Ohff, Heinz Königin Luise von Preußen

PIPER

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Alle Aufnahmen des Bildteils wurden von Christiane Hartmann angefertigt.

ISBN 978-3-492-97215-4

Feburar 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1989

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

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1.

Der letzte Geburtstag

Nur Märchen fangen mit den Worten »Es war einmal« an. Leider besteht die Geschichte der Menschheit nicht aus Märchen. Da ist mehr von Blut, Schweiß und Tränen die Rede, von Kriegen vor allem. Das gilt selbst für die schöne, junge Königin, die wie eine Märchenerscheinung in ihrem Land, einem der kargsten Europas, aufgetaucht, aber mit ihm keineswegs untergegangen ist. Ihr Land, Preußen, existiert nicht mehr. Ihre Legende jedoch reicht, durch Blut, Schweiß, Tränen und, vor allem, Krieg, bis heute.

Luise war tatsächlich eine Königin, wie es sie sonst nur im Märchen gibt. Zumindest war sie so angelegt: jung, schön, lustig, charmant, modisch, vergnügungssüchtig, dabei mitfühlend und großzügig, ein weiches Herz, ein bißchen oberflächlich vielleicht, gründlich ungebildet, aber von einer Erscheinung, daß selbst hartgesottenen Gesandten aus fremden Ländern der Atem stockte und sie sich in ihrer Begrüßungsansprache verhedderten, wenn sie erschien.

Schön und bezaubernd war Luise bis zu ihrem frühen Tod, auch ganz zuletzt nach über dreijährigem Exil im kalten hohen Norden Preußens. Ihre Rückkehr in die Hauptstadt Berlin erfolgte auf Wunsch ihres Erzfeindes Napoleon. Das Land schien so gut wie verloren, ausgelaugt, von fremden Truppen beherrscht, unzufrieden. »Es steht schlecht«, schrieb sie in einem Brief an ihren Vater, »das ist wahr; Opfer und Aufopferung ist mein Leben.«

Gewiß, ein verlorener Krieg und ein verlorenes Land, zu schweigen von nicht weniger als zehn Geburten in 15 Jahren, hatten sie ernster gemacht, reifer, aber auch selbstbewußter und, erstaunlicherweise, aktiver. Nach Wesen und Erziehung eher zu Tändelei und Zeitvertreib neigend, lag ihr zielgerichtete Aktivität wenig und politische Aktivität schon gar nicht. Aber sie war es, auf deren Schultern die Hoffnungen ihres Landes ruhten, weniger auf denen ihres Mannes, des Königs, dem sie, wie man es nannte, von Herzen ergeben war (und der sie von Herzen wiederliebte).

In dieser Zeit des Opfers und der Aufopferung begegnet Luise einem jungen Dichter, der auf seinem Gebiet, wie Luise auf dem ihren, bis heute das verlorene Preußen verkörpert. Auch er könnte einem Märchen entstammen, dem Märchen vom armen, kranken und weitgehend erfolglosen Dichter.

In seinen Gedichten hatte er eben die Not des Landes, aber auch seine Hoffnungen wie mit Fanfarenstößen verkündet, geradezu hinausposaunt. Und wie alle Welt war er, der arme Dichter, ein bißchen in die arme Königin mit ihren ständig verweinten Augen verliebt. Er hoffte wohl auch, daß sie etwas für ihn tun könnte, Ordnung in sein verpfuschtes Leben bringen, ihm die Wiedereinstellung als Leutnant in das arg dezimierte preußische Heer ermöglichen oder seine kärgliche Pension erhöhen, von der er nicht leben und nicht sterben konnte. Die arme Königin und der arme Dichter – alles andere als Figuren aus dem Märchen. Auf beiden Seiten stand die nackte Not ihrer Existenz.

10. März 1810. Geburtstag der Königin, ihr 34. König Friedrich Wilhelm hält eine große und ehrenvolle Überraschung bereit, eigentlich wohl so etwas wie eine fortdauernde Liebeserklärung, in diesen bitteren Zeiten sein einziges Geschenk. Er hat den Weißen Saal öffnen lassen, den Staats- und Prunkraum Preußens, Berlins, des Königlichen Schlosses. Den Weißen Saal haben die Hohenzollern bis dahin fast ausschließlich für ihre hochoffiziellen Eheschließungen benutzt. Heute aber schreitet man nach dem Souper im üblichen Kreis und wie stets an kleinen Tischen in der Bildergalerie zu öffentlichem Empfang, Defilee der Gratulanten sowie anschließendem Ball in den von Kerzen hell erleuchteten Hauptsaal.

Eine überraschende Geste. Friedrich Wilhelm hat sie, wie alles in seinem Leben, wohlberechnet. Sie entspricht der Wertschätzung, die er Luise entgegenbringt, aber auch seiner chronischen Sparsamkeit. Eine Illumination des Weißen Saals kommt immer noch billiger als, beispielsweise, ein Perlendiadem, wie es der Königin so gut zu Gesicht steht.

Geladen worden ist überdies nicht nur der höchste Adel – wie es sich immer schon gehörte –, sondern auch der niedere und sogar bürgerliche Beamte und verdiente Offiziere. Beide, König und Königin, haben einen Hang zum Bürgertum, das unter ihnen hoffähig zu werden beginnt, ein für altgediente Hofleute geradezu revolutionärer Vorgang. Von Anfang an hat sich im übrigen das Königspaar wie ganz gewöhnliche Eheleute geduzt, sogar in aller Öffentlichkeit. Als kurz vorher, am 18. Januar, ein Fest zur Ausweitung des Roten Adlerordens gegeben wurde, war es schon fast selbstverständlich, daß auch höhere Chargen aus dem Bürgerstand erschienen. 20 Jahre früher wäre das noch ganz unmöglich gewesen; frischer Wind, der durch den Weißen Saal streicht. Er wird nicht von allen Betroffenen lauthals begrüßt.

Der Weiße Saal. Eine Fülle von Erinnerungen müssen auf Luise eingestürmt sein, als sie ihn betrat. In ihm hatte vor nun schon 17 Jahren ihre eigene Hochzeit stattgefunden. In ihm war auch jener seltsame Fackeltanz vor sich gegangen, mit dem man im Rokoko-Preußen derartige Ereignisse zu begehen pflegte. Hier hatte sie auch, ganz entgegen starr preußischer Tradition, schon als Kronprinzessin, mehr noch später als Königin, rauschende Feste gefeiert und Bälle gegeben. Liebte sie doch, im Gegensatz zu ihrem Mann, der sie aber gern gewähren ließ, repräsentative Zusammenkünfte, Gesellschaften mit Putz, Klatsch und Tanz, wie sie es von Darmstadt her gewohnt war. Nur jetzt eben in größerem Maßstab – und mondäner. Welches Entsetzen hatte sie erregt mit dem ersten von einer Königin getanzten Walzer, einem ausgesprochen unmoralischen Tanz, weil sich bei ihm die Körper der Tanzenden – horribile dictu! – berührten.

Ohne ihren Schwiegervater Friedrich Wilhelm II., den dicken Schwerenöter, wäre ihr ein solcher Exzeß nie gestattet und noch weniger verziehen worden. Auch dies ein Triumph ihrer vielgepriesenen Schönheit, Liebenswürdigkeit, Natürlichkeit. Es war noch gar nicht einmal so lange her, daß Berlin, Luises Berlin, als ein Ort ausgesprochener Lebensfreude gegolten hatte, der preußische Hof als eine viel beneidete fröhliche und friedliche Oase.

Zwischen dem Leben damals und dem 34. Geburtstag klafften Welten. Jetzt, seit der Niederlage gegen Frankreich, drückten die Sorgen von allen Seiten, sogar solche ums pure Überleben. Schon waren Napoleons unerbittliche Forderungen, obwohl noch nicht offiziell verkündet, durchgesickert. Auf 92 Millionen Francs berechneten die Franzosen die Kriegsschuld des mit ihnen zwangsverbündeten Preußen. Aber selbst die monatlichen Raten von vier Millionen konnte das ausgepowerte Land – zuzüglich zu den Unterhaltskosten für die verbliebene Besatzung – kaum aufbringen. Schon war man mit den Zahlungen in Verzug geraten, schon verlangte Napoleon zum Ausgleich dafür die Abtretung eines kompletten Landesteils, Schlesiens.

Schlimmer noch: In der allgemeinen Mutlosigkeit war, zum Ärger des Königs, das Ministerium, allen voran der hilflose Finanzminister Altenstein, bereit, den Gebietsabtretungen zuzustimmen. Preußen zerfiel in zwei Lager. Das eine wollte den unersättlichen Korsen befriedigen, das andere einen Kampf auf Leben und Tod wagen. Der König befand sich zwischen beiden wie zwischen zwei Mühlsteinen, die ihn und seinen Thron zu zermalmen drohten. Selbst ein Bettelbrief Luises an den verhaßten Napoleon mit der fast anbiedernden Anrede »Mein Herr Bruder!« und der dringenden Bitte um Verlängerung der Zahlungstermine hatte nichts bewirkt. Die meisten Historiker verzeichnen den Brief mit Bedauern und dem Zusatz, er hätte in dieser Form nie geschrieben werden dürfen. Sie verkennen dabei, daß Königin Luise für ihr Land alles nur Denkbare zu tun gewillt war – eine Haltung, vor der man eher den Hut ziehen als die Nase rümpfen sollte.

Die Öffnung des Weißen Saals erschien unter den gegebenen Umständen wie eine Herausforderung, zumindest wie eine bewußt gesetzte Zäsur. Friedrich Wilhelm bestieg in einer Art von Trotzreaktion zum zweitenmal den Thron. Für das Land und wohl auch für ihn selbst ein Zeichen, das ermutigen sollte. Sein Kommentar könnte gelautet haben: »Nu jrade!«, denn der König sprach sehr berlinisch und aphoristisch-abgehackt, wenn er nicht französisch parlierte. Seine kurze, schroffe Redeweise ist später von preußischen und deutschen Offizieren und deren Parodisten nachgeahmt worden. Bei ihm muß sie passend zu seiner Persönlichkeit und daher auf hölzerne Weise charmant gewirkt haben. Liebevolle Geste gegenüber der Königin und »Nu jrade«-Effekt dürften sich bei dem Entschluß zur Öffnung des Weißen Saals also die Hand gereicht haben.

Zudem handelte es sich um eine gute Gelegenheit, mit möglichst vielen Leuten zusammenzutreffen, die Lösungen für die anstehenden Probleme parat hielten oder parat zu halten glaubten.

In dieser Richtung hatte die Königin im übrigen vorgesorgt. Ihr rauschendes Geburtstagsfest hatte in Wahrheit einen konspirativen Zweck, denn die brisanten politischen Themen mußten – im eigenen Land! – heimlich besprochen werden. Es ging um die Rückkehr eines von Napoleon verbannten Staatsmannes, Hardenberg, um holländische Anleihen, diplomatische Machenschaften hinter dem Rücken des Franzosen, der alle preußischen Pläne, selbst die zur Erfüllung seiner eigenen Forderungen, zu durchkreuzen pflegte. Was Luise insgeheim vorbereitet hatte, kulminierte bei diesem eleganten Ballvergnügen, wo Zusammentreffen und Gespräche mit unzähligen Personen des öffentlichen und halböffentlichen Lebens nicht auffielen.

Der Festsaal barst vor Menschen – und vor Gerüchten. Die wenigsten dürften sich einfach dem Genuß des Geburtstagsfestes hingegeben haben, schon gar nicht das Geburtstagskind. Diskutiert worden sind gewiß die Höhe der Schuldforderungen und die Unmöglichkeit, sie zu erfüllen. Auguren, eingeweiht oder nicht, wollten von einem baldigen Beitritt Preußens zum Rheinbund wissen, den mit Napoleon eng verknüpften deutschen Fürsten. Es ging um einen drohenden Aufstand der Ungeduldigen im Lande, die endgültige Entlassung des Ministeriums oder gar die Abdankung des Königspaars.

Luise muß neben ihrem mürrischen Gatten der Kopf geschwirrt haben. Aus einer Loge tönten die Klänge der Militärkapelle, was man damals noch als »Janitscharenmusik« bezeichnete und was sich dann wohl auch wie eine solche angehört haben mag. Unter ihren durch die Entfernung leicht gedämpften Klängen zog vorüber, was in Berlin und im verbliebenen Restland Rang und Namen hatte.

Belangloser Wortwechsel mit den einen, entscheidende – und wohlvorbereitete – politische und wirtschaftliche Gespräche mit den anderen – nie hatte Luise für den Staat, dessen Königin sie war, derart viele Weichen gestellt, so Entscheidendes für Gegenwart und Zukunft arrangiert, derart intrigiert, inszeniert, einen gegen den anderen ausgespielt wie an diesem 34. Geburtstag. Da mußte der eine Gesprächspartner rasch abgefertigt, der andere aufgehalten und mit einem Nachfolgenden in der Reihe zusammengebracht werden. Gegensätze wurden geschlichtet oder doch geglättet, alte Feindschaften besänftigt – und das alles mußte mit einem Lächeln auf den Lippen serviert werden.

Dem König, aus dessen Gesicht jeder lesen kann, was er fühlt und denkt, ist so etwas fremd. Er kann sich nicht verstellen und wirkt abwesend. Luise, seine Frau, beherrscht den notwendigen Eiertanz um so routinierter, fast so gut wie einst den verruchten Walzer. Immerhin sind auch Franzosen im Saal sowie – ganz gewiß – deutsche Spitzel. Besonders liebenswürdig begrüßt sie Saint-Marsan, Napoleons Gesandten in Berlin, einen denkbar freundlich gesinnten und gutmütigen Mann, aber immerhin der Vertreter des Feindes.

Luise hat auch ihn fest im Griff. Ihm weiszumachen, daß ihre alte Vorliebe für Rußland dahingeschmolzen sei wie Schnee an der Sonne, gelingt ihr spielend. Saint-Marsan leitet diese überraschende Nachricht auch prompt nach Paris weiter, dort allerdings weiß Napoleon es besser. Er mutmaßt nicht nur, daß zwischen der preußischen Königin und dem Zaren Alexander von Rußland engere und galantere Bande bestehen als zwischen Staatsoberhäuptern üblich, er weiß auch, daß Luise, ihrem alleruntertänigsten Brief zum Trotz, seine wohl heftigste Feindin ist und immer bleiben wird. Den Brief hat Luises Schwester Therese überreicht, vielleicht sogar entworfen. Mit dem Appell an »Ihre große Seele« und das »wohltätige Genie des großen Napoleon« hat sie sich, sonst als Postadels-Fürstin Thum und Taxis am Pariser Kaiserhof wohlgelitten, für Luise einen Korb geholt. Brief und diplomatische Notiz haben nichts bewirkt. Deshalb müssen jetzt neue Fäden geknüpft, alte entwirrt und aufgeknotet werden. Luise, die erstaunlich viel von ökonomischen Dingen versteht, sortiert mit weiblichem Instinkt und Geschick ihre Geburtstagsgäste.

Da gilt es, Altenstein, den ideenlosen Finanzminister, abzuwimmeln und ihn – nicht ganz fair – nach Möglichkeit ins Unrecht zu setzen. Das erreicht Luise mit Hilfe des undurchsichtigen Fürsten Wittgenstein. Er ist so etwas wie der Finanzberater des Hochadels, ein gewandter, verschlagener und energischer Mann. Auf lange Sicht bleibt diese Wahl Luises zweifelhaft. Wittgenstein, kurz nach Rückkehr des Königspaars am 1. Januar 1810 zum ersten Oberkammerherrn ernannt, wird später, in Zeiten der Reaktion, als Chef der höheren Polizei in Preußen durch seine Skrupellosigkeit und Intrigensucht zu einer der verachtetsten Figuren der Metternich-Ära werden. Jetzt jedoch ist er der Mann der Stunde: Er entwickelt als einziger Ideen, wie der Staat zu retten sein könnte und Schlesien obendrein. Durch seine Beziehungen zu Bankiers aller Länder gelingen ihm in diesen undurchsichtigen Zeiten Aktionen und Transaktionen von ungeahntem Ausmaß. Luise spannt seine Tatkraft – nicht weniger skrupellos – in ihre Pläne ein, um so mehr als auch Wittgenstein darauf bedacht ist, Hardenberg zurückzuholen, von dem man sich gewiß nicht zu Unrecht Wunderdinge verspricht.

Ein diplomatisch höchst diffiziler Geburtstagsempfang. Während die Königin brilliert, versucht der König, sein undurchdringliches Gesicht aufzusetzen, mit dem er wie stets – und wie immer vergeblich – den ihm angeborenen Pessimismus zu überspielen versucht. »Neuanfang«, mag er gedacht haben, »Kopf aus der Schlinge – Luise Mittel und Wege – mir fatal – wird sowieso nichts draus.«

Der junge Dichter in der unübersichtlichen Menge, ein ehemaliger preußischer Offizier aus alter Adelsfamilie, dürfte die Einladung über seine angeheiratete Kusine bekommen haben, einer engen Vertrauten und Hofdame Luises. Er verehrt die Königin ebenso leidenschaftlich, wie er Napoleon, den Usurpator, haßt. Literarisch interessierte Intellektuelle, die im Salon der Rahel Varnhagen verkehren, mögen seinen Namen kennen, obwohl noch nie eines seiner Dramen an einer offiziellen Berliner Bühne aufgeführt worden ist.

Er hat ein Sonett dabei, das er der Königin zu überreichen hofft, sollte sich die Gelegenheit ergeben. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, denn seiner Herkunft zum Trotz ist Heinrich von Kleist schüchtern. Ähnlich wie Friedrich Wilhelm, sein Landesherr, verhaspelt er sich häufig beim Reden im Netz seiner eigenen Gedanken.

Mit dem Sonett hat er sich schwergetan. Begonnen hat er es zunächst als längere Ode, »in der Voraussetzung«, wie er im Titel hinzufügte, »daß an diesem Tag Gottesdienst sein würde«. Es fand aber kein Gottesdienst statt. So entnahm er dem reichlich pathetisch geratenen Huldigungsgedicht eine Zeile, die ihm besonders gut gefiel, und setzte sie, persönlicher gefaßt, an den Anfang einer neuen Ode: »Du, die das Unglück mit der Grazie Schritten, / Auf jungen Schultern herrlich jüngsthin trugst...«

Doch auch dieser zweite Anlauf muß Kleist mißlungen erschienen sein. Man kann's verstehen: »Viel Blumen blühen im Schoß der Deinen / Noch deinem Gurt zum Strauß, und du bists wert.« Jedenfalls setzte er erneut an, wir wissen nicht, wie oft, drei Fassungen sind erhalten geblieben. Am Ende rafft ein knappes, kurzes Sonett alles zusammen, eine hart erarbeitete Quintessenz, leidenschaftlich im Inhalt, ein kleines sprachliches Meisterwerk.

In ihm schwingt auch persönliche Dankbarkeit mit. Man muß dazu wissen, daß Kleist aus der Privatschatulle der Königin Luise eine der wenigen regelmäßigen finanziellen Hilfen zugeflossen sind, die ihm zeit seines Lebens zuteil wurden – sie war kärglich genug. Unklar bleibt allerdings, ob Luise überhaupt davon gewußt hat. Die Gelder können, wie die meisten Kleist-Forscher vermuten, auch direkt von Marie von Kleist gestammt haben. Nach Luises Tod versuchte sie jedenfalls, mit Prinz Wilhelm, dem späteren ersten deutschen Kaiser, eine solche Abmachung zu treffen.

Wie auch immer, dem jungen Dichter muß es gelungen sein, durch das Menschengewimmel zur vielbeschäftigten, vielfältig verstrickten Königin vorzudringen. Inmitten des Trubels, noch ganz auf ihr politisches Kulissenspiel konzentriert, sinkt Luise für einen Augenblick in einen Sessel und liest Kleists Verse. Von all den vielen, die ihr gewidmet worden sind, die schönsten, einfachsten, unsterblichen.

Erwäg ich, wie in jenen Schreckenstagen,
Still deine Brust verschlossen, was sie litt,
Wie du das Unglück, mit der Grazie Tritt,
Auf jungen Schultern herrlich hast getragen,

Wie von des Kriegs zerrißnem Schlachtenwagen
Selbst oft die Schar der Männer zu dir schritt,
Wie, trotz der Wunde, die dein Herz durchschnitt,
Du stets der Hoffnung Fahn uns vorgetragen:

O Herrscherin, die Zeit dann möcht ich segnen!
Wir sahn dich Anmut endlos niederregnen,
Wie groß du warst, das ahndeten wir nicht!

Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir umschimmert;
Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert,
Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht!

Luise scheint augenblicklich herausgerissen aus ihrem Gespinst von Gesellschaft, Politik, Ranküne. Für Poesie ist sie empfänglich. Überwältigt und wohl auch erschöpft bricht sie in Tränen aus.

Noch kann niemand wissen, daß die Wetterwolken den flimmernden Stern alsbald verschlingen werden. Es ist dies der letzte Geburtstag, den Luise begehen kann. Wie eine Ahnung klingt, was sie am folgenden Tag zu ihrer Freundin Luise Radziwill sagt: »Das ist das Ende meiner irdischen Größe.« Auch Kleists Verse werden da noch ihr nachgeklungen haben. Den Weißen Saal hat sie nie mehr betreten.

Der Dichter und arme Schlucker wird in die Mauerstraße zurückgegangen sein, in sein karg möbliertes Zimmer im Hause des Quartiermeisters Müller. Er schreibt gleichzeitig am »Michael Kohlhaas« und dem »Prinzen von Homburg« und lebt, Rahel Varnhagen zufolge, »sehr wunderlich, oft ganze Tage im Bett, um da ungestörter bei der Tabakspfeife zu arbeiten«.

Es mag übertrieben sein, in Luises Überwältigung den »einzigen reinen und tiefen Erfolg« des Dichters in seinem kurzen, unglücklichen Leben zu sehen. Jedenfalls hat er den intensiven, beglückenden Eindruck einige Tage später in einem Brief an seine Halbschwester Ulrike zum Ausdruck gebracht. Auch Kleist ist ein Todeskandidat. Eineinhalb Jahre nach Luises Tod hat er sich umgebracht.

2.

Die Mecklenburgerin

Die spätere Königin von Preußen ist als Prinzessin Luise von Mecklenburg-Strelitz am 10. März 1776 in Hannover geboren. Das Land, dessen Namen sie trägt, hat sie mit 20 Jahren zum erstenmal betreten.

Aufgewachsen ist sie im deutschen Südwesten, in Darmstadt.

Trotzdem finden sich bei ihr deutlich mecklenburgische Züge. Ihr Wortschatz ist, nachzulesen in ihren Briefen, von niederdeutschen Wendungen durchsetzt, die sie wahrscheinlich von ihrem Vater übernommen hat. So schreibt sie ihrem Bruder Georg mitunter, sie sei nahe daran gewesen, »zu brüllen«, also zu weinen, zu heulen, oder beklagt sich bei ihrem Mann über den »Schnack«, den er führe. Noch häufiger tauchen im deutschen Teil ihrer Briefe allerdings hessische Ausdrücke auf im unverfälschten Darmstädter »Heinerdeutsch«: »Ich muß in Kerch gehen, sonst schlägt mich mey alt Großmäme«, heißt es in einem Brautbrief an Friedrich Wilhelm, damals noch Kronprinz von Preußen, und: »Ich segn mei Schatz witter, ich segne mei Schatz witter.« Wobei sie nie versäumt, sich für ihr »Cripscrapsgekritzel« zu entschuldigen.

Prinz (und später Herzog) Karl Ludwig Friedrich von Mecklenburg-Strelitz, kurz Karl und von seiner Tochter Luise bis ans Lebensende »Päp« oder »Pap« oder auch »bester Vater« genannt, muß eine vollendete Rokoko-Erscheinung gewesen sein, wohlgestaltet, wenn auch nicht sehr groß, elegant in Benehmen und Garderobe, ein bißchen leichtsinnig im Umgang mit dem Geld und, wie übrigens viele Mecklenburger, etwas hypochondrisch veranlagt. Wann immer Zeit und Geld es ihm erlauben, kurt er in Bad Pyrmont, für das er bis ins Alter eine Vorliebe behält.

Eine Vorliebe besitzt er auch für England. Durch seine Schwester, die Königin von England, hat er schon in jungen Jahren Karriere gemacht und ist als Gouverneur des englischen Königs nach Hannover geraten, heraus aus der Enge und Provinzialität seiner mecklenburgischen Heimat. Damals gab es zwei Mecklenburgs.

Die deutschen Staaten oder Staatsgebilde schienen sich durch Zellteilung ins Unendliche vermehrt zu haben. Das Reich, einst Römisches Reich, dann Heiliges Römisches Reich, am Ende Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation genannt, zerfiel in unzählige territoritale Herrschaften. Einige von ihnen, die größeren, traten als unabhängige Staatsgebilde, ja als europäische Großmächte auf. Die meisten waren jedoch klein, sogar winzig: ein Schloß, ein paar Dörfer sowie eine Menge von Schlagbäumen. Golo Mann läßt seine »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« im Jahre 1789 beginnen. In diesem Jahr gab es in Deutschland genau 1789 Territorialstaaten.

Zwar sollte das Reich mit dem Kaiser, seit Maximilian mit den habsburgischen Königen von Österreich, eine Kuppel über dem Staatenwirrwarr bilden, aber die Realität sah anders aus. Während andere Nationen, Frankreich vor allem, sich langsam aber sicher der staatlichen Einheit zubewegten, wurde Deutschland durch den Absolutismus seiner großen und kleinen Potentaten im 17. und 18. Jahrhundert heillos zersplittert. Für den Adel bedeutete dies einen enormen Machtzuwachs. Selbst die kleinsten Fürstengeschlechter versuchten Geschichte zu machen, vornehmlich durch Zollgrenzen. »Die Fürsten brandschatzen die Reisenden wie die Wegelagerer«, klagt Varnhagen von Ense, und tatsächlich stammte eine Großzahl der betreffenden Fürsten von Wegelagerern ab.

Allein in Mecklenburg existieren also zwei Herzogtümer, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Deren Geschichte wäre ein Lehrstück deutscher Kleinstaaterei, angefangen beim großen Güstrowschen Erbfolgestreit, über den Hamburger Vergleich und die Mirowsche Linie, der auch Luises Vater, Prinz Karl, angehört. Mecklenburg galt schon immer als abgelegen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Althergebrachtes blieb hier stets länger lebendig als anderswo. Der erste (und einzige) Paragraph der Mecklenburger Verfassung lautet, spottet Fritz Reuter: »Es bleibt alles beim Alten.«

So war auch damals Mecklenburg, waren beide Mecklenburgs hinterwäldlerisch, immer ein paar Jahrzehnte hinter ihrer Zeit zurück. Ihr Anachronismus hatte jedoch, von heute gesehen, durchaus fortschrittliche Züge. Wie ein Fossil erhalten geblieben war die alte ständestaatliche Ordnung, sogar in ihrer ausgeprägtesten Form. Sie hatte übrigens bis 1918 Bestand.

Der Ständestaat hatte einst die Abkehr von der rein feudalen Ordnung des Mittelalters bedeutet. Über die Vertretung der Stände – Geistlichkeit, Ritterschaft, Städte, seltener, wie in Tirol oder Ostfriesland, die Bauern – wurden erstmals – wenn auch noch sehr eingeschränkt – die Staatsbürger am Staat beteiligt. Regionale Vertretungen und Ständeversammlungen konnten, zum Beispiel, über Steuerbewilligungen entscheiden oder mitentscheiden.

Der Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts hatte dieser Entwicklung den Garaus gemacht, die Stände in den Status von Untertanen, die zu parieren hatten, zurückgedrängt. Außerhalb Mecklenburgs fanden sich nur in mehr oder weniger entlegenen Gegenden des Heiligen Römischen Reichs Reste derartigen Mitspracherechts nach dem Vorbild des englischen Parlaments. Der Freiherr vom Stein entdeckte solche in Westfalen, förderte sie nach Kräften und bezog aus ihnen ein Gutteil Anregung für seine späteren Reformvorschläge. Auch die Französische Revolution knüpfte an diese Tradition an.

In Mecklenburg, wo möglichst alles immer beim Alten bleibt, war sie von vornherein lebendig geblieben. Unverändert tagten die Landstände, gemeinsam übrigens für beide Landesteile, wie auch die Universität in der alten Hansestadt Rostock, das Hofgericht und das Konsistorium, also die Kirchenverwaltung, übergreifend für beide Kleinstaaten tätig waren – ein altertümliches Kuriosum nach damaligen Begriffen, eine frühe Annäherung an den modernen Verfassungsstaat nach heutigen Vorstellungen.

In Neustrelitz, der von seinem Vorgänger Adolf Friedrich III. erbauten Residenz mit den schnurgeraden, strahlenförmig von seinem Schloß auslaufenden Straßen, saß seit 1752 Herzog Adolf Friedrich IV., Luises Großvater oder besser gesagt: Nenngroßvater, in Wirklichkeit ihr Onkel. Fritz Reuter, der Demokrat, hat den schrulligen Herrn als »Dörchläuchting« schneidend, wenn auch mit großer Sympathie, karikiert. »In de Paleh«, lesen wir, »was dat all 'ne Tidlang snurrig taugahn«, der rechte Kapitelanfang für die schnurrige Geschichte von einem Landesherrn, der die Sprache seines Landes spricht wie jeder Dorfbewohner.

Es war ja nicht so, daß nun alle kleinen Fürsten Wegelagerer und Blutsauger gewesen wären. Es gab eine ganze Menge volkstümlicher Gestalten unter ihnen, die ihr Land aufs beste zu verwalten suchten. Zu ihnen muß man wohl auch den kauzigen Dörchläuchting rechnen, der Tod und Teufel nicht fürchtete, wohl aber Angst vor zweierlei hatte, das er für schlimmer als alles hielt: Gewitter – und Frauen.

Gegen den Blitzschlag ließ sich Dörchläuchting in seinem »Paleh« ein gläsernes Kabinett errichten, eine Art von Faradaykäfig, in dem er bei den ersten Gewitterwolken Schutz suchte. Er hielt strenge Distanz zu Frauen und erwartete dasselbe auch von allen männlichen Personen seines Hofes. Es hielten sich nicht alle daran. Adolf Friedrich IV. jedenfalls blieb, selbstredend, kinderlos.

Er hatte aber Schwestern und Brüder, von denen der Nächstälteste als sein Nachfolger vorgesehen war, Karl, Luises Vater. Den überraschenden Aufstieg – 1741 geboren, wurde er bereits 1744, also mit drei Jahren, Chef einer Kompanie in Diensten des Kurfürsten von Hannover – verdankte er einem Gerücht.

Das Gerücht war nicht neu, es geisterte von Zeit zu Zeit durch das vielfältige Europa, aber es beunruhigte immer wieder vor allem die Engländer. Friedrich II. von Preußen, hieß es, plane, seine niederrheinisch-westfälischen Besitzungen an die beiden Mecklenburger abzutreten, um sich im Tausch dafür Mecklenburg, Schwerin wie Strelitz, einzuverleiben. Nun saß der Kurfürst von Hannover als Georg II. auch auf dem englischen Thron, übrigens ein Schwager Friedrichs des Großen, der dennoch von einer derart bedrohlichen Umklammerung durch die Verwandtschaft wenig begeistert war. Der mecklenburgische Hofmeister von Gloeden war es, der Engländer wie Hannoveraner auf die rettende Idee brachte, den voraussichtlichen mecklenburgischen Thronerben sozusagen präventiv in hannoveranisch-englische Dienste zu nehmen.

Damit entwickelt sich Karls Karriere wie geschmiert und ohne dessen Zutun. Der dreijährige Kompaniechef wird als Vierjähriger Kapitän (mit dem Salär eines Hauptmanns). Zehn Jahre später ist er schon Major und bald Oberstleutnant. Aber er soll rasch noch höher steigen und das noch rasanter.

Die Häuser Mecklenburg-Strelitz und Hannover haben beschlossen, sich nun auch ehelich zu verbinden und zu verbünden. 1761 begleitet Karl seine drei Jahre jüngere Schwester Charlotte Sophia nach Stade. Dort soll sie sich einschiffen, um Georg III. zu heiraten, der nun nicht mehr wie die beiden ersten Georgs hauptsächlich Kurfürst von Hannover und nebenher König von England ist, sondern es umgekehrt hält. Hannover hat er sich nie auch nur angesehen und es nicht einmal, wie hämische Engländer behaupten, auf der Landkarte zu finden gewußt.

Georg und Charlotte sind sich vor ihrer Hochzeit persönlich nie begegnet; die Heirat steht – wie die meisten Fürstenehen damals – unter dem Diktat der Politik. Sie wäre ohne die geschmeichelten Miniaturporträts, die bei Heiratsanträgen damals gebräuchlich waren, vielleicht trotzdem nie geschlossen worden. Charlotte wird in England sofort als »ugly« eingestuft, als häßlich. Aber seinen neuen Schwager läßt Georg es nicht entgelten. Er ernennt ihn zum Oberst und ein Jahr später, beim ersten London-Besuch, sogar zum Generalmajor der Artillerie.

Georg III. bleibt übrigens 60 Jahre lang König von England, ein umstrittener Mann (er wird im Alter geisteskrank, und er verliert die englischen Kolonien in Amerika). Unumstritten ist dagegen Königin Charlotte im Königssitz zu Kew, zurückhaltend, blaß, aber nimmermüde in ihren Pflichten. So »ugly« sie sein mag, sie gebiert dem König nicht weniger als 15 Kinder.

Karl, der 20jährige General, zieht übrigens auf eigenen Wunsch mit dem englischen Heer auf einen Feldzug nach Portugal. Daß er sich kriegerisch ausgezeichnet hätte, ist nicht bekannt geworden, aber der König befördert ihn prompt zum Generalleutnant und versieht ihn mit einem überdurchschnittlichen Gehalt.

Daß Luises Vater damit ebensowenig auszukommen versteht wie mit seinen sonstigen Einkünften, steht auf einem anderen Blatt. Auch ein stärkerer Charakter als der Karls wäre wohl von den Erfahrungen eines derart unaufhaltsamen Aufstiegs korrumpiert worden. Von Kind an daran gewöhnt, daß ihm alles in den Schoß fällt, bleibt er sein Leben lang ein passiver Beobachter, der Erfolgen nicht nachrennt, weil sich diese üblicherweise von selbst einstellen. Er verschwendet Zeit und Geld in dem Bewußtsein, daß erstere mit Warten (auf das Herzogtum) verbracht sein will und das zweite sich noch immer rechtzeitig eingefunden hat.

Aus dem hinterwäldlerischen Prinzen ist ein Lebemann geworden. Elegant schlendert er durch die wechselnden Zeiten, ein Flaneur, ständig auf Reisen, wenn er nicht gerade in Hannover residiert oder in Pyrmont kurt, ein gern gesehener Gast mit ständig leeren Taschen und von seinen Kindern, die er selten sieht, geradezu überschwenglich geliebt.

Seine Frau Friederike hat er sich aus Darmstadt geholt. Zwischen Hessen und Mecklenburg bestehen lockere Verbindungen, seit hessische Prinzen im Dienste Friedrichs II. ganz in der Nähe, in der Uckermark, in Prenzlau stationiert gewesen sind.

Man muß sich die kleineren und mittleren Staaten in Deutschland als nicht übermäßig gut ausgestattet vorstellen. Die Steuern fließen meist kärglich, werden vom Hofstaat und durch Zahlungen an müßige Verwandte, die »standesgemäß« leben müssen, verschlungen, mehr als selbst bei fähiger Güterverwaltung, die eher die Ausnahme als die Regel darstellt, eingenommen werden kann.

In Darmstadt bestehen, zum Beispiel, zwei Hofhaltungen. Es herrscht Landgraf Ludwig, der neunte dieses Namens, der es an Skurrilität mit Dörchläuchting aufnehmen kann. Nicht freilich mit dessen Weiberfeindschaft, im Gegenteil, er verschwindet häufig zu längeren Abenteuern nach Paris und hält sich unzählige – auch nicht eben billige – Mätressen. Aus diesem Grund, und weil er sich im Darmstädter Schloß seiner Vorfahren vor Gespenstern fürchtet, deren er bereits eine Menge gesehen hat, lebt er in Pirmasens. Dort gibt er sich seinen beiden großen Hobbys hin: dem Exerzieren und dem Trommeln. Sein Grenadierregiment ist von ihm derart gedrillt, daß alle Manöver wie ein Uhrwerk ablaufen, und sein Trommelschlägerkorps gilt als das beste, exakteste und lauteste im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Den Staat repräsentiert im Darmstädter Gespensterschloß die von Goethe (in »Dichtung und Wahrheit«) als »Große Landgräfin« bezeichnete Karoline, die sogar Friedrich der Große, nicht eben ein Liebhaber des weiblichen Geschlechts, bewundert hat und die mit nahezu allen großen Geistern der Zeit korrespondiert, so mit Voltaire, Gleim, Wieland, Herder, Klopstock. Ihr zur Seite steht bei Abwesenheit des Trommelfanatikers merkwürdigerweise der Sohn eines Apothekers, Johann Heinrich Merck, der Freund Goethes. Um Hofetikette schert sich die in vieler Beziehung große Landgräfin überhaupt nicht.

Dafür beschäftigt sie um so angelegentlicher die Dynastie. Im Kleinstaat-Deutschland besteht Politik zu guten zwei Dritteln aus der hohen Kunst, den Söhnen Prinzessinnen als »gute Partie« zu besorgen und den Prinzessinnen möglichst hochgestellte Prinzen. Das ist nicht immer einfach, wenn man, wie Karoline, neben drei Söhnen fünf Töchter hat. Es sind – verwirrend, die ewig gleichen Vornamen aufzuzählen – eine Karoline, eine Friederike, eine Amalie, eine Wilhelmine und eine Luise. Die resolute Frau hat alle, wenn auch keineswegs immer zu deren Glück, glänzend unter die Haube gebracht. So ist Friederike an der Seite Friedrich Wilhelms II. Königin von Preußen, soll Wilhelmine an der Seite Pauls I. Zarin von Rußland werden und spielt Luise an der Seite des Großherzogs Karl August von Sachsen-Weimar in der deutschen Geistesgeschichte eine wichtige Rolle.

In einem stattlichen Haus am Markt, nahe dem Schloß, im Volksmund »Altes Palais« genannt, lebt nun aber der Bruder Landgraf Ludwigs, Prinz Georg Wilhelm von Hessen-Darmstadt, mit seiner urwüchsig-pfälzischen Frau Marie Luise Albertine, die in Darmstadt nur »Prinzessin George« heißt. Auch sie eine überragende – und der «Großen Landgräfin« manchmal lästige – Persönlichkeit sowie auf dem Heiratsmarkt eine empfindliche Konkurrenz.

Denn auch Prinzessin George hat ihrem Georg acht Kinder beschert, darunter vier Mädchen mit ähnlichen Vornamen, nämlich Friederike, Charlotte, Luise und Auguste. Die Kinder sind zwar ziemlich unbeschwert zusammen aufgewachsen, aber zwischen Schloß und Altem Palais herrscht doch einiger Brotneid. Die Mittel sind in beiden Häusern knapp. Man leidet zwar keine äußere Not, aber geflickte Kleider, die von Schwester zu Schwester oder von Bruder zu Vetter weitervererbt werden, sind die Regel.

Im 18.Jahrhundert eine deutsche Prinzessin zu sein, ist kein beneidenswertes Los. Eine Ausbildung wird nur den Brüdern zuteil. Die Schwestern werden der Reihe nach verheiratet. Gefühle, Liebe oder Zuneigung spielen dabei keine Rolle, und so sind sie meist unglücklich mit ihren Männern, denen sie praktisch nur als Gebärmaschinen für den notwendigen Nachwuchs dienen. Die vergnügliche Seite des Lebens genießen die Männer mit Mätressen oder gar Gemahlinnen zur linken Hand. Man wartet, bis man vielleicht selbst an die Reihe kommt. Das Schicksal der meisten ist tränenreich und endet mit frühem Tod.

Der flotte Karl aus Mecklenburg gilt trotz seines Leichtsinns als Glücksfall unter eventuellen Bewerbern. Er sieht sich an beiden Höfen Darmstadts um und entscheidet sich für Friederike, und zwar die der Prinzessin George, die freilich auch der besondere Liebling der großen Landgräfin ist. Friederike, damals erst 16, blond, blauäugig, mit einer kräftigen Stirn, gilt als »über ihre Jahre gesellschaftlich gewandt«, wie es Paul Bailleu, der erste Biograph der Königin Luise, ausdrückt. Die Hochzeit findet am 18. September 1768 im Darmstädter Schloß statt. Neidvolle Bewunderung weckt der kostbare Schmuck der Braut, den ihr die Schwägerin, Königin Charlotte, aus England geschickt hat. So etwas sieht man selten an den ärmlichen Duodez-Höfen Deutschlands.

Es mag die 16jährige überfordert haben, als sie sich plötzlich in Hannover wiederfindet, wo ihr Mann inzwischen zum Gouverneur ernannt worden ist. Im Alten Palais an der Leinestraße, im Sommer im Prachtschloß Herrenhausen, hat sie zahlreiche Repräsentationspflichten zu erfüllen und ist überdies – Los aller Prinzessinnen, die für einen Stammhalter zu sorgen haben – ständig schwanger. »Bald sah sich das fürstliche Paar von einem Kranze blühender Kinder umgeben», formuliert Bailleu. Die Wirklichkeit war weniger idyllisch. Obwohl von schwacher Konstitution und erst 23 Jahre alt, hatte Friederike nach achtjähriger Ehe schon sechs Geburten hinter sich. Zwei Knaben und ein Mädchen starben früh. Es überlebten drei Mädchen, Charlotte, die Älteste, »Lolo« genannt, Therese (der wir schon kurz als Thurn-und-Taxis-Gräfin begegnet sind), genannt »Röschen«, und Luise, die am 25. März 1776 in der Garnisonskirche von Hannover auf die Namen Luise Auguste Wilhelmine Amalie getauft wurde.

Die Namen stammen, wie üblich, von den Paten, von der badischen Markgräfin Karoline Luise, einer Schwester des hessischen Exerziermeisters Ludwig IX., von Charlotte von Hessen-Darmstadt, einer Schwester der Mutter (sie erscheint persönlich), sowie der Fürstin von Oehringen. Diese ließ sich durch den Feldmarschall Hardenberg vertreten, den Vater des späteren Staatskanzlers, der im Leben der Königin Luise eine so entscheidende Rolle spielen und dessen Namen sie noch auf dem Totenbett ihrem Mann ins Ohr flüstern sollte.

Zwei Jahre später, 1778, kommt eine weitere Tochter zur Welt, die nach der Mutter Friederike genannt wird. Ihr späteres Schicksal wird sich besonders eng mit dem Luises verknüpfen. Ihre Geburt ist Anlaß zur Freude – und doch eine Enttäuschung: Immer noch fehlt der männliche Erbe.

Die Eltern des »Kranzes blühender Kinder« scheinen trotzdem guter Dinge geblieben zu sein. Sie reisen viel (vor allem gern nach Darmstadt, aber auch in die Schweiz und sogar nach England), sie erhalten auch viel Verwandtenbesuch (einmal sogar von Königin Charlotte Sophia). Beim Bruder in Neustrelitz scheinen sie nur ein einziges Mal gewesen zu sein, obwohl zumindest er sich gut mit »Dörchläuchting« versteht. Dafür wird, wie bei Karl nicht anders zu erwarten, jeder Sommer in Pyrmont verbracht.

Es ist eine für damalige adelige Verhältnisse ungewöhnlich harmonische Ehe. Die Mutter, Friederike, hat sich zwar ihrem Mann untergeordnet und ins steife Hannover gefunden, wo man in einem noch steiferen Französisch parliert. Sie sehnt sich insgeheim aber doch zurück nach Darmstadt, wo man, an beiden Höfen, gemütliches »Hessisch« babbelt. Immer rinnen ihr die Tränen, wenn sie die altvertraute Familienatmosphäre wieder verlassen muß.

Sie sorgt aber auch dafür, daß etwas von solch Darmstädter Nestwärme in ihr eigenes Heim getragen wird. Ihre vier Mädchen wachsen ungebundener auf als sonst üblich, und sie redet mit ihnen, noch ungewöhnlicher, zu Hause deutsch.

1779 hat Friederike ihre achte Geburt: endlich der ersehnte Prinz und Erbe. Er wird Georg getauft und zum Mittelpunkt unendlicher Freude in der ganzen Familie. Am Wochenbett der Mutter veranstaltet man die Aufführung einer kleinen Komödie. An ihr nimmt – das erste, was von ihr überliefert ist – sogar die dreijährige Luise teil, ebenso am Ballfest zum Geburtstag des Vaters am 10. Oktober im selben Jahr. Luise tritt als Amor verkleidet auf, die älteren Schwestern Charlotte und Therese als Vestalinnen.

Ein zweiter Junge stirbt zwei Jahre später, 15 Tage nach seiner Geburt, und während einer weiteren, der nunmehr zehnten Schwangerschaft begibt sich das Paar wieder einmal zum Weihnachtsfest nach Darmstadt, wo man es so behaglich findet, daß man bis Ende April bleibt.

Denn in Darmstadt herrscht nicht nur Friede, sondern auch familiäre Eintracht wie sonst kaum irgendwo. Man verdankt das eben jenen Machenschaften, die sonst überall so viel Unfrieden stiften. Das Reich ist von einem engmaschigen Netz aus Adelsherrschaft durchzogen. Es besteht geradezu aus großen, weniger großen, kleinen und winzigen Dynastien, die sich beim allgemeinen Kinderreichtum im Laufe der Zeit überdies in zwei oder noch mehr Linien zerspalten haben. Um Landbesitz, Rang und nicht zuletzt die Finanzen zu verbessern, gibt es nur eine einzige Möglichkeit: das geschickte und gewinnträchtige Verheiraten der Töchter und Söhne. Über nichts wird angelegentlicher geredet, verhandelt, intrigiert.

Die »Große Landgräfin«, eine wahre Meisterin im Spinnen derartiger Fäden, ist schon 1774, zwei Jahre vor Luises Geburt, gestorben. Ihre Töchter hat sie allesamt glänzend verheiratet: Karoline mit dem Landgrafen von Hessen-Homburg, Friederike mit dem preußischen Thronfolger, dem späteren Friedrich Wilhelm II., Amalie mit dem Erbprinz von Baden, Luise mit dem Großherzog Karl August von Sachsen und Weimar. Am Ende ihres Lebens ist ihr sogar der größte Coup gelungen. Ihre Tochter Wilhelmine wird an der Seite ihres Mannes, des Großfürsten und späteren Zaren Paul, einmal Kaiserin eines Riesenreiches werden.

So sah es jedenfalls aus, als sie starb. Friedrich der Große schickte damals eine große Marmorurne mit der für ihn bezeichnenden Inschrift: »Femina sexu, ingenio vir« – Weib von Geschlecht, an Geist ein Mann. Die Kunst, Ehen mit Standeshöheren zu arrangieren, galt ihm als eine Tugend, selbstredend eine männliche.

Dynastisch gesehen war Darmstadt nach dem Tode der Großen Landgräfin so gut wie verwaist. Der Landgraf weigerte sich weiterhin, Pirmasens, seine dortigen Soldaten, vor allem aber seine Trommler zu verlassen. Auch sein ältester Sohn, Ludwig oder Ludewig, wie er sich später nennen wird, mied die Stadt und pflegte den größten Teil seiner Zeit im Ausland zu verbringen. Die hessischen Repräsentationspflichten fielen damit auf die Nebenlinie, auf Prinz Georg und seine Prinzessin George, zurück. Zu deren hoher Befriedigung, wie man hinzufügen muß. Zum ersten wegen der Reputation, die Höchsten im Hauptstädtchen zu sein (und sei es noch so klein), zum zweiten aber auch, weil man dadurch eine bessere Ausgangsposition in der dynastischen Ehe-Anknüpfungs-Taktik gewann. Prinzessin George versteht es ebenfalls meisterhaft, Fäden zu knüpfen, und über Darmstadt herrscht sie – im Einverständnis mit dem Landgrafen und Ludwig-Ludewig, wie eine Königin. Der Schwiegersohn fühlt sich wohl in ihrer kleinen Residenz.

Er kann es sich leisten, mit seiner Frau so lang im Südwesten zu bleiben, wie er will. Seine Pflichten als englischer Gouverneur in Hannover bestehen aus nichts weiter als Repräsentation bei offiziellen Angelegenheiten. Sogar von den Kriegen Englands – mit Spanien, Frankreich und den amerikanischen Kolonien, die sich befreien – bleibt Hannover, obwohl zur englischen Krone gehörend, unbehelligt. »Der Anteil, den Prinz Karl an den Kriegen nahm«, bemerkt Bailleu süffisant, »beschränkte sich auf gelegentliche Besichtigungen der Unglücklichen, die im englischen Solde aus Deutschland übers Meer nach Amerika geschleppt wurden.«