sich für ihre Mutter doch gar nicht ändern, sie hatte Antonia doch während der letzten Jahre ohnehin kaum wahrgenommen. Sie antwortete nicht und blieb auch nicht stehen. Ohne ein Wort des Abschieds ging sie zur Haustür, schloss ihr Fahrrad auf und fuhr davon. Sie würde zu spät zur Schule kommen, aber was machte das jetzt noch aus, wo die Schule in drei Tagen zu Ende war? An der ersten Kreuzung piepste es in ihrer Schultasche. Eine SMS von Katie. Super, ich freu mich!

Mit schwarzer Tinte setzte Frau Dr. Tiedke ihre Unterschrift unter die Entlassungspapiere des Patienten Leopold Steinhauer. Der Mann war sechzig Jahre alt und hatte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in der forensischen Abteilung des Landeskrankenhauses Wunstorf verbracht. Anfangs hielt sie die Unterbringung in einer Einzelzelle der geschlossenen Abteilung für notwendig, immerhin galt der Mann als gefährlich und unberechenbar. Aber da er sich gut benahm und auch irgendwann zu seiner Tat bekannte, gewährte ihm Frau Dr. Tiedke mit der Zeit immer mehr Lockerungen. Steinhauer war ihr stets höflich begegnet, er hatte nie eine Sitzung verweigert, hatte klaglos alle verordneten Medikamente geschluckt und sich auch sonst geradezu mustergültig verhalten. Er betreute einen Teil des Patientengartens. Von Frühling bis Herbst fand man ihn fast nur dort. Alle Gartenbesucher waren sich einig, dass seine Parzelle mit Abstand der schönste Teil des Gartens war, ein kleines Paradies. Im Winter malte er und hörte dazu klassische Musik.

In seinem vorigen Leben war er Professor für zeitgenössische Malerei an der Fachhochschule Hannover gewesen. Nachdem er in der Klinik wieder zu malen begonnen hatte, waren seine Bilder regelmäßig von seinem Galeristen abgeholt worden. Sie verkauften sich noch besser und vor allen Dingen teurer als vor seiner Verurteilung. Besonders die »rote Serie«. Steinhauer würde die Klinik nicht als armer Mann verlassen.

Mit der Zeit hatte sich zwischen Leopold Steinhauer und Frau Dr. Tiedke eine Art Freundschaft entwickelt – natürlich mit der notwendigen Distanz, die die Beziehung zwischen Psychiater und Patient erforderte. Niemals hatte die Therapeutin ihm etwas über ihr Privatleben erzählt. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass er vieles über sie wusste. Steinhauer war einfühlsam, klug und charmant, dabei aber niemals anzüglich. Sie hatten oft über Pflanzen gesprochen, aber auch über Malerei, Literatur und Politik. Da er die Tageszeitungen und Magazine, die im Aufenthaltsraum auslagen, regelrecht verschlang, wusste er stets über das Weltgeschehen Bescheid. Er war ihr stets ein angenehmer Gesprächspartner gewesen und ganz im Geheimen musste sich Frau Dr. Tiedke eingestehen, dass sie ihren Lieblingspatienten wohl vermissen würde.

Vor zwanzig Jahren hatte Leopold Steinhauer ein Mädchen ermordet.

Aufgrund der Umstände der Tat hatte sein Anwalt vor dem Landgericht Hannover auf vorübergehende Schuldunfähigkeit plädiert und war damit durchgekommen. Somit war Steinhauer eine Haftstrafe erspart worden und er war stattdessen hier, in der Psychiatrie, gelandet.

Frau Dr. Tiedke seufzte, als sie die Akte zuklappte. Sie hatte schon einige Patienten wie Steinhauer therapiert und schließlich, nach zahlreichen Begutachtungen über Jahre hinweg, in die Freiheit entlassen. Die meisten dieser ehemaligen Straftäter waren sauber geblieben und führten ein unauffälliges, normales Leben. Aber eben nicht alle. Trotz guter Prognose wurden manche doch rückfällig, mitunter erst nach Jahren. Das war das Restrisiko, mit dem die Gesellschaft leben musste.

Steinhauers Prognose war jedoch so günstig, wie es selten bei einem Patienten vorkam, darin waren sich die Wunstorfer Ärzte mit dem externen Gutachter einig. Seine Entlassung war eine logische Konsequenz daraus, das Risiko denkbar gering. Und doch, ein geringer Zweifel blieb immer.