Evgenij Vodolazkin

Laurus

Aus dem Russischen
von Olga Radetzkaja

Roman

Die Originalausgabe »LAVR« erschien 2012 bei AST in Moskau

Der Autor drückt dem großen deutschen Arzt Karl Dietrich Hepp
seine tiefe Dankbarkeit für seine unschätzbare Hilfe aus.

Die Übersetzung des vorliegenden Romans wurde großzügig
unterstützt vom Institut Perevoda. Der Verlag bedankt sich
herzlich hierfür.

Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds
für die Unterstützung ihrer Arbeit.


eBook-Ausgabe 2017
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2012 Evgenij Vodolazkin
© 2016 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-927-0
www.doerlemann.com

Für Tatjana

Prolegomena

Zu verschiedenen Zeiten trug er vier verschiedene Namen. Das mag man als Vorteil sehen, denn das Leben des Menschen ist uneinheitlich. Bisweilen haben seine einzelnen Teile wenig gemeinsam. So wenig, dass man glauben könnte, verschiedene Leute hätten sie gelebt. In solchen Fällen kann man sich nur wundern, dass all diese Leute denselben Namen tragen.

Er hatte außerdem zwei verschiedene Beinamen. Der erste – »Rukinez« – bezog sich auf die Klostersiedlung Rukino, den Ort, wo er geboren war. Den meisten Leuten war er aber schlicht als »der Arzt« bekannt, denn eben dies war er für seine Zeitgenossen in erster Linie: ein Arzt. Oder mehr als das: Was er leistete, ging über ärztliches Können weit hinaus.

Das russische Wort für Arzt – wratsch – kommt vermutlich von dem Verb wrati: besprechen, beschwören. Diese Nähe lässt darauf schließen, dass eine wesentliche Rolle im Prozess der Heilung dem gesprochenen Wort zukam. Dem Sprechen als solchem, unabhängig von seiner Bedeutung. Angesichts der begrenzten Auswahl von Medikamenten hatte das Wort im Mittelalter mehr Gewicht als heute. Und gesprochen wurde ziemlich viel.

Es sprachen die Ärzte. Sie kannten Mittel gegen mancherlei Leiden, ließen aber auch die Möglichkeit einer direkten Kontaktaufnahme mit der Krankheit nicht außer Acht. Mit rhythmischen, äußerlich sinnlosen Sätzen besprachen sie sie und redeten ihr zu, den Körper des Patienten zu verlassen. Die Grenze zwischen dem Arzt und dem Gesundbeter war zu jener Zeit fließend.

Es sprachen die Kranken. Da es keine diagnostischen Geräte gab, waren sie gezwungen, genau zu beschreiben, was in ihren leidenden Körpern vorging. Manchmal hatten sie das Gefühl, dass mit den zähen, schmerzgesättigten Worten Schritt für Schritt auch die Krankheit aus ihnen entwich. Den Ärzten konnten sie in aller Ausführlichkeit von ihren Beschwerden erzählen, und dabei wurde ihnen leichter.

Es sprachen die Angehörigen der Kranken. Sie ergänzten und korrigierten deren Aussagen, denn nicht jede Krankheit erlaubte es dem Kranken selbst, zuverlässig zu schildern, was er durchmachte. Seine Verwandten konnten offen ihre Befürchtungen äußern oder (das Mittelalter war eine unsentimentale Zeit) darüber klagen, wie schwierig der Patient im Umgang sei. Davon wurde auch ihnen leichter.

Die Besonderheit des Mannes, von dem hier die Rede ist, bestand darin, dass er sehr wenig sprach. Er gedachte der Devise Arsenius’ des Großen: Viele Male habe ich die Worte bereut, die über meine Lippen kamen, aber niemals mein Schweigen. Meist sah er den Kranken nur stumm an. Manchmal sagte er ihm: Dein Körper wird dir noch dienen. Oder er sagte: Dein Körper ist nicht mehr zu gebrauchen, mach dich bereit, ihn zu verlassen; wisse, er ist ein gebrechlich gefesz.

Sein Ruhm war groß. Die gesamte bewohnte Welt hallte davon wider, er konnte sich nirgends verstecken. Wo er erschien, versammelte sich das Volk. Er ließ seinen Blick über die Anwesenden wandern, und sein Schweigen übertrug sich auf sie. Die Menge stand still. Aus Hunderten offenen Mündern kam kein Wort, nur kleine Dampfwölkchen. Er sah zu, wie sie sich in der frostigen Luft auflösten. Man hörte den Januarschnee unter seinen Füßen knirschen. Oder das Septemberlaub rascheln. Die Umstehenden warteten auf ein Wunder, über ihre Gesichter rann der Schweiß der Erwartung. Geräuschvoll fielen die salzigen Tropfen zu Boden. Die Menge machte Platz und ließ ihn durch zu dem, dessentwegen er gekommen war.

Er legte dem Kranken die Hand auf die Stirn. Oder er berührte seine Wunde. Viele glaubten, seine Berührung wirke heilend. Der von seinem Geburtsort abgeleitete Beiname »Rukinez«, bekam so eine zusätzliche Bedeutung, denn ruka heißt Hand. Seine Heilkunst vervollkommnete sich von Jahr zu Jahr, und auf dem Zenit seines Lebens erreichte sie scheinbar übermenschliche Höhen.

Es hieß, er besitze das Elixier der Unsterblichkeit. Hier und da begegnet man sogar der Auffassung, er, der Heilung spendete, habe nicht wie jeder andere Mensch sterben können. Diese Vorstellung beruht darauf, dass sein Körper nach seinem Tod keinerlei Spuren der Verwesung aufwies. Er lag tagelang unter freiem Himmel, ohne dass sein Aussehen sich veränderte. Dann verschwand er plötzlich, als hätte sein Besitzer das Herumliegen sattgehabt, als wäre er aufgestanden und gegangen. Die das glauben, vergessen jedoch, dass es seit Erschaffung der Welt nur zwei Menschen gab, die die Erde lebend verlassen haben: Henoch, den der Herr erwählt hat, um den Antichrist zu entlarven, und Elia, der im feurigen Wagen zum Himmel auffuhr. Von einem russischen Arzt dagegen ist in der Überlieferung nirgends die Rede.

Seinen spärlichen Auskünften nach zu schließen, hatte er nicht die Absicht, seinen Körper in alle Ewigkeit zu bewohnen – und sei es nur, weil er sich mit dem Körper als solchem schon sein ganzes Leben beschäftigt hatte. Auch ein Unsterblichkeitselixier besaß er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Zu dem, was wir über ihn wissen, passen derlei Dinge einfach nicht. Es kann folglich als gesichert gelten, dass er gegenwärtig nicht mehr unter uns weilt. Wobei man hinzufügen muss, dass er selbst nicht immer genau wusste, welche Zeit eigentlich als Gegenwart zu betrachten sei.

Buch der Erkenntnis