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Einleitung:
Ein übler Geschmack

Der Aufstieg war hart gewesen: Sechs Stunden für 1200 Höhenmeter zum Gipfel – auf Tourenskiern mit künstlichen Fellen, damit wir auf dem Schnee nicht abrutschten.

Wie meine fünf Gefährten fühlte ich mich erschöpft und ein wenig benommen, doch die spektakuläre Aussicht aus 3100 Metern Höhe über Bormio an der italienisch-österreichischen Grenze wollte ich mir nicht entgehen lassen. Auf unseren Skitouren in der Gegend hatten wir in den letzten sechs Tagen in hochgelegenen Hütten übernachtet und die körperliche Anstrengung ebenso genossen wie das gute italienische Essen. Wir schnallten die Skier ab, um die letzten zehn Meter zum Gipfel zu gehen, aber ich fühlte mich unsicher und hielt beim Hinabschauen etwas Abstand zur Kante, weil mir schien, dass meine leichte Höhenangst einsetzte. Als wir auf Skiern abfuhren, verschlechterte sich das Wetter; die Wolken sanken ab, und es begann leicht zu schneien. Ich konnte die Spuren vor mir nur schwer erkennen, ging aber davon aus, dass meine alte Skibrille beschlug. Normalerweise ist die Abfahrt auf Skiern der leichtere und entspanntere Teil, aber ich war merkwürdig erschöpft und sehr erleichtert, als wir eine Stunde später unten angekommen waren.

Als ich zu unserem französischen Bergführer aufschloss, zeigte er auf einen hohen Baum in etwa 50 Metern Entfernung, auf dem zwei Eichhörnchen saßen. Ich konnte die Tierchen sehen, aber weil ich vier von ihnen erblickte – zwei befanden sich schräg über den anderen –, wurde mir klar, dass ich doppelt sah. Aus meiner Zeit als Assistenzarzt in der Neurologie kannte ich die drei wahrscheinlichen Gründe in meiner Altersgruppe, die alle unerfreulich waren: Multiple Sklerose, Hirntumor oder Schlaganfall.

Als ich nach ein paar anstrengenden Tagen in London eine MRT organisieren konnte, die zum Glück keine Hinweise auf zwei der unerfreulichen Ursachen lieferte, sah ich mich weiterhin mit der Möglichkeit konfrontiert, dass ich einen kleinen Schlaganfall erlitten hatte.

Am Ende konnte ein Augenarzt per Telefon eine Beeinträchtigung des vierten Hirnnervs diagnostizieren. Ich hatte nur eine ungefähre Ahnung, aber die gute Nachricht lautete, dass sie sich gewöhnlich ohne Behandlung innerhalb einiger Wochen besserte. Die exakte Ursache ist unbekannt, doch sie hat mit einer spastischen Mikroblockade der Arterie zu tun, die den Nerv versorgt, der wiederum einige der Augenbewegungen steuert. Ich war sehr erleichtert: Ich musste einfach abwarten, dass das Auge wieder normal funktionierte, und zunächst eine Augenklappe und dann eine etwas sonderbar aussehende Brille tragen, deren Prismengläser das verschwommene Bild verbessern sollten.

Mehr als ein paar Minuten am Stück konnte ich weder lesen noch meinen Computer benutzen, und um es noch komplizierter zu machen, hatte ich Bluthochdruck entwickelt. Für meine Kollegen war das ein Rätsel, da der Blutdruck sich üblicherweise nicht so schnell verändert, doch bei mir war das definitiv der Fall – zufällig hatte ich ihn zwei Wochen zuvor selbst gemessen. Nach vielen kardiologischen Tests zum Ausschluss seltener Ursachen verschrieb man mir Blutdrucksenker und Aspirin zur Blutverdünnung.

Innerhalb von zwei Wochen war ich von einem sportlichen, überdurchschnittlich fitten Mann mittleren Alters zu jemandem geworden, der sich wie ein Pillen einwerfendes, depressives Schlaganfallopfer mit überhöhtem Blutdruck vorkam. Während mein Sehvermögen langsam besser wurde, bot mir die erzwungene Arbeitspause eine Menge Zeit zum Nachdenken.

Es war der Weckruf, den ich brauchte, um meine Gesundheit neu wertzuschätzen; er schickte mich auf eine persönliche Odyssee, bei der ich nicht nur erfahren sollte, wie meine Chancen auf ein längeres und besseres Leben zu erhöhen waren, sondern auch, wie ich meine Abhängigkeit von rezeptpflichtigen Medikamenten verringern und herausfinden konnte, ob ich mit einer Veränderung meiner Ernährung gesünder werden würde. Ich glaubte, die Änderung meiner lebenslangen Ernährungsgewohnheiten würde zu meiner größten Herausforderung werden, doch es zeigte sich, dass es erheblich schwieriger sein sollte, die Wahrheit über gesunde Ernährung herauszufinden.

DIE MÄRCHEN DER MODERNEN »DIÄTEN«

Herauszufinden, was in unserer eigenen Ernährung gut oder schlecht für uns ist, wird immer schwieriger, selbst für mich als Arzt und Wissenschaftler, der Epidemiologie und Genetik studiert hat. Ich habe Hunderte wissenschaftlicher Aufsätze über verschiedene Aspekte von Ernährung und Biologie verfasst, doch es ist mir schwergefallen, den Schritt von allgemeinen Ratschlägen zu praktischen Entscheidungen zu vollziehen. Überall finden sich verwirrende und widersprüchliche Aussagen. Zu wissen, wem und was man glauben kann, ist ein großes Problem. Während manche Diät-Gurus meinen, wir sollten »wie auf der Weide« regelmäßig kleine Mahlzeiten und Häppchen zu uns nehmen, widersprechen andere und ermuntern uns vielleicht dazu, das Frühstück wegzulassen, groß zu Mittag zu essen oder abends schwere Mahlzeiten zu vermeiden. Einige propagieren, ein Gericht (etwa Kohlsuppe) zu essen und dafür andere auszuschließen, während eine französische Diät mit dem cleveren Namen »Le Forking« vorgibt, die Pfunde würden sich in Luft auflösen, wenn man ausschließlich mit Hilfe einer Gabel isst.

In den letzten dreißig Jahren ist praktisch jeder Bestandteil unserer Nahrung von dem einen oder anderen Experten als der Bösewicht herausgestellt worden. Trotz dieser aufmerksamen Prüfung wird unsere Ernährung weltweit immer schlechter.1 Seit man in den 1980er Jahren erstmals den Zusammenhang zwischen hohen Cholesterinwerten und Herzerkrankungen entdeckte, hat sich die Vorstellung gefestigt, dass eine gesunde Ernährung fettarm sein müsse. Die meisten Länder haben die offiziell empfohlenen Kalorienmengen reduziert, die in Form von Fett (besonders Fleisch und Molkereiprodukten) konsumiert werden. Das war der wesentliche ärztliche Rat und schien, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung, sinnvoll zu sein, da Fett doppelt so viel Kalorien pro Gramm enthält wie Kohlenhydrate.

Im Gegensatz zu dieser offiziellen Linie gibt es Diätpläne unterschiedlicher Komplexität wie etwa die Atkins-, Paleo- und Dukan-Diät, die seit den frühen Nullerjahren populär geworden sind; sie alle fordern die Leute auf, sich keine Kohlenhydrate mehr zu genehmigen und nur noch Fett und Proteine zu essen. Die am Glykämischen Index (GI) orientierte Diät nimmt bestimmte Arten von Kohlenhydraten aufs Korn, die durch die Freisetzung von Glukose das (als Hauptfeind angesehene) Insulin im Blut rasch ansteigen lassen, und die South-Beach-Diät zielt sowohl auf schlechte Kohlenhydrate als auch auf schlechte Fette; manche Diäten (wie zum Beispiel Montignac) verbieten bestimmte Nahrungskombinationen, und die neueste Erscheinungsform der Fastenkur (wie die 5 : 2-Diät) propagiert als Antwort periodisches »Fasten« durch Zeiten reduzierter Kalorienaufnahme. Und dazu gibt es unzählige Alternativen – ich war schockiert, mehr als 30 000 einschlägige Bücher zu finden, jedes mit eigener Webseite und Produktwerbung, die verschiedene Diäten und Nahrungszusätze anpriesen und von vernünftig bis gefährlich und verrückt reichten.

Ich wollte eine Formel finden, die mich gesund erhält und die Risiken oder Symptome der am weitesten verbreiteten modernen Krankheiten verringert. Doch die meisten populären Diätpläne sind eher auf Gewichtsreduktion abgestimmt als auf andere Aspekte von Gesundheit und Ernährung. Manche Menschen sind übergewichtig, leiden aber kaum an nachteiligen metabolischen Folgen, während andere schlank erscheinen und wenig Fett unter der Haut tragen, aber Fettansammlungen um innere Organe besitzen, was sich katastrophal auf ihre Gesundheit auswirkt. Doch die Wissenschaftler wissen nach wie vor nicht, warum das so ist.

Das rituelle Einhalten von Diäten ist zur Epidemie geworden. In Großbritannien etwa befolgt ein Fünftel der Bevölkerung zu einem gegebenen Zeitpunkt irgendeine Diät, doch unser Bauchumfang nimmt pro Jahrzehnt trotzdem um zweieinhalb Zentimeter zu. Der durchschnittliche Brite hat inzwischen einen Bauchumfang von 96, die durchschnittliche Britin von 86 Zentimetern, und bei beiden nimmt er immer noch zu, was zu immer mehr entsprechenden Gesundheitsproblemen wie Diabetes, Kniearthritis und sogar Brustkrebs führt. Ihre Rate wächst um ein Drittel mit jeder Zunahme der Kleidergröße von Hosen und Röcken.

60 Prozent der Amerikaner würden gern abnehmen, doch nur noch ein Drittel unternimmt tatsächlich irgendwelche Anstrengungen – ein signifikanter Rückgang gegenüber den Werten von vor zwanzig Jahren. Das liegt daran, dass die meisten Menschen nicht an die Wirksamkeit gewichtsreduzierender Diäten glauben. Umgeben von einer wachsenden Fülle billiger Nahrung und erfüllt von schmerzlichen Erinnerungen an gescheiterte Diätversuche, fehlt uns oft die Willenskraft, unsere Kalorienaufnahme zu verringern und uns mehr zu bewegen. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass ein endloser Kreislauf gescheiterter Diäten mit regelmäßiger Gewichtsab- und -zunahme die Menschen tatsächlich dicker machen kann. Kurzfristig funktionieren bei vielen manche der populären Diäten, besonders jene mit reduzierten Kohlenhydraten und viel Protein, doch langfristig scheint es ganz anders zu laufen. Die wissenschaftlichen Belege lassen darauf schließen, dass sogar bei rekordverdächtigen Diäthaltern das Gewicht oft langsam wieder größer wird.

SCHLECHTE WISSENSCHAFT UND ZUNEHMENDER BAUCHUMFANG

Seit den 1980er Jahren haben die Experten den Menschen stets erklärt, der Verzehr jeglicher Fettmenge sei schlecht für sie. Diese Kampagne war sehr erfolgreich und hat mit Unterstützung der Nahrungsmittelindustrie dafür gesorgt, dass in vielen Ländern die verzehrte Menge an Fetten reduziert wurde. Trotzdem haben die Fälle von Fettleibigkeit und Diabetes eher noch schneller zugenommen. Wie wir inzwischen herausgefunden haben, gehören einige der eifrigsten Fettkonsumenten weltweit, die Bewohner der griechischen Insel Kreta, zu den gesündesten und langlebigsten Menschen. Um Fette zu ersetzen, steigerte die Nahrungsmittelindustrie den Zuckergehalt verarbeiteter Lebensmittel immer mehr. Das führte zu dringlichen Warnungen, Zucker sei das Arsen unserer Zeit. Doch wie sich herausstellt, ist alles noch komplizierter. Die Kubaner sind, obwohl sie durchschnittlich doppelt so viel Zucker zu sich nehmen wie die Amerikaner, ärmer, aber gesünder.

Wenig überraschend, dass wir durch all diese verschiedenen und widerstreitenden Botschaften – vermeide kohlensäurehaltige Getränke, Zucker, Säfte, Fett, Fleisch, Kohlenhydrate – verwirrt sind und mit dem Eindruck zurückbleiben, wir dürften außer Salat nichts mehr essen. Zusammen mit den der Intuition zuwiderlaufenden Subventionen für Mais, Soja, Fleisch und Zucker erklärt diese Verwirrung, warum die Menschen in England und Amerika weniger Obst und Gemüse verzehren als ein Jahrzehnt zuvor – trotz teurer und lautstarker Regierungskampagnen. In einem vergeblichen Versuch, diese Tendenz umzukehren, wurde die Empfehlung »5 am Tag« (fünf Portionen Obst und Gemüse) in England kürzlich auf »7 am Tag« erhöht. Welche Begründung hinter diesen und den meisten offiziellen Ernährungsempfehlungen steckt, ist unklar – die simple Botschaft stellt die Wissenschaft ins Abseits. Und zwischen den einzelnen Ländern gibt es wenig Übereinstimmung. Manche geben keine Empfehlungen ab, andere sind inzwischen zu »10 am Tag« übergegangen; einige, wie etwa Australien, propagieren »zwei plus fünf«, wobei zwischen Obst und Gemüse unterschieden werden soll und man die Leute davon abhalten will, einfach sieben Portionen Orangensaft pro Tag zu trinken. Die Nahrungsindustrie liebt solche Ideen und etikettiert ihre verarbeiteten Nahrungsmittel als »gesund«, um die anderen Bestandteile zu verschleiern.

In England wurde die Empfehlung »7 am Tag« mit einer Beobachtungsstudie an 65 000 Personen begründet; man verglich diejenigen, die angaben, am vorhergehenden Tag überhaupt kein Obst oder Gemüse gegessen zu haben, mit denen, die mehr als sieben Portionen verzehrt hatten. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass der Verzehr von Obst und Gemüse die Sterblichkeit relativ betrachtet um mehr als ein Drittel senkte, die absolute Sterblichkeit der Obst und Gemüse Essenden jedoch nur um ein Dreitausendstel (oder 0,3 Prozentpunkte) verringert wurde – nicht gerade eindrucksvoll. Genetische, wahrscheinlicher aber soziale Faktoren könnten die Nahrungspräferenzen erklären, besonders angesichts der Tatsache, dass jemand in East Glasgow wahrscheinlich zwanzig Jahre eher stirbt als jemand, der im wohlhabenden Kensington lebt. Eine Studie mit zehnmal mehr Teilnehmern konnte keinen Nutzen feststellen, wenn mehr als fünf Portionen pro Tag verzehrt wurden.

Damit will ich nicht sagen, dass die Empfehlung immer falsch ist, aber wenn es um Gesundheit und Ernährung geht, müssen wir »offiziellen« Ratschlägen und Empfehlungen vorsichtiger und kritischer begegnen. Diese reflexhaften Reaktionen beruhen oft auf unzulänglichen Belegen oder schlechter Wissenschaft oder einfach nur auf dem Widerstreben von Politikern und Wissenschaftlern, aus Angst vor einer »Verwirrung« der Öffentlichkeit und vor Gesichtsverlust, wiche man von einmal eingeschlagenen Weg ab.

Ebenso gefährlich ist die übermäßige Vereinfachung des Ansatzes, sich auf den »gesunden Menschenverstand« zu verlassen. Wer weniger isst und mehr Sport treibt, wird Gewicht verlieren, und wer das nicht schafft, dem fehlt einfach die Willenskraft – lautet die einfache Botschaft. Das war ein weiteres medizinisches Mantra der letzten Jahrzehnte. Trotz höherer Lebenserwartung, raffinierterer Medizintechnik und verbesserter Lebensumstände erleben wir eine beispiellose Epidemie von Fettleibigkeit und chronischen Erkrankungen, deren Ende nicht abzusehen ist. Kann das wirklich an einem globalen Mangel an Willenskraft liegen, wie man uns oft glauben machen will?

Viele der von mir untersuchten britischen Zwillinge waren auf eine Diät gesetzt worden, und es war interessant zu sehen, wie es ihnen im Vergleich zu ihrem Zwillingsgeschwister erging, das nicht dieselbe Diät probiert hatte. Diejenigen, die unsere Frage, ob sie für mehr als drei Monate eine Diät zur Gewichtsreduktion eingehalten hatten, bejahten, waren durchschnittlich dicker als die, welche dies verneinten. Um nicht die unterschiedlichen Charaktere oder körperlichen Eigenschaften der Zwillinge, sondern die Effekte einer Diät angemessener vergleichen zu können, sahen wir uns die Unterschiede zwischen Zwillingspaaren an. Das ermöglichte uns, von allen Unterschieden in den Genen, der Entwicklungsumgebung, der Kultur und der sozialen Schicht abzusehen, da sie bei den meisten Zwillingen vollkommen übereinstimmten. Außerdem wählten wir für diese Studie nur eineiige Zwillingspaare aus, bei denen beide übergewichtig waren und einen Body Mass Index (BMI) von mehr als 30 aufwiesen (zur Berechnung wird das Körpergewicht in Kilogramm durch die zum Quadrat erhobene Körpergröße in Metern geteilt). Zu medizinischen und Forschungszwecken definieren Ärzte dies als fettleibig.

Zu Beginn des Experiments betrug das Durchschnittsgewicht der zwölf stark selektierten weiblichen Zwillinge 86 Kilogramm; der durchschnittliche BMI lag bei 34. Nun hätte man vermutlich vorhergesagt, dass der Zwilling, der über die Willenskraft verfügte, regelmäßig eine Diät einzuhalten, für die Jahre des Verzichts auch einen Erfolg vorzuweisen hätte. Stattdessen fand ich absolut keinen Unterschied zwischen dem Zwilling, der sich in den letzten zwanzig Jahren regelmäßig Diäten unterworfen hatte, und ihrer identischen Zwillingsschwester, die nie eine ernsthafte Diät eingehalten hatte. Ähnliche Resultate zeigten sich bei jüngeren Zwillingen, die mit 16 Jahren das gleiche Ausgangsgewicht gehabt hatten. Der Zwillingspartner, der Diät gehalten hatte, war durchschnittlich um 1,5 Kilogramm schwerer, als man die beiden im Alter von 25 Jahren miteinander verglich.2

Es scheint, dass unser Körper sich einfach an die neue, verringerte Kalorienaufnahme anpasst und macht, wofür er durch die Evolution programmiert wurde. Wie es aussieht, wird die öde Monotonie der meisten Ausschlussdiäten von dem Impuls des Körpers überlagert, die angelegten Fettvorräte zu bewahren. Sobald jemand für einige Zeit fettleibig gewesen ist, legt es eine ganze Reihe biologischer Änderungen darauf an, den Fettvorrat sowie die Belohnungsmechanismen des Gehirns für Nahrungsaufnahme zu erhalten oder zu vermehren.3 Dies ist der Grund, warum die meisten Diäten scheitern.

DIE GLOBALE ZEITBOMBE

2014 waren mehr als 20 Millionen amerikanischer Kinder fettleibig – ein Bevölkerungsanteil, der sich innerhalb von drei Jahrzehnten verdreifacht hat. Selbst amerikanische Babys, die man eindeutig nicht wegen ihrer mangelnden Willenskraft oder wegen falscher Entscheidungen tadeln kann, werden mit beängstigendem Tempo fetter. Und der Rest der Welt holt auf: In Deutschland ist jeder zweite Erwachsene übergewichtig oder fettleibig (62 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen), in Großbritannien sind es zwei von drei Erwachsenen; die Mexikaner sind inzwischen die inoffiziellen Weltmeister und haben die USA beim Anteil der Fettleibigen sowohl unter Kindern wie unter Erwachsenen übertrumpft. In China und Indien hat sich der jeweilige Anteil in dreißig Jahren auf fast eine Milliarde fettleibiger Bürger verdreifacht; in Ländern wie Japan, Korea und Frankreich, deren Bevölkerung oft als schlanker gilt, ist mittlerweile mehr als eines von zehn Kindern als fettleibig anzusehen.

Auch wenn Fettleibigkeit gesetzlich manchmal als Behinderung gilt, wird sie nicht als Krankheit eingestuft, doch ihre Folgen sind genauso tödlich. Sie kostet die Länder nicht nur Milliarden im Gesundheitswesen. Zu den gravierendsten gesundheitlichen Folgen dieser Epidemie gehört Diabetes, an der mehr als 300 Millionen Menschen leiden, und diese Zahl wächst jährlich um 2 Prozent – doppelt so schnell wie die Weltbevölkerung. In Gebieten wie Malaysia und den Golfstaaten ist fast die Hälfte der Bevölkerung an Diabetes erkrankt. Wenn der aktuelle Trend anhält, werden bis 2030 zusätzliche 76 Millionen Menschen in England und den USA klinisch fettleibig sein, was auf Fettleibigkeit bei annähernd der Hälfte der Bevölkerung hinausläuft. Das bedeutet Millionen zusätzlicher Patienten mit Herzerkrankungen, Diabetes, Schlaganfällen und Arthritis. Die Steuerzahler werden die damit einhergehenden astronomischen Rechnungen zu tragen haben, während man uns seitens der Regierungen und Ärzte erklärt, man wüsste genau, wo das Problem liegt: zu viel Essen.

Doch warum betrifft der dramatische Anstieg der Zahl fettleibiger Menschen auf dem Planeten auch Entwicklungsländer wie Botswana und Südafrika? Dort sind inzwischen fast die Hälfte aller Frauen klinisch fettleibig, obwohl wir vor dreißig Jahren Massen von Hungertoten aufgrund fehlender Nahrung vorhersagten.

Meine erste persönliche Erfahrung mit den extremen Folgen von Fettleibigkeit machte ich in den 1980er Jahren, als ich in Belgien als Assistenzarzt in der absolut ersten Klinikabteilung für Fettleibigkeit tätig war. Zu Anfang sahen meine jungen Assistenten-Kollegen und ich die Sache im Scherz als teure Gesundheitsfarm an. Meine erste Patientin änderte dann alles. Sie wurde von der Feuerwehr eingeliefert, nachdem sie zu Hause mit einem Blutgerinnsel in der Lunge kollabiert war. Mit 260 Kilogramm Gewicht zu schwer für den Krankenwagen, hatte sie von der Feuerwehr mit einer Winde durchs Fenster abgeseilt werden müssen. Sie war erst 35 Jahre alt; eine Ernährung aus Junkfood und Softdrinks hatte dazu geführt, dass sie jahrelang zur Gefangenen in der eigenen Wohnung wurde und Gewicht zulegte, bis ihr Körper zusammenbrach. Obwohl sie in der Klinik 100 Kilo abnahm, litt sie weiterhin an einer Reihe schwerer medizinischer Probleme wie Diabetes, Arthritis und einer Herzerkrankung; sie starb zwei Jahre später an Herz- und Nierenversagen.

Zu dieser Zeit, im Jahr 1984, war dieser Gesundheitszustand noch äußerst selten. Als ich an dieser realen Person und Patientin die Auswirkungen sah, änderte sich meine Ansicht über Fettleibigkeit vollkommen. Inzwischen wiederholen sich solche Geschichten mit trauriger Regelmäßigkeit, wie im Falle eines Teenagers aus dem walisischen Aberdare, der 355 Kilo wog. Das Mädchen konnte erst aus seinem Haus geborgen werden, nachdem man eine Wand eingerissen hatte.

Nachdem ich nach England zurückgekehrt war, sollten noch weitere zwanzig Jahre vergehen, ehe Ärzte den Anstieg der Fettleibigkeit überhaupt ernst nahmen, und selbst heute werden fettleibigen Patienten regelmäßig Behandlungen, Mitgefühl und Mittel verweigert. Sie können keine dringenden Operationen erhalten, und überall auf der Welt behandelt man sie als Bürger zweiter Klasse, wenn es um Gesundheitsfürsorge geht. Fettleibigkeit ist ein massiv vernachlässigter Bereich der Medizin, mit wenig Mitteln ausgestattet, ohne spezielle Ausbildungsmöglichkeiten und ohne eine gemeinsame Stimme, mit der man versuchen könnte, gegen die milliardenschweren Werbebudgets der Lebensmittelkonzerne anzukämpfen.

Als Assistenzarzt in London wurde ich von den mir vorgesetzten Ärzten regelmäßig aufgefordert, fettleibigen Patienten mit erheblichen Gesundheitsproblemen zu sagen, sie sollten »ihr Leben in die Hand nehmen und ihre Willenskraft einsetzen, um sich nicht weiter zu überessen«, oder sie vielleicht daran zu erinnern, dass es »in Konzentrationslagern keine fetten Menschen« gegeben habe. Selbstverständlich scheiterten diese nicht gerade feinfühligen »ärztlichen« Methoden kläglich – meine Patienten wurden immer dicker und depressiver, Diabetes und Behinderungen nahmen zu. Manchmal schickten wir sie zu den Diätspezialisten der Klinik, doch das war stets vergebliche Müh’, weil man sie lediglich bat, ihre Gewohnheiten zu ändern und keine Kekse und Chips mehr zu essen. Es war, als würde man ein Heftpflaster verwenden, um eine massive Blutung zu stillen. Ein komplett anderer Ansatz war nötig.

Reduziert man die tägliche Kalorienaufnahme übergewichtiger Personen für lange Zeit in kontrollierter Umgebung auf weniger als 1000 Kalorien (normalerweise nehmen wir 2000  2600 Kalorien zu uns), hat man die Lösung gegen Fettleibigkeit. Doch außerhalb von militärischen Einrichtungen oder Kliniken sind solche Bedingungen unmöglich durchzusetzen, und damit bleiben keine praktischen oder bewährten wirksamen Heilmöglichkeiten. Eine künstliche Ausnahme, welche auch Diabetes »kuriert«, ohne dass die äußere Umgebung geändert würde, ist die radikale chirurgische Magen-Bypassoperation. Doch obwohl man sie seit fünfzig Jahren relativ gefahrlos anwendet, wird sie von Ärzten höchst widerwillig empfohlen, zum Teil deshalb, weil sie nicht verstehen, warum sie so wirksam ist.

ÄRZTE, DOGMEN UND DIÄTEN – WEG VON DER UNWISSENHEIT

Als Reaktion auf meinen gesundheitlichen Schreck in den Bergen überlegte ich reflexartig, dass ich etwas aufgeben musste. Ich beschloss, Fleisch und Milchprodukte sowie die damit einhergehenden gesättigten Fette bleiben zu lassen, doch abhängig von allen möglichen Artikeln, die ich zuletzt gelesen hatte, hätten es ebenso gut Kohlenhy-drate, Getreide, E-Zusatzstoffe, Gluten, Hülsenfrüchte oder Fruktose sein können. Da die Story des 20. Jahrhunderts von der Schädlichkeit aller Fette sich anscheinend in Luft auflöste, wollte ich die wahren wissenschaftlichen Fakten hinter diesem und anderen Ernährungsmythen aufspüren. Ich wollte herausfinden, ob es da etwas gab, was all den anderen Experten entging.

Hatte ich zu Recht Fleisch aufgegeben, das die Menschen Millionen Jahre hindurch verzehrt haben? Verursachen Milch, Käse und Joghurt wirklich Allergien, wie das inzwischen in vielen Studien behauptet wird? Aß ich zu viele Kohlenhydrate oder Getreideprodukte, um den Mangel an Fett und Proteinen auszugleichen? Sollte ich mir wegen des hohen Glykämischen Index von Getreideprodukten Sorgen machen? In Wissenschaft oder Medizin stellen sich die von Ärzten und anderen Gesundheitsexperten bevorzugten Ja-oder-Nein-Antworten im Allgemeinen als falsch heraus. Es gibt fast immer eine weitere Schicht biologischer Komplexität und Steuerung, an die man entweder nicht gedacht oder die man als unbedeutend abgetan hat. In diesem Buch soll mit Hilfe der allerneuesten wissenschaftlichen Forschung diese nächste Schicht freigelegt werden.

Ich hatte das Glück, dass ich dafür neben meiner eigenen Erfahrung auf eine große Forschungsgruppe von fünfzig Leuten und 11 000 erwachsenen Zwillingen zurückgreifen konnte, an denen ich mehr als zwanzig Jahre lang geforscht hatte. Es ist eine der großen Herausforderungen in der Welt der Ernährungsforschung, die Auswirkungen von Ernährung und Umweltbedingungen von den Effekten unserer Gene abzugrenzen, und Zwillinge bieten die Lösung. Diese Freiwilligen aus ganz England verschafften uns außerordentlich detaillierte Informationen über ihre Gesundheit, ihre Lebensweise und Ernährungsgewohnheiten. Kombiniert mit all den genetischen Daten, die wir von ihnen und ihren Zwillingsgeschwistern kennen, stellen sie wahrscheinlich die am meisten untersuchten Menschen auf dem Planeten dar. Für mich ist dieses Buch zu einer überaus persönlichen Entdeckungsgeschichte geworden, und ich hoffe, es trägt dazu bei, dass der Leser die verwirrenden Dogmen, kommerziellen Interessen und Ernährungsmythen durchdringt, mit denen wir alle konfrontiert sind.

Ich möchte die jüngsten Forschungen und Entdeckungen dazu nutzen, den Trend zur Ignoranz umzukehren und außerhalb dessen zu denken, was sich derzeit als sehr fest verschlossene Kiste darstellt. Ich möchte den Mythos aus der Welt schaffen, Fettleibigkeit hänge lediglich davon ab, dass man aufgenommene und verbrauchte Kalorien zählt, weniger isst und körperlich aktiver ist oder bestimmte Lebensmittel weglässt. Heute kann man den Eindruck gewinnen, als sei jedermann ein Experte für Nahrungsmittel und Ernährung. Doch die meisten Diäten werden von Leuten ohne wissenschaftliche Ausbildung ausgetüftelt oder propagiert, und leider – wenngleich es darunter auch vernünftige Leute gibt – kann jeder von sich behaupten, er sei Ernährungsspezialist oder Ernährungsberater. Berühmt ist der Fall eines Zertifikats professioneller Fähigkeit, das von der Vereinigung amerikanischer Ernährungsberater, der American Association of Nutritional Consultants, an eine gewisse Henrietta Goldacre vergeben wurde. Die Tatsache, dass Henrietta Goldacre zufällig die verstorbene Katze des Arztes und Buchautors Dr. Ben Goldacre war, zeigt die hohen Standards vieler Diplome auf dem Ernährungssektor.4

Sogar angesehene Ärzte versteifen sich auf bestimmte Vorstellungen und Theorien und weigern sich, ihre Fehler einzugestehen, wenn neue Daten auftauchen, die ihnen widersprechen. Kein anderes Gebiet der Wissenschaft oder der Medizin kennt so viele professionelle Kämpfe, solchen Mangel an Konsens und an strengen Studien, wie sie die gesundheitlichen Behauptungen der unzähligen Ernährungsempfehlungen stützen könnten. Überdies kommt mir kein anderes wissenschaftliches Fachgebiet so sehr wie ein Aufeinandertreffen konkurrierender Religionen vor – jede mit ihren Hohepriestern, Eiferern, Gläubigen und Ungläubigen. Und wie bei der Religion sind die meisten Menschen, selbst wenn ihr Leben in Gefahr ist, nicht gewillt, ihren Glauben zu ändern.

Da die Ernährungsexperten einander ständig widersprechen und sich gegenseitig kritisieren, ist es kein Wunder, dass nur wenige interdisziplinäre Studien oder Projekte finanziert werden. Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass viele Wissenschaftler, die nach einer Finanzierung für ein Projekt suchen, vorsätzlich eine wichtige Diätkomponente verschweigen, weil sie wissen, dass diese von Kollegen heftig kritisiert werden würde. Obwohl es eine riesige Anzahl kleiner Studien gibt, die jedes Jahr durchgeführt und finanziert werden, liegt der Forschungsstandard im Vergleich zu anderen Fachbereichen weit zurück. Die meisten Vorhaben bleiben auf Querschnitts- und Beobachtungsstudien beschränkt, die viele mögliche Vorurteile und Fehler aufweisen; wenige sind überlegene Beobachtungsstudien über längere Zeiträume, und nur ein winziger Bruchteil erfolgt im Goldstandard randomisierter Studien, bei denen den Teilnehmern per Zufall ein bestimmtes Nahrungsmittel oder eine Diät zugewiesen wird und die Auswirkungen langfristig verfolgt werden.

Es fehlt nach wie vor an einem breiteren wissenschaftlichen Verständnis von Ernährung und Diäten. Die meisten Diäten beruhen auf einer überkommenen verengten Betrachtungsweise oder auf simpler Beobachtung und Quacksalberei, doch die massiven Unterschiede zwischen Individuen und ihren physiologischen Reaktionen auf Nahrungsmittel bleiben unerklärt. Wenn jedes verarbeitete Nahrungsmittel, das man neu in die Ernährung einführt, eine von einem Pharmaproduzenten hergestellte Arznei wäre und Fettleibigkeit eine katalogisierte Krankheit, so verfügten wir über eine Fülle von Daten zu Nutzen und Risiken. Doch beim Essen haben wir selbst für rundum synthetische Kombinationen keine solchen Sicherheitsvorkehrungen.

DAS FEHLENDE PUZZLETEIL

Beim Ernährungspuzzle fehlt uns ein riesiges Stück. Wieso legt der eine Mensch, wenn er regelmäßig eine bestimmte Speise zu sich nimmt, an Gewicht zu, während ein anderer, der genau dieselbe Nahrung verzehrt, sogar Pfunde verliert? Schlanke Personen (darunter verstehen wir diejenigen mit gesundem Gewicht und einem BMI unter 25) stellen inzwischen in den meisten Populationen eine Minderheit dar. Was macht sie so anders als »normal« übergewichtige Menschen? Vielleicht sollten wir sie ja als die »anormalen« Leute untersuchen?

Manche dieser Unterschiede sind eindeutig auf unsere Gene zurückzuführen, die sowohl unseren Appetit als letztlich auch unser Gewicht beeinflussen. Meine Zwillingsstudien in England (die Twins-UK-Studie) und andere Forschungen in aller Welt haben gezeigt, dass eineiige Zwillinge einander in Körpergewicht und Fett stärker ähneln als zweieiige Zwillinge. Da sie genetisch identische Klone sind und die gleiche DNA gemeinsam haben, zeigt dies die Bedeutung genetischer Faktoren, die etwa 60  70 Prozent der Unterschiede zwischen Menschen erklären. Im Durchschnitt weisen eineiige Zwillinge weniger als ein Kilogramm Gewichtsunterschied auf. Diese von Genen beeinflussten Ähnlichkeiten erstrecken sich auf andere, damit zusammenhängende Eigenschaften, die wir ebenfalls erkundet haben – etwa die Anteile von Körpermuskulatur und Fett insgesamt und den Ort, an dem Fett im Körper angelagert wird. Essgewohnheiten wie Vorlieben oder Abneigungen gegen Nahrungsmittel werden ebenfalls durch Gene beeinflusst; das gilt sogar dafür, wie oft Menschen gerne trainieren oder Mahlzeiten einnehmen. Dass ein Merkmal zu 60 oder 70 Prozent »genetisch« ist, heißt jedoch nicht, dass es vorbestimmt ist.

Faktisch können eineiige Zwillinge trotz der identischen Gene gelegentlich sehr unterschiedliche Bauchumfänge aufweisen, und diese besonderen Paare untersuchen wir sehr genau, um herauszufinden, woran das liegt. Die genetischen Faktoren allein können die erheblichen Veränderungen, die in den letzten beiden Generationen in der Bevölkerung zu beobachten waren, nicht erklären. In Großbritannien waren 1980 nur 7 Prozent der Männer und Frauen fettleibig – mittlerweile sind es 24 Prozent. Die aus Varianten der DNA bestehenden Gene können sich nicht so schnell verändern und brauchen im Schnitt mindestens hundert Generationen, sich durch natürliche Selektion anzupassen.

Es ist eindeutig, dass noch andere Faktoren beteiligt sind. Das 21. Jahrhundert hat schon bedeutende Durchbrüche in der Genetik der Fettleibigkeit und der Gehirnchemie gebracht, und diese jüngst entdeckten Gene spielen sicherlich eine Rolle, wenn auch eine sehr kleine. Möglicherweise haben wir einen weiteren zentralen Faktor übersehen, der unsere Ernährung und unsere Gesundheit beeinflusst: Unsere winzigen Mikroorganismen im Verdauungstrakt geben uns vielleicht die Antwort auf unsere moderne Epidemie der Fettleibigkeit.

Die Mikroorganismen werde ich im folgenden Kapitel eingehend vorstellen, da sie entscheidend für einen erheblichen Teil unserer Missverständnisse bezüglich unserer modernen Ernährung sind. Dieses faszinierende neue Gebiet verändert unser gesamtes Verständnis der Zusammenhänge zwischen unserem Körper und der von uns verzehrten Nahrung. Unsere beschränkte, engstirnige Sicht von Ernährung und Gewicht als simples Phänomen zugeführter und abgeführter Energie und unsere mangelnde Erklärung für unsere Mikroorganismen waren die Hauptgründe für das elende Scheitern von Diäten und Ernährungsempfehlungen. Zusammen mit unserem Erfolg bei der massenhaften Produktion immer billigerer Nahrungsmittel und bei der Behandlung mancher Krankheiten hat dieses Ernährungsdesaster ermöglicht, dass wir länger leben – allerdings um den Preis, dass wir immer ungesünder werden.

Ausgerüstet mit dieser neuen Wissenschaft, müssen wir unseren Ansatz für Nahrungsmittel, Ernährung, Diät und Fettleibigkeit neu überdenken. Im 20. Jahrhundert sahen wir Nahrung in Begriffen ihrer Bestandteile (Makronährstoffe), die uns mit Energie versorgen – Proteine, Fette, Kohlenhydrate und so weiter. Wir alle haben uns daran gewöhnt, diese auf den Etiketten von Nahrungsmitteln aufgelistet zu sehen; eine Menge medizinischer und ernährungstechnischer Ratschläge beruhen auf dieser kolossalen übermäßigen Vereinfachung der Nahrung in all ihrer Komplexität. Ich möchte zeigen, warum dieser Ansatz falsch ist. Ich möchte nicht, dass Sie aufhören, die von Ihrem Arzt verschriebenen Medikamente einzunehmen oder entsprechende Diäten einzuhalten, aber ich möchte, dass Sie – und Ihr Arzt – die Logik in Frage stellen, die dem zugrunde liegt. Anhand der Nährstoffinformationen, wie sie auf den Etiketten von Nahrungsmitteln angegeben sind, möchte ich Ihnen zeigen, warum wir hinter die darauf vorgefundenen oberflächlichen Empfehlungen schauen müssen. Auf diesem Weg hoffe ich, viele der gefährlichsten Mythen der modernen Diäten herauszustellen und zu widerlegen.  

Nicht auf dem Etikett:
Mikroorganismen

Würde ich Ihnen von einem Wesen erzählen, das uns begleitet und unsere Nahrung sowie unsere Gewohnheiten mit uns teilt, mit uns auf Reisen geht, mit uns eine Evolution durchlaufen hat und daher weiß, was wir mögen und nicht mögen, und das wir beschützen, so würden Sie vielleicht davon ausgehen, dass ich über Ihren Hund oder Ihre Katze spreche. Doch in Wahrheit rede ich von etwas, was millionenfach kleiner und für das bloße Auge unsichtbar ist.

Mikroorganismen sind primitive Lebensformen – sie waren die ersten Einwohner auf Erden. Sie sind Lebewesen, die wir im Allgemeinen ignorierten oder als selbstverständlich hinnahmen. Man nahm an, dass diese winzigen, für uns unsichtbaren Organismen vor allem in Dreck und in oder auf Tieren zu finden seien, da sie sich nicht waschen. Doch unser Körper enthält 100 Billionen von ihnen; allein die Mikroorganismen in unseren Eingeweiden wiegen mehr als 2 Kilogramm. Vertraut sind sie den meisten von uns nur, weil sie mit den seltenen Anfällen von Lebensmittelvergiftung zu tun haben – etwa Salmonellen in rohen Grillhähnchen oder E. coli in einem am Ende einer Nacht unüberlegt vertilgten Döner Kebab. Von solchen Fällen abgesehen, so glaubten wir trotz unserer ständig zunehmenden wissenschaftlichen und technologischen Kenntnisse, könnten diese winzigen und scheinbar banalen Wesen unsere überaus starken Körper keinesfalls beeinflussen. Und damit lagen wir gründlich falsch.

TANZENDE »ANIMALCULES«

Frühjahr 1676: Antoni van Leeuwenhoek hatte wieder einmal verschlafen, und es war schon hell, als er aufwachte. Drunten in den Straßen von Delft ging es laut und geschäftig zu. Er hatte bis spät in die Nacht an seinem letzten Experiment gearbeitet und war immer noch müde, aber begeistert von seinen jüngsten Entdeckungen. Mit Hilfe seines selbstgebauten besonderen Mikroskops hatte Antoni herauszufinden versucht, warum Chilischoten scharf sind, doch per Zufall war er auf etwas gestoßen, was noch weit umwälzender war.

Antoni war gelernter Textilkaufmann und ungeheuer neugierig. Anders als die meisten seiner Freunde hatte er noch alle Zähne und war streng darauf bedacht, sie täglich zu reinigen – erst rieb er sie heftig mit harten Salzkristallen ab, dann benutzte er einen hölzernen Zahnstocher, spülte nach und polierte sie schließlich mit seinem speziellen Zahntuch.

Heute sah er sich mit seinem Vergrößerungsspiegel den teigig-weißen (heute als Plaque bekannten) Belag auf seinen Zähnen an. Im Vergleich zu anderen Leuten, die Antoni untersucht hatte, war bei ihm nur wenig Belag vorhanden, doch selbst nach dem Zähneputzen schien er nie vollständig verschwunden zu sein. Er schabte ein wenig davon auf ein Glasplättchen und gab ein paar Tropfen frisches Regenwasser dazu. Was er in der Vergrößerung sah, erstaunte ihn. Überall waren winzige herumwimmelnde Wesen zu beobachten. Diese »animalcules« (so nannte er sie) wiesen alle möglichen Formen und Größen auf – es gab mindestens vier Familien, die alle »hübsch umhertanzten«. Schockiert war er nicht wegen ihrer Anwesenheit, sondern wegen ihrer Vielzahl. »Diese animalcules im Abgeschabten von den Zähnen eines Menschen sind so zahlreich, dass ich glaube, sie übersteigen die Zahl der Menschen in einem Königreich«, schrieb er.

Antoni Leeuwenhoek war möglicherweise der erste Mensch, der einen Mikroorganismus (darunter verstehen wir ein Lebewesen, das nur mittels eines Mikroskops sichtbar wird) gesehen hat. Mit Sicherheit war er der Erste, der sie beschrieben und erkannt hat, dass es in den Eingeweiden und auf der Haut gesunder Menschen von diesen Wesen geradezu wimmelt. Er fand sie, wo immer er hinschaute, von unserem Mund bis zu unserer Nahrung, vom Trinkwasser bis hin zu Urin und Stuhlproben. Anders als Newton und Galilei – Wissenschaftler der gleichen Epoche, die ihre Erkundungen nach außen auf die Sterne richteten und so Ruhm erlangten – blieb er trotz dieser erstaunlichen Entdeckung relativ unbekannt.

Möglicherweise haben Sie auf Mikroorganismen bislang wenig Gedanken verschwendet, weil Sie sie ohne Hilfe eines Vergrößerungsglases nicht sehen können. Stellen Sie sich einmal vor, wie viele Sandkörner es auf der Erde gibt – oder, wenn Ihnen das lieber ist, wie viele Sterne es im Universum gibt. Jemand hat die Sterne gezählt – na gut, es war eine sehr gute Schätzung – und kam auf eine Zahl von 1024 (eine 1 mit 24 Nullen – eine unfassbare Menge). Wenn Sie die Schätzung für alle Sterne mit einer Million multiplizieren, erhalten Sie die riesige Zahl 1030, und das ist die geschätzte Anzahl der Bakterien auf der Erde. Sollten Sie Gärtner sein und zufällig ein winziges Krümelchen Erde verschlucken, sind darin Milliarden Bakterienzellen enthalten; schon eine Handvoll Erde enthält mehr Mikroorganismen, als es Sterne im Universum gibt. Wer im Wasser schwimmt, ist keineswegs »sicherer«, denn dort finden sich in einem Milliliter – ob Süß- oder Salzwasser – eine Million Bakterienzellen. Diese Mikroorganismen sind die eigentlichen und ständigen Bewohner der Erde; wir Menschen sind nur zeitweilige Besucher.

Mikroorganismen sind in den meisten Lebensräumen präsent – von den normalen bis hin zu den extremsten. Bakterien leben in sauren heißen Quellen, radioaktivem Abfall und den tiefsten Schichten der Erdkruste. Bakterien haben sogar im Weltraum überlebt. Wir haben uns nicht aus Adam und Eva entwickelt, sondern aus Mikroorganismen, und unsere enge Verbindung mit ihnen haben wir bis heute beibehalten. Am auffälligsten ist das in unseren Eingeweiden, wo Tausende verschiedener Spezies, die sich so sehr voneinander unterscheiden wie wir von Quallen, eine weit größere Rolle spielen, als wir je erkannten.

Mikroorganismen haben in der Regel einen schlechten Ruf, doch nur ein winziger Teil von ihnen ist für uns schädlich, und in Wahrheit sind die meisten entscheidend für unsere Gesundheit. Mikroorganismen sind nicht nur wichtig dafür, wie wir unsere Nahrung verdauen; sie kontrollieren die Kalorien, die wir aufnehmen, liefern lebenswichtige Enzyme und Vitamine und halten zudem unser Immunsystem gesund. Über Millionen von Jahren hinweg haben wir uns gemeinsam mit Mikroorganismen entwickelt, was uns wechselseitig das Überleben sicherte, doch zuletzt sind die Feinabstimmung und die Selektion falsch gelaufen. Verglichen mit unseren letzten Vorfahren, die außerhalb von Städten lebten, sich reicher und vielfältiger Nahrung erfreuten und keinerlei Kontakt mit Antibiotika hatten, lebt in unseren Eingeweiden nur ein Bruchteil der Vielfalt mikrobieller Arten. Erst jetzt verstehen Wissenschaftler allmählich die langfristigen Auswirkungen, die das für uns alle hat.

FRÜHE KOLONISTEN AUF JUNGFRÄULICHEM BODEN

Unser persönlicher Kontakt mit Mikroorganismen fängt bei der Geburt an. Ein gesundes steriles Baby wird während der Geburt innerhalb von Minuten von Mikroorganismen wimmeln: Millionen Bakterien und noch mehr Viren, die sich von den Bakterien ernähren, und dazu sogar ein paar Pilze. Innerhalb weniger Stunden wird das Baby von weiteren Millionen übersät sein.

Kopf, Augen, Mund und Ohren sind die ersten Körperteile, die besiedelt werden, während das Baby den weichen Geburtskanal der Mutter passiert; in der feuchten und warmen Schleimhautschicht warten viele eifrige Mikroorganismen darauf, umsteigen zu können. Wegen der räumlichen Nähe und des Drucks auf die Schließmuskeln wird dann eine leichte Mischung aus Urin- und Fäkalmikroorganismen über Gesicht und Hände verteilt; anschließend überzieht eine andere Gruppe von Mikroorganismen den übrigen Säuglingskörper, was auf den Kontakt mit der Haut an den Beinen der Mutter zurückzuführen ist.

Diese winzigen Mikroorganismen werden gewöhnlich mit den Händen des Babys auf Lippen und Mund übertragen. Normalerweise können sie die Ozeane aus Speichel, von denen sie fortgespült werden, nicht überwinden, und wenn doch, sind sie der feindlichen sauren Umgebung des Magens und dessen Säften ausgesetzt, wo die meisten vernichtet werden.

Beim ersten Schluck einer kleinen Menge alkalischer Muttermilch (die wie ein Säurehemmer wirkt) bleiben ein paar glückliche Bakterien verschont, die entweder auf Lippen oder Mund oder auf den Brustwarzen der Mutter warten, und schaffen es durch die säurehaltigen Fluten. Diese unerschrockenen Entdecker können dann eine ganz neue Kolonie gründen, indem sie sich in der Sicherheit der Darmschleimhäute des Babys wie wild vermehren und auf die Ankunft weiterer Milch und anderer mikrobieller Gefährten warten. Selbst wenige Kolonisten können – wenn die Bedingungen stimmen – mit einer Teilung in jeweils 40  60 Minuten über Nacht zu Millionen oder Milliarden Zellen werden.

Bis Mitte der 1990er Jahre galt das Dogma, die meisten Körperflüssigkeiten seien keimfrei, enthielten also keine Mikroorganismen. Als ein Team aus Madrid behauptete, aus der Muttermilch einer gesunden Frau Dutzende Mikroorganismen kultiviert zu haben, wurde es ausgelacht.1 Heute wissen wir, dass menschliche Milch Hunderte Arten enthält, obwohl wir immer noch keine Ahnung haben, wie sie dorthin gelangen. Wir können nicht länger sicher sagen, dass irgendein Teil unseres Körpers – das betrifft also auch Bauchhöhle und Augapfel – absolut frei von Mikroorganismen ist, und möglicherweise bewegen sie sich sogar unbemerkt durch unseren Körper.2 Wenn Sie das nächste Mal auf die Toilette gehen, sollten Sie einen Gedanken für Ihre Billionen Mikroorganismen übrig haben. Fast die Hälfte der Masse, die Sie fortspülen, besteht aus Mikroben.

Zwar werden wir alle frei von Mikroben geboren, doch dieser Zustand währt nur ein paar Millisekunden. Die Besiedelung mit Mikroorganismen verläuft alles andere als zufällig und wurde über Millionen Jahre hinweg geplant und fein abgestimmt. Tatsächlich sind die Mikroben und das Neugeborene für ihr Überleben und ihre Gesundheit aufeinander angewiesen. Diese empfindliche Ko-Evolution zwischen Mikroorganismen und Menschen hat die lebenswichtige Aussaat der ersten Mikroben auf jungfräulichem Boden nicht vollständig dem Zufall überlassen. Alle Säugetiere und viele andere untersuchte Tiere wie etwa Frösche übertragen ihre eigenen, sorgfältig selektierten Mikroorganismen auf ihre Neugeborenen – dieser Vorgang ist mindestens 50 Millionen Jahre alt. So hat die Evolution den Sprung der Mikroorganismen von einer Generation auf die nächste erleichtert, und so entsteht unsere eigene einzigartige Gemeinschaft von Mikroorganismen, das sogenannte Mikrobiom.

DIE VIELFALT
DER MIKROBIELLEN GÄRTEN

In Schmutz, Staub, Wasser und Luft umgeben uns Billionen von Mikroorganismen, die nicht daran interessiert sind, ein Neugeborenes zu besiedeln. Sie haben nicht einmal die Möglichkeiten entwickelt, auf oder in uns überleben zu können und dort ausreichend Energie für ihr Leben zu gewinnen. Demnach sind die Mikroorganismen, die den Menschen besiedeln, hochspezialisiert; ihre Gene sind reduziert, um sicherzustellen, dass keine Mechanismen vorhanden sind, die sich mit denen des menschlichen Wirts überschneiden oder überflüssigerweise decken. Mit den Mikroorganismen in uns teilen wir Menschen 38 Prozent der Gene. Da die Übertragung der Mikroben von der Mutter auf das Kind im Tierreich so universell ist, ist sie eindeutig entscheidend für unsere Gesundheit.3

Sobald eine Frau schwanger wird, macht ihr Körper sich bereit, der nächsten Generation durch diese besondere Übertragung mikrobieller Gene möglichst viel Hilfe mitzugeben. Im Körper der Schwangeren eingeschaltete Gene erzeugen präzise programmierte Änderungen und gewährleisten so, dass bestimmte Hormone Stoffwechsel und Kalorienaufnahme modifizieren, wodurch Energie gespart wird, in Brüsten und Gesäß Fettreserven angelegt werden, der Glukosespiegel steigt und Muttermilch produziert wird. Weitere Veränderungen betreffen die weißen Blutkörperchen, die das Immunsystem kontrollieren; dieses muss mit dem fremden Objekt in ihrem Inneren – dem Baby – zurechtkommen, ohne es abzustoßen. Auch bei den Mikroorganismen gibt es Veränderungen in Vorbereitung auf den Tag, an dem sie auf das Baby übertragen werden, damit dessen Wachstum und Überleben unterstützt werden. Diese Änderungen des Mikrobioms sind überaus wirkungsvoll.

Wenn Wissenschaftler den Stuhl einer Schwangeren auf sterile Mäuse übertragen, werden diese weit fetter als Mäuse, denen man den Stuhl nicht schwangerer Frauen überträgt.4 Experimente mit solchen sterilen oder keimfreien Mäusen sind ein unverzichtbares Werkzeug, das wir auf diesem Forschungsgebiet regelmäßig nutzen. Sie werden durch keimfreien Kaiserschnitt in einer mit Sauerstoff versorgten abgeschlossenen Umgebung zur Welt gebracht, wobei jeder Kontakt mit den übrigen Tieren des Wurfs, der Mutter oder anderen Mikroorganismen vermieden wird. Anschließend werden sie in sterilen und getrennten Käfigen gehalten, bekommen sterile Nahrung und werden beobachtet. Sie können ohne Mikroben überleben, aber nur gerade so. Sie haben definitiv keinen Elitekörper – sie bleiben schwächlich, und Gehirn, Darm oder Immunsystem entwickeln sich nicht normal. Am auffallendsten ist, dass ihre Fütterung teuer ist, weil Mäuse ohne Mikroben um ein Drittel mehr Kalorien benötigen als normale Mäuse, um ihr Körpergewicht zu halten – ein Beleg für die zentrale Bedeutung der Mikroorganismen bei der Verdauung der Nahrung im Darm.5

Die meisten unserer Mikroben leben im Grimmdarm (dem Colon), jenem etwa 130 Zentimeter langen, den größten Teil des Wassers absorbierenden Darmabschnitt vor dem Enddarm (dem Rektum). Im darüberliegenden Teil des Darms – dem Dünndarm – wird der größte Teil unserer Nahrung und der Energie ins Kreislaufsystem absorbiert. Gewöhnlich kommt die von den Zähnen und mit Hilfe der Enzyme in Speichel zerkleinerte Nahrung hier an. Der Dünndarm enthält ebenfalls Mikroben in kleinerer Anzahl, doch über sie und ihre präzisen Rollen wissen wir sehr viel weniger. Nahrung, deren Zerlegung mehr Zeit erfordert, bis sie ihre Nährstoffe freisetzt, wird von hier aus an den mit Mikroorganismen gefüllten Grimmdarm abgegeben.

Verabreicht man den sterilen Mäusen nach ein paar Wochen Mikroben, entwickeln sie sich immer noch nicht normal. Wenn sie aber das Leben mit Darmmikroben beginnen und man versucht, diese Mikroorganismen mit Antibiotika zu zerstören (was Menschen leider allzu oft tun, was katastrophale Folgen hat), so werden sie zwar nie richtig gesund, doch es geht ihnen viel besser.

ANHAND VON MIKROORGANISMEN LÄSST SICH FETTLEIBIGKEIT WEIT BESSER VORHERSAGEN ALS ANHAND VON GENEN

DNA