cover

Sally Goddard Blythe

Greifen und Be-Greifen

Wie Lernen und Verhalten mit
frühkindlichen Reflexen zusammenhängen

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe,
bearbeitet und teilweise neu übersetzt
von Thake Hansen-Lauff

Image

VAK Verlags GmbH
Kirchzarten bei Freiburg

Inhalt

Danksagung

Vorworte

Einleitung

Kapitel 1: Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung

Der Moro-Reflex

Der Palmar-Reflex

Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex

Der Suchreflex

Der Spinale Galantreflex

Der Tonische Labyrinthreflex

Der Symmetrische Tonische Nackenreflex

Kapitel 2: Vom frühkindlichen Reflex zur Haltungskontrolle

Das Startling-Phänomen (Schreckmuster)

Haltungskontrolle

Stellreaktionen

Der Labyrinth-Kopfstellreflex

Der Augen-Kopfstellreflex

Der Landau-Reflex

Der Amphibienreflex

Die Segmentären Rollreflexe

Gleichgewichtsreaktionen

Kombinierte Auswirkungen unreifer Reflexe

Reflexausreifung – ein fortschreitender Prozess

Kapitel 3: Die Gehirnentwicklung

Die Entwicklung einer Hierarchie

Die Spezialisierung der Gehirnhälften

Kapitel 4: Die Sinne

Gleichgewicht und vestibuläres System

Der Tastsinn

Das Hören

Das Sehen

Die Propriozeption

Das Schmecken und Riechen

Zusammenfassung

Kapitel 5: Reflextests

Moro-Reflex (Standardtest)

Moro-Reflex (Aufrechter Test; Clarke, Bennett, Rowston)

Palmar-Reflex

Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (Standardtest)

Asymmetrischer Tonischer Nackenreflex (Schilder-Test)

Suchreflex

Saugreflex

Spinaler Galantreflex

Tonischer Labyrinthreflex (Aufrechter Test)

Symmetrischer Tonischer Nackenreflex

Landau-Reflex

Amphibienreflex

Segmentärer Rollreflex

Augen-Kopfstellreflexe

Labyrinth-Kopfstellreflexe

Kapitel 6: Wie können wir helfen?

Entscheiden, auf welcher Ebene wir intervenieren wollen

Unterrichten unter Berücksichtigung der normalen kindlichen Entwicklung

Sensorische Probleme: vestibulär, auditiv, visuell

Bessere Lernbedingungen für Kinder mit neurologischer Entwicklungsverzögerung schaffen

Tabelle I: Entwicklung und Transformation des Reflexsystems

Tabelle II: Indikatoren für entwicklungsneurologische Verzögerungen

Tabelle III: Hilfsmaßnahmen bei fortbestehenden Reflexen

Kapitel 7: Die Entstehung einer Idee – Reflektieren über Reflexe

Geschichte

Klinische Forschung

Forschungsergebnisse über die Wirkung des Reflexausreifungs- und -hemmungsprogramms

Anhang

Fallstudien und ausgewählte Beiträge:

– Ergebnisse bei Jugendlichen und Erwachsenen

– Elektiver Mutismus: Die unfreiwillige Stummheit

– Meilensteine der Entwicklung: Handwerkszeug fürs Überleben

– Warum purzeln und rollen Kinder umher?

– Erfassen neurologischer Dysfunktionen bei Kindern mit schulischen Teilleistungsstörungen

– Bewegungsübungen zur Ausreifung und Hemmung primitiver Reflexe und ihre Auswirkungen auf spezifische Leseprobleme (Legasthenie) bei Kindern

Erläuterung der Fachbegriffe

Nützliche Adressen

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

Dieses Buch ist meinem Vater gewidmet:
William D. Pritchard (1913–1995)

Ein guter Lehrer wird dich nicht auffordern,
das Haus seiner Weisheit zu betreten; er wird dich vielmehr
an die Schwelle deines eigenen Verstandes führen.
(Khalil Gibran, in: Der Prophet)

Danksagung

Mein Dank gilt …

… Peter Blythe, der diese Arbeit 1969 begann und 1975 das Institute for Neuro-Physiological Psychology (INPP; Institut für neurophysiologische Psychologie) gründete. Über 20 Jahre lang gab er Studenten, Fachleuten und Kollegen Anregung, Weiterbildung und Ermutigung – und er vermittelte Kindern und ihren Eltern Hoffnung. Die Techniken, die im INPP angewendet werden, haben sich mittlerweile über den ganzen Globus ausgebreitet und man redet über die Auswirkungen von Reflexen auf Lernen und Verhalten – manchmal ohne die Quelle zu kennen, woher dieses Wissen stammt. Viele andere haben daran weitergearbeitet, Techniken auf der Grundlage neuer Erkenntnisse und Forschungen zu entwickeln. Aber die führende Hand ist weiterhin die des Gründers und Leiters Peter Blythe.

… Catherina Johannesson-Alvegard, die diese Arbeit ursprünglich in Schweden entwickelte.

… Dr. Kjeld Johansen.

… Dr. Lawrence Beuret, Thake Hansen-Lauff, Björn Gustaffson, Håkan Carlson, Sheila Dobie, Mary O’Connor und Joan Young.

… Professor Birger Kaada, Universität Stavanger, der mit seiner Arbeit über den Furcht-Lähmungsreflex einen wesentlichen Aspekt beitrug, und Ernest Keeling, der das INPP als Erster auf den Furcht-Lähmungsreflex aufmerksam machte.

… den vielen, vielen anderen Menschen, deren stille Arbeit, deren Diskussionen und Ideen zur Entwicklung dieses Buches beigetragen haben.

… Svea Gold, deren unermüdliche Geduld bei der Suche nach Problemlösungen für Kinder, deren eigene Publikationen, deren Ermutigung und Unterstützung zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

… meinen Kindern James, Thomas und Gabriella, die es mir ermöglicht haben, ein zweites Mal mit ihnen erwachsen zu werden.

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe

Es gibt einen berühmten Kupferstich von Hogarth: Das Ei des Kolumbus. Dort wird die Szene dargestellt, wie Kolumbus, gerade von der Entdeckung „Indiens“ zurückgekehrt, von seinen missgünstigen Freunden umringt ist. Die Geschichte geht so, dass sie sich über seine Leistung lustig machen und behaupten, dass seine Entdeckung ein Kinderspiel gewesen sei und sie es ohne weiteres auch hätten machen können.

Ganz ruhig (so erzählt man sich) nahm Kolumbus daraufhin ein Ei von einem Tablett auf dem Tisch und forderte seine Herausforderer auf, das Ei auf seine Spitze zu stellen. Sie versuchten es, einer nach dem anderen, aber jedes Mal rollte das Ei auf eine Seite. Schließlich nahm Kolumbus das Ei, stieß es mit einem kurzen, scharfen Knacks auf die Tischplatte – und das Ei „stand“! Seine Freunde lachten und sagten: „Verflixt!“ (oder wie auch immer sie sich zu der Zeit ausdrückten). „Das hätten wir auch geschafft!“ – „Ja,“ antwortete Kolumbus, „aber ich tat es!“

Ob diese Geschichte nun wahr ist oder nur apokryph, so hatte doch jede Wissenschaft immer wieder Männer, die das Ei des Kolumbus aufschlugen und so in ihrem Betätigungsfeld ein neues Zeitalter einleiteten. Da waren Galileo, Einstein, Pasteur, die Gebrüder Wright – eine unendliche Reihe.

1986 erhielt Rita Levi-Montalcini den Nobelpreis für ihre Arbeit über Nervenwachstumsfaktoren. Sie bewies, dass bestimmte chemische Stoffe, die gewöhnlich an der Verbindungsstelle zwischen Nerv und Muskel erzeugt werden, neue Verbindungen ermöglichen, die von der Nervenzelle ausgehen. Forschungsarbeiten an embryonalen Eiern gibt es schon seit den frühen 1920er Jahren! Dann kam Jean-Pierre Changeux und schuf sprichwörtlich das Ei des Kolumbus. Er hatte bemerkt, dass Hühnerembryos während ihrer Gestationszeit bestimmte Reflexbewegungen machen. Während sie sich noch im Ei befanden, nahm er eine sehr feine Nadel und lähmte ihre Muskeln mit Curare, so dass diese Reflexbewegungen nicht stattfinden konnten. Nachdem die Küken dann geschlüpft waren, untersuchte er ihre Gehirne, die tatsächlich Anomalitäten zeigten.

Ich schrieb ihm daraufhin und sagte, dass seine Arbeit für Kinder und kindliche Entwicklung von Bedeutung sei. Er antwortete, dass dies das Ziel hinter seiner Forschung sei, dass es jedoch bis dahin noch einer langen Zeit bedürfe.

Was Changeux nicht wusste war, dass sich gerade zu dieser Zeit Peter Blythe, zusammen mit David McGlown, mit Kindern beschäftigte, die Probleme in der Schule hatten – Kinder mit der Diagnose „minimale Hirnschädigung“. Dabei fand er heraus, dass sich bei diesen Kindern noch in großem Ausmaß Hinweise auf frühkindliche Reflexe fanden, die längst hätten gehemmt sein müssen. Andererseits schienen Haltungsreaktionen zu fehlen, die hätten da sein müssen. Das war ein neurologisches Profil, das sich deutlich von dem bei Kindern unterschied, die keine Probleme hatten. Nun gibt es bereits seit längerer Zeit entwicklungsbezogene Therapien – etwa seit den fünfziger Jahren, würde ich sagen. Auch die kindliche Entwicklung ist seit langem Gegenstand der Forschung, vor allem seit das Gesell-Institut begann, die zu erwartenden Meilensteine der kindlichen Entwicklung zu dokumentieren. Auf der Grundlage dieses Wissens wurde die Reflextherapie bei Kindern mit Zerebralparese und bei Schlaganfallpatienten angewandt. Doch blieb es Peter Blythe und Sally Goddard vorbehalten, diese Erkenntnisse zu nutzen, um den „rätselhaften“ Kindern zu helfen, die allem Anschein nach normal waren. Wir warfen ihnen inakzeptables Verhalten vor oder bezeichneten sie als dumm – weil wir sie nicht verstanden.

Am Institute for Neuro-Physiological Psychology zeigten sie, wie man die Kinder auf Reflexe hin überprüft, und kodierten die Bewertung, so dass es möglich wurde, ein genaues Bild davon zu bekommen, was das Verhalten des Kindes beeinträchtigte. Auf welche Weise genau wirkt sich jeder Reflex auf das Kind aus? Wenn ein Profil derjenigen Reflexe beim Kind entdeckt wurde, die sich nicht in der zu erwartenden Abfolge entwickelt hatten – wie konnte man diesem Kind helfen? Es handelte sich nicht um eine Forschungsmethode, die theoretisch oder im Labor durchgeführt wurde: Sie war auf eine solche Weise anwendungsbezogen, dass Eltern, Lehrer und Ärzte sie leicht nutzen konnten.

Inzwischen nutzen Optometristen dieses Wissen, um das Training der Augenmuskelmotorik zu beschleunigen. Von Schweden bis Australien – wo auch immer Sally Goddard erstes Buch Verbreitung fand – nutzen Lehrer diese Informationen, um ein neues Verständnis dafür zu entwickeln, warum das eine Kind Erfolg hat und das andere versagt. In den Vereinigten Staaten versorgen manche Lehrer diejenigen Kinder, die nicht still sitzen können, mit „Wackelkissen“, weil sie erkennen, dass diese vielleicht einen erhaltenen Spinalen Galant haben. Manche befestigen Gummibänder um die Stuhlbeine, um den Kindern dabei zu helfen, den Auswirkungen eines nicht gehemmten Symmetrisch Tonischen Nackenreflexes zu begegnen. Sie unterminieren nicht mehr Johnnys Selbstachtung, indem sie ihm vorhalten: „Du sollst nicht mit deiner Zunge schreiben!“ Sie wissen, dass er immer noch Anzeichen einer Babkin-Reaktion hat. Mit diesem neuen Ansatz herrscht mehr Ruhe und Frieden im Klassenzimmer und die Lehrer können tatsächlich unterrichten, anstatt mit Disziplinierungsmaßnahmen Zeit zu verschwenden. Nachdem die üblichen Methoden sich als Notbehelf erwiesen hatten, werden jetzt körperorientierte Programme eingeführt, die dem Kind dabei helfen, diejenigen Meilensteine zu erreichen, die es braucht, um Erfolg zu haben. Ich selbst habe die Techniken des Instituts in meiner Arbeit mit jugendlichen Straftätern angewandt – mit überaus großem Erfolg!

Jean-Pierre Changeux‘ Forschung an Eiern hat sich schneller als nützlich erwiesen, als er glaubte – sie untermauert den theoretischen Hintergrund von Peter Blythes Methode zur Reflexausreifung und -hemmung. Doch es war die Arbeit des Institute for Neuro-Physiological Psychology, die das Ei auf die Spitze stellte!

Svea Gold
(Januar 2002)

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wer kennt es nicht: Der Wunsch und die Notwendigkeit, Kindern mit Schul- und/ oder Verhaltensproblemen zu helfen, führt häufig zu einer euphorischen Anfangsbegeisterung für neue Therapieansätze, die dann nur zu oft zu einer mehr oder weniger frustrierten Ernüchterung abflaut. Die Tatsache, dass eine ständig steigende Nachfrage bereits in kurzer Zeit zu neuen Auflagen des vorliegenden Buches geführt hat und dass auch ein wachsendes Interesse an einer Fortbildung in dem vom Institut für Neurophysiologische Psychologie (INPP) in Chester/England entwickelten Behandlungsansatz u. a. bei Pädagogen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten zu verzeichnen ist, zeigt jedoch, dass hier ein offensichtlich hoch bedeutsamer Puzzlestein vorgelegt wurde, der nicht nur von jedem nachvollziehbare Erklärungsmuster für Kinder bereitstellt, die trotz eindeutig vorhandener Intelligenz ihre Eltern und Lehrer damit überraschen, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen zu können, sondern auch viele Lerntherapeuten die unsichtbare Bremse verstehen lässt, die manche Kinder daran hindert, trotz intensiver Bemühungen die erwünschten Fortschritte zu machen.

Die Theorie der persistierenden frühkindlichen Reflexe mit ihren zum Teil tiefgreifenden Auswirkungen auf die weitere Entwicklung eines Kindes sowie der darauf aufbauende Behandlungsansatz, der in langjähriger Forschungsarbeit und klinischer Praxis von Peter Blythe und Sally Goddard (INPP) entwickelt wurde, hat inzwischen einer sorgfältigen Überprüfung nach standardisierten wissenschaftlichen Kriterien standgehalten. In der Februarausgabe 2000 der weltweit angesehenen medizinischen Fachzeitschrift The Lancet (Nr. 355) erschien der Bericht über eine an der Queens University in Belfast durchgeführte kontrollierte Doppeltblindstudie, in der der wissenschaftliche Nachweis über die Wirksamkeit des vom INPP (Chester) entwickelten Bewegungsprogramms zur Ausreifung und Hemmung frühkindlicher Reflexe geführt wurde. Damit liegt ein Ergebnis vor, das die Akzeptanz des im vorliegenden Buch behandelten Ansatzes weiter voranbringt – wird doch objektiv die Erfahrung bestätigt, die inzwischen viele Therapeuten weltweit in ihrer klinischen Praxis gemacht haben: dass nämlich frühkindliche Reflexe, die über den normalen Zeitpunkt ihrer Hemmung hinaus ihre Wirkung beibehalten, nicht nur zu einer pathologisch verlaufenden Bewegungsentwicklung wie z.B. bei der Zerebralparese führen, sondern auch auf subpathologischer Ebene ein „normal“ erscheinendes Kind in den unterschiedlichsten Bereichen seiner Entwicklung – Bewegung, Wahrnehmung, Verhalten, Lernen – empfindlich beeinträchtigen können.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Ergebnisse aus der Gehirnforschung überstürzen. Es ist zu hoffen, dass damit noch mehr Erkenntnisse und darauf aufbauende Behandlungsstrategien zur Verfügung stehen werden, die denjenigen Kindern helfen können, denen so schwer zu helfen ist. Doch bei allen Fortschritten in den wissenschaftlichen Methoden: Bewegung ist die Grundlage allen Wachstums und Lernens.

Thake Hansen-Lauff

(Leiterin der International School for Neurodevelopmental Training and Research in Deutschland, NDT/INPP; außerdem Übersetzerin und Bearbeiterin der Erweiterungen und Änderungen der vorliegenden Ausgabe)

Einleitung

Wenn ein Kind ein Problem hat, sind die Eltern gewöhnlich die Ersten, die das erkennen. Oft wissen sie nicht genau, was es ist; sie haben nur das Gefühl: „Irgendetwas stimmt bei meinem Kind nicht.“ Falls die Symptome nicht sehr gravierend sind, werden die Schwierigkeiten oft übersehen und den Eltern wird gesagt: „Es wächst sich zurecht!“ Und was fast noch schlimmer ist: Häufig werden sie dann als überängstliche oder gar neurotische Eltern verunglimpft.

Zwar wachsen in der Tat viele Kinder aus ihren frühen Problemen heraus; auch gibt es viele individuelle Unterschiede und Variationen innerhalb der anerkannten Entwicklungsstufen. Doch gibt es eine Gruppe von Kindern, die allem äußeren Anschein nach „normal“, in bestimmten Aspekten ihrer Entwicklung aber unreif sind. Wenn ihre „unreifen“ Muster bestehen bleiben, laufen diese Kinder Gefahr in unterschiedlichen Lebensphasen eine Reihe von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zu entwickeln.

Forschungen im Bereich der Neuroplastizität haben gezeigt, dass das „Verdrahten“ des Zentralen Nervensystems veränderbar ist, besonders in den Phasen, in denen es sich am stärksten entwickelt oder ausreift. Dieses „Umdrahten“ hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Fähigkeiten eines Kindes, mit seiner sozialen wie auch physischen Umwelt erfolgreich zu interagieren. Nach Galaburda (2001) können Probleme im Gehirn auf zwei Ebenen entstehen: bei Verarbeitungsprozessen höherer und niedrigerer Ordnung. Es ist zwar eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass im Verlauf des Reifungsprozesses höhere Zentren im Gehirn zunehmende Kontrolle über untere Zentren übernehmen, doch wenn untere Ebenen weiterhin einen dominierenden Einfluss auf bestimmte Funktionen ausüben, so wird dies Auswirkungen auf die Funktionstüchtigkeit eines Kindes, auf seine Lernfähigkeit und sein Verhalten haben.

Schulunterricht und viele Förderansätze zielen zumeist darauf ab, höhere Zentren im Gehirn zu erreichen. Eine Vorgehensweise, die sich an der neurologischen Entwicklung eines Kindes orientiert, identifiziert zunächst die unterste Ebene der Dysfunktion und richtet die therapeutische Intervention dann auf diesen Bereich. Sobald die Probleme in diesem Bereich behoben sind, versucht man durch den Einsatz spezieller Stimulationstechniken Verbindungen zwischen niedrigen und höheren Zentren aufzubauen.

Alles Lernen findet im Gehirn statt; über den Körper werden Informationen aufgenommen und er ist auch das Vehikel, über das das Wissen sich wieder ausdrückt. So betrachtet ist Bewegung der Herzschlag des Lernens. Lernen, Sprechen und Verhalten sind auf bestimmte Weise mit Funktionen des Bewegungssystems und der Bewegungskontrolle verbunden. Bevor unsere Kinder sprechen lernen, können wir sie über ihre Körpergestik, über Haltungsänderungen, Bewegungsrhythmus, Klang, Lautstärke und Höhe ihrer Stimme verstehen.

Die Fähigkeit des Sprechens hängt vom motorischen System ab, das die notwendigen Bewegungskombinationen ermöglicht, die für die Koordination von Kehlkopf, Rachen, Zunge und Muskeln im vorderen Mundbereich erforderlich sind. Lesen wiederum hängt vor allem von okulo-motorischen Fähigkeiten wie präzisen Augenbewegungen ab, und Schreiben schließlich erfordert gute Auge-Hand-Koordination mit der Unterstützung des Haltungssystems. Erfolgreiches schulisches Lernen hängt weitestgehend davon ab, dass sich Basisfähigkeiten auf der physischen Ebene automatisieren. Wenn ein Kind keine automatische Kontrolle über sein Gleichgewicht und seine motorischen Fähigkeiten erlangt, kann dies trotz durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz des Kindes ungünstige Auswirkungen auf viele andere Lernaspekte haben.

Körperkontrolle ist eine der Voraussetzungen für Selbstkontrolle. Eine Unreife in den Funktionen des Zentralen Nervensystems ist oft von Zeichen emotionaler Unreife begleitet, wie zum Beispiel schlechte Impulskontrolle, Schwierigkeit die Körpersprache anderer zu lesen und unbefriedigende Beziehungen zu Gleichaltrigen. Ein Vater beschrieb sein Kind so: „… äußerlich zehn Jahre und innerlich drei Jahre alt.“ Kein noch so großer Aufwand an Verhaltensmodifikation konnte eine Veränderung im emotionalen Verhalten seines Sohnes bewirken, bis das zugrunde liegende Problem einer entwicklungsneurologischen Verzögerung angegangen worden war.

Wie man Kinder an das System anpasst …

Wenn die Kinder in die Schule eintreten (in Großbritannien mit Beginn des fünften Lebensjahres), geht man gewöhnlich davon aus, dass sie in der Lage sind still zu sitzen, aufmerksam zu sein, ein Schreibgerät zu halten, und dass ihre Augen die Bewegungen ausführen können, die notwendig sind, um einer gedruckten Zeile zu folgen. Viele Kinder erwerben diese Fähigkeiten ohne Mühe; andere brauchen länger dafür, da sie mit einem eindeutigen Nachteil, der ihre neurologische Entwicklung betrifft, ihre Schulzeit beginnen. Sie verfügen dann nicht über die notwendigen physischen Fähigkeiten für erfolgreiches Lernen. In höheren Klassenstufen laufen diese Kinder Gefahr so genannte spezifische Lernschwierigkeiten zu entwickeln, nicht etwa deshalb, weil sie zu dumm sind, sondern weil die für das Lernen fundamentalen Basissysteme zur Zeit ihres Schuleintritts nicht vollständig vorhanden waren. Aufmerksamkeit, Balance und K(C)oordination sind das erste ABC, von dem alles weitere schulische Lernen abhängt.

Das Konzept der Schulreife ist nicht neu. Schon 1947 wurde bemerkt, dass die Lesereife mit dem ersten Zahnwechsel einherzugehen scheint und dass die individuelle Abweichung zum Zeitpunkt des Zahnwechsels ein Hinweis auf weitere mit der Lesereife verbundene Aspekte neurologischer Reifung sein kann (Ames 1967). 1999 gingen Bax und Whitmore der Frage nach, ob es sinnvoll sei, in die schulärztliche Schulreifeuntersuchung eine kurze Testbatterie entwicklungsneurologischer Tests einzubeziehen. Sie fanden signifikante Korrelationen zwischen dem Grad neurologischer Ausreifung und den Ergebnissen bei den kognitiven psychologischen Tests. Obwohl eine zunehmende Zahl an Forschungsergebnissen den Wert des Überprüfens von Entwicklungsmeilensteinen zum Zeitpunkt des Schuleintritts unterstreicht, sind derartige Tests immer noch nicht in die Standardprozedur der Schulreifeuntersuchung integriert. Das chronologische Alter ist weiterhin Hauptkriterium für den Schuleintritt.

Solch eine undifferenzierte Vorgehensweise beim Schulstart kann sich auf wenigstens zwei Gruppen sehr ungünstig auswirken: auf jene Kinder, deren Geburtstag in den Sommer fällt und die damit neun bis zwölf Monate jünger sind als ihre Klassenkameraden, und auf jene Kinder, die in bestimmten Aspekten ihrer Entwicklung in Bezug auf die automatische Kontrolle von Gleichgewicht und Koordination verzögert sind und deshalb Schwierigkeiten bei der Fokussierung und Aufrechterhaltung ihrer Aufmerksamkeit haben. Die erste Gruppe könnte ganz einfach von einer Verschiebung des Schuleintritts um einige Monate profitieren, so dass diese Kinder dann als ältere Kinder in die nächste Einschulungsklasse aufgenommen werden. Jene, die bestimmte Entwicklungsmeilensteine noch nicht erreicht haben, würden von einer verlängerten vorschulischen Phase mit einem mehr informellen Curriculum profitieren, das bevorzugt jene Aktivitäten in den Vordergrund stellt, die ihre physische und sensorische Entwicklung fördern.

In der früheren Tschechoslowakei wurden zwei einfache Tests zur Feststellung der Schulreife angewandt: Kann das Kind einen Kreis sowohl im wie gegen den Uhrzeigersinn zeichnen? (Diese grundlegende Bewegung ist beim Schreiben von Buchstaben von Bedeutung.) Kann das Kind mit der Hand das jeweils gegenüberliegende Ohr berühren? (Dies zeigt, ob das Kind die Körpermittellinie überqueren kann – eine für das Lesen notwendige Fähigkeit.)

Unabhängige Forschungen haben ähnliche Zusammenhänge zwischen automatischer Kontrolle des Gleichgewichts und späteren Lernschwierigkeiten ergeben. Eine Reihe von Tests wie der Wobble Test (Nicolson und Fawcett 1994) und der „Einbeinstand“ (Schrager 2001) sind in umfassendere Testbatterien einbezogen worden, um diejenigen Kinder zu identifizieren, die Gefahr laufen Legasthenie oder andere spezifische Lernschwierigkeiten zu entwickeln (oder sie bereits haben).

Während derartige Tests uns Hinweise darüber geben, was verkehrt ist, sagen sie uns nichts darüber, warum das eine Kind die Kontrolle über sein Gleichgewicht und seine Koordination gewonnen hat, das andere aber nicht.

Es ist Absicht dieses Buches nicht nur Antworten auf die Frage nach dem Warum zu geben, sondern auch Wege aufzuzeigen, wie das gefährdete Kind identifiziert werden kann und wie die Hindernisse überwunden werden können, die das Kind daran hindern, in der Schule und im späteren Leben erfolgreich zu sein. (Fachbegriffe werden im Anhang erläutert.)

Kapitel 1
Reflexe und ihre Auswirkungen auf Erfolg oder Versagen in der Erziehung

Wenn ein Kind geboren wird, verlässt es das weiche, schützende Polster der Gebärmutter, um in eine Welt zu kommen, in der es von einer fast überwältigenden Masse an Sinnesreizen bestürmt wird. Es kann diese Gefühlsreize, die es umschließen, nicht interpretieren. Sind sie zu stark oder zu plötzlich, wird es auf sie reagieren, aber es ist nicht in der Lage, die eigene Reaktion zu verstehen. Es hat eine Welt des Gleichgewichts gegen eine Welt des Chaos eingetauscht; es hat die Wärme verlassen und findet Hitze und Kälte vor. Das Neugeborene wird nicht mehr automatisch mit Nahrung versorgt; es muss anfangen, bei der eigenen Nahrungsversorgung mitzuwirken. Es erhält auch nicht länger Sauerstoff aus dem Blut der Mutter, also muss es jetzt selbst atmen. Es muss beginnen, die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse zu suchen und zu finden.

Um zu überleben, ist es mit einer Anzahl frühkindlicher Reflexe ausgestattet, die die unmittelbare Reaktion auf diese neue Umgebung und die sich verändernden Bedürfnisse sicherstellen sollen. Frühkindliche Reflexe sind automatische, stereotype Bewegungen, die vom Gehirnstamm gelenkt und ohne Beteiligung des Kortex ausgeführt werden.

Bewusstsein ist nur möglich, wenn der Kortex am Geschehen beteiligt ist.

Die Reflexe sind grundlegend für das Überleben des Babys in den ersten Lebenswochen und bilden ein rudimentäres Training für viele spätere willensgesteuerte Fertigkeiten. Allerdings sollten die frühkindlichen Reflexe nur eine begrenzte Lebensdauer haben; sobald sie ihre Aufgabe erfüllt haben und dem Baby geholfen haben, die ersten riskanten Lebensmonate zu überleben, sollten sie durch höhere Zentren des Gehirns gehemmt oder kontrolliert werden. Ausdruck dafür ist die Entwicklung höher entwickelter Nervenstrukturen, die dem Kleinkind dann die Kontrolle über willentliche Reaktionen ermöglichen.

Bleiben diese frühkindlichen Reflexe jedoch nach dem sechsten bis zwölften Lebensmonat aktiv, so werden sie als abweichend eingestuft; das Vorhandensein der Reflexe weist dann auf eine strukturelle Schwäche oder Unterentwicklung innerhalb des zentralen Nervensystems (ZNS) hin. Eine anhaltende Aktivität der frühkindlichen Reflexe kann ebenfalls die Entwicklung der nachfolgenden Halte- und Stellreflexe verhindern, die jetzt auftreten sollten, um dem sich entwickelnden Kind die erfolgreiche Interaktion mit seiner Umwelt zu ermöglichen. Frühkindliche Reflexe, die über das Lebensalter von sechs Monaten hinaus noch aktiv sind, können das Beibehalten unreifer Verhaltensmuster verursachen; es ist auch möglich, dass trotz des Erwerbs späterer Fertigkeiten unreife Systeme vorherrschend bleiben. Ein Elternteil beschrieb sein Kind so: „Da ist immer noch ein Kleinkind im Körper eines zehnjährigen Kindes aktiv.“

Je nachdem wie stark die Reflexaktivität von der normalen Entwicklung abweicht, kann diese schlechte Organisation der Nervenzellen eine oder alle Funktionsgebiete betreffen; nicht nur die grob- oder feinmotorische Koordination, sondern auch sensorische Wahrnehmung, Kognition und Ausdrucksvermögen.

Wahrnehmung ist das Registrieren sensorischer Information im Gehirn.

Kognition ist die Interpretation und das Verstehen dieser Information.

Die „Grundausstattung“, die für das Lernen unerlässlich ist, wird trotz adäquater intellektueller Fertigkeiten fehlerhaft oder ineffizient sein. Es ist, als ob spätere Fertigkeiten an eine frühere Entwicklungsstufe gebunden bleiben und, anstatt automatisiert zu werden, nur durch kontinuierliche bewusste Anstrengung ausgeführt werden können.

Die frühkindlichen Reflexe erscheinen bereits im Mutterleib, sind bei der Geburt vorhanden und sollten mit ungefähr 6 Monaten, spätestens aber im Alter von 12 Monaten gehemmt werden.

Die Hemmung eines Reflexes steht oft mit dem Erwerb einer neuen Fertigkeit in Beziehung; das Wissen über die Reflexchronologie und die normale kindliche Entwicklung sollte also kombiniert werden, damit vorausgesagt werden kann, welche spätere Fertigkeit vielleicht als direkte Folge eines beibehaltenen frühkindlichen Reflexes beeinträchtigt worden ist. So wie der oben zitierte Elternteil von dem Kleinkind berichtete, das noch immer im Körper des Schulkindes aktiv ist, können wir sagen, dass die abweichenden Reflexe uns Aufschlüsse über die Faktoren geben können, die spätere Fertigkeiten aktiv behindern.

Hemmung ist die Unterdrückung einer Funktion durch die Entwicklung einer anderen Funktion. Die erste Funktion wird in die zweite integriert.

Enthemmung tritt in der Folge von Traumata auf; auch im Verlauf der Alzheimerschen Krankheit, bei der Reflexe in umgekehrter chronologischer Reihenfolge auftauchen.

Ein Aufdecken abweichender frühkindlicher Reflexe kann so dazu beitragen, die Ursachen für das Problem eines Kindes derart zu isolieren, dass zusätzliche Förderung effektiver und zielgerichtet eingesetzt werden kann. Ist das Reflexprofil nur leicht abweichend, sind Unterrichtsstrategien allein normalerweise ausreichend. Kinder, die nur einen mäßigen Grad an Reflexanomalie zeigen, werden vielleicht von einer Kombination von speziellem Unterricht und Bewegungstraining, ausgerichtet auf Förderung von Gleichgewicht und Koordination, profitieren. Falls allerdings eine Häufung abweichender Reflexe vorliegt, sprechen wir von der Existenz einer neurophysiologischen Entwicklungsverzögerung. In solchen Fällen wird das Kind nur nach einem individuell zugeschnittenen Programm zur Reflexhemmung, mit dem die noch vorhandenen abweichenden Reflexe behandelt werden, in der Lage sein eine dauerhafte Verbesserung zu erzielen.

Ein Programm zur Stimulierung und Hemmung von Reflexen besteht aus spezifischen stereotypen Bewegungen, die über einen Zeitraum von neun bis zwölf Monaten etwa fünf bis zehn Minuten täglich in Form eines Trainingsprogramms durchgeführt werden. Basis dieses Bewegungsprogramms sind die detaillierte Kenntnis der Reflexchronologie und der normalen kindlichen Entwicklung. Thelan (1979) beobachtete, dass alle Babys während ihres ersten Lebensjahres eine Reihe stereotyper Bewegungen ausführen. Das Institute for Neuro-Physiological Psychology (Institut für neurophysiologische Psychologie, INPP) in Großbritannien und Schweden vertritt die Auffassung, dass spezifische Bewegungsmuster, die in den ersten Lebensmonaten auftreten, eine natürliche Reflexhemmung beinhalten; demnach bleiben diese Reflexe bei einem Kind, das diese Bewegungen niemals in der richtigen Abfolge ausgeführt hat, im Erwachsenenalter aktiv. Durch die Anwendung stilisierter, in einer bestimmten Reihenfolge angeordneter und täglich ausgeführter Bewegungen ist es möglich, dem Gehirn eine „zweite Chance“ zu geben, jene Reflex hemmenden Bewegungsmuster zu registrieren, wie es schon zu einem früheren, angemessenen Zeitpunkt in der Entwicklung hätte geschehen sollen. Sobald die abweichende Reflexaktivität korrigiert ist, werden viele der körperlichen, lernspezifischen und emotionalen Probleme des Kindes verschwinden.

Ein Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion auf einen Reiz und auf den gesamten physiologischen Prozess, der ihn aktiviert.

Jeder Reflex spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht spätere Funktionen vorzubereiten. Um zu verstehen, was falsch läuft, wenn Reflexe abweichend werden, ist es wichtig zu verstehen, welche Aufgabe die einzelnen Reflexe normalerweise erfüllen. Hierfür müssen wir zu den frühesten Lebenswochen des Embryos zurückkehren – gerade fünf Wochen nach der Empfängnis. Zu diesem Zeitpunkt beginnt der Embryo, Reaktionen auf äußere Reize zu zeigen. Ein sanftes Berühren der Oberlippe wird den Embryo veranlassen, sich in einer amöbenähnlichen Reaktion diesem Reiz sofort zu entziehen. Nur wenige Tage später wird sich diese sensible Zone ausgebreitet haben und wird nun auch die Handflächen und Fußsohlen einschließen, bis schließlich die gesamte Körperoberfläche empfindlich auf Berührungen reagiert. In diesem Stadium besteht die Reaktion jedoch immer in einem Rückzug von der Kontaktquelle; es ist eine Reaktion des ganzen Körpers. Während sich das taktile Bewusstsein entwickelt, nimmt das Sich-Zurückziehen bei Kontakt langsam ab.

Die Entwicklung des Nervensystems – nicht das chronologische Alter – bestimmt, in welchem Alter der jeweilige Reflex entsteht und zu welchem Zeitpunkt er gehemmt wird. Somit können das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Reflexen in Schlüsselstadien der Entwicklung als diagnostische Zeichen der Reife des Zentralen Nervensystems (ZNS) dienen.

Wenn die Rückzugsreflexe langsam nachlassen – vermutlich in der neunten Schwangerschaftswoche – bildet sich der erste frühkindliche Reflex heraus. Der Moro-Reflex erscheint neun bis zwölf Wochen nach der Empfängnis und entwickelt sich kontinuierlich während der Schwangerschaft, so dass er zum Zeitpunkt der Geburt vollständig vorhanden ist. Im Folgenden werden die verschiedenen Reflexe im Überblick dargestellt.

Frühkindliches Reflexprofil

Image

Der Moro-Reflex

Image

Entstehung: 9. Schwangerschaftswoche.

Bei der Geburt: Vollständig vorhanden.

Hemmung: 2.–4. Lebensmonat.

Auslöser des Moro-Reflexes

Plötzliche, unerwartete Reize jeglicher Art.

Stimulation des Labyrinthes (Gleichgewichtsorgan im Innenohr) bei Änderung der Kopfhaltung (vestibulär).

Geräusche (auditiv).

Plötzliche Bewegung oder plötzlicher Lichtwechsel im Gesichtsfeld (visuell.)

Schmerz, Temperaturänderungen oder unsanfte Berührung (taktil).

Körperliche Reaktionen auf den Moro-Reflex

1. Unmittelbare Erregung.

2. Schnelles Einatmen, kurzes „Erstarren“ oder „Aufschrecken“, gefolgt von Ausatmen – oft begleitet von einem Schrei.

3. Auslösen der Kampf-oder-Flucht-Reaktion, die automatisch das sympathische Nervensystem aktiviert und die folgenden Konsequenzen hat:

Freisetzung der Stresshormone Adrenalin und Cortisol

Anstieg der Atemfrequenz, besonders in den oberen Lungenflügeln (Hyperventilation).

Beschleunigung des Herzschlages.

Anstieg des Blutdrucks.

Rötung der Haut.

4. Eventuell Gefühlsausbrüche, zum Beispiel Wut oder Tränen.

Langzeitreaktionen: Schwach entwickelter CO2-Reflex

Der CO2-Reflex verursacht die spontane Inhalation durch den oberen und unteren Teil der Lungen. Steigt der CO2-Wert im Blut zu sehr an, finden chemische Veränderungen in der Medulla statt, wodurch dann die Arterien geöffnet werden, um die Blutversorgung des Gehirns zu verstärken und gleichzeitig ein tiefes Atmen zu bewirken.

Der Moro-Reflex umfasst eine Reihe von schnellen Bewegungen in Reaktion auf plötzliche Reize. Er besteht in einer plötzlichen symmetrischen Aufwärtsbewegung der Arme – weg vom Körper – mit einem Öffnen der Hände, kurzem Erstarren und einer schrittweisen Rückkehr zu einer Haltung, in der die Arme in einer Umklammerungshaltung um den Körper gelegt werden. Die Abduktion wird von einem plötzlichen Einatmen begleitet. Die Adduktion erleichtert das Ausatmen dieser Luft. Moro hat 1918 seine Meinung betont, nach der es sich hier im Wesentlichen um einen Greifreflex handelt, analog zu dem Reflex, den wir bei jungen Menschenaffen beobachten können, die sich instinktiv an ihre Mutter klammern. Er bezeichnete ihn als „Umklammerungsreflex“.

Abduktion ist das Öffnen der Arme und Beine nach außen.

Adduktion ist das Schließen der Arme und Beine wie zum Umarmen oder Greifen.

Der Moro-Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion auf eine Bedrohung. Das Baby ist noch nicht in der Lage, von außen kommende Sinneseindrücke zu analysieren, um dann feststellen zu können, ob sie wirklich eine Bedrohung darstellen oder nicht. Der Gehirnstamm löst eine unmittelbare Moro-Reaktion aus, so als wenn ein Notschalter automatisch ausgelöst worden wäre. Er fungiert als die früheste Form der Kampf- oder Fluchtreaktion und kann in Situationen extremer Gefahr gelegentlich auch noch später im Leben ausgelöst werden. Grundsätzlich sollte er in seiner Grobform jedoch im Alter von zwei bis vier Monaten gehemmt werden.

Seine Rolle als Überlebensmechanismus in den ersten Lebensmonaten besteht darin, „Alarm zu schlagen“ und Hilfe herbeizuholen. Es wird auch angenommen, dass er einen beträchtlichen Anteil an der Entwicklung des kindlichen Atemmechanismus im Mutterleib hat – dieses trifft mit den frühesten atmungsähnlichen Bewegungen im Mutterleib zusammen, die sich bisher beobachten ließen. Er ermöglicht auch den ersten Atemzug gleich bei der Geburt (häufig ausgelöst vom Klaps der Hebamme auf den Po des Neugeborenen oder dadurch, dass sie das Baby an den Füßen kurz kopfüber hält) und hilft, die Luftröhre zu öffnen, falls Erstickung droht.

Wird der Moro-Reflex nicht im Alter von zwei bis vier Monaten gehemmt, wird sich dies durch Hypersensitivität des Kindes in einem oder in mehreren sensorischen Kanälen auswirken; es wird dann auf bestimmte Reize überreagieren. Plötzliche Geräusche, Licht, Bewegungen oder Veränderungen von Haltung oder Balance – jeder dieser Reize kann den Reflex in unerwarteten Momenten auslösen, so dass sich das Kind ununterbrochen in „Alarmbereitschaft“ und in einem Stadium erhöhter Aufmerksamkeit befindet.

Während des größten Teiles seiner wachen Zeit befindet sich das Morogeleitete Kind immer an der Schwelle der Kampf- oder Fluchtbereitschaft, gefangen in einem Teufelskreis: Die Reflexaktivität regt die Produktion von Adrenalin und Cortisol (Stresshormone) an. Eben diese Hormone erhöhen die Sensibilität und das Reaktionsvermögen, so dass sowohl der Auslöser als auch die Reaktion innerhalb desselben Systems vorhanden sind – sie sind quasi beide „eingebaut“. Ein solches Kind mag uns als ein Paradox erscheinen: einerseits außerordentlich sensibel, aufnahmefähig, fantasievoll und einfallsreich, andererseits unreif und zu Überreaktionen neigend. Diesen Zustand wird es auf eine von zwei Weisen bewältigen: Entweder wird aus ihm ein ängstliches Kind, das oft mit Rückzug reagiert, das Schwierigkeiten hat, Kontakte zu finden, und Zuneigung weder mit Leichtigkeit zeigen noch annehmen kann; oder aus ihm kann auch ein überaktives, aggressives Kind werden, das sich leicht aufregt, unfähig ist, Körpersprache zu verstehen, und Situationen gern dominiert. Jedes der beiden Kindertypen wird dazu neigen Situationen manipulieren zu wollen, da es versucht Strategien zu finden, die ihm ein gewisses Maß an Kontrolle über seine eigenen emotionalen Reaktionen gewähren.

Adrenalin und Cortisol gehören zu den Hauptabwehrstoffen des Körpers gegen Allergien und Infektionen. Wenn beide im Leben des Kindes ständig sozusagen als „Leitmotiv“ aktiv sind, werden sie von ihrer primären Funktion abgelenkt, so dass eventuell unzureichende Vorräte beider Stoffe im Körper vorhanden sind und ausreichende Immunität und eine ausgewogene Reaktion auf mögliche Allergene eventuell nicht mehr gewährleistet ist. Solch ein Kind gehört dann vielleicht zu jenen, die sich jeden Husten und jede Erkältung einfangen, die gerade im Umlauf sind, und die auf bestimmte Medikamente besonders heftig reagieren. Ein solches Kind reagiert vielleicht überempfindlich auf bestimmte Lebensmittel oder Lebensmittelzusätze, was sich wiederum auf sein Verhalten und seine Konzentration auswirken wird. Es wird auch dazu neigen, Blutzucker schneller als andere Kinder zu verbrennen, was Stimmungs- und Leistungsschwankungen weiterhin verstärken wird.

Ein Kind, das nach wie vor über einen Moro-Reflex verfügt, wird die Welt als zu sehr mit hellen, lauten und aggressiven sensorischen Reizen angefüllt erleben. Seine Augen werden von jedem Lichtwechsel und jeder Bewegung innerhalb des Gesichtsfelds angezogen werden. Seine Ohren werden vielleicht eine zu große Masse akustischer Information empfangen. Es kann irrelevante Reize nicht ausfiltern oder „außen vor lassen„und neigt so dazu, sich sehr schnell mit Reizen überladen zu lassen. Als Ergebnis wird es „stimulusgebunden“.

In den ersten zwei bis vier Lebensmonaten, wenn der Moro-Reflex aktiv ist, ist die visuelle Aufmerksamkeit des Kindes auf die äußeren Umrisse von Gegenständen und Personen sowie auf plötzliche Bewegungen und Lichtveränderungen in der Peripherie seiner visuellen Wahrnehmung gerichtet. Wenn dies so bleibt, hat das Kind Schwierigkeiten periphere visuelle Stimuli zu ignorieren und die visuelle Aufmerksamkeit auf das Zentrum gerichtet zu halten. Dies kann dann beim älteren Kind zu leichter Ablenkbarkeit führen.

Arnheim (1969) bemerkte dazu:

„Zu viele Eindrücke aus verschiedenen sensorischen Quellen, die gleichzeitig auf einen Verstand einstürmen, der diese Reize bisher nicht einzeln erlebt hat, verschmelzen für diesen Verstand zu einem einzigen ungeteilten Objekt.“

Welches also sind die Symptome, die Eltern oder Lehrer als Hinweise auf einen deutlich fortbestehenden, nicht kontrollierten Moro-Reflex erkennen können?

Langzeitwirkungen eines beibehaltenen Moro-Reflexes

1. Vestibuläre (Gleichgewichts-) Probleme wie Reiseübelkeit, schlechte Balance und Koordination, was sich vor allem bei Ballspielen zeigt.

2. Körperliche Furchtsamkeit.

3. Okulomotorische Probleme und Probleme mit der visuellen Wahrnehmung, wie zum Beispiel Stimulusgebundenheit (das Kind ist nicht in der Lage, irrelevante visuelle Informationen innerhalb eines bestimmten visuellen Feldes zu ignorieren, so dass der Blick immer wieder zur Peripherie einer Form oder Gestalt gezogen wird – dies geschieht auf Kosten der Wahrnehmung innerer Merkmale).

4. Mangelhafte Reaktion der Pupillen auf Licht; Lichtempfindlichkeit; Schwierigkeiten bei schwarzer Schrift auf weißem Papier. Das Kind ermüdet leicht bei Neonlicht.

Bei sehr hellem Licht sollten sich die Pupillen automatisch zusammenziehen, um die Lichtmenge, die auf das Auge trifft, zu verringern. Bei gedämpftem Licht sollten sie sich sehr schnell erweitern, damit so viel Licht wie möglich auf die Netzhaut trifft. Ein Versagen dieser Funktionen kann Lichtempfindlichkeit und/ oder schlechte Nachtsicht zum Ergebnis haben.

5. Mögliche auditive Verwirrung, bedingt durch Überempfindlichkeit für spezifische Geräusche. Das Kind ist eventuell nur schlecht in der Lage, akustische Reize auseinander zu halten und voneinander zu unterscheiden (auditive Diskriminierungsprobleme); ebenso kann es Schwierigkeiten damit haben Hintergrundgeräusche auszublenden.

6. Allergien und Immunschwächen (zum Beispiel Asthma, Ekzeme) oder eine Krankengeschichte häufiger Infektionen im Hals-, Nasen-, Ohrenbereich.

7. Ungünstige Reaktionen auf Medikamente.

8. Schlechtes Durchhaltevermögen, mangelnde Ausdauer.

9. Abneigung gegen Veränderungen oder Überraschungen – schlechte Anpassungsfähigkeit.

10. Schlecht entwickelter CO2-Reflex.

11. Reaktive Hypoglykämie.

Während andere fortbestehende Reflexe dazu neigen, sich auf spezifische Fertigkeiten auszuwirken, hat der Moro-Reflex Auswirkungen auf das gesamte emotionale Profil des Kindes.

Mögliche sekundäre psychologische Symptome

Zustand ständiger Ängstlichkeit, die anscheinend keinen Realitätsbezug hat.

Überschießende Reaktionen auf Reize:

Stimmungsschwankungen; emotionale Labilität.

Fester Muskeltonus (Körper-„Panzer“).

Schwierigkeiten Kritik zu akzeptieren, da ein solches Kind große Schwierigkeiten damit hat sich zu verändern.

Phasen von Hyperaktivität, gefolgt von übermäßiger Ermüdung.

Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen.

Schwaches Ego, geringes Selbstwertgefühl:

Gefühl der Unsicherheit/Abhängigkeit.

Das Bedürfnis, Situationen zu „kontrollieren“ oder zu „manipulieren“.

Der Moro-Reflex ist der einzige der primitiven Reflexe, der auf die eine oder andere Weise mit allen Sinnessystemen verbunden ist. Da der Moro-Reflex als erster frühkindlicher Reflex auftaucht, bildet er einen Eckstein im Fundament des Lebens. Er ist unbedingt notwendig für das Überleben des Neugeborenen, aber es wird tiefgreifende Folgen haben, wenn er nicht zur richtigen Zeit gehemmt und in eine erwachsene Schreckreaktion umgewandelt wird.

Die erwachsene Schreckreaktion besteht aus einem schnellen Hochziehen der Schultern, gefolgt von einer Drehung des Kopfes, um die Störquelle herauszufinden; sobald diese identifiziert ist, fährt das Kind mit dem fort, was es gerade getan hat.

Der Palmar-Reflex

Image

Entstehung: 11. Schwangerschaftswoche.

Bei der Geburt: Vollständig vorhanden.

Hemmung: 2.–3. Lebensmonat.

Umwandlung: Schrittweise Entwicklung vom unwillkürlichen Greifen über loslassen zur verfeinerten Kontrolle über die Finger. Wird mit 36 Wochen vom Pinzettengriff abgelöst.

Der Palmar-Reflex gehört zu der Gruppe von Reflexen, die sich im Mutterleib bilden und zu deren gemeinsamen Merkmalen das Greifen gehört. Eine leichte Berührung oder ein leichter Druck auf die Handinnenfläche führt zum Schließen der Finger. Etwa 18 Wochen nach der Empfängnis hat sich diese Reaktion so weit entwickelt, dass ein Greifreflex ausgelöst wird, als Antwort auf ein Ziehen der Fingersehnen. Diese beiden Reaktionen sollten sich während der Zeit im Mutterleib verstärken und bei der Geburt voll entwickelt sein. Während der ersten zwölf Lebenswochen sollten sie deutlich aktiv sein; mit vier bis sechs Monaten sollten sie allerdings umgewandelt werden, so dass das Kind einen Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger in einem Pinzettengriff halten kann. Die Fähigkeit, einen Gegenstand loszulassen, entwickelt sich einige Wochen später, das Loslassen muss oft wiederholt werden, bevor das Kind eine gute manuelle Geschicklichkeit erreichen kann.

Sowohl der Palmar- (in der Hand) als auch der Plantar-Reflex (am Fuß, der hier nicht weiter behandelt werden soll; Anm. d. Vlg.) werden als Rest einer früheren Stufe der menschlichen Evolution angesehen, als es für das Neugeborene noch notwendig war sich an der Mutter festzuklammern, da ihm dieses Sicherheit bot. Es besteht auch eine direkte Verbindung zwischen dem Palmar-Reflex und dem Stillen in den ersten Lebensmonaten. Der Palmar-Reflex kann durch Saugbewegungen ausgelöst werden; diese Saugbewegungen können dazu führen, dass das Neugeborene im Rhythmus des Saugens knetende Bewegungen mit den Händen macht (Babkin-Reaktion). Sowohl der Mund als auch die Hände sind für das Neugeborene die wichtigsten Mittel sich auszudrücken und seine Umwelt zu erforschen. Eine fortgesetzte Aktivität dieser Reflexe kann bleibende negative Auswirkungen auf die feinmotorische Koordination, Sprache und Artikulation haben, sofern sie nicht zum richtigen Zeitpunkt gehemmt werden.

Die Auswirkungen der neurologischen Zusammenhänge von Handflächen und Mund des Neugeborenen können häufig beobachtet werden, wenn das Kind beginnt, schreiben oder zeichnen zu lernen. Bis ihm diese Aufgabe wirklich leicht fällt, wird das Kind sich die Lippen lecken oder auf die eine oder andere Weise den Mund verziehen. Von Lehrern mag dann oft die Ermahnung „Du schreibst doch nicht mit der Zunge!“ zu hören sein. Optometristen, die entwicklungsbezogen arbeiten, bezeichnen dies als „Overflow“; sie werten es als Fortschritt in der Sehfähigkeit des Kindes, wenn dieser Overflow schwindet.

Bleibt der Palmar-Reflex erhalten, kann das Kind die nachfolgenden Stadien des Loslassens und der Fingerbeweglichkeit nicht durchlaufen. Gesell (1939) beschrieb diesen Prozess so:

„Willkürliches Greifen (zum Beispiel um einen Gegenstand zu erreichen) bezeichnet einen proximo-distalen Entwicklungsverlauf. Frühes Greifen geschieht in groben Bewegungen der Handflächen, bei denen die drei Ulnar-Finger dominieren, während der Daumen praktisch inaktiv bleibt. Diese Form des Greifens wird später von einem verfeinerten Greifen mit den Fingerspitzen abgelöst, die vor allem durch die Opposition des Daumens, der Dominanz des Zeigefingers, Aktionsbereitschaft und die Anpassung des Fingerdrucks an das Gewicht des zu greifenden Gegenstandes charakterisiert wird.“

Dieses kann nur geschehen, wenn der Palmar-Reflex gehemmt wird.

Proximo-distal bezeichnet die Entwicklung der kindlichen Muskelkontrolle vom Zentrum nach außen.

Ulnar-Finger sind die ersten drei Finger (vom kleinen Finger aus gezählt).

Langzeitwirkungen eines beibehaltenen palmaren Greifreflexes

1. Geringe manuelle Geschicklichkeit. Der Palmar-Reflex wird unabhängige Bewegungen von Daumen und Fingern verhindern.

2. Fehlen des Pinzettengriffes, was die Stifthaltung beim Schreiben beeinflussen wird.

3. Sprachschwierigkeiten; die durch die Babkin-Reaktion bedingte fortgesetzte Beziehung zwischen Handbewegungen und Mundbewegungen wird die Entwicklung unabhängiger Muskelkontrolle an der Mundvorderseite verhindern, was sich wiederum auf die Artikulation auswirken wird.

4. Die Handfläche bleibt eventuell überempfindlich für taktile Reize.

5. Schreiben und Zeichnen werden von Mundbewegungen begleitet.