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Über den Autor

Dr. Michael Neumann,

geb. 1951 in München, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er hat Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Münster studiert und zahlreiche Artikel, Bücher, Rezensionen und Aufsätze zu literaturwissenschaftlichen Themen veröffentlicht.

Zum Buch

MYTHEN EUROPAS: DIE SCHLÜSSELFIGUREN DES MITTELALTERS

Viele historische Persönlichkeiten sind von den Legenden und Anekdoten, die über ihr Leben erzählt werden, nicht mehr zu trennen. Schon immer haben Menschen in der Geschichte nach Vorbildern und Feindbildern, nach Avataren bestimmter, allgemeinmenschlicher Eigenschaften gesucht. Der vorliegende Band beschreibt diese Suche für das Mittelalter, versucht die Mythen und Legenden, die sich um die Großen der Geschichte ranken nachzuzeichnen und zu entschlüsseln, was diese Geschichten, die wir uns erzählen, über uns und die Zeit in der wir leben preisgeben.

Menschen, die Geschichte schrieben

Michael Neumann (Hrsg.)

Menschen, die
Geschichte schrieben

Das Mittelalter

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Genehmigte Lizenzausgabe
für marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
© by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2004
Lektorat: Hendrik Fiebig, Gera
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag
nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: The Boy’s King Arthur: Sir Thomas Malory’s History
of King Arthur and His Knights of the Round Table,
by Sidney Lanier (1922).
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0382-3

INHALT

Einleitung

von Inge Milfull

Karl der Große

Geschichte und Mythos

von Johannes Fried

Der Apostel Jakobus

Vom spanischen zum europäischen Mythos

von Klaus Herbers

Theoderich

Die Verwandlung der historischen Person in die literarische Figur Dietrich von Bern

von Carola L. Gottzmann

Der Heilige Martin von Tours

von Benedikt Konrad Vollmann

König Artus

Geschichte, Mythos, Fiktion

von Walter Haug

Gottfried von Bouillon

Führer des Ersten Kreuzzugs und König von Jerusalem

von Friedrich Wolfzettel

Troubadour und Minnedame

von Ingrid Kasten

Franziskus von Assisi

Zwischen Inszenierung und Imagination

von Helmut Feld

Die Greifenfahrt Alexanders des Großen

von Thomas Noll

Christus als Schmerzensmann

von Peter Dinzelbacher

Maria, Notre Dame

Mythos und Verehrung in Texten des 9. bis 13. Jahrhunderts

von Roswitha Wisniewski

Autorinnen und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Editorische Notiz

Die mittlerweile rund 80 Bände umfassende Buchreihe marixwissen, in der nun Menschen, die Geschichte schrieben – Das Mittelalter vorliegt, steht seit vielen Jahren für Publikationen, die aus kompetenter Hand komplexe Zusammenhänge einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Aus diesem besonderen Grund legen wir nun eine siebenbändige Reihe wieder auf, die vormals im Pustet Verlag erschienen ist und seinerzeit leider nur einem kleinen Publikum zugänglich war. Die diesen Bänden zugrundeliegende Ringvorlesung Die Mythen Europas fasziniert durch ihre thematische Breite und löst darüber hinaus das Ziel unserer marixwissen-Reihe ein, humanistische Bildung und das Wissen Europas lebendig zu halten. Die zentralen Begriffe "Mythen", "Europa" und "Schlüsselfiguren" sind heute von einer ebenso großen, wenn nicht noch größeren Bedeutung getragen. Wir legen Ihnen die Bände in ihrer Textgestalt unverändert vor, lediglich die Titel wurden der Reihe marixwissen angepasst.

EINLEITUNG

Zu allen Zeiten haben die Menschen ihre Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Konflikte auf Figuren projiziert und in Geschichten verarbeitet. Ein erster Band hat solche „Schlüsselfiguren der Imagination“ aus der Antike vorgestellt. Der vorliegende Band setzt den Gang durch die europäische Geschichte, der in sieben Schritten bis zum 20. Jahrhundert führen wird, mit dem Mittelalter fort. Der Haupttitel „Mythen Europas“ könnte freilich gerade bei dieser Epoche zu Missverständnissen führen. Es sei daher ausdrücklich hervorgehoben, dass die Reihe „Mythos“ ausschließlich als ein Rezeptionsbegriff verwendet wird: Ganz unabhängig von ihrer historischen Faktizität oder Fiktionalität werden die verschiedenen Figuren nach ihrer Wirkungskraft auf die kollektive Imagination befragt.

Diese „mythische“ Wirkung ist offensichtlich in bestimmten Eigenschaften einer Gestalt begründet. Dennoch zeichnet sich immer wieder deutlich ab, dass ihre Rezeption gemäß dem jeweiligen Bedürfnis der Zeit völlig neue Akzente setzen kann. Historische Figuren etwa können Transformationen durchlaufen, die ihnen selbst unvorstellbar gewesen wären oder ihren Intentionen völlig zuwiderlaufen. Die Absichten des heiligen Franziskus beispielsweise sind relativ gut dokumentiert; im religiösen und politischen Klima späterer Zeiten mussten sie von den Franziskanern aber teilweise überspielt werden, um den Orden unter den geänderten Umständen überlebensfähig zu halten, ohne die Kontinuität mit dem Ordensgründer aufzugeben.

Der Wandel, dem manch andere Gestalt mit der Zeit unterworfen wurde, mag noch radikaler gewesen sein, nur dass wir oft wenig über die ursprüngliche historische Person wissen. Ein wesentlicher Bestandteil des mythischen Status scheint auch zu sein, dass die Schlüsselfigur für verschiedene gesellschaftliche Gruppen Verschiedenes bedeutet. Artus ist jeweils ein anderer für die Waliser, für England und für den Rest von Europa. Auf Martin, so Konrad Vollmann, beriefen sich einerseits die Menschen von Tours und Poitiers, andererseits die merowingischen Herrscher; seine Gestalt bleibt aber auch für nachfolgende Generationen bedeutungsträchtig, polyvalent und adaptierbar.

Betrachten wir die Gestalten, die wir aus dem Früh- und Hochmittelalter ausgewählt haben, nach ihrer Herkunft, so ergibt sich folgendes Bild: Ein antiker Herrscher, Alexander, dessen Bild sich im Mittelalter gegenüber demjenigen, das er selbst von sich zu entwerfen suchte, stark verändert hat – drei Gestalten des Neuen Testaments, Christus selbst sowie zwei Personen seiner unmittelbaren Umgebung, Jakobus und Maria, die neu ausgedeutet wurden – zwei Herrscher der Völkerwanderungszeit, Artus und Theoderich – ein heiliger Bischof aus derselben Zeit, Martin – Karl der Große als zentrale Herrscherfigur des Frühmittelalters – dann aus dem beginnenden Hochmittelalter Gottfried von Bouillon, Held des Ersten Kreuzzugs – und schließlich der heilige Franziskus, Gründer des Franziskanerordens. Dazu tritt die abstrakte Figur der Minnedame, die zunächst in der Lyrik ihren Platz hat.

Bei Gestalten aus dem Früh- und Hochmittelalter ist es unumgänglich, sich die Überlieferungsbedingungen klarzumachen. Die früh- und hochmittelalterliche Gesellschaft war, nach einer weitverbreiteten Auffassung, dreigeteilt: in Kämpfer, Beter und Nahrungsproduzierende, das heißt: Adel, Kirche und Bauern. Während der Epoche, von der hier die Rede ist, lag das Monopol der schriftlichen Überlieferung noch weitgehend in den Händen nur einer dieser drei Gruppen, der Kirche. Diese war natürlich in sich selbst nicht monolithisch. Zudem war ihre Hierarchie zum großen Teil mit Adeligen besetzt und ihr pastoraler Auftrag verpflichtete sie der bäuerlichen Bevölkerung. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass wir von volkstümlicher Überlieferung zu unseren Schlüsselfiguren aus dieser Zeit nur Mittelbares erfahren können. Der Adel selbst ergreift erst im Hochmittelalter in der Troubadourlyrik und in Versromanen das Wort.

Diese Problematik betrifft vor allem die frühe Überlieferung zweier unserer Figuren, Theoderich/Dietrich und Artus. Im Falle Theoderichs sind zwar die Fakten seiner Vita gut bezeugt und ebenso sein weitgehend negatives Bild in der kirchlichen Tradition. Der andere, mindestens ebenso wesentliche Strang der Überlieferung jedoch, sein Nachleben im Munde der germanischen Völker, ist zunächst nicht recht greifbar und lässt sich nur aus gelegentlichen Bemerkungen erschließen. Es ist aber sehr zu vermuten, dass seine Bewertung von der kirchlichen Tradition abwich und ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Typisch für diese rein mündliche Form der Überlieferung ist die Reduzierung der Zeittiefe: So wird ein sehr viel früherer Herrscher aus demselben Geschlecht, Ermanarich, zu Theoderichs Onkel. Auch dass die Ostgoten nach ihren anfänglich großen Erfolgen unter Theoderich sich in Italien letztlich nicht halten konnten, dürfte das Bild von Theoderich beeinflusst haben; vielleicht hat das zu der Sage von Dietrich als Exilant geführt. Ferner scheinen in die Heldensagen schon früh übernatürliche und außermenschliche Elemente eingedrungen zu sein; Dietrichs Kämpfe gegen Riesen und Zwerge wären dann nicht erst eine Erfindung späterer Märchenepen. Jedenfalls war Dietrich zu dem Zeitpunkt, als ihn der Dichter des Nibelungenliedes in seinen Text einführte, für das Publikum bereits eine sehr bekannte Figur. Ihre Dimensionen können wir jedoch nicht ausloten, weil ihre Verschriftlichung bereits mit einer Verschiebung der Anliegen einherging, die mit der Gestalt verbunden wurden. Das Nibelungenlied selbst war ein ambitioniertes Unternehmen: die Einkleidung eines älteren Sagenkomplexes in eine neue höfische Form, ein literarisches Experiment mit moralischen Konsequenzen. Das musste unweigerlich zu einer gewissen Brüchigkeit und Ambiguität der Bewertung führen. So geriet auch Dietrich ins Schillern und wurde einer möglicherweise negativen Sicht ausgesetzt. Der literarische Erfolg dieses Experiments legte den zuvor sicher beweglichen Stoff in mancher Hinsicht fest. So wurde die dort geschilderte Episode im Leben Dietrichs für spätere Dichtungen kanonisch. Carola Gottzmann zeigt, wie unterschiedlich gleichwohl in der Folge das Bild Dietrichs in den Heldenepen und den Märchenepen ausfiel.

Vergleichbares lässt sich über die frühe Überlieferung zu Artus sagen, nur dass hier zeitgenössische Quellen völlig fehlen und auch die chronikalische Tradition eine längere Stufe rein mündlicher Überlieferung durchlaufen hat. Obwohl Artus nicht auf der Seite der germanischen Eindringlinge, sondern offenbar gegen sie stand – allerdings ist auch dies schon angezweifelt worden –, scheint die mündliche Überlieferung der Waliser und Bretonen über ihn ähnlichen Gesetzmäßigkeiten gefolgt zu sein: Man integrierte Sagengestalten in seinen Umkreis, die ursprünglich nichts mit ihm zu tun hatten, und führte übernatürliche Elemente ein. Wiederum verschoben sich mit den Verschriftlichungen auch die Absichten; das frühere Artusbild wurde verwischt und überlagert. Hier wurden jedoch zwei Verschriftlichungen kanonisch: die historisierende des Geoffrey of Monmouth und die epische des Chrestien von Troyes, die neben Geoffrey wohl auch auf bretonische Sagen zurückgriff und das märchenhafte Element stärker integrierte.

Auch die Überlieferung zu Karl dem Großen hat eine ähnliche Phase durchlaufen, die sich in den Chansons de geste widerspiegelt, auch wenn sie kürzer ausfiel und in einem Kulturraum stattfand, wo Schriftlichkeit in stärkerem Maße präsent war.

Demgegenüber ist für das Leben der mittelalterlichen Heiligen ein weit früheres Einsetzen der Schriftlichkeit und eine kontinuierliche schriftliche Tradierung charakteristisch, die gleichwohl ihren eigenen Transformationen unterworfen ist und sich oft gegenüber mündlicher Überlieferung als durchlässig erwies. Für die Erhebung zum Heiligen war es nämlich bereits im Frühmittelalter nötig, dass das Zeugnis einer Vita des Betreffenden vorlag. Schon von daher haben wir eine schriftliche Überlieferung aus der unmittelbaren Umgebung des heiligen Martin und des heiligen Franziskus von Assisi, deren Etablierung als Heilige offensichtlich schon zu ihren Lebzeiten abzusehen war.

Das Hochmittelalter bringt zwei grundlegende literarische Innovationen mit sich, die Troubadour- oder Minne-Lyrik und den höfischen Roman. In ihnen drückte sich ein neues Lebensgefühl des Adels in einem neuen Medium aus. Zwei unserer Gestalten sind eng mit diesen Innovationen verbunden. Der höfische Roman begann zwar mit einer neuen Verarbeitung antiker Stoffe, einschließlich der Abenteuer Alexanders des Großen, aber in seiner voll erblühten Form ist er unweigerlich mit dem Artusstoff verbunden. Das zentrale Moment der Troubadour-Lyrik dagegen, so Ingrid Kasten, ist der neue Frauenkult, die Verehrung der Minnedame. Da sie eine sich neu entwickelnde lyrische Konvention darstellt, fehlt dieser Gestalt zunächst ein narratives Moment. Auch ist sie vor allem von ihrer Wirkung auf das lyrische Ich her definiert und daher zwar in vieler Hinsicht festgelegt, aber auswechselbar. Die neu konzipierte Paarkonstellation der Troubadourlyrik greift jedoch bald über den lyrischen Rahmen hinaus und wird auch in narrativen Texten durchgespielt. Eine der einflussreichsten Darstellungen ist die Beziehung von Lancelot und Ginevra, mit der dieses Thema in den Artusstoff Eingang findet, wie Walter Haug vorführt. Artusroman wie Minnelyrik zeigen eine Lust am Experiment: In der kontrollierten Umgebung der fiktionalen Artus-Welt werden die Konsequenzen von Neubewertungen modellhaft durchgespielt; und die Aufführungssituation der Troubadour-Lyrik kommt einem Gesellschaftsspiel nahe. Beide verkörpern diesseitige, weltliche Utopien, die erstmals wieder deutlich neben die christlichen, jenseitigen treten. Artus und Lancelot sind Träger dieser Utopien.

Es ist sicher kein Zufall, dass diese Neuerungen zeitlich in etwa mit neuen Entwicklungen auf religiösem Gebiet zusammenfallen, die sich in den Beiträgen zu Christus, Maria und Franziskus abzeichnen. Der Übergang vom Frühmittelalter zum Hochmittelalter ist gekennzeichnet durch ein Freiwerden von Räumen. Im Frühmittelalter stand die Sicherung des Überlebens der Gemeinschaft und die Legitimierung der dazu nötigen Herrschaft im Vordergrund. Dies bestimmte die Erwartungen, die an Helden wie Dietrich, Artus und Karl sowie an Heilige wie Martin und Jakobus, ja selbst an Christus und Maria gerichtet wurden. Im Hochmittelalter weitet sich der Horizont. Der Blick richtet sich einerseits mehr nach innen, auf das Individuum, andererseits geht er weiter nach außen: über Sippe, Stadt, Bistum, über Mittel- und Westeuropa hinaus – ohne dass Fragen der Herrschafts- und Gemeinschaftssicherung ihre Brisanz dadurch verloren hätten. Zweifellos stand der ökonomische Aufschwung des 11. Jahrhunderts im Hintergrund und lieferte die Basis für diese Neugewichtungen. Peter Dinzelbacher arbeitet etwa heraus, wie ein Rückgang der Kindersterblichkeit intensivere Beziehungen zwischen Eltern und Kindern erlaubt hat. Gleichzeitig lässt der Wandel von Herrschaftsstrukturen, der mit dem Stichwort Feudalisierung verbunden ist, um diese Zeit als Kehrseite der Freiheit eine gewisse Unsicherheit aufkommen. Rollen müssen neu definiert werden. So erhebt sich ein Bedürfnis nach neuen Leitfiguren; alte Leitfiguren geraten in neue Perspektiven.

Die Paarbeziehung wurde immer mehr als eine persönliche Beziehung gesehen; dies gilt auch für die zeitgenössische Neubewertung der Ehe durch die Kirche. Gleichzeitig wurde der Wunsch nach einer persönlicheren Beziehung zu Christus und Maria immer intensiver. So lässt sich die erotische Aufladung mystischer Erlebnisse, besonders in der Frauenmystik, auf den Einfluss der Minnethematik zurückführen und umgekehrt die religiöse, manchmal fast blasphemisch anmutende Metaphorik der Liebestheorie auf franziskanische und andere mystische Strömungen. Obwohl diese Entwicklungen neuzeitliche Konzeptionen von romantischer Liebe und religiösem Erleben nachhaltig beeinflusst haben, wirken extremere Manifestationen auf uns heute geradezu grotesk: lebensbedrohlicher Liebeswahnsinn bei Lancelot, hysterischer Nachvollzug der Passion durch weibliche Anbeterinnen.

Dass diese neue Radikalität in Gefühl und Verhalten auch damals soziale Sprengkraft besitzen konnte, wird verschiedentlich deutlich: Das Artusreich übersteht weder seine Kollision mit dem absoluten Anspruch der Liebe von Lancelot und Ginevra noch seine Konfrontation mit dem religiösen Anspruch der Gralsqueste. Der Erfolg des heiligen Franziskus als Leitfigur unter zahlreichen anderen Heiligen und Häretikern, die sich um die Reform der Kirche bemühten, rührt, wie Helmut Feld zeigt, auch aus einem Widerspruch in dieser Figur: Die Radikalität seiner Ideen und seiner Selbstinszenierung führt Franziskus bis an den Rand der gesellschaftlichen Tragbarkeit; aber ein konservativer Impuls lässt ihn dann gerade noch innerhalb der Grenzen bleiben oder auch sich wieder hinter sie zurückziehen. Der überaus hohe emotionale Anspruch, den das neue Konzept der persönlichen geistigen und auch körperlichen Christus-Nachfolge stellt, erklärt zum Teil, wie Roswitha Wisniewski zeigt, auch die neue Rolle der Maria: eine Vorbildfigur, deren persönliche Beziehung zu Christus alle zur Nachahmung aufruft, die aber besonders den Frauen, die im Hochmittelalter in wachsender Zahl eine religiöse Lebensführung anstreben, zur Orientierung dient.

Wie bereits oben bemerkt, richtet sich der Blick im Hochmittelalter nicht nur verstärkt nach innen, sondern auch weiter nach außen. Wie schon in der Antike und wieder in der Neuzeit erschien im Mittelalter Alexander als ein Beispiel für den raschen Aufstieg zu größter Macht wie für den jähen Sturz aus höchsten Höhen. Das konnte als Exempel für das Wirken der Fortuna und ihres Schicksalsrades, aber auch als Warnung vor Hochmut aufgefasst werden. Dem Mittelalter erschien Alexander jedoch vor allem als ein Erkunder der unbekannten Ferne. Schon in der Spätantike hatte man die Erfahrungen Alexanders auf dem Zug nach Indien in fantastischen Farben ausgemalt. In dem Maße, in dem sich der Horizont durch den Zerfall des Römischen Reiches und die Ausbreitung des Islam verengte, wurde auch der Nahe Osten fremd und exotisch. Im frühen Hochmittelalter wandte sich die Aufmerksamkeit des westlichen Europa diesen Gegenden wieder verstärkt zu – der Beginn der Kreuzzüge sorgte dafür. Damit könnte zusammenhängen, dass, wie Thomas Noll vorführt, das Motiv der Greifenfahrt Alexanders um diese Zeit besonders beliebt wurde. Dieses Abenteuer hatte ja nicht nur im Fernen Osten stattgefunden, wo man das Paradies vermutete, es drohte sogar die Grenze zum Himmel zu durchbrechen. Wo dieses Motiv eindeutig ausgelegt wird, deutet es auf den frevelhaften Hochmut Alexanders. Offensichtlich faszinierte es aber über diese schlichte allegorische Auslegung hinaus und verkörperte etwas von den Ängsten, die das Überschreiten der Grenzen zum Unbekannten hin auslöste. Das muss nicht nur auf geografische Grenzen hin verstanden werden. Denn in diese Zeit fallen auch die ersten Zeichen einer Neubelebung der Wissenschaften, auch des Quadriviums, also der mathematischen Wissenschaften und mit ihnen der Naturwissenschaft, fällt eine wachsende Bereitschaft, auch geistig Neuland zu betreten. Natürlich verkörpert die Greifenfahrt auch, wie der Ikarus-Mythos, den Traum des Menschen vom Fliegen, aber auf eine eigentümlich pragmatische Weise: Alexander fliegt nicht selbst, sondern konstruiert einen von Ungeheuern getriebenen Flugapparat.

Der geöffnete Blick nach außen führt oft gleichzeitig zur Abgrenzung, besonders dem Islam gegenüber, trotz Perioden regen kulturellen Austausches in Spanien, Unteritalien und auch Palästina. Die Kreuzzugsthematik bestimmt natürlich vor allem das Bild Gottfrieds von Bouillon, des Helden des Ersten Kreuzzugs, dessen Wirkungsgeschichte Friedrich Wolfzettel nachzeichnet. Aber sie spielt auch in der Geschichte des Jakobskultes eine wesentliche Rolle, insofern der heilige Jakobus als Vorkämpfer gegen die Sarazenen Spaniens in Anspruch genommen wurde und dabei besonders innerspanisch zu einer einigenden Figur wurde. Diese Tradition strahlte ferner in die Karlsrezeption aus, in der Karl einerseits als Führer des christlichen Europa, andererseits als Herrscher Frankreichs erscheint, und das Gegenbild der Sarazenen zur schärferen Profilierung dieser doppelten Führerrolle dient. Die Auseinandersetzung mit anderen Religionen, die das Alte Testament, aber nicht das Neue anerkannten, hat auch im Marienkult ihre Spuren hinterlassen: Die theologische Diskussion um die Geburt Christi, als ein entscheidender doktrinärer Unterschied zu Islam und Judentum, verfestigt sich zu einem Schatz an geläufigen Metaphern und allegorischen Auslegungen aus dem Alten Testament, die in der religiösen Dichtung streckenweise aneinandergereiht werden. Ebenso führt die stärkere Mobilität, die mit der Häufung von Pilgerreisen verbunden ist, mitunter, wie Klaus Herbers bemerkt, auch zur Stärkung von Vorurteilen zwischen den Völkern Europas, obwohl sich das Symbol Jakobs, die Jakobsmuschel, bis zum späteren Mittelalter in ganz Europa verbreitet.

Abschließend möchte ich betonen, dass jede der hier behandelten Figuren – auch wenn die Darstellung in diesem Rahmen gelegentlich auf Zeugnisse nur eines Sprachraums beschränkt werden musste – sich über die Sprachgrenzen hinaus in einem europäischen Diskurs bewegt. Dieser ist unterfüttert durch die gemeinsame Orientierung auf die christliche Kirche und die Erinnerung an das römische Imperium, sowie vermittelt durch die Lingua franca des Lateins. Dazu tritt im Hochmittelalter das sich schnell verbreitende Konzept des höfischen Rittertums. Freilich trennte das gemeinsame Erbe schon damals so häufig wie es vereinte – das demonstriert Johannes Fried an der Erinnerung an Karl den Großen.

Sämtliche hier versammelten Beiträge wurden im Wintersemester 2003/04 an der Katholischen Universität Eichstätt als Vorträge gehalten. Die Konzeption wie die organisatorische Durchführung des Programms lag in den Händen von Karl Graf Ballestrem, Verena Dolle, Andreas Hartmann, Inge Milfull, Michael Neumann, Almut Schneider, Michael Schwarze, Christine Strebl, Gabor Varga und Frank Zschaler.

Inge Milfull

KARL DER GROSSE

Geschichte und Mythos von Johannes Fried

Mythen Europas: Schlüsselfiguren der Vorstellungskraft“ – dieses Buch gilt vorwiegend (Sagen-)Gestalten jenseits der Geschichtlichkeit, Heiligen, deren Leben zur Legende wurde, bevor es den Geschichtsschreibern in die Hände fiel, gilt der Gottesmutter gar und dem Gekreuzigten.

Und jetzt ein „profaner“ Mensch? Karl der Große? Vielleicht auch der heilige Karl, dessen Fest jeweils am 28. Januar in Frankfurt gefeiert wird? Was verbindet den Frankenkönig mit Heiligen und mit der Himmelskönigin? Heiligkeit kann es ja nicht sein.

Gewiss, Karl der Große war groß. Da er 1165 heilig gesprochen wurde, und man daher sein Grab kannte, besitzen wir heute noch Knochen von ihm. Karls rechtes Schienbein maß 43 cm, sein Oberschenkel 53 cm. Vom Scheitel bis zur Sohle brachte es der ganze Mann auf 182 cm, vielleicht auch ein wenig mehr. Er überragte damit um Haupteslänge die meisten seiner Mitmenschen.

Karl also war groß, groß an Leib und groß an Ruhm. Schon seine Zeitgenossen feierten ihn wie kaum einen anderen König; und die Nachwelt flocht ihm bis heute ihre Kränze. Wenigen ist Gleiches widerfahren – einem Alexander, einem Caesar oder einem Augustus. Zahlreiche Herrscher – beginnend mit Karls Enkeln über Ludwig XIV. und Napoleon bis hin in den verbrecherischen Größenwahn eines Adolf Hitler – erklärten ihn zu ihrem Vorbild, begehrten, ein „neuer Karl“ zu sein oder doch in legiti matorischer Absicht wie er der Vater eines von ihnen gestalteten Reiches, gar ganz Europas. Die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945 geschah, ohne ans Mittelalter anzuknüpfen, im Zeichen Karls des Großen. Sein Name wurde zum Zeichen für Versöhnung, Friede und Eintracht, ähnlich wie es seinerzeit im wirklichen Leben war. Charles de Gaulle galt als „Karlist“. Selbst noch in die Niederungen der heutigen Spaßgesellschaft schleicht sich die Erinnerung an ihn: Den amerikanischen Rennläufer und Olympiasieger Carl Lewis nannten sie, als er noch startete, „Carl den Großen“, als ob jener Carolus Magnus nur hatte sprinten und springen können.

Die Slawen, die ursprünglich kein Königtum kannten, adaptierten seinen Namen für ihren Königstitel: So wie aus Caesar der „Kaiser“ wurde, wie Augustus zum Bestandteil des Kaiser- und Königstitels wurde, so eben Karl zu Krol. Jüdische Geschichtsschreiber des Mittelalters erkannten in diesem König den Förderer und Schirmherrn der Ihren. Zahlreiche Adelsfamilien beriefen sich auf Karl als ihren Vorfahren. Die Sage bemächtigte sich seiner. Über einhundert Beispiele sind allein aus Deutschland registriert – so viele wie von keinem zweiten Herrscher, um zunächst von den französischen Legenden und „Chansons de geste“, den französischsprachigen Karlsdichtungen des hohen Mittelalters, zu schweigen, wo er zum Stifter des Rittertums und zum gesegneten Kreuzritter avancierte.

„Von Karl dem Großen vernahmen wir manches Mährchenhafte“, so erinnerte sich Goethe, „aber das Historisch-Interessante für uns fing erst mit Rudolf von Habsburg an, der durch seine Mannheit so großen Verwirrungen ein Ende gemacht“.1 Sagen und Märchen hatten die Geschichte überwuchert. In der Tat, „gigantische Kräfte“ attestierte bereits der Marschall des Kaisers Otto IV., Gervasius vonTilbury, um 1200 seinem Karl;2 und bald kursierte auch die Geschichte vom „eisernen Karl“, welche die Brüder Grimm in ihre „Deutschen Sagen“ aufgenommen haben. Dieser „Karl war kühn, schön, gnädig, selig, demütig, stet, löblich und furchtlos“, ein wahrer Prachtkerl. Karls Wiederkehr am Ende der Zeiten wurde prophezeit; und selbst die magische Welt der Zauberer und Hexenmeister mochte auf ihn nicht verzichten. Himmelsbrief und Karlssegen gingen in Zauberbücher ein. Kaiser Karls Gebet schützte gegen Feuer und Wasser, Diebe und Räuber, Gespenster, böse Geister und gegen den Teufel selbst.

Wirklichkeit und Mythos flossen so im Karlsgedenken in eins und verschafften ihrem Heros eine posthume Wirkung, die jener zu Lebzeiten in keiner Weise nachstand. Wirklichkeit war auch sie, Wirklichkeit freilich auf einer anderen Ebene als der des verflossenen Lebens. Sie formte sich kontinuierlich aus und um und beherrschte durch Jahrhunderte die Vorstellungswelten, wirkte auf politische und soziale Ordnungsmuster, verlieh dem Handeln und den Zielsetzungen Gestalt und Richtung. Wie und warum war das möglich geworden? Was zeichnete diesen König und Kaiser und sein Nachleben aus? Was überhaupt wissen wir von ihm und seinen Taten? Nur vor dem Hintergrund seines realen Lebens wird sein heroisches Nachleben verständlich.

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Karl der Große
Skulptur von Hans Multscher, um 1427/30;
Ulm, Rathaus

Dazu gehe ich in drei Schritten vor: Erstens gebe ich einen Überblick über Karls Leistungen; zweitens sind Beobachtungen zu Gedächtnis und Erinnern am Platze, da die Mythisierung, über die ich zu handeln habe, eine Erinnerungsfigur ist; drittens folgen Aspekte eben dieser Mythisierung auf drei Ebenen: auf derjenigen des Herrschers, derjenigen des Heiligen, sowie, wenn auch knapp, jener des Heros der Dichter und Literaten. Ich vergleiche dazu jeweils die Entwicklung im Westen und Osten des einstigen Karlsreiches zunächst im früheren, dann im hohen und späteren Mittelalter. Der Untersuchungszeitraum endet mit dem 15. Jahrhundert. Doch kann vieles nur angedeutet werden.

DIE TATEN

Karls Leistungen sind in der Tat eindrucksvoll. Geboren im Jahr 748, gestorben am 28. Januar 814, bestieg er in seinem einundzwanzigsten Lebensjahr den Thron, zog er – mit zwei Ausnahmen – Jahr für Jahr in den Krieg, eroberte er das Langobardenreich im Süden und Sachsen im Norden, besiegte er die Awaren in Pannonien, gewann er – nicht ohne Tücke – Bayern, Barcelona und die spanische Mark; Karl erneuerte das römische Kaisertum des Westens, schloss Verträge mit Byzanz und korrespondierte freundschaftlich mit Harun al Rashid, dem Kalifen von Tausendundeiner Nacht. Gelegentliche Misserfolge wie auf dem Feldzug nach Spanien im Jahr 778 können nicht über seine insgesamt erfolgreiche und dauerhafte, im Wesentlichen nach Osten und Süden gerichtete Expansionspolitik hinwegtäuschen. Karl war einer der großen Gewalttäter der Weltgeschichte. Seine Nähe war gefährlich. Seine Neffen verschwanden spurlos, als er ihrer habhaft wurde, gleich Tassilo und seiner gesamten Familie, die dieser Bayernherzog allzu vertrauensselig, schamlos getäuscht oder gewaltsam gezwungen aufforderte, am Königshof in Ingelheim zu erscheinen, wo sie festgenommen und abgeführt wurden. Der eigene Sohn, Pippin der Bucklige, landete in Klosterhaft. „Den Franken habe zum Freund, aber nicht zum Nachbarn“ warnten, wie Karls Biograf Einhard wusste,3 die Byzantiner vor diesem König.

Nicht minder wirksam als seine Kriege und Eroberungen nimmt sich Karls Bemühen um innere Reformen in seinem gewaltigen Reiche aus. Nur Umrisse können hier angedeutet werden. Doch auch sie helfen, die Heroisierung dieses Herrschers und ihre geschichtliche Wirkung recht zu deuten. Betroffen war alles: die Herrschafts- wie die Hofordnung, die Gerichtsbarkeit wie die Gesetzgebung, die Geistlichkeit wie Wissenschaft und Wirtschaft. Als Förderer und Schutzherr von Papsttum und Kirche ging Karl in die Geschichtsschreibung ein. Grundherrschaften, Markt- und Münzwesen wurden reformiert. Herren- oder Gewaltboten, sogenannte Missi dominici, sahen sich paarweise – ein Bischof, ein Graf – in feste Sprengel entsandt, um die regionalen Herrschaftsträger zu kontrollieren.

Gerne schreibt man Karl den einsichtsvollen Schutz der Freien durch die Rechtssprechung und zumal durch ihre Entlastung vom Militärdienst zu. Doch trifft das nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich vollendete Karl mit seinen Maßnahmen die Reorganisation des fränkischen Heeres, das nun die Bauernkrieger entpflichtete und nur noch aus Reiterkriegern bestand, während sich die Merowinger noch weithin auf Fußtruppen verlassen hatten. Damit war die für das Abendland charakteristische soziale Differenzierung in berittenen Kriegeradel und unadeliges Bauerntum eingeleitet, die dann im 12. Jahrhundert ihren Abschluss fand: eben zu jener Zeit – eine Ironie der Geschichte –, die Karl selbst auf den Gipfel des Mythos trug und ihn zum Erfinder des Rittertums erklärte. Gleichwohl, ein Hauch von Rechtssicherheit breitete sich aus, was dann nach Karls Tod ungerechte, Macht missbrauchende Richter umso unerträglicher machte. Wehmütig gedachte ein Paschasius Radbertus, einstiger Abt von Corbie, noch um 850 der gerechten Rechtsprechung seines Helden Wala, eines Vetters Karls des Großen, der in dessen Auftrag für den minderjährigen Kaiserenkel Bernhard Italien regiert und später im Dienst des Kaisers Lothar I. dort nach dem Rechten zu sehen hatte. Und der St. Galler Mönch Notker Balbulus häufte in seinen „Gesta Karoli Magni“ von 885 Exempel auf Exempel für Karls Gerechtigkeitsliebe. Der Heros bot das Gegenbild zur Wirklichkeit.

Es gab keinen Bereich des Lebens, der Herrschaft, der religiösen und geistigen Kultur, in dem Karl der Große nicht machtvoll und maßgebend eingegriffen, den er nicht reformiert und neu geordnet hätte. Die Hofbibliothek füllte sich mit Kostbarkeiten und seltenen Manuskripten. Architektur und Malerei blühten sichtbar auf. Eindrucksvolle Pfalzanlagen wie in Ingelheim, Nimwegen und zumal in Aachen, ehrgeizige Kirchenbauten kündeten davon. Der Schmuck der Wände durch Fresken und Mosaiken muss bedeutend gewesen sein, auch wenn nahezu alles untergegangen ist; doch selbst die spärlichen Reste lassen die einstige Farbenpracht ahnen. Die Aachener Marienkirche war, als Pfalzkapelle errichtet, der am höchsten aufragende Bau seit der Römerzeit im Abendland, ein Wunderwerk der Architektur; sie blieb stets eine weithin leuchtende Gedenkstätte ihres Stifters.

Die Mission im Innern wie nach außen schritt voran. Mindestkenntnisse der Gläubigen und Mindestanforderungen an sie sollten durchgesetzt werden: die Kenntnis der Abschwörformeln, des Glaubensbekenntnisses, des althochdeutschen „Vaterunsers“, der regelmäßige Kirchgang, Beichte und Kommunion. Die Rombindung der fränkischen Kirche wurde unzerstörbar gefestigt, die Kirchenordnung in einer noch heute gültigen Weise reformiert, das Kirchenrecht erneuert und weiterentwickelt, der Kampf gegen Irrglauben wie Adoptianismus und Bilderkult, mit denen sich zahlreiche Traktate auseinandersetzten, selbstbewusst vorangetrieben. Liturgie, Mönchtum und Theologie verdankten Karl dem Großen wesentliche Impulse, von den Bemühungen um die Bibelrevision, nämlich um die Zusammenführung der separat kursierenden biblischen und neutestamentlichen Schriften zu einem einzigen Buch, zeugen die mehrbändigen Alkuin- und die einbändigen Theodulf-Bibeln, beide sind prachtvolle Wunderwerke der Bibelforschung und der Buchkunst.

Wissenschaft und Schule, der erneuerte Lateinunterricht legten die Grundlagen für den intellektuellen Aufstieg des Abendlandes. Zumal die Gelehrten des Westens dazu verpflichtet wurden; der Osten jenseits des Rheins war noch geistiges Kolonisationsgebiet. Sie griffen auf antike Bildungsprogramme zurück. Schriftlichkeit breitete sich, erleichtert durch eine Schriftreform, aus, die noch heute weltweit die Buchkultur prägt. Eindringliche und systematische Suche und intensive Abschreibetätigkeit nicht zuletzt für den Hof retteten die Werke der antiken Autoren und der Kirchenväter; die ersten großen Bibliotheken entstanden. Was damals und in den folgenden Jahrzehnten der Findigkeit und dem Abschreibeeifer der Zeitgenossen entging, ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – für alle Ewigkeit verloren.

Jegliches Wissen war am Königshof konzentriert. Seit den 790er-Jahren diente die Pfalz zu Aachen als feste Residenz. Von hier aus lenkte Karl sein Reich, hier versammelte er seine Gelehrten, hier hortete er seine Bücher – ein jedes ein Vermögen wert –, hierher berief er die vielversprechende Jugend seiner Länder. Keineswegs nur Franken, auch Langobarden, Iren und Angelsachsen, Westgoten, Bayern oder Alemannen trafen sich hier, Kleriker und Laien; sie atmeten die Luft des Königshofes und lernten, das Reich von der Nordsee bis nach Benevent, von der Biscaya bis an die Niederelbe als eine Einheit zu achten. Der Königshof war das Wissenszentrum schlechthin. Alle Förderung der Wissenschaften nahm von ihm ihren Ausgang. Eine neue, höfisch geprägte Wissenskultur entstand. Karl versammelte die Gelehrten um sich wie keiner seiner Vorgänger. Wissensaustausch und Wissensdistribution erfolgten über seinen Hof und von demselben aus für und über sein gesamtes Reich. Die Effizienz der Maßnahme war einzigartig. Sie wurde vorbildlich und maßgebend für die kommenden anderthalb Jahrtausende. Seitdem kümmern sich die Herrscher und Regierenden um Schule, Wissenschaft und Bildung, um die Wissenskultur ihres Landes – sei es zu deren Wohl, sei es zu deren Schaden.

Die Rezeption erster logischer Schriften des Aristoteles (die später sogenannte Logica vetus) begann am Königshof und unter maßgeblicher Anregung durch den Herrscher selbst: Die Lehre von den Kategorien und den Satzaussagen, die Differenz zwischen „Begriff“ und „Sache“, nomen und res, und dergleichen mehr wurde, so unwahrscheinlich es klingt, karlisches Herrschaftswissen. Dazu traten die logisch und kategorial geordneten Fragemuster der Rhetorik, die Anfänge der Verwissenschaftlichung des Abendlandes. Welch herrliche Zeiten, in denen die Spitzen der Gelehrsamkeit den Herrscher berieten, und er auf sie hörte, nicht irgend dubiose, Gold verschlingende ‚Berater‘ und inkompetente Referenten. An diesen König klammerten sich Hoffnungen, die zeitlos gültig blieben und seine Gestalt in den Augen der Nachwelt zu einzigartiger Größe aufragen ließen.

Nicht dass die philosophischen Leistungen der Karolingerzeit – wiederum von Ausnahmen abgesehen – in besonderer Weise herausragten; aber dass sie nun angestrebt wurden, und die Intensität, mit der es geschah, dass sie eben jetzt zum Programm aller Schulen des Frankenreiches erhoben und fortan über drei Jahrhunderte lang die allgemeine intellektuelle Grundausstattung höherer Bildung und der dann aufbrechenden Wissenschaft wurden, verschaffte Karls Regierung eine herausragende Bedeutung für die geistige Einheit des Abendlandes. Von ihr zehrten alle Späteren – einschließlich uns Heutigen. Selbstverständlich profitierte auch die Geschichtsschreibung von diesem intellektuellen Aufbruch und mit ihr unser Wissen um diesen König und Kaiser sowie um die aufquellende Mythisierung, die das Gedenken an ihn erfasste.

Auch die Dichter am Hof besangen den König. Alkuin, Theodulf von Orleans, der Quasi-Schwiegersohn Angilbert, der anonyme Epiker des Versgedichtes von „Papst Leo und König Karl“ und viele andere dichteten um die Wette, um sein Lob zu singen. Der Hof sonnte sich in der Gegenwart der Musen. Man imitierte antikes Herrscherlob und Panegyrik. Maximus armis, ensipotens und armipotens, bellipotens (Größter an Waffen, schwertgewaltig, waffengewaltig, kriegsgewaltig) – Karl liebte, eingepasst in die kunstvollen Rhythmen, die kriegerischen Bilder, er, der „große König“, Karolus magnus rex. Gerne hörte er den David-Vergleich, den vielleicht Alkuin erfand: „süßer“, „süßester David“, dulcis David, David dulcissimus.

Doch dann, mit Karls Tod, klangen die Töne verhaltener. Die Lieder spiegelten eine neue Wirklichkeit. Sogar Kritik wurde laut. Einhard schrieb mit seiner Vita Karoli, einem Prosawerk, gerade auch dagegen an. Sein Tatenbericht signalisierte eine Peripetie. Karl besaß keinen angemessenen Nachfolger. Der Sohn, der ihn beerbte, Ludwig der Fromme, war zum Provinzkönig erzogen worden, nicht zum Gesamtherrscher; Karl misstraute ihm eher, als dass er ihn schätzte. Übergehen freilich, gar ausschalten konnte er ihn nicht. Er suchte durch eine Nachfolgeordnung, an der Einhard übrigens maßgeblich beteiligt gewesen sein dürfte, das vorausgeahnte Unheil aufzuhalten. Als alles Bemühen sich als Illusion erwies, lange nach Karls Tod, erinnerten die Dichter, die Legenden- und Geschichtsschreiber an scheinbar glücklichere Zeiten.

Einer der Ersten, die es taten, war eben dieser Einhard. Er zeichnete nach dem Muster von Suetons Augustus-Biografie ein ideales Bild seines Helden. Es geschah, als die ersten Anzeichen von Erschütterung und Auflösung des großen Karlsreiches sich bemerkbar machten und Kleinmut und Unbeständigkeit am Hof ihren Einzug hielten. Bald sollte sich Einhard, enttäuscht und desillusioniert, vom Hofleben abwenden. Der Literat, der zugleich ein Politiker war, rühmte nun Großmut und Standhaftigkeit des toten Königs und Kaisers, magnanimitas und constantia, – eben weil die Gegenwärtigen dieser Tugenden ermangelten. Karl wurde ihnen als Spiegel vorgehalten. Doch was vermochten schon Worte im Machtkalkül der Großen? Einhard teilte das Los eines jeden Intellektuellen: Er kam zu spät. Ludwigs Erziehung in der Provinz und durch dieselbe holte den Gesamtherrscher ein. Was der Vater in 45 Jahren gebaut, riss der Sohn in 25 Jahren oder noch schneller nieder. Einzig dem Mönchtum hinterließ er, beraten von Benedikt von Aniane, dem eigentlichen Vater benediktinischen Mönchtums, Bleibendes. Es zeitigte Folgen auch für das Karlsbild.

Einhards Vita Karoli war ein glänzendes Werk, viel gerühmt, weit verbreitet, wieder und wieder gelesen und in den historiografischen Grundbestand des Frankenreiches und seiner Nachfolger eingeflochten. Im Mönchtum aber regten sich düsterere Stimmen, die nicht oder nicht vorbehaltlos in den reinen Lobgesang einstimmen mochten. Erschrecken und aufrütteln sollten sie stattdessen. Eine dieser Stimmen war die Visio Wettini, die Jenseitsschau eines Reichenauer Mönchs namens Wetti auf dem Totenbett, eine im Ursprung vielleicht echte „near-death-experience“. Sie ist als Prosa-Aufzeichnung überliefert und wurde von Walahfrid Strabo, dem berühmtesten Dichter der Reichenau, zudem in Verse gesetzt; zahlreiche Handschriften verbreiteten sie und hielten das Wissen um Karl den Sünder lebendig.4

Der Sterbende pries und lobte den fränkischen Kaiser ob seiner Sorge für die Kirche und verdammte ihn zugleich ob seiner Sünden. Er schaute ihn, den Vater des regierenden Ludwig des Frommen, als abschreckendes Beispiel an den Läuterungsberg verbannt und heimgesucht von schlimmster Pein. Die Mönche der Reichenau und im Reich und nicht zuletzt die Herren am Hof sollten nachdrücklich gewarnt sein, sich – wie der gelehrte Walahfrid erläuterte – der Freiheit zum Bösen hinzugeben: der einzigen Freiheit, die der hl. Augustinus gelten ließ. Die Dringlichkeit eines neuartigen monastischen Gebetsgedenkens, das den Leidenden im Jenseits Linderung verschaffen könnte, sollte im Inselkloster und allenthalben in den Klöstern des Frankenreichs erkannt werden. Wettis Schau trug das Ihre dazu bei; alsbald wurde das Gedenken tatsächlich praktiziert. Die Botschaft des Visionärs hatte ihre Empfänger in Adel und Mönchtum erreicht.

Nichts aber hielt die Kämpfe um Thron und Reich auf, keine Mahnung, keine Warnung, kein Gebet und kein Gedenken. Die Franken lieferten sich bald die mörderischsten Schlachten. Das Reich des großen Karl zerfiel; Deutschland und Frankreich gingen aus ihm hervor, auch ein stets gefährdetes Königreich Italien. Es blieben nur Erinnerungen; doch diese trieben so auseinander wie die Reiche, die aus den Trümmern des Karlsreiches erstanden. Karl ragte, wir werden es sehen, als ein gemeinsames und zugleich trennendes Erinnerungsmal in dieses Geschehen hinein.

Indes, Einhards „großer König“ hatte das Höchste, den Gipfel des Ruhms noch nicht bestiegen; noch war er nicht „Karl der Große“. Diese letzte Stufe historischer Heroisierung, die zuvor nur Alexander und Konstantin erklommen hatten, betrat Karl erst, soweit zu erkennen, um 885 mit den Gesta Karoli Magni des Mönches Notker.5 Sie überlieferten – an Anfang und Ende verstümmelt und nur wenigen bekannt – eine Sammlung von Karlsanekdoten. Dieselben weckten, Einhards Biografie nicht unähnlich, nostalgische Gefühle, waren legendenhaft verbrämt und geradezu fantastisch ausgestaltet. Karls Urenkel Karl III. soll sich, als er das Kloster St. Gallen besuchte, an ihnen ergötzt und um ihre Niederschrift gebeten haben. Sie gemahnten ihn fortgesetzt an ein und dasselbe: an den Helden Karl, den „unbesieglichsten Kaiser“, invictissimus imperator, an das Ideal von Herrscher, Tatkraft, Macht und Durchsetzungskraft, von Gerechtigkeit auch und Gottgefälligkeit und an Größe – durchweg Eigenschaften, die dem Dritten, dem tobsüchtigen und kranken Karl abgingen. Jede einzelne dieser Episoden verkündete ihrem Auftraggeber die nämliche Botschaft – sich im Gedenken an den großen Ahn seiner eigenen Bestimmung eingedenk zu werden: ‚Karl, werde ein Karl!‘ Was freilich dem einflussreichen Höfling Einhard im Zentrum der Macht versagt geblieben war, fiel auch dem braven Mönch im fernen Kloster St. Gallen nicht zu. Die Erinnerungen mochten ihren Leser ergötzen, aber sie hielten den Untergang von Karls Reich nicht auf. Heroen aber steigen aus solchem Untergang auf: als Tröster, Hoffnungsspender und Zukunftsdeuter.

In der Tat, das Gedenken an einen Heros blieb, unter dem das Reich an äußerer Macht gewachsen war, im Innern friedlich gelebt und Großes geleistet, auch an Glanz nicht seinesgleichen gekannt hatte. Ein Karl nostalgischer und gegenwartskritischer Vorstellungen hielt seinen Einzug ins kulturelle Gedächtnis des Abendlandes, bot das Bild einer Vergangenheit, in der sich eine bessere Zukunft brach. Keine seiner Taten ließ er zurück, weder die ‚guten‘ noch die ‚bösen‘. Als Übeltäter und Sünder, als Feind des Feudaladels, als Held und Heiliger zog er ein. So herausragend Karls Regierung gewesen war, so umfassend setzte nach seinem Tod die Mythisierung ein. Allein Aufstände und Vernichtungsaktionen wie gegen Tassilo von Bayern filterte das alles modulierende und verzerrende Gedächtnis aus, einstweilen jedenfalls, denn die Epik einer späteren Epoche wusste in anderen Umrissen und mit anderen Farben so gut wie das Sündenmotiv auch die Rebellenthematik zu erneuern.

DAS GEDÄCHTNIS

Taten sind Wirklichkeit, schaffen Wirklichkeit und wirken in der Wirklichkeit fort. Wirklichkeit aber fassen wir nur durch Erinnerung. Jede Wahrnehmung speist sich aus den vorwiegend unbewussten Zuordnungen von Sinneseindrücken zu dem bereits vorhandenen Wissen durch das Gedächtnis. Auch die Vorstellungswelten, von denen dieses Buch handelt, sind Wirklichkeit und wirken in Wirklichkeit weiter. Wer sich ihnen zuwendet, hat es ebenfalls mit dem Gedächtnis zu tun. Mythos und Legende sind Formen des kulturellen Gedächtnisses. Einige knappe Bemerkungen zu Erinnerung und Gedächtnis erscheinen deshalb an dieser Stelle unabdingbar. Die Geschichtswissenschaft nimmt sich ja gewöhnlich bloß des Wortlauts ihrer Quellentexte an, den sie geradezu für sakrosankt hält, und übersieht die gestaltenden Kräfte der Erinnerung, die ihn geschaffen haben und nicht aufhören, auf ihn einzuwirken. Sie lassen keinen Sachverhalt unberührt. Gleichwohl sind auch verformte Erinnerungen Wirklichkeit, die neue Wirklichkeiten erzeugt. Erinnerung zielt überhaupt auf Wirklichkeit. Unsere gesamte leibliche und geistige Existenz verdankt sich dem Gedächtnis. Wir sind unser Gedächtnis.

Wirklichkeit also fassen wir nur durch Erinnerung. Wir vermögen es, weil eingehende Sinnessignale in der Sprache des Gehirns aus elektrischen Impulsen und chemischen Prozessen semantisch besetzt und eingespeichert werden, und weil dieses Wissen, soweit es dem deklaratorischen Gedächtnis anvertraut ist, etwa durch die gesprochene Sprache symbolisch Wirklichkeit zu repräsentieren vermag. Aus diesem Grund können wir einem Fremden, der den Weg zu unserer Wohnung nicht kennt, denselben so beschreiben, dass er tatsächlich hinfindet. Auf diesen Effekt setzt auch der Historiker, der die Sprachen seiner Quellen beherrscht und die symbolische Repräsentation zu entziffern vermag.

Doch, wie gesagt, wir erfassen Wirklichkeit nicht unmittelbar. Sie wird uns stets nur durch Erinnerung, und das heißt gebrochen und ausschnitthaft vermittelt. Daran tragen die körperlichen Bedingungen unseres ‚Weltbildapparates‘ Schuld, mit dem wir ausgestattet sind und auskommen müssen. Alle eingehenden Sinnessignale müssen vom Hirn über das ihm verfügbare – nämlich schon eingespeicherte – Wissen bearbeitet, ausgewählt und gedeutet werden, bevor sie zu Bewusstsein gelangen können. Derartige Bearbeitung und Deutung geht jedem Bewusstwerden voraus. Das hat Konsequenzen für jede Wahrnehmung, die ein nur teilbewusster, höchst selektiv operierender Konstruktionsprozess ist – und somit für alle Vergangenheitskonstrukte. Denn Deutung und anschließende Konstruktion, das gesamte Erinnern geschehen, was die Historiker, an den Wortlaut ihrer Quellen gebunden, nicht gerne zur Kenntnis nehmen, niemals identisch; sie sind stets kontextuell und situativ moduliert und befinden sich ununterbrochen im Fluss, manche langsamer – wie in der Regel die Leistungen des semantischen Gedächtnisses, manche schneller – wie gewöhnlich die des episodischen Gedächtnisses. Keine Erinnerung gleicht einer anderen; keine bleibt unverändert stehen. Das gilt für das individuelle wie für das kollektive oder das kulturelle Gedächtnis, sei dieses mündlich tradiert oder schriftlich fixiert. Und selbst der forschende Historiker bleibt von gleichartigem Fließen nicht verschont; auch seine Erinnerungen formen sich kontinuierlich um.

Das Gedächtnis verfügt über zahlreiche Konstruktions-, Techniken‘ – Teleskopie etwa, Überschreibung, Inversion und andere mehr – und gestattet, von traumatischen Erfahrungen abgesehen, keine Identität der Erinnerungen selbst an dasselbe Geschehen; in der Regel rafft es zusammen, was ursprünglich nicht zusammengehörte, und produziert irreale, aber bedeutungsträchtige Mixturen von Scheinwirklichkeiten. Kein Moment kehrt wieder, auch im Gedächtnis gibt es keine Rückkunft. Erinnerte Wirklichkeit ändert sich somit unablässig; nichts kann sie vor diesem Fließen bewahren.

Unverändert bleibt allein die vergangene