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David Bowie

ERSTE
KNITTERUNG

KOLLISIONEN

Neulich musste ich sehr lachen, Altern wird so obsessiv! In der Zeitung wurde eine Schauspielerin zum Thema Altern befragt, Überschrift: »Anfang 30«, sie sagte: »Ich bin froh um meine Sommersprossen, weil man meine Falten nicht so sieht!« Meine Falten? Anfang dreißig? Ich wollte gar nicht weiterlesen. Tat es leider doch. Ich las, die Frau ginge jetzt früher ins Bett und sehe morgens trotzdem zerknittert aus. Ich dachte: Liebes! Komm zum Frühstück, dann siehst du meine!

Da stand etwas von einem 26-jährigen Markus, der klagte, er bringe es einfach nicht fertig, sich von seinen Teenie-T-Shirts zu trennen, ja, warum – aus »latenter Angst vor dem Alter«. Im Ernst? Und Ronja von Rönne. Die Autorin ist so jung, dass die Feuilletons sie mit Jahreszahl nennen, wie: »Ronja von Rönne, 23«. Die frische Jungautorin, die auch schon mal als »wohlstandsverwahrlostes Schulmädchen« rüberkommt, las auf einem Literaturwettbewerb einen Text, der vor Alterspanik schon selber Falten warf: »Ich denke daran, wie ich mit meinem Vater auf einem Konzert im Olympiastadion war, und dann denke ich daran, dass mein Vater altern und sterben wird und dass ich das miterleben werde, und ich muss auch sterben, und überhaupt alle, und dann ruft Grönemeyer Bochum, ich komm aus dir, und ich fange an zu schluchzen …«

Was geht ab? – jung gefragt. Es scheint einen hysterischen Rutsch in Richtung Altern zu geben. Womöglich ist es ja so, dass in einer demographisch entgleisenden Gesellschaft, wo der Trend zu immer mehr alten Leuten geht, nun schon die Jugend überrollt wird von dem Alterstsunami und – trendig, wie sie ist, die Jugend – auf den Trend aufspringt und mit den alten Alten jetzt ums Altsein wetteifert.

Brillante Idee. Hätte man selber draufkommen sollen, also früher. Im Alter bella figura zu machen ist natürlich erheblich einfacher, weil man gar nicht alt ist, sondern noch jung und formvollendet. Es besteht leider ein wenig die Gefahr, dass die jungen Alten die echten Alten im Altsein abhängen. Auf Style-Blogs schütteln Jungmodels provozierend ihre grau gefärbten Haare. Girlies stratzen auf Instagram in neuen Omablüschen herum. Embrace your granny! Wer wirklich altert, dem wird natürlich oft ein wenig klamm bei dem Thema.

Der Mann einer Freundin wurde fünfzig, und sie erzählte, er wolle das nicht feiern, offensichtlich ein Fall von echter Alterspanik. Sie regte an, ich möge ihn anrufen und ein wenig aufmuntern. Ich also rufe an, und er sagt pampig: »Und? Wie war dein Fünfzigster?«

Ich wähnte mich zum Zeitpunkt dieses Telefonats Jahrzehnte von fünfzig entfernt. Ich machte darauf aufmerksam, dass ich just over forty liege, und fand Gelegenheit einzuflechten, dass einer meiner Ex in seiner Mail zu meinem vierzigsten Geburtstag geschrieben hatte: »Du bist der Neid aller Vierzigjährigen.« Das war sehr nett von ihm, wenn auch meine Nachfolgerin natürlich zehn Jahre jünger ist als ich, Neufrauen haben meiner Erfahrung nach ein konstantes Alter von zehnjahrejünger. Als ich dann fünfzig wurde, brauchte ich zwei Jahre, um mich dem Fakt zu stellen. Ich feierte meinen fünfzigsten Geburtstag mit 52 Jahren.

Als meine beste Freundin sechzig wurde, fuhr sie mit ihren Lieben nach Wien, weit weg von diesem Sechzigsten. Am Tag des Geburtstags stand ein junger Mann in der Straßenbahn auf und bot ihr seinen Platz an, noch nie hatte ein junger Mann oder irgendein anderer Mensch ihr einen Platz angeboten. Ein schwarzer Tag. Ich hörte es nur von ihrer Tochter, meine Freundin selbst wollte darüber gar nicht reden.

Als ich selber sechzig geworden war, passierte etwas, was ich schon hatte kommen sehen. Mir wurde harsch beschieden, wie klapprig ich jetzt sei. Quasi Schrott. Die Situation war, dass ich, von rechts kommend, links abbiegen wollte – und fast mit einem Auto kollidierte, das mit Schwung aus dieser Nebenstraße auf die Kreuzung rauschte. Hätte mich fast gerammt. Sah aber toll aus, es handelte sich um ein tief geschnittenes, lang gezogenes Cabrio in der Tönung »Pistazie«. Am Steuer saß ein Gunter-Sachs-Verschnitt (der schnittige Gunter, auch schon tot, kennt ihn noch einer?). Der Typ hatte jedenfalls zu langes, zu fettiges Haar und trug dazu ein zu weit aufgeknöpftes Hemd, er brüllte: »Du dumme alte Fotze, du dürftest doch gar nicht mehr fahren, wieso hast du deinen Führerschein nicht längst abgegeben?«

Ein Hass-Ejakulativ! Premiere! Mein erstes Age-Ba-shing. Es stellten sich folgende Fragen: Wir kannten uns gar nicht, wieso also duzte mich der Kerl? Woher so viel Häme gegenüber einer Lady, deren Baujahr dem seiner Karre ähnlich war – ich war so vintage wie sein Cabrio, für das er offensichtlich tief in die Tasche gegriffen hatte. Und dumm? Für Sie immer noch Dr. phil., Sie Arsch. Als er Anstalten machte, sein Auto zu verlassen, winkte ich ein »Heute nicht, Süßer« und gab Gas.

Offene Worte. Sind beim Thema Aging ja selten. Mein Coach sagt in aller therapeutischen Vorsicht, ich sehe »altersangemessen prima aus«. Das sagt auch mein Orthopäde, wenn wir über mein knirschendes Knie sprechen. Wenn ich meinen Friseur auf meine silbrigen Strähnen hinweise und frage, ob es Zeit für eine Tönung sei, sagt Steve, ein cool gestylter Schwarzer: »Auf gar keinen Fall!« So was will man hören. Beim Friseur jedenfalls. Ich liebe es, mit Steve über Girlies abzulästern, denen zu Hairstyling nichts Besseres einfällt als ein kleiner blonder Dutt. Ja, wie Oma ist das denn? Zack, schneidet er meinen Pony ab, ein Dreißig-Jahre-Look, sehr hübsch, noch mal diese junge frische Zahl. Aber natürlich lasse ich mich nicht täuschen. Mein Sohn, der schon seit längerem zwei Kopf größer ist als ich und natürlich auch eine Freundin hat, die einen blonden Dutt trägt, sagte schon, als die Größenverhältnisse noch umgekehrt waren: »Mama, wieso hast du so dicke Adern an den Händen?« Ja, verdammt, wieso? Würde ich auch gerne wissen.

Es ist nicht, dass ich mir keine Mühe gebe. Ich habe eine App mit einem roten Herzchen auf weißem Untergrund, die mir meldet, wie viele Schritte ich hinter mich gebracht habe, und auch noch den Wochendurchschnitt und die monatliche Schritthöchstzahl anzeigt. In Zusammenarbeit mit meinem Hund halte ich mich auf Trab. Wir schaffen die von medizinischer Seite dringlich empfohlenen 10 000 Schritte mit links und kommen gelegentlich auf 10 bis 12 Kilometer am Tag. Ich trinke in Maßen, Rotwein, schon als vorbeugende Maßnahme gegen erste Verkalkungen der Halsarterie.

Ich finde es schön, dass es so angenehme Dinge wie Rotwein gegen Altern gibt, und habe mir vorgenommen, von meinem Hauswein Palazzo Antinori aus auszuschwärmen und so einiges durchzutesten. Auch Gin soll gut sein gegen das Altern, ich folge der Queen auf Twitter, fast jeden Tag gegen 17 Uhr heißt es: Gin o’clock! Die Königin von England ist auf diese Weise 89 Jahre alt geworden, ihre Queen Mom war auch eine Gin-Expertin und brachte es auf 102 Jahre, gerne würde ich im Buckingham Palace nachfragen, ob man aus hofprotokollarischen Erwägungen stets bei Beefeater geblieben ist oder auch mal Old-Raj-Gin probiert hat, zartes Safran-Aroma und im Ausklang Koriander, Zitrone und Orange sowie gemahlene Mandel, eine geschmackvolle weiche Erinnerung an das alte Empire. Womöglich aber politisch nicht korrekt?

Als mir die erste Krampfader drohte, oberhalb des linken Knies, übrigens lange bevor Söhne ein Thema waren, habe ich jeden Morgen stramme Fitnessübungen hingelegt, selbst in diesem heißen Sommer auf den Kykladen stand ich morgens am Fenster mit Blick auf die schroff gezackte weiße Felsenküste, die seit Odysseus’ Zeiten in der Sonne liegt und offensichtlich weder nachgibt noch irgendwie schwächelt oder hässlich nachpigmentiert, und schwenkte mein Bein, vor und zurück und vor und zurück, vor, zurück, vor, zurück. Das half, bis ich vor einigen Jahren dann eben doch beim Doktor um ein Venenstripping bat. Man will sich ja am Strand noch zeigen und nicht unter einer Burka Zuflucht suchen.

Alter kann sehr hintertückisch sein. Kommt in Schüben, sagte meine Mutter. Schlägt zu, wenn niemand Böses ahnt. Ich habe Freundinnen, die vom ersten Schub erwischt wurden, als sie dreißig waren, und sich seitdem die Haare färben. Ich kenne junge Männer, die noch vor dem ersten Kind die letzten Haare verlieren. Mein Hund, Farbe Zobel (schwarzbraune Decke über fedrig goldblondem Beinbehang), hatte schon mit einem Jahr die erste weiße Strähne, dort, wo sich im Nacken die Locken so niedlich professoral wellen. Er wird jetzt auch um die Schnauze herum etwas silbrig. Meine Kollegin Uschi sagt, das mache nichts, Jugend sei bei diesem Hund Charakter und würde bestimmt nie vergehen. Das ist natürlich unser aller Hoffnung! Aber sie trügt. Man kann die Leute verwirren, aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo die Karten auf dem Tisch liegen. Neulich, am International Newark Airport, New Jersey, beugte sich eine dralle Schwarze, so eine mit einem festen runden Arsch, mir entgegen und sagte: »Honey, don’t misunderstand me. You do look good!« – Tatsache sei aber, wenn ich mich für das Seniorenticket für den Manhattan Transfer entscheiden könnte, hätte ich schon 2,50 Dollar gespart, bevor ich Manhattan auch nur erreicht hätte. Dröhnendes Lachen, als wären wir bei einer Gospel-Vorführung. Was bleibt einem übrig, als betont fröhlich einzustimmen?

Vor einigen Monaten, es war schon wieder Geburtstag, ich versuchte, ihn wie immer stilvoll über die Bühne zu bringen, Crémant in der Rosé-Variante und ähnlicher Schnickschnack, erzählte ich dem Kind stolz, eine Kollegin hätte gesagt, die 63 sehe man mir wirklich gar nicht an. »Kein Wunder, Mama«, sagte das Kind trocken, »du bist ja auch erst 62 geworden.« Ja, so reiht sich plötzlich eine Niederlage an die nächste.

Es altern natürlich nicht nur Frauen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Angst vor dem Altern gerade Männern im Nacken sitzt, zu deren Genderausstattung es ja immer noch ein wenig gehört, keine Angst zu haben. »Ein betagter Mann ist ein klägliches Etwas, / ein zerfetzter Mantel auf einem Stock, es sei denn, / die Seele klatsche in die Hände und singe und singe lauter, jedem Fetzen in ihrem sterblichen Gewand zum Trotz.« William Butler Yeats, der größte aller irischen Dichter! Yeats ist im Geiste stets ein waghalsiger Revolutionär geblieben, aber beim Thema Alter war er im Sound wie in diesem Gedicht »Segeln nach Byzanz« doch etwas wehleidig.

Der erste Satz dieses berühmten Gedichts lautet: »Das ist kein Land für alte Männer«, er wurde zum Inbegriff dieses Gefühls der Entfremdung, das sich nicht nur in einem älteren Mann verhakeln kann: »Die Jungen / einander in den Armen, Vögel in den Bäumen / – jene sterbenden Geschlechter – bei ihrem Lied / die Lachsfälle, die makrelenreichen Meere, / Fisch, Fleisch oder Vögel preisen den ganzen Sommer …« Das hat den Sound von: Alle balgen sich inmitten eines glorreichen Sommers, der das Leben ist, aber man selbst ist aus dieser glorreichen Zeit herausgefallen.

Ja, man spürt gelegentlich eine Erstarrung, und sei es nur in den Knien. Man wählt den flachen Schuh statt der roten High Heels aus Straußenleder. Ich habe mittlerweile eine sehr hübsche Sammlung von flachen Schuhen. Gerade habe ich ein kleines Vermögen für einen in der Schweiz genähten Schuh in Taupe hingelegt, eigentlich nur, weil mich das Label an die Bergmassive erinnert, die trotz extremer Fältelung unerschütterlich den Zeitläuften trotzen, seit Millionen von Jahren. Aber da ist so eine Neigung, es sich abends zu Hause bequem zu machen. Plötzlich ertappt man sich, wie man nächtens auf medizinischen Online-Portalen rumhängt und sich beim Thema verklumpende Faszien festgelesen hat, von dort flüchtet man sich wieder in die erste Mad Men-Staffel. Wie süß Betty & Co. aussehen, in diesen tollen Vintage-Klamotten.

Vintage wird jetzt so eine Haltung dem Leben gegenüber, die wie bei Yeats ein wenig sentimental ist und sich zugleich aber den schönen Dingen des Lebens entschieden zuneigt. Man guckt Mad Men und beschließt, nach der Flasche Old-Raj-Gin doch mal The Botanist zu probieren. Oder das süße Monkey-Label? Das wird zu viel? Da ist nun eine Dringlichkeit von wann, wenn nicht jetzt! Etwas Letztes bricht an, und wenn es auch nur die letzte Wanderung über die St.-Oswald-Scharte wäre, E 5, letzte Strecke vor Bozen. Es ist da jetzt etwas, was man nicht wirklich zu Ende denken mag. Man lebt ja noch. Man möchte das ganz langsam ausleben, das, was jetzt ist, so wie man während des Lesens eines tollen Buches sacht auf die Bremse geht, damit es nicht so schnell aus ist.  

WENN DIE
SCHWALBEN
JAGEN

Immer war ich die Jüngste. In einem Kinderrudel von Älteren, der Schwester, der Kusine, dem Vetter, immer die Kleinste, unaufholbar war der Abstand zu den Großen, es war, als würde es nie etwas werden mit dem Älterwerden, als würde und müsste ich immer und ewig die Kleine sein. So spielten wir in der Straße unseres Dorfes, die noch nicht von Autos, sondern vor allem von Kindern genutzt wurde, und natürlich von den Kühen, die morgens und abends steifbeinig an unserem Haus vorbeischuffelten, ab und zu hob eine den Schwanz und platschte schwarze Fladen entlang der Zäune, die wir Kinder dann wegfegen mussten, samstags, wenn die Woche zu Ende war, dann wurde die Scheiße der Woche entfernt.

Aber nicht das Ende der Woche, sondern das Ende jedes Tages ist mir nachdrücklich in Erinnerung, es sind diese merkwürdig wie stillstehenden Minuten, dieses Intervall zwischen den Turbulenzen des Tages und dem Dunkel des Abends, der Moment, bevor man uns Kinder aus unserem Kinderdasein ins Haus rufen würde. Aus den Ställen entlang dieser Straße hörte man um diese Tageszeit das Rumoren und Mampfen der fressenden Kühe, es war, als würde einer das Klonken der Melkeimer hochpegeln, aus den offenen Fenstern – in der Erinnerung sind es immer Sommertage, an denen wir spielten – kam das scharfe Geschirrgeklapper aus den Küchen, als würden wütend Töpfe herumgestoßen. Und wir auf der Straße gaben noch einmal Gas mit unseren Spielen, dem Hüpfen, dem Rennen, dem Rufen: Fang mich doch, fang mich doch, du Eierloch! Es war ein Sein in einem sich endlos dehnenden Moment. Dann fegten die Schwalben über uns hinweg und stürzten nach unten und jagten wie Star-fighter durch die Gassen und wieder hoch, es war dieses rasende Stürzen der Schwalben, das mich abends immer mit diesem bangen Gefühl erfüllte, einer Ahnung davon, dass irgendwas drängte, bald zu Ende sein würde. Dieser Tag. Alles.

Man wird dann ja so eilig im Leben, dass sich immer seltener Gelegenheiten finden, diese endlosen Abende zu erleben, und auch über die Bangigkeit segelt man hinweg, vielleicht ist da noch gelegentlich etwas, etwa wenn man an einem Wasser ist und der Himmel Farben annimmt, die eigentlich nicht vorgesehen sind für Himmel, dieses metallische Pink, und wenn dann die Laternen am Ufer angehen und hell gegen das dunkle Pink stehen – ich kann mich erinnern, dass ich einmal an der Mühlendamm-Schleuse in Berlin des Abends lange stand und auf das dunkle Wasser sah, in dem vor einiger Zeit die russische Dichterin Anna Altschuk tot aufgefunden worden war, die feinvibrierende Anna, der mit 53 Jahren die Lust zu leben abhandengekommen war, und unter mir war das Wasser und hinten am entfernten Ufer konnte man die vielen kleinen bunten Lampen eines Zirkuszelts sehen, als hätte Max Beckmann sie eigens für Anna Altschuk hingetupft auf diese große Leinwand, und für einige Momente war es noch Tag, aber dann auch schon Nacht.

In einem Nachruf auf Gore Vidal, den großen amerikanischen Autor, wird erwähnt, welch ein Schock es für ihn war, als sein Lebensgefährte, mit dem er Jahrzehnte zusammen war, starb. Howard Austen habe von seinem Totenbett zu ihm, seinem geliebten Gore, aufgeschaut und gesagt: »Ging alles ganz schön schnell, oder?«, und Gore Vidal habe gesagt: »Ja, mein Lieber.« Der Satz, als ich ihn las, erfüllte mich mit diesem Schwalbengefühl, dem Dräuen eines Umschlags nach einem ganz schnellen Flug. Den ganzen Tag lang ist man gerannt, wenn man zurückblickt, sieht man auf Jahre, durch die man ja regelrecht gestürmt ist, und dann, plötzlich, in diesem langen gedehnten Augenblick, begreift man: Etwas hat sich gedreht. Die amerikanische Autorin Joan Didion hat diesem merkwürdigen Moment, der dem ganzen Leben eine neue Wendung geben kann, ein ganzes Buch gewidmet, Blaue Stunden hat sie es genannt, sie bezieht sich auf eine ausgedehnte Zeit von tiefem Blau, wie es abends nur in Manhattan sichtbar würde und einen Wetterumschlag ankündigt. Das stimmt natürlich nicht, obwohl man geneigt ist, Manhattan in jeder Hinsicht für das Maß aller Dinge zu halten. »Das Leben ändert sich schnell. Das Leben ändert sich in einem Augenblick«, schrieb Joan Didion als erste Sätze, als sie ihr Buch über den Tod ihres Mannes John Gregory Dunne begann, der an einem Abend in seinem Sessel tot zurücksank, während Didion ihm gerade einen Whiskey mischte. Sie kam mit dem frischen Whiskey in der Hand zu ihm, und er war schon nicht mehr da.

Nun, auch ganz im Norden Deutschlands sind etwa diese Momente, in denen der Tag noch einmal Luft holt, von einem geradezu türkisblauen, wie in Hinterglasmalerei leuchtenden Himmel unterlegt, und wie in meiner Kindheit im Rheinland stürzen auch in Dithmarschen, wo man immer schon das Meer spürt, die Vögel aus diesem Blau hinunter und jagen über den Garten. Der Tau ist schon überall, und man sieht nicht, was sie jagen, vermutlich Mücken, aber da man es nicht sieht, scheint es sich um eine Geste zu handeln, absichtslos übermütig, voller Eleganz. So sollte vielleicht das Alter sein. Absichtslos. Und übermütig.  

NASE
AN NASE

Eigentlich ist es noch nicht so schlimm. Manchmal nur, wenn ich lange gesessen habe und dann aufstehe, scheint es so, als hätte jemand mich mit Gummiband umwickelt. Nichts Schlimmes, fast nur ein kleiner Scherz, ein paar Schritte, und ich stehe wieder wie eine Eins. Houdini ahoi! Alles prima.

Manchmal, wenn ich mir die Socken anziehe, fühle ich mich wie auf dem einen Storchenbein, ich wackel so ein bisschen, tue aber natürlich so, als wäre nix. Ich sehe dann manchmal den Blick des Hundes besorgt auf mir liegen. Er kannte mich ja noch nicht, wie ich früher war, als ich noch den Flieger auf Rollschuhen täglich übte und ihn sehr formvollendet hinlegte (wenn ich mich auch, zugegebenermaßen, gelegentlich selber hinlegte!) – die Arme zu beiden Seiten ausgebreitet, das Bein hinten wirklich ohne Schummeln ganz und gar hoch, bis es vom Scheitel über den Rücken bis zur Ferse eine feine gerade Linie ergab, das Standbein auf den holprigen Rollen fast krampfend, so rollerte ich von unserem Haus aus den kleinen Hügel runter, der mich natürlich beschleunigte, so segelte ich dahin, von unserem Haus aus, das auf der Direttissima zwischen Schule und Friedhof lag, weiter, aber doch endlich langsamer werdend, so weit der Schwung eben reichte.

Wenn ich heute Wein trinke und gleichzeitig rauche, habe ich am nächsten Tag einen Kater. Und gelegentlich habe ich auch am nächsten Morgen einen Kater, wenn ich gar nichts getrunken oder nur geraucht habe. Darauf kann man sich natürlich einstellen. Man trinkt Schorle oder Champagner, etwas ohne viel Alkohol. Oder man nippt lustvoll an seinem Martini, schon das Glas lohnt sich meiner Meinung nach. Die Manhattan-Variante, zwei Schuss Bourbon und einen roten Wermut, hat schon einmal dazu geführt, dass ich mich entschuldigen musste, wir saßen in dieser wundervollen Bar in Downtown Manhattan und schwatzten, Barbara hatte ein wenig mit dem Barkeeper gefachsimpelt, ob wirklich Wermut oder doch ein Schuss Wodka (»Machen Sie es nicht zu medizinisch für meine Freundin, sie ist aus Europa«), wir nahmen dieses durch und jenes, dann wedelten die Mädels mir ein Taxi herbei – und ich stand da und konnte mich einfach nicht entscheiden, welche der beiden Türen ich öffnen sollte. Ich musste mich entschuldigen. Es war nicht ganz klar, ob ich mich entschuldigen sollte wegen Trunkenheit oder wegen Trunkenheit nach einem Manhattan, nicht mal das konnte ich entscheiden. Superpeinlich. Ich meine aber, eine kleine Strafe einzustecken ist besser als gar nicht sündigen, oder wäre das jetzt ein typischer Ex-Katholikin-Standpunkt?

Gelegentlich finde ich mich im Keller wieder und frage mich, was ich da eigentlich wollte, und erst wenn ich wieder oben bin, fällt mir ein, dass ich das Entwurmungsmittel für den Hund suchen wollte. Ich hole mir Nasentropfen in der Apotheke, und die Lady, die meine Tochter sein könnte, hält mir einen Vortrag in dieser Mutti-mit-Megaphon-Stimme. Dass ich bitte zu dem Schnupfenmittel »sehr, sehr viel« trinken müsse. Ja, Kleines. Sehe ich aus, als ob ich schwerhörig wäre? Oder schon dement?

Natürlich sehe ich nicht mehr so gold aus. Wenn ich den Bauch nicht einziehe, könnte ich ein Bäuchlein haben. Neulich kam Shame im ZDF, und ich habe bewundert, wie alle die jungen Damen, die sich Fassbender vorknöpft, in Situationen, in denen niemand mehr an Bauchreinziehen denkt, perfekt und schlank sind, auch beim Sex hinter der Glasfassade des New Yorker Highline-Hotels. Sex an öffentlichen Plätzen ist schon lange tabu. Und wenn ich kein Yoga mache, verschwindet meine Taille. Wenn ich die morgendlichen Drehungsübungen auslasse, werde ich beim Rückwärtseinparken schlampig, und die Kinder rufen mich zur Ordnung, weil ich nicht über die Schulter zurückgeguckt habe. Auch das ist neu, dass die Kinder mich ständig auf etwas hinweisen oder zur Ordnung rufen. Sie kriegen langsam Oberwasser. Sie merken, wie sich die Kräfteverhältnisse verschieben. Wie dringend ich darauf warte, dass sie den neuen Häcksler zusammenbauen, auch wenn ich das zu überspielen versuche, im Stil von: »Muss sich ja gelohnt haben, dass ich euch Hunderte von Überraschungseiern spendiert habe!« Müdes Lächeln. Auf der anderen Seite.

Manchmal schlafe ich tatsächlich vor dem Fernseher ein. Dafür schlafe ich aber immer öfter nachts nicht oder schlafe nachts nicht durch und wache um vier auf. Manchmal wache ich morgens auf und bin müder als abends, als ich ins Bett gegangen bin. Wenn ich in den Spiegel gucke, sehe ich auch so aus, erschöpft, dann denke ich, dass Altwerden eben mit Ermüdung zu tun hat. Ich bleibe dann einfach noch ein bisschen liegen, bis nebenan das Getöse verebbt, dieses Kinder-in-die-Schule-Scheuchen, das Hast-du-auch-den-Turnbeutel. Ich verstehe, warum Diana Vreeland, die Seniora der Fashionwelt, immer betonte, ab einem gewissen Alter wäre es einer Lady anzuraten, das Haus nicht vor der Lunchzeit zu verlassen. Dahin wird es kommen, die Wartungszeiten werden länger. Doch wenn man dann in den Spiegel guckt – aber hallo! Bisschen Osmanthus & Fig hinters Ohr, schon schnuppere ich an mir und denke an – was? Egal.

Der Hund altert ja schneller als ich. Er zieht sozusagen an mir vorbei ins Alter. Nun, manchmal ist es natürlich auch andersherum. Sagen wir, es ist so ein interessantes Kopf-an-Kopf-Rennen. Als der Hund noch klein war, vor fünf Jahren also, rasten wir umeinander und jagten uns gegenseitig durchs Haus, er hatte mich quasi wieder zum Welpen gemacht. Einmal rutschten wir beide, als wir uns so jagten, in einer Kurve aus und schlitterten über die Fliesen. Aber nur ich hatte ein dickes Knie. Danach konnte er mir zeigen, was eine Harke ist, er gewöhnte sich an, sich beim ersten Hauch von Frühling, sobald das Eis auf den kleinen Seen im Park geschmolzen ist, ins Wasser zu stürzen, und eröffnete so vor den bewundernden Augen der anderen Hunde die Badesaison. Flotter Kerl! Als echter Engländer friert er natürlich nicht. Einmal schütteln und weiter, so wurde schon das Empire erobert! Dann versuchte der Hund diesen Trick einmal am Nord-Ostsee-Kanal, wo das Ufer in Kaiser Wilhelms teutonischer Art mit scharfkantigen Felsbrocken befestigt ist, auf deren glitschiger Oberfläche er mit einem Aufschrei abrutschte.

Die Ärzte beäugten sein rechtes Bein. Er führte es nach dem Unfall ein wenig nach außen. Die Ärzte tippten auf Zerrung. Nach zwei Wochen tippten sie auf Verstauchung einer Zehe. Nach drei Wochen auf einen Bruch der Zehe, später auf lockere Kniescheibe, dann auf zu eng stehende Wirbel, später auf verklemmte Nerven, noch später auf verkrampfte Muskeln. Es war Zeit für Traumeel, ein homöopathisches Mittelchen, winzigste Pillchen in Weiß, die übrigens bei Hund und Hundehalter zugleich eingesetzt werden können. Bestandteile: Achillea millefolium Trit. D3, Atropa belladonna Trit. D4, Aconitum napellus D3 usw. Das liest sich wie die Bestelltabelle meiner Lieblingsgärtnerei, aber es handelt sich um ein homöopathisches Arzneimittel »ohne Angabe einer therapeutischen Indikation«, klar ist anscheinend nur, wofür es nicht gut ist, für Leukämie, Tuberkulose, Aids, aber die Probleme haben wir glücklicherweise nicht. Nun, im Resultat, sah ich dem Hund dabei zu, wie er so ab und zu hinkte, und fand, dass er auch ein wenig gealtert aussah, auch wenn wir nach wie vor zum Joggen gingen, dreimal die Woche.

Eines Tages, nach dem Joggen, schmerzte mein Knie, und nun hatte auch ich Mühe, das Bein gerade zu führen. Die Ärzte tippten auf Meniskusriss, sie sagten, das sei eine Spätfolge unseres gemeinsamen Zubodengehens, also des Hundes und meines während der kleinen Rauferei. Sie rieten, sofort zu operieren beziehungsweise alternativ auf jeden Fall mit der OP zu warten. Es werde ja viel zu viel und überflüssigerweise operiert. Dann riet man, ich solle das Abwarten sofort abbrechen, um Spätfolgen zu vermeiden. Ich wurde operiert, und es stellte sich heraus, es war schon zu lange gewartet worden, man versprach mir aber, dass in zwei Wochen jetzt alles vorbei und gut sei, nur mit dem Joggen sollte ich warten. Nach zwei Wochen wurde ich belehrt, dass es schon mal vier Wochen dauern könne. Nach vier Wochen sagte man pampig, zwei Monate müsse ich schon rechnen. Nach zwei Monaten hatte sich das Wohlsein auf ein Vierteljahr verschoben. Nach einem halben Jahr hieß es, so etwas könne schon mal ein Jahr dauern, Frau Mayer! Oder es würde eben nicht mehr gut. Kommt vor. Geduld und Traumeel!

Nun liegen der Hund und ich also wieder Nase an Nase. Manchmal hinkt er, manchmal ich. Er kann noch immer tüchtig Gas geben, sodass die Ohren waagerecht in der Luft liegen wie ausgestellte Außensegel, er zieht dann an mir vorbei und wirft mir aus den Augenwinkeln einen schnellen triumphierenden Blick zu – was genau er bedeutet, wer weiß, mir scheint, der Blick sagt: Na, da guckst du. Nur ich weiß, dass so was nicht ewig dauert, dass ich womöglich irgendwann auf ihn zurückschauen werde, weil er nicht mehr nachkommt. Mir fallen jetzt schon die Frauchen und Herrchen auf, die auf den Brezelwegen des Parks vorwärtständeln und am Handy hängen und schon mal wichtige Gespräche erledigen, während ihre Vintage-Töle sich hinterherschleppt. So wird es vielleicht mal werden. Oder nicht. Keine Ahnung, ob ich dann so viel Geduld aufbringen werde wie die Frauchen, die ich jetzt beobachte, oder ob es mich vielleicht vor dem Hund erwischt. Wie die alte Dame, die sich Tag für Tag durchs Viertel quält, ihre Beine so schräg, als wären sie falsch eingehängt, so wird sie von den Leinen ihrer drei keifenden Border Terrier weitergezerrt, alle zusammen sehen aus wie eine hypermoderne, sehr schräge Inszenierung von Ben Hur.

Nun, wir sind alle auf dem Weg zum Ende, wie Sibylle Berg schreibt, die ja die Queen aller Leute in Schräglage ist – die alten Leute hielten sich so komisch und schlichen so langsam vorwärts, weil sie Angst hätten, nach vorne ins Grab zu kippen. Wenn es nur das wäre. Man sagt ja oft, dass die Menschen im Alter kindisch werden. Tatsache ist, mir fällt immer häufiger auf, dass die Menschen mit mir wie mit einem Kind reden, im Stile von: »Sie dürfen jetzt im Wartezimmer Platz nehmen.« – »Sie dürfen jetzt ins Zimmer 8.« – »Sie dürfen sich jetzt frei machen.« Dürfen, dürfen, dürfen. Was soll man dazu sagen? Darf man bei solchen Gelegenheiten noch mal das Wesen des herrschaftsfreien Dialogs erklären, Habermas fürs Vorzimmer? Das hätte natürlich den Sound von »Oma schwadroniert vom Ersten Weltkrieg«. Oder war es der Zweite? Es waren jedenfalls verlorene Schlachten. Und wer weiß, wie viel Wartezimmer noch vor einem liegt.