978-3-401-80177-3.tif

Die Autorin

Zara Kavka
hat nach dem Studium der Theaterwissenschaft
viele Jahre als Redakteurin beim Kinderfernsehen gearbeitet.
Als sie dann selbst Kinder bekam, fing sie mit dem Schreiben an
und kann seitdem nicht mehr damit aufhören.
Zara Kavka lebt mit ihrer Familie in München.

Titel

Zara Kavka

Giftkuss

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80177-3

www.arena-verlag.de
www.arena-thriller.de
facebook.com/arenathriller

Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Zitat

Freundschaft ist etwas
jenseits von Liebe


(Henry Miller)

Prolog

Sabrina öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus. Wie immer strömte ihr der Geruch von Essen, Müll und Putzmitteln entgegen. Meist deprimierte sie dieser Geruch, aber heute nicht. Heute war Sabrina glücklich. Daher versuchte sie erst gar nicht, ob der Aufzug funktionierte, sondern rückte den Gurt ihrer Reisetasche auf der Schulter zurecht und machte sich zu Fuß auf den Weg in den siebten Stock. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und bei jedem Schritt wuchs die Vorfreude.

Als Erstes erzähle ich ihr von Silvie, die sich auf der Hinfahrt im Bus einfach neben mich gesetzt hat, obwohl es noch andere freie Plätze gegeben hätte. Laura wird vor Freude quietschen! Jetzt habe ich richtige Freunde.

Dritter Stock. Sie achtete darauf, mit der linken Hand nicht die Dreckstellen des Geländers zu berühren. Wie schön sich das Holzgeländer in der Jugendherberge angefühlt hatte. Es war von oben bis unten makellos und blank poliert – herrlich. Davon erzähle ich ihr auch und vom Zoo und diesem riesigen Baumhaus. Das wird ihr gefallen!

Fünfter Stock. Gleich hatte sie es geschafft. Laura und sie waren noch nie eine Nacht getrennt gewesen und jetzt waren es gleich vier.

Sechster Stock. Der Riemen der Tasche schnitt tiefer in ihre Schulter und sie musste ihren Schritt verlangsamen. Der Geruch war mit jeder Etage schlimmer geworden und sie begann zu ahnen, woher er kam. Und wennschon! Mein Leben hat sich verändert, komplett. Ein, zwei Tage aufräumen, dann ist alles wieder gut.

Sie kramte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche, steckte ihn ins Schlüsselloch und öffnete die Tür. Reflexartig hielt sie sich die Nase zu und trat einen Schritt zurück. Noch nie hatte sie einen so penetranten Gestank gerochen. Sie horchte. Wenn sie nach Hause kam, empfing Laura sie immer mit einem Freudenquietscher – selbst wenn sie nur eine Stunde einkaufen gewesen war. Jetzt hörte sie nur das Dröhnen des Fernsehers.

»Laura?«

Stille.

Mit einem heftigen Ruck ließ sie ihre Reisetasche fallen und stieg über die Tüten und Kisten im Flur, nahm im Vorbeigehen schemenhaft das Chaos in der Küche und im Wohnzimmer ihre Mutter wahr, die unbeweglich in ihrem Sessel saß und auf den Bildschirm glotzte. Am Ende des Flurs betrat sie das Zimmer ihrer kleinen Schwester und erstarrte.

Was sie da sah, durfte nicht sein. Entsetzt legte sie die Hände vor den Mund. Die kleine Laura lag zusammengerollt auf ihrem Bett, die Augen starr in die Mitte des Zimmers gerichtet. Sabrina löste sich aus ihrer Starre, rannte zum Fenster und öffnete es. Dann kniete sie sich neben Laura und schüttelte sie.

»Laura, Laura, La3ura…!«

Immer wieder schrie sie ihren Namen, schüttelte sie, drückte sie an sich. Es musste ein Albtraum sein, ein Irrtum, ein dummes Versehen!

»Laura, jetzt sag was. Ich bin’s, Sabrina!«

Endlich hielt sie inne und legte ihre Schwester behutsam hin, um sie nicht zu verletzen – obwohl sie wusste, dass sie bereits tot war.

Berlin, Silvie, der Zoo… In ihrem Magen formte sich ein dicker Klumpen und plötzlich wurde ihr schlecht. Sie sprang auf, rannte ins Bad und übergab sich in die verdreckte Kloschüssel.

Mama! Sie richtete sich auf. Alles begann, sich zu drehen, und sie stützte sich am Spülbecken ab. Dann lief sie ins Wohnzimmer und schrie.

»Mama! Was ist passiert?«

Doch ihre Mutter schien sich in einer anderen Welt zu befinden. Schmerzhaft langsam löste sie ihren Blick vom Bildschirm und drehte den Kopf.

»Du? Wo warst du so lange?«

»Was ist passiert?« Sabrina brüllte jetzt und ihre Mutter verzog gequält das Gesicht.

»Schrei nicht so. Was soll passiert sein?«

»Laura ist…«

Und weil sie dieses eine kleine Wort nicht aussprechen konnte, drehte ihre Mutter den Kopf wieder zurück zum Fernseher, als schaute sie eine spannende Sendung, von der sie keine Sekunde verpassen durfte.

»Laura liegt tot auf ihrem Bett.«

Ihre Mutter reagierte nicht.

Sabrina rannte ins Wohnzimmer, stellte sich vor ihre Mutter und schüttelte sie ebenso hart wie zuvor ihre Schwester. Dabei merkte sie, wie anders sie sich anfühlte. Ihr Körper bewegte sich keinen Millimeter, so dick und wuchtig war er. Erschrocken ließ sie von ihr ab.

»Laura ist tot, hörst du mich?«, schrie sie ihre Verzweiflung heraus.

»Laura ist tot?«, fragte die Mutter. »Aber warum denn?«

»Hast du ihr die Medikamente gegeben?«

»Medikamente?«

»Und Frau Bertels? Ich hatte sie extra gebeten, nach euch zu schauen.«

»Es hat geklingelt, ja, aber ich habe niemanden reingelassen.«

Sabrina griff nach dem Din-A4-Blatt, das unter den Chipstüten und Pizzakartons hervorschaute.

»Ich hab dir alles zurechtgelegt. Die Medikamente, das Essen, alles. Und hier…«

Sie hielt ihr das Papier unter die Nase.

»Diesen Zettel hatte ich dir geschrieben. Du hast mir versprochen, dass du dich um sie kümmerst.« Ihre Stimme überschlug sich.

»Ja… stimmt.« Ihre Mutter legte sich den Zettel auf den Schoß, schaute verträumt auf ihn herab und strich ihn mit der rechten Hand immer wieder glatt, von unten nach oben.

»Mama, sprich mit mir. WAS IST PASSIERT?«

Ihre Mutter fing an zu weinen.

»Mama!«

»Ich weiß es nicht«, schluchzte sie. »Erst bist du tagelang weg und jetzt schreist du mich an.«

Mitleid mischte sich mit Sabrinas Wut, eine Kombination, die ihr vertraut war.

»Hast du Laura vergessen?«

»Ich dachte, du hättest sie mitgenommen.«

»Nicht weinen, Mama, nicht weinen.«

Sabrina trat zur Seite, damit ihre Mutter wieder freien Blick auf den Fernseher hatte. Nur so würde sie sich beruhigen, sie konnte ihre Mutter einfach nicht weinen sehen. Das konnte sie noch nie.