Über das Buch

Endlich in neuer Übersetzung: der Boyle-Klassiker über drei schräge Typen und ihren Versuch, in den Bergen nördlich von San Francisco Marihuana anzubauen. Dreist, witzig, spannend.

Felix Nasmyth hat alles hingeschmissen. Er ist bei den Pfadfindern wieder raus sowie aus dem Kinderchor und dem Schulorchester, er hat der Kirche den Rücken gekehrt, das Studium abgebrochen, geheiratet und sich scheiden lassen. Das Einzige, bei dem er durchgehalten hat, ist das Sommerlager mit seinen Freunden. Und davon erzählt er in diesem Buch: Einen ganzen Sommer über mühen sich er und seine Freunde, drei verspätete Hippies, mit dem Ha fanbau in Mendocino County ab. Danach, so ihr Traum, müssen sie nichts anderes tun, als zu ernten und eine halbe Million steuerfreie Dollar einzusacken. Doch sie haben nicht mit schnüffelnden Nachbarn, sintflutartigen Regenfällen, dem Stachel der Lust und mit Felix’ neuer Liebe gerechnet – die schöne Töpferin Petra, mit der ihn ein gemeinsamer Feind verbindet: der alles andere als zimperliche Officer Jerpbak. Und der Traum vom leichten Geld, die »grünen Hoffnungen«, lassen auf sich warten.

T. Coraghessan Boyle

GRÜN IST
DIE HOFFNUNG

Roman

Aus dem Englischen
von Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 1984

unter dem Titel Budding Prospects bei Viking in New York.

Das Motto von Arthur Miller wird zitiert aus
Arthur Miller, Tod eines Handlungsreisenden,
aus dem Englischen von Volker Schlöndorff und Florian Hopf,
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1986.

ISBN 978-3-446-25196-0

© T. Coraghessan Boyle 1984

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu

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Dieses Buch ist
für meine gärtnernden Freunde.

Du pflüge tief, wenn der Faule hält Ruh,

so hast du zu essen und zu verkaufen dazu.

Benjamin Franklin: Der Weg zum Reichtum

»Also, Jungs, als ich siebzehn war, bin ich
in den Dschungel gegangen, und als ich
einundzwanzig war, kam ich wieder raus.
Und bei Gott: Ich war reich.«

Arthur Miller: Tod eines Handlungsreisenden

Teil 1
DER BODEN
WIRD BEREITET

Kapitel 1

Ich hab nie was zu Ende gebracht. Ich bin aus der Pfadfindergruppe, dem Chor und der Marschkapelle ausgetreten. Hab aufgehört, Zeitungen auszutragen und in die Kirche oder zum Basketballtraining zu gehen. Ich hab das College abgebrochen, bin mit einem 4-F aufgrund mangelnder mentaler Belastbarkeit dem Militär entgangen, hab das Studium wieder aufgenommen, einen Promotionsstudiengang (Englische Literatur des 19. Jahrhunderts) belegt, in der ersten Reihe gesessen, eifrig mitgeschrieben, mir eine Hornbrille angeschafft und am Vorabend der entscheidenden Prüfung beschlossen, nicht hinzugehen. Ich hab geheiratet, mich bald getrennt und wenig später scheiden lassen. Ich hab das Rauchen, das Joggen und den Verzehr von dunklem Fleisch aufgegeben und jede Menge Jobs hingeschmissen: Totengräber, Tankwart, Versicherungsvertreter, Filmvorführer in einem Pornokino in Boston. Als ich neunzehn war, vögelte ich wie verrückt mit einem spitznasigen, hängebusigen Mädchen, das ich noch von der Highschool kannte. Das Mädchen wurde schwanger. Ich verließ die Stadt. So ziemlich das Einzige, bei dem ich durchgehalten hab, war das Sommerlager.

Und davon will ich Ihnen jetzt erzählen.

Vor zwei Jahren lebte ich allein. Ich wachte allein auf, putzte mir allein die Zähne, machte irgendwelche Aushilfsjobs, aß Burritos aus einer Pappschachtel, las die Zeitung, zog mich aus und ging zu Bett, alles allein. Das Universum hatte sich für eine Weile zusammengezogen, und ich lernte, mich darauf einzustellen. Ich war einunddreißig. Ich saß mit Männern, die einundfünfzig, einundsechzig, einundachtzig waren, an der Theke eines Diners, schlürfte Tomatensuppe mit Reis und sah der Bedienung zu. Manchmal aß ich mit Freunden zu Abend, spielte Billard, tanzte in überfüllten dunklen Clubs zu flotten Latino-Rhythmen; manchmal kam ich mir vor wie ein bärtiger, in die Betrachtung einer Steinwüste versunkener Asket.

An diesem besonderen Abend – es war Ende Februar – blieb ich zu Hause und las. Eine japanische Seilschaft wagte den Aufstieg zum Gipfel des K2, meine Lungen brannten in der dünnen Luft, der tödlich kalte Wind jagte mir Eiskristalle ins Gesicht, als die Nadel des Plattenspielers hängen blieb und Le Sacre du Printemps mit knirschendem Kreischen auf der Stelle trat, als wäre die ganze Truppe aus Najaden und Dryaden und Satyrn in Elastananzügen unvermittelt erlahmt. Ich sah auf. Regen klopfte an die Fenster wie ein schmierig grinsender Voyeur, das Haus gab kleine Geräusche von sich – das Ächzen des Kühlschrankmotors, das Seufzen der Heizung –, das Feuer knisterte ominös um einen Nagel im brennenden Scheit. In diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort, läutete es an der Tür. Es war nach zwölf. Ich warf einen reumütigen Blick auf den Fernseher – bleich geschminkte Zombies schlurften über den Bildschirm und kauten dabei bratwurstartige Eingeweide –, legte das Buch beiseite, verknotete den Gürtel meines Bademantels und ging zum Kopf der Treppe. Es läutete erneut, insistierend.

Ich wohnte in der Fair Oaks Street, drei Blocks westlich der Mission, in einer Wohnung mit eigenem Aufgang. Es war ein in sechs Farben gestrichenes viktorianisches Haus. Ich hatte vier Zimmer, eine Dachterrasse, einen Flur und eine schöne Aussicht. Bevor die Sprechanlage ihren Geist aufgegeben hatte, war das Signal so leise und verrauscht gewesen, dass ich nicht mal die Stimme meiner Mutter erkannt hätte – ebenso wenig übrigens wie Screamin’ Jay Hawkins’ »I Put a Spell On You«. Ich stand am Kopf der Treppe, drückte, eher neugierig als besorgt, auf den Knopf für den Öffner und sah drei Schatten aus der Nässe dort draußen hereinschlüpfen.

Ein Blitz zuckte, Hörner und Geigen kreischten wie eine Alarmsirene ein ums andere Mal denselben gequälten slawischen Ton, und die drei Gestalten polterten bumm-bumm-bumm die Treppe herauf. Für einen bösen Augenblick wich ich zurück und verfluchte mich, weil ich sie so vertrauensselig reingelassen hatte – schattenhafte Gestalten, Fremde, Junkies, mexikanische Betrüger –, doch dann sah ich zu meiner Erleichterung, dass es Vogelsang war. »Felix«, sagte er.

»Hey«, antwortete ich.

Er hatte eine junge Frau dabei, ihr Haar war so kurz wie das einer ostdeutschen Schwimmerin und weißblond gebleicht. Drei Stufen hinter ihr ging ein Typ Ende zwanzig in Gummistiefeln und einem gelben Regenmantel, von dem im trüben Licht des Treppenhauses ein eigenartig phosphoreszierendes Leuchten ausging. Alle drei sahen aus, als wären sie vier-, fünfmal von der Bay Bridge gesprungen: Die Nasen trieften, das Haar klebte am Schädel, Kragen und Schuhe waren klatschnass. Vogelsang grinste sein Psychopathengrinsen. »Lange her«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.

Genauer gesagt: zwei Monate. Vogelsang lebte in herrlicher Abgeschiedenheit in den Bergen oberhalb von Bolinas, wo er ruchlose Geschäfte machte, diverse Perversionen pflegte und Elektrowerkzeug, Holzschnitzereien, gestreifte Barberhop-Stangen sowie kistenweise trockenen Rotwein von obskuren kleinen Weingütern mit Namen wie Ziegenknie oder Sangre de Cristo sammelte. Desgleichen sammelte er antike Motorräder, Kupfertöpfe, Espressomaschinen, so groß wie Kirchenorgeln, geschlechtslose Schaufensterpuppen aus den Fünfzigern (die er bemalte, lackierte und in verblüffenden, obszönen Posen im Haus in Szene setzte), Messer mit Horngriff, tahitische Fischernetze und eine Reihe düster-verkrampfter Ölgemälde mit religiösen Sujets wie der Enthauptung Johannes des Täufers oder den masochistischen Ekstasen von Flagellanten. Alle paar Wochen kam er nach San Francisco, um in Trödelläden zu stöbern, am North Beach herumzuhängen und sich in wilde Partnertauschpartys in Berkeley zu stürzen. Norman Mailer hätte ihn geliebt.

In diesem Augenblick schob er die Frau in den Vordergrund. Ich bemerkte, dass in ihrem rechten Nasenflügel ein dünner Silberring steckte und ihre Zehennägel schwarz lackiert waren. »Das ist Aorta«, sagte Vogelsang. Ich hatte sie gleich eingeordnet: College-Punk-Studentin. Vermutlich stammte sie aus Pacific Heights und hieß in Wirklichkeit Jennifer Harris oder Heather Mashberg. Sie gab mir den harten Blick und streckte die Hand aus, die nass und kalt war wie etwas, das man aus einem Teich gezogen hat. Ich neigte den Kopf und verzog die Mundwinkel.

»Und das«, sagte Vogelsang und wies auf die Gestalt mit Regenmantel drei Stufen unter ihm, »ist Boyd Dowst, ein Freund von mir aus Santa Rosa.«

Daraufhin geriet der Regenmantel in Bewegung, und eine große, knochige Hand wurde über das Treppengeländer gestreckt und ergriff meine. Ich starrte in das Gesicht eines Yankee-Bauern: eckig, mit großen Ohren und Augen, deren Farbe an Stromisolatoren denken ließ. »Ich wohne jetzt in Sausolito«, sagte er und strich sich mit der freien Hand das tropfende Haar aus dem Gesicht. Die andere, freundliche Hand vollführte noch immer pumpende Bewegungen, als erwartete er, dass aus meinen Fingerspitzen Milch oder so spritzte.

Ich war barfuß, mein Bademantel war schmuddelig, die hängende Nadel des Plattenspielers bearbeitete meine Nerven wie eine Baumsäge. Ich bat sie herein.

Vogelsang trat ins Wohnzimmer, zog die nasse Jacke aus und hängte sie über die Lehne eines Stuhls. Seine Bewegungen waren wie immer rasch und nervös wie die einer Wildkatze, die auf die kleinste Regung, das leiseste Knistern reagiert. Er roch nach Regen, aber da war noch ein anderes Aroma, eine dunkle, urtümliche Ausdünstung. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff: Er roch nach Sex. Als er die Jacke zu seiner Befriedigung arrangiert hatte, wandte er sich mir zu, um dieses und jenes zu erläutern, wobei er kurz innehielt, ein Mundspray aus der Tasche zog, zweimal auf den Knopf drückte und dann mit seinem Monolog fortfuhr, in dem er seine neuesten Erwerbungen beschrieb, die baulichen Veränderungen auf seinem Besitz in Bolinas erwähnte, kurz auf die Fortschritte seiner Investitionen in den Rohstoffmarkt einging und schließlich eine ebenso saftige wie detaillierte Schilderung der urbanen Orgie zum Besten gab, an der er und Aorta früher am Abend teilgenommen hatten. Und wie immer sprach er mit einer eigentümlich mechanischen Diktion, jedes Wort deutlich abgesetzt und unverschliffen, als wäre er ein Professor für Linguistik, der eine Podiumsdiskussion über die Zukunft der Sprache leitete.

Ich machte mich in der Wohnung zu schaffen, hörte mit halbem Ohr zu, legte eine andere Platte auf, stellte den Fernseher leiser und kramte einen Aschenbecher, vier Flaschen Bier und ein Plastiktütchen mit Gras hervor. Vogelsang folgte mir auf Schritt und Tritt und hielt seinen Vortrag. Dowst und die Frau setzten sich auf das Sofa. Das Tütchen lag kaum auf dem Tisch, da griff Dowst danach, öffnete es und roch daran – oder vielmehr: Er sog den Geruch ein wie einer, der nach einem langen Tauchgang an die Oberfläche kommt –, woraufhin er verächtlich das Gesicht verzog und das Tütchen auf den Tisch warf, als enthielte es etwas unaussprechlich Widerwärtiges, Hundescheiße vielleicht, oder verfaulende Spatzeneier. Ich sah es aus dem Augenwinkel, als ich die Strawinsky-Platte in ihre Hülle schob.

»Boyd hat in Yale gerade seinen Master gemacht«, sagte Vogelsang, ließ sich auf der Armlehne des Sofas nieder und trank zur dramatischen Unterstreichung des Gesagten einen Schluck Bier. »In Botanik.«

Ich zog einen Sessel heran. »Gratuliere«, murmelte ich, warf Dowst einen Blick zu und wechselte abrupt das Thema – wer interessierte sich schon für irgendein Riesenbaby, das an einer Elite-Uni akademische Lorbeeren gesammelt hatte? Solche Geschichten kannte ich zur Genüge. Ich sagte was über den Regen und machte einen schlechten Witz über das Niveau der Lustbarkeiten auf Vogelsangs Party.

»Du kapierst nicht«, beharrte Vogelsang. »Botanik. Er kann alles wachsen lassen, überall.«

Ich nickte. Die Frau musterte mich, als wäre ich ein Sandwich in der Auslage eines Deli, und Dowst blätterte mit zusammengekniffenen Augen in einer Ausgabe von Scientific American, die er aus einem Stapel auf dem Boden gezogen hatte. Aus dem Fernseher ertönten gedämpfte Schreie. Ich blickte auf und sah die Heldin, gefangen in einem aus dünnen Gipsplatten gebauten Flur, während die behaarten Arme der Zombies – ich staunte über ihre Unersättlichkeit – durch die Wände stießen und nach ihr grapschten.

Vogelsang stellte das Bier ab, fischte das Mundspray aus der Tasche und verpasste sich eine Dosis – der feine, seifige Sprühnebel hing in der Luft wie eine Atemwolke an einem kalten Morgen. »Ich hab heute dreihundertfünfzig Morgen Land in Mendocino County gekauft«, sagte er. »So abgelegen wie der Mond, mit einer Hütte drauf.«

Dowst sah von seiner Lektüre auf. »Und ganzjährig Wasser.« Ich stellte fest, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Regenmantel auszuziehen, der sich um ihn bauschte wie ein Kunststoffzelt, wie ein feucht schimmernder gelber, am Hals geschlossener Friseurumhang. Er versuchte vergeblich, eine nasse Strähne beiseitezustreichen, die neben seiner Nase hing, und wandte sich wieder der Zeitschrift zu.

»Genau«, sagte Vogelsang. »Mit einem Bach und zwei Quellen.«

Es war halb eins. Ich hatte die Frühlingsweihe gehört, es regnete, ich war müde. Ich fragte mich, worauf Vogelsang eigentlich hinauswollte. »Klingt nett«, sagte ich.

»Wir werden ein Sommerlager eröffnen.« Er grinste schief, als wäre dies die Pointe eines subtil aufgebauten Witzes. Dowst lachte in sich hinein. Die Frau saß zusammengesunken vor ihrer unberührten Flasche Moosehead Lager und starrte durch die Wand. Ich stand auf und schaltete das Radio ein.

Das unvermittelte dumpfe Dröhnen einer leisen Basstrommel, ein bisschen kreischendes Metall und dann eine eigenartig distanzierte weibliche Stimme, die wie Eis aus den Lautsprechern kam:

The best things in life are free

But you can save them for the birds and bees,

Give me money, that’s what I want …

»Hör mal, Felix«, sagte Vogelsang, »wie fändest du es, eine halbe Million zu verdienen, steuerfrei?«

Ich setzte mich wieder. Alle drei sahen mich an. »Du machst Witze«, sagte ich.

»Ich meine es todernst.« Vogelsang sah mich mit dem Charles-Manson-Blick an, den er aufsetzte, wenn er vermitteln wollte, dass er es todernst meinte.

»Was«, sagte ich, beugte mich vor und griff nach meinem Bier, »mit einem Sommerlager?«

»Mit Cannabis sativa«, sagte Dowst so leise, als spräche er einen der geheimen Namen Gottes aus.

»Wir pflanzen zweitausend Setzlinge.« Vogelsang starrte auf das Mundspray-Fläschchen, als wäre es mit den Hieroglyphen wirtschaftlicher Kalkulationen beschriftet, mit Kosten-Nutzen-Tabellen und Staffeltarifen für Wertverfall und unversicherten Verlust. Er sah auf. »Rechnen wir ein halbes Pfund pro Pflanze. Das macht tausend Pfund à sechzehnhundert Dollar.« Er hob das Fläschchen an den Mund und klappte das Kinn hinunter, überlegte es sich jedoch anders. Ich sagte nichts. Das Kunststoffventil tippte hypnotisierend im Takt der Musik an seine gespitzten Lippen. »Ich stelle das Kapital und das Land, Boyd kommt alle paar Tage vorbei und sieht nach dem Rechten, und du bist die Arbeitskraft. Wir teilen durch drei.«

Mit einem Mal war ich hellwach, Gehirnzellen pulsierten wie die Freispielanzeige eines Flippers. Vogelsang machte keine Fehler – das wusste ich. Ich wusste auch, dass er einen genialen Riecher für lukrative Geschäfte hatte, denn ich hatte bei zwei glücklichen Gelegenheiten davon profitiert. (Beim ersten Mal gingen wir eine Partnerschaft ein, kauften ein heruntergekommenes viktorianisches Haus in Haight Ashbury, zahlten dreitausend der vereinbarten zwanzigtausend Dollar an, steckten fünfzehntausend in die Renovierung und verkauften es für hunderttausend. Beim zweiten Mal rief er einfach an, gab mir den Namen eines Brokers und sagte, ich solle soviel Zirkon wie möglich kaufen. Ich hatte achttausend Dollar auf der Bank und keinen Job. In einer Woche verdiente ich mehr als im ganzen Jahr zuvor.) Nein: Wenn Vogelsang dahinterstand, würde die Sache laufen. So sicher, wie Segovia für die Gitarre oder Willie Mays für den Baseballschläger geboren war, so war Vogelsang dafür geboren, Pennys zu säen und Dollars zu ernten. Mit dreiunddreißig war er bereits nicht mehr auf eine sichtbare Erwerbstätigkeit angewiesen – seit ich ihn kannte, hatte er nie einen Job gehabt. Stattdessen fand er Investitionsmöglichkeiten, trieb Handel mit legalen wie illegalen Waren, kaufte und verkaufte Häuser und Grundstücke und Gott weiß, was sonst noch, und das alles mit dem unerschütterlichen Selbstvertrauen und Killerinstinkt eines angehenden Gould oder Carnegie.

Und sein Timing war unübertroffen, das muss ich zugeben. Er kam genau im rechten Moment: Meine Scheidung war eineinhalb Jahre her, ich war rastlos und deprimiert und begann mich zu fühlen wie ein Gefangener in Einzelhaft. Eine halbe Million. Es war, als hätte der Chef der NASA mich gefragt, ob ich der erste Mensch auf dem Mars sein wolle. Die Sache hatte ihre Risiken, keine Frage, aber das machte das Projekt nur um so verlockender – es ging um Nervenkitzel, Kühnheit und die Gelegenheit, der Gesellschaft ins Gesicht zu pinkeln. Vogelsang schwebten nicht hundert oder hundertfünfzig Pflanzen vor, er wollte sich nicht mit fünfzehn- oder zwanzigtausend Dollar begnügen – nein, er wollte Marihuana anbauen, wie Reynolds Tabak anbaute. Mein Kreislauf war inzwischen in Schwung gekommen. Als ich in die drei erwartungsvollen Gesichter sah, war ich schon halb entschlossen.

»Ich hab keine Ahnung, wie man Gras anbaut«, sagte ich schließlich.

Darauf war Vogelsang vorbereitet. »Brauchst du auch nicht«, sagte er und erhob sich von der Armlehne. »Das ist Boyds Abteilung.«

»Aber zweitausend Pflanzen … kriegt einer allein das hin?«

»Auf keinen Fall«, sagte Dowst und raschelte mit dem Regenmantel.

»Du wirst wahrscheinlich zwei Vollzeitkräfte brauchen, die dir helfen«, fuhr Vogelsang fort. »Wer die sind und was du ihnen zahlst, bleibt dir überlassen. Du kannst ihnen ein festes Gehalt oder einen Anteil an deinen fünfhunderttausend geben. Aber was auch immer – sie müssen bereit sein, die nächsten neun Monate ihres Lebens zu opfern, und vor allem müssen sie« – er hielt inne und suchte das rechte Wort – »diskret sein.«

Der Regen prasselte auf das Dach wie Pennys, die eiskalte Stimme im Radio sang Money, give me money, /Money, give me money. Aus irgendeinem Grund waren wir alle aufgestanden. Dowst und Vogelsang grinsten, und das Gesicht der Frau war etwas weicher geworden und hatte einen Ausdruck angenommen, den ich als eine Art wilder Freundlichkeit deutete.

»Was ist mit deinem Freund in Tahoe?«, sagte Vogelsang, als hätte er eine spontane Eingebung (und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass er die ganze Zeit mit mir gespielt hatte wie ein Marktschreier, wie ein Anreißer auf dem Jahrmarkt, der seine Masche durchzog). »Wie heißt der noch …« (Er kannte den Namen so gut wie ich.) »Cherniske?«

»Phil«, sagte ich, halb zu mir selbst. »Ja, Phil«, als hätte ich gerade die Lösung eines äußerst schwierigen Rätsels entdeckt.

Vogelsang nahm meine Hand und schüttelte sie gratulierend, Dowst zeigte all seine langen, schimmernden Zähne, und die Frau kämpfte mit dem Impuls, die Mundwinkel nach oben zu ziehen. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade von einer Weltumsegelung zurückgekehrt oder hätte den amtierenden Wimbledon-Champion geschlagen. Ich sagte nicht ja, ich sagte nicht nein, doch Vogelsang erhob bereits die halb geleerte Flasche Moosehead und brachte einen Toast aus.

Er hatte mir den Arm um die Schultern gelegt, auf dem Bildschirm wurden die Zombies von den Helden mit Granaten beworfen und zerlegt, die kalte Stimme sang mir Money ins Ohr, der Duft von Moschus, von Empfängnis, von Samen und dem dunklen Aroma der Erde stieg mir in die Nase, und dann riss er die Hand, mit der er die Bierflasche umklammerte, ganz hoch und rief wie ein Zeugnis ablegender Erweckungsprediger: »Auf das Sommerlager!«

Kapitel 2

In meiner Kindheit hatte nichts auf eine Verbrecherlaufbahn hingedeutet. Ich war kein Waisenkind, ich wurde nicht geschlagen oder ausgesetzt, ich hing nicht, eine Zigarette im Mundwinkel und ein Stilett in der Tasche, an Straßenecken herum, ich hatte weder einen Dachschaden infolge jahrelanger Aufenthalte in Erziehungsheimen noch war ich moralisch und körperlich ausgezehrt, weil ich auf taubenverschissenen Treppen im Ghetto Heroin gefixt hatte. Nein – ich war ein Kind der Mittelschicht, ich wurde mit Schokoriegeln, Fertiggerichten und Antibiotika gefüttert, bis ich meine Eltern überragte wie der riesenfüßige Abkömmling einer anderen Spezies, wie ein Kuckuckskind, das von Spatzen großgezogen wurde. Ich konnte rechnen, mochte Verdi, aß Kalbsschnitzel in Marsala, Sushi und Schnecken und war imstande, einen guten Wein auszuwählen. Meine Weste war zwar nicht makellos rein, doch die wenigen Flecken stammten lediglich von winzig kleinen Übertretungen. Da waren die üblichen Verkehrsvergehen, ein unglücklicher Zwischenfall auf den Stufen des Justizministeriums bei einem der Friedensmärsche in Washington und eine Geldstrafe, weil ich auf den Straßen von Lake George mit einem geöffneten Behältnis alkoholischen Inhalts angetroffen worden war. Aber das war’s dann auch schon. Selbstverständlich brach ich, wie jeder andere ordentliche Bürger mit unveräußerlichen Rechten, regelmäßig das Gesetz, indem ich verbotene Substanzen erwarb und konsumierte, gewohnheitsmäßig mit mehr als hundert Kilometern pro Stunde über die Schnellstraßen brauste, auf Wasserbetten und in Yacuzzis vögelte, öffentlich urinierte, mich wissentlich und vorsätzlich in die Gesellschaft von Menschen begab, die usw., usw. Andererseits warf ich weder Abfall auf die Straße noch war ich ein Erpresser, Einbrecher, Räuber, Schläger, Vergewaltiger oder Mörder. Ich war einunddreißig, ausgestattet mit der Umsicht und dem Konservatismus der Reife, und konnte mit einigem Recht behaupten, vielleicht nicht gerade eine Stütze der bürgerlichen Gesellschaft, aber doch einer ihrer Strebebogen zu sein.

Dennoch war ich, zwei Stunden, nachdem Vogelsang gegangen war, und trotz einer an Narkolepsie grenzenden Müdigkeit und einem beständigen, niagaragleich strömenden Regen, unterwegs nach Lake Tahoe, um die ersten unwiderruflichen Schritte in den Abgrund des Verbrechens zu tun.

Um vier Uhr morgens hielt ich an einer Fernfahrerkneipe, setzte mich auf einen mit rissigem Vinyl bezogenen Hocker an die Theke, schaufelte Ei und Fett in mich hinein, hörte das idiotische Country-Gejodel aus der Jukebox und trank acht Tassen nach Metall und Tod schmeckenden Kaffee. Es hatte aufgehört zu regnen, und ich musterte kurz mein von Neonlicht und Sattelschlepperscheinwerfern beleuchtetes Gesicht in der dunklen, nassen Fensterscheibe und stellte fest, dass meine glänzenden Augen und stoppeligen Wangen eine gewisse kriminelle Energie verrieten. Oder auch bloß Müdigkeit. Ich legte Geld auf den Tresen, stolperte hinaus zu meinem rostfleckigen Toyota und fuhr den Hügel hinauf, wo flammend der Morgen über South Tahoe dämmerte.

Ich verpasste die Zufahrt zu Cherniskes Haus. Hier oben sah alles gleich aus, Schnee bedeckte die Erde wie ein Pilz, und die Bäume standen da wie ein Bleistiftwald. Ohne nachzudenken setzte ich zum Wenden an und wurde um ein Haar von einem Wagen der California Highway Patrol zerlegt, der mit etwa hundertfünfzig Sachen in dringenden Angelegenheiten unterwegs war. Was mir – und dem Polizisten – das Leben rettete, war die Supersirene des Streifenwagens: Es war eines jener tödlichen, markerschütternden Drucklufthörner, mit denen die Feuerwehr Kreuzungen freiräumt. Ich hatte mein illegales Wendemanöver halb ausgeführt und versperrte, ohne an Blaulicht, Sirenen oder die Möglichkeit dahinrasender Holztransporter zu denken, bereits eine ganze Spur, als das Schmettern des Horns mich traf wie ein wütender Schlag ins Gesicht. Ich trat auf die Bremse, Reifen quietschten, Bremstrommeln schepperten wie Zimbeln, und der Toyota blieb ruckartig stehen, während der Streifenwagen Zentimeter vor meiner Stoßstange vorbeischoss. In diesem Moment warf mir der Polizist am Steuer einen raschen, scharfen Blick voll mörderischer Intensität zu, einen Blick, der sagte: Ich würde dich hier und jetzt erschießen, ohne lange Fragen zu stellen, so automatisch, wie ich eine Klapperschlange oder Kanalratte erschießen würde, wenn da nicht dieser schreckliche Notfall wäre, der meinen ganzen Einsatz, Mut und Sachverstand erfordert – und dann war er weg, zwei Rücklichter, die um die Kurve entschwanden.

Erschüttert vollendete ich mein Manöver und machte die Spur frei, gerade rechtzeitig für den jaulenden Rettungswagen, dem die Highway Patrol offenbar den Weg bahnte. Eingeschüchtert schaltete ich in den zweiten Gang, setzte den Blinker und bog auf die asphaltierte, nass glänzende Straße zu Cherniskes Haus ein. Beinahe im selben Augenblick gab es einen dumpfen Schlag, das Lenkrad wurde mir aus der Hand gerissen, und der Wagen schleuderte auf die Böschung und ein paar bösartig wirkende Kiefern mit rotbrauner Borke zu. Ich fahre, seit ich sechzehn bin, und zeigte mich, so angeschlagen ich war, auch diesmal der Situation gewachsen: Ich riss am Lenkrad und fing den Wagen ab, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Ruhig, mit geradezu klinischem Interesse, konstatierte ich die Ursache des kleinen Zwischenfalls: In der rechten Fahrspur war eine Rille, eine tiefe Furche, als hätte ein zerstreuter Bauer vergessen, die Pflugschar anzuheben, bevor er mit dem Traktor nach Hause gerumpelt war. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, wenn die Furche nicht Kurve um Kurve genau dorthin geführt hätte, wohin auch ich wollte: den Alpine Way hinunter, dann links in die Lederhosen Lane, wieder links in den Chalet Drive und schließlich, zu meiner Überraschung, in Phils Einfahrt und zur hinteren Stoßstange seines schwer abgesackten 62er Cadillacs.

In Phils Haus – einer Art Maisonettehüttenchalet – war alles still, die Fenster waren dunkel. Es war sieben Uhr, und das Morgenlicht wurde von einer niedrigen, wulstigen, holzkohlengrauen Wolkendecke verschluckt. Ich stieg aus und untersuchte Phils Cadillac, der vorn in die Knie gegangen war wie ein verkrüppelter Stegosaurus. Die Heckflossen ragten in die Luft, der rechte vordere Kotflügel und ein Teil der Motorhaube waren zerknautscht wie Aluminiumfolie. Bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass nicht bloß der rechte Vorderreifen fehlte, sondern vielmehr das ganze Rad mitsamt der Bremstrommel. Der Wagen ruhte dort auf einem verbogenen Achsstummel, von dessen Ende die Furche durch die Einfahrt auf die Straße und um ein paar Kurven bis zur Schnellstraße führte. Die Motorhaube war noch warm.

Auf mein Klopfen antwortete niemand. Das war nicht weiter überraschend – ich hatte keine formelle Begrüßung erwartet. Um diese Uhrzeit traten Phil und seine diversen Mitbewohner gerade in die erste bleischwere Tiefschlafphase ein, nachdem sie die Bars in Kalifornien bis zur Sperrstunde und die Casinos von Stateline, Nevada, bis zum Morgengrauen unsicher gemacht hatten. Die Tür war unverschlossen. Ich trat, den Schlafsack unterm Arm, ein und wollte mich aufs Sofa legen, schlafen, bis sie wieder zu sich kamen, und Phil meinen Vorschlag beim Frühstück unterbreiten. Drinnen war es kälter als draußen. Ein vertrauter, unterirdischer Geruch hing in der Luft, eine miefige Mischung aus Unterwäsche, zu lange getragenen Socken, schalem Bier, primitiver Nahrungszubereitung und einer bestimmten Art von Schimmel, der auch unter widrigen Bedingungen gedeiht. Die Rollos waren heruntergezogen, aber es gab genug Licht, um gewisse typische Umrisse erkennen zu können: Fernseher, Sessel, Sofa, Fahrrad, Lampe, Holzscheit. Ich tastete mich zum Sofa, schüttelte den Schlafsack aus und setzte mich.

Das war ein Fehler. Als ich unter meinem Hintern nicht Polyester und Schaumstoff, sondern Fleisch und Knochen spürte, begann ich zu begreifen, dass der Platz bereits besetzt war: Eine zierliche, geschmeidige Gestalt fuhr hoch, versetzte mir einen Stoß gegen die Brust, fuhr mit Krallen durch mein Gesicht und stieß ein paar emphatische Flüche aus. »Nein!«, schrie eine – weibliche – Stimme halb krächzend, halb kreischend. »Ich hab die Schnauze voll! Verpiss dich!« Ich saß auf dem Boden und murmelte Entschuldigungen. Dann explodierte wie mit ungeheurem Getöse das Licht, und ich starrte auf ein Tableau vivant: den nackten weißen Arm der Frau, der sich zum Lichtschalter reckte, ihre wütend zusammengekniffenen Augen, die spitzen Brüste, die lavendelblaue Bettdecke, die bis zur Taille hinuntergerutscht war. »Wer zum Teufel bist du denn?«, zischte sie.

»Felix«, flüsterte ich und fühlte mich irgendwie, als würde ich lügen. »Ein Freund von Phil.«

Sie funkelte mich an, als hätte sie nicht gehört. Ihr Haar war ein zerdrücktes wasserstoffblondes Gewuschel, ihre Augen waren grün wie Glasmurmeln, und sie hatte keine Augenbrauen. Ich sah, wie ihre Brustwarzen in der Kälte hart wurden. »Ich suche Phil«, sagte ich.

»Wen?« Ihre Stimme klang mühsam beherrscht, die Frage war ein kaum unterdrücktes Knurren. »Hören Sie, Mister,« – sie zog die Decke hinauf – »Sie sollten jetzt lieber verschwinden, sonst …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern machte eine unbestimmte Geste und tastete nach den Zigaretten auf dem Sofatisch.

So muss sich ein unfähiger Vergewaltiger fühlen, dachte ich. Oder ein Fassadenkletterer, wenn er plötzlich der Mutter Oberin gegenübersteht, die gerade ihr Habit abgelegt hat. Ich stellte fest, dass ich, gegen meinen Willen, eine Erektion bekam. »Phil«, wiederholte ich. »Phil Cherniske? Der Typ, der hier wohnt?«

Unvermittelt verschwand die Wut aus ihrem Gesicht. Sie musterte mich über die Zigarette hinweg, die sie sich gerade ansteckte, löschte das Streichholz mit einer wedelnden Handbewegung und inhalierte tief. So ohne Augenbrauen sah sie aus wie Humpty Dumpty oder der Mann im Mond: zu viel ununterbrochene bleiche Fläche zwischen Augen und Haaransatz. Sie stieß eine blaue Rauchwolke aus. »Ach so, Phil«, sagte sie schließlich müde, als hätte sie soeben eine Erkenntnis gewonnen, die nicht der Mühe wert erschien. »Der ist im Knast.«

Phil und ich waren seit jeher dicke Freunde. Unsere Eltern waren vor unserer Geburt miteinander befreundet gewesen, wir hatten dieselbe Grundschule und Highschool besucht und das Studium an unserem jeweiligen College im selben Jahr abgebrochen. Darauf zog Phil nach Westen, ich dagegen blieb in New York. Ich heiratete, nahm mein Studium wieder auf, brach es erneut ab, drehte Pensionären mit zittrigen Händen Lebensversicherungen an und hasste mich dafür. Phil hatte in L. A. (genau genommen Pasadena) einen kurzen Auftritt als Phil Yonkers, sculpteur primitif. Begeistert und entschlossen wie eine Hausfrau im Schlussverkauf bei Macy’s streifte er über Schrottplätze und sammelte faszinierende Objekte aus verrostetem Eisen, amputierte Tragflächen, muschelförmige Kotflügel, Ambosse, Öfen, Waschmaschinentrommeln, nutzlose, letztlich aber sinnreiche Wellen, Federn und Bauteile obsolet gewordener schwerer Maschinen. Diese schweißte er willkürlich zusammen, spritzte sie, um den Prozess des Rostens zu beschleunigen, mit einem Gartenschlauch ab und bot sie zum Verkauf an.

Ich erinnere mich an die Broschüre zu seiner ersten (und letzten) Ausstellung, die er mir schickte. Das Deckblatt zeigte ein unscharfes Foto des Künstlers (schlaff hängende Tolle, spitze Nase, schmale Schultern, Silberblick): Er saß grinsend im Windschatten eines gigantischen Eisenmonsters, das ölsabbernd um die zahnlückige Schaufel einer Planierraupe und einigen in verschiedenen Stadien der Bewegung erstarrten Pleueln arrangiert war. Der Text verriet, dass es sich bei dieser Skulptur um Madonna mit Kind handelte, und verglich den Künstler mit Herms, Smith und Kienholz. Leider musste die Ausstellung noch am Tag der Vernissage wegen irreparabler baulicher Schäden am Gebäude geschlossen werden. Das immense Gewicht von Phils Kunstwerken hatte, im Verein mit der überschäumenden Ausgelassenheit seiner Freunde und Bekannten, die die ernste, champagnerschlürfende Gesellschaft in eine stampfende Hommage an den Rock ’n’ Roll und die Muse des Künstlers verwandelt hatten, einige Dielen brechen lassen und einen Teil des Fundaments beschädigt. Trotzdem gelang es Phil, eine Skulptur – drei Tischkreissägen, miteinander verschweißt unter einer Korona aus schmetterlingsflügelgleich zusammengefügten Radmutternschlüsseln – an einen pensionierten Werkzeugmacher aus Boyle Heights zu verkaufen. Anschließend stürzte er sich in die Gastronomie.

In dieser Branche tummeln sich meines Erachtens mehr Sonderlinge, Bonvivants, offenkundig Verrückte sowie Fress-, Trunk- und Drogensüchtige als in jeder anderen, mit Ausnahme vielleicht der medizinischen. Frustriert über den Ausgang seines Versuchs, künstlerischen Ausdruck mit Gelderwerb zu kombinieren, war Phil nur zu bereit, Vergessen in der Welt der Kellner und Tellerwäscher zu suchen. Er stand am glühenden Grill eines Steak House in Boulder, spülte Teller in einem Himalaya-Restaurant in Montpelier, war Barmann in Maui, Park City und Aspen, öffnete Austern in der Bourbon Street. Wie so viele Angestellte erreichte er für eine gewisse Zeit das Gastro-Nirwana und eröffnete sein eigenes Restaurant. Er lieh sich Geld von seinen Eltern, von Freunden und Verwandten, deren Existenz er vollkommen vergessen hatte, holte einen ausgebufften Griechen Mitte fünfzig als Partner ins Boot, machte in einem Vorort von Sacramento ein tadelloses Haute-Cuisine-Restaurant auf und war nach neun Monaten pleite. Schlechte Lage, sagte er, gab später aber zu, dass der ausgebuffte Grieche beständig Geld abgeschöpft hatte. Als ich an jenem frühen Morgen mit Vogelsangs Vorschlag zu ihm kam, war Phil Tellerwäscher bei Tahoe Teriyaki und, wie ich von der Frau auf dem Sofa erfuhr, vorläufig festgenommen.

Ich sah sie an und blinzelte zwei-, dreimal. Meine Augen fühlten sich an, als würden sie bluten. Ich kam schwankend auf die Beine, schleppte den Schlafsack wie den Leichnam eines besiegten Feindes hinter mir her und taumelte zur Tür hinaus und über den grauen, verpissten Schnee zum Toyota. Zehn Minuten später parkte ich vor dem Gerichtsgebäude, in dem sich die Ausnüchterungs- und Arrestzellen der Polizei von Eldorado County befanden.

Wenn sich der typische Wachhabende durch eine feiste Kinnpartie, eine Wampe, schütteres Haar und einen tiefen Widerwillen gegen Kommunikation auszeichnet, dann wich der Mann hinter dem Tresen keinen Millimeter von der Norm ab. Vor ihm stand dampfend ein Pappbecher mit Kaffee, seine Augen waren verquollen wie die eines Kirmesboxers, und sein feistes Kinn war mit unzähligen roten Pünktchen und Schnitten gesprenkelt, die Zeugnis ablegten von einer kürzlichen ungeschickten Rasur mit einem jener neuen, ultramodernen Schwingkopfrasierapparate, die in monatlichen Abständen von Gillette, Bic und dem ganzen Rest aufs Neue erfunden werden. Ich selbst habe übrigens einen Bart.

»Entschuldigen Sie, Officer«, sagte ich. »Ich möchte für jemand hier Kaution stellen.« Ich kam mir vor wie Raskolnikow in Prinz Myschkins Büro: Ich war schuldig geboren, immerdar schuldig, hatte alle Schuld der Welt auf mich geladen – von Ungehorsam und Auflehnung gegen meine Eltern über pubertäres Masturbieren und Zigarrendiebstahl bis hin zu den größeren, entsetzlicheren Verbrechen des Erwachsenenlebens. Ich wollte alles hervorsprudeln lassen, wollte beichten, von meinen Sünden losgesprochen werden. Ich wollte Absolution. Uniformen hatten auf mich diese Wirkung.

Der Wachhabende sagte nichts.

Ich wiederholte das Gesagte mit einer kleinen Variation und dachte schon an all die möglichen Permutationen dieser kleinen Kommunikation, die ich würde durchprobieren müssen, bis ich die richtige fand – nämlich jene, die die Walzen im Sprachzentrum des Polizisten in Bewegung setzen würde –, als mir einfiel, dass ich vielleicht den Namen des Eingekerkerten ins Spiel bringen sollte. »Cherniske«, sagte ich. »Philip T.«

Noch immer nichts. Der Mann war reglos, emotionslos, ein Jadebuddha, der heiter an eine besonders inhaltsschwere Folge seiner Lieblingspolizeiserie dachte, vielleicht eine, in der ein sanftmütiger Wachhabender durch den traurigen, verdorbenen Zustand der Gesellschaft zu Heldentaten getrieben wurde und die trügerische Maske der Lethargie abwarf, um Trunkenbolde, Jammerlappen, Ganoven und aalglatte Winkeladvokaten in den Staub zu treten, wie es ihnen gebührte. Ich versuchte es erneut und kleidete mein Ersuchen diesmal in eine Frage: »Phil Cherniske? Heute morgen eingeliefert? Wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit?«

Der Kopf schwenkte wie ein Drehteller langsam in meine Richtung, der Blick der kleinen blauen Augen verharrte kurz und mit einem Ausdruck von Hass oder Gleichgültigkeit – es war nicht eindeutig zu bestimmen – auf mir und glitt dann weiter zu einem Objekt hinter meiner linken Schulter. Seine nächste Regung war beinahe magisch, überaus abrupt und dabei extrem energiesparend: Sein Doppelkinn wurde kurz zusammengepresst und entspannte sich wieder. Ich sah über die Schulter und entdeckte eine Holzbank, flankiert von einem verbeulten Wasserspender und einer einsamen Flagge. »Soll ich da warten?«, fragte ich, und meine Stimme war, wie zum Ausgleich für sein rigoroses Schweigen, unnatürlich laut.

Ich suchte in seinen Augen nach einer Antwort, wie man in den Augen eines Mannes, den der Schlag getroffen hat, nach einem Lebenszeichen sucht. Sie schlossen sich langsam, fast zärtlich, klappten dann sogleich wieder auf – er hätte ein im Schlaf gestörter Drache sein können – und widmeten sich wieder der heiteren Betrachtung des Dampfs, der von seinem Pappbecher aufstieg. Ich drehte mich um, trat unterwürfig für ein paar ledergestiefelte, schwarzbejackte, gürtelumschlungene Polizisten beiseite, die hereingetrampelt kamen und über den verkratzten Linoleumboden stampften, und steuerte auf die Bank zu. Auf halbem Weg, als ich den Schritt verlangsamte, um einen fleischigen Koloss zu umgehen, der gähnend und sich kratzend vor dem Wasserspender stand, ließ mich eine Aufforderung in meinem Rücken unvermittelt innehalten. Eigentlich war es eher ein Raunen, wie das kaum hörbare Geflüster eines Orakels. »Fünfundsechzig Dollar«, wisperte die Stimme.

Ich gab ihm drei Zwanziger und einen Fünfer. Als die knisternden, gefalteten Scheine den Besitzer wechselten, war mir, als gehörten wir zu einer Art Bruderschaft und als sei dies ein Augenblick der Wahrheit und Verbundenheit, und so nutzte ich die günstige Gelegenheit, um den Wachhabenden zu fragen, ob er mir vielleicht sagen könne, wann mit der Entlassung des Gefangenen zu rechnen sei. Seine Augen waren wie aus Glas. Fünf feiste Finger lagen auf den Geldscheinen wie tote Gegenstände. Ich erkannte, dass hier keine Auskunft zu erwarten war, drehte mich wieder um und stieß mit einem Streifenbeamten in der Uniform der California Highway Patrol zusammen, ausgestattet mit verspiegelter Sonnenbrille, Wehrmachtsstiefeln und überdimensioniertem Koppel.

»Entschuldigung«, keuchte ich, fand mein Gleichgewicht wieder und ließ das Wort in ein kleines, blökendes Großstadtlachen übergehen, um nicht nur eine gemeinsame Verantwortung für unseren Zusammenstoß und derlei kleine Missgeschicke des menschlichen Lebens anzudeuten, sondern ihm auch zu versichern, es sei vollkommen unabsichtlich geschehen, und wenn er die Sache vergessen wolle, so würde ich dasselbe tun. Ich grinste wie ein Idiot. Er grinste nicht. Die Sonnenbrille erschien mir wie eine grässliche zyklopische Maske, die aus dem Rest seines Gesichts jede Regung tilgte. Er stand da, wippte vor und zurück und riss sich die Sonnenbrille herunter. »Du«, knurrte er.

»Ich?« Mein Lächeln bekam etwas Kränkliches. In diesem Augenblick erkannte ich ihn, die Schuldgefühle, die mich beim Betreten des Reviers überfallen hatten, breiteten sich in mir aus wie ein Krebsgeschwür, und meine Gedanken durchsuchten in rasender Eile den winzigen Vorrat an juristischen Kenntnissen, den ich mir im Lauf der Jahre zwangsläufig angeeignet hatte: Gefährdung des Straßenverkehrs, Aussage gegen Aussage, judicium parium aut leges terrae.

Es nützte mir gar nichts. In einer Explosion aus Schultern und Armen stieß er mich gegen die Wand und begann, mir ins Gesicht zu brüllen. »Was hast du hier zu suchen, verdammt nochmal?«, schrie er, und bei dem abschließenden Fluch überschlug sich seine Stimme. Es war totenstill im Raum. Die anderen – große, fleischige Bullen der örtlichen Polizei – sahen von ihren Kaffeebechern und Klemmbrettern auf und taten unwillkürlich ein, zwei Schritte in unsere Richtung, wie Abwehrspieler, die dem ballführenden Gegner den Weg abschneiden wollen.

Ich wollte alles erklären, doch mein Widersacher brüllte, ich solle das Maul halten. Seine Hände pressten meine Ellbogen an die Wand. Er atmete schwer, seine Oberlippe war feucht, und in seinen Augen war das fanatische Funkeln gerechten Zorns, das man von muslimischen Eiferern kennt. Ein schwarzes Plastikschild über der Brusttasche verriet mir seinen Namen: Officer Jerpbak.

Dort, auf dem Polizeirevier, mit dem Rücken zur Wand und Auge in Auge mit einem Menschen, der mir brüllend körperliche Gewalt und Schlimmeres androhte, fand ich Gelegenheit, mich für einen Augenblick dem Luxus der Philosophie hinzugeben und der Empirie, der Kausalität sowie John Locke meine Reverenz zu erweisen. Vor kaum acht Stunden noch war ich im Bademantel in meiner Wohnung herumgelaufen, hatte Strawinsky und dem Regen gelauscht und mich darauf vorbereitet, zu Bett zu gehen. Alles war gut gewesen. Doch dann war mir der Heilige Gral in Form einer halben Million Dollar erschienen, und ich war hinausgegangen in den strömenden Regen, hatte den Schlüssel ins Zündschloss meines Toyotas gesteckt, hatte mit Wohlgefallen den gequälten Aufschrei des Motors vernommen und war hierhergefahren, nach Tahoe, wo ich es geschafft hatte, mir einen Mann der übelsten und gesetzlosesten Sorte – einen Bullen – zum Feind zu machen, und zwar, indem ich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Plötzlich fühlte ich mich unbeschreiblich müde. »Nehmen Sie Ihre verdammten Hände weg«, sagte ich.

Officer Jerpbak reagierte, indem er mich umdrehte wie eine Rinderhälfte und mich in der klassischen Festnahmeposition an die Wand drückte. »Beine auseinander«, knurrte er und klopfte mich mit der Finesse eines Mittelgewichtlers ab, der einen Sandsack bearbeitet. Besonders gründlich widmete er sich dem Genitalbereich und murmelte mir dabei unablässig Obszönitäten ins Ohr. »Du kleiner Scheißer«, flüsterte er mit bebender Stimme. »Du verdammter kleiner Dildoficker – du hast mich da draußen beinah umgebracht, weißt du das? Hä? Hä?« Sein Atem war heiß und wütend, ich hörte den dickflüssigen Schleim in seiner Nase rasseln. In diesem Augenblick hatte ich nur einen Wunsch: Ich wollte zu laestrigonischer Größe wachsen und ihn umbringen, die anderen Fleischklopse zu Hamburgern verarbeiten, das Revier in Brand setzen, nach Hause fahren und schlafen. Stattdessen hörte ich das harte Klirren von Handschellen und entspannte mich.

»Weißt du, wer in dem Krankenwagen war?«, wollte er wissen und drückte mich mit einer breiten Hand an die Wand, während er mit der anderen die Handschellen rausholte. »Hä? Hä?« Es war ein Quiz, na klar. Zwanzig Fragen. Der Hauptgewinn sind zwei Freikarten für die Karatevorführung. »Merv Griffin war da drin, du kleiner Wichser. Merv Griffin.« In seiner Stimme schwang Ehrerbietung mit – es war, als hätte er den Namen der Papstmutter oder der Miss Amerika ausgesprochen –, Ehrerbietung und blanke Empörung. »Dem Mann haben sie den Daumen mit zweiundzwanzig Stichen annähen müssen – der hätte verbluten können.« Mit einem Mal schrie er wieder. »Hast du gehört? Hä? Hä?«

Meine Hände wurden nach hinten gerissen, ich spürte den kalten Biss der Handschellen und das wütende Schnaufen, und dann, gerade als die unmittelbare Zukunft wirklich düster aussah, hörte ich – Deus ex machina – eine sanftere, beherrschtere Stimme: »John, John, immer mit der Ruhe.« Ich sah über die Schulter. Officer Raab hatte sich zu uns gesellt. Er hatte einen Kopf so groß wie ein Volleyball, ein rotes Gesicht und weißes Haar. Er sprach so beruhigend und moduliert wie ein Seelenklempner. »John«, sagte er, »der Mann hat nichts getan. Er will bloß Kaution für jemanden stellen.«

Jerpbak fuhr zu ihm herum. »Mir doch scheißegal.« Aber in seiner Stimme war jetzt ein weinerlicher Unterton: Der junge Heißsporn fügte sich widerwillig einer höheren Befehlsgewalt. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass Jerpbak nicht älter war als ich. Es war ein Schock. Von einem Bullen in mittleren Jahren – Officer Raab oder dem stummen Wachhabenden – hätte ich mir das vielleicht gefallen lassen; ich hätte mir eingeredet, eine solche Vaterfigur müsse hin und wieder ihre Autorität beweisen und so weiter, aber eine derartige Behandlung durch einen Gleichaltrigen wie Jerpbak war erniedrigend und zutiefst demütigend. Eine ganze Reihe von Kindheitserinnerungen brach über mich herein: Blitzartig sah ich vor mir jede Prügelei, in die ich mal verwickelt gewesen war, zog Bilanz über Siege und Niederlagen, zählte die Male, da ich zurückgesteckt hatte, beschwor die Gesichter all der Schläger und Schulhoferpresser herauf, als wären es die Könige und Buben eines Kartenspiels, das ich durch die Finger schnalzen ließ. Nicht älter als ich. Ich machte eine Kopfbewegung zu Officer Raab. »Wenn Sie mir nicht in zwei Sekunden die Handschellen abnehmen, zeige ich jeden einzelnen hier an, wegen Freiheitsberaubung und« – ich war so wütend, dass ich beinahe schluchzte – »Brutalität.«

Officer Raab legte Officer Jerpbak die weiche, fleischige Hand auf die Schulter. Sie hatten sich ein paar Schritte entfernt, und der Ältere flüsterte dem Jüngeren ins Ohr, als wären die beiden ein Liebespaar. Ich beobachtete Jerpbak: Er sah aus wie eine Kobra, der man die gespreizte Haube streichelte. Als ich den Mund aufmachte, sah Raab mich an, als wäre ich bloßer Abschaum – sprechender Abschaum und insofern vielleicht kurios, aber kaum mehr als einen Seitenblick wert –, und ging, Jerpbak im Schlepptau, durch den Raum und verschwand in dem schrundigen Korridor.

Ich stand mit auf dem Rücken gefesselten Händen vor dem Tresen. Sämtliche Bullen starrten mich an. Nach kurzem Zögern trat ein kleiner, verhutzelter Deputy zu mir, schloss die Handschellen auf und sagte leise, ich solle auf der Bank warten. Ich war müde, verwirrt, wütend. Ich setzte mich und schnaufte, Adrenalin sprudelte in meinen Adern wie Fett in einer Fritteuse. Zwei Minuten später schnarchte ich.

Ich wachte auf, weil jemand an meinem Arm rüttelte und eine Stimme meinen Namen wiederholte. Es war Phil. Er sah aus, als wäre er gerade aus den tiefsten Tiefen einer Opiumhöhle gekrochen: Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sein Hemd war zerrissen, das Haar klebte ihm strähnig am Schädel, und er lächelte das zerbrechliche Lächeln eines Mannes mit entsetzlichen Kopfschmerzen. »Scheiße!«, sagte er, grinste und wiederholte sich sechs-, siebenmal, wobei er zwischen diesem Ausruf und meinem Namen hin und her wechselte wie eine Cheerleaderin, die sich müht, einen Haufen lethargischer Fans in Schwung zu bringen. Ich blinzelte zweimal. In meinen Füßen und Beinen kribbelte es wie Ameisen. Alle furchterregenden g-Kräfte des wirbelnden Planeten zerrten an mir, als ich müde auf die Beine kam und wir einander mit einer schulterklopfenden Umarmung begrüßten, wie wir es taten, seit wir mit vierzehn Drei Fremdenlegionäre