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Titelseite

 

Dieses Buch ist meinen Eltern
John und Barbara gewidmet.
Dad – dir danke ich für deine abwegig
konsequente Unterstützung und deinen
unbeirrbaren Glauben an mich.
Barbs – dein Name steht hier
wegen deines Gesichtsausdrucks, als ich
dir die gute Nachricht überbrachte.
Euch verdanke ich ausnahmslos alles
und ich denke,
es könnte sehr gut sein,
dass ich so etwas wie,
na ja, Zuneigung für euch empfinde …

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STEPHANIE

Gordon Edgleys plötzlicher Tod war ein Schock für alle – nicht zuletzt für ihn selbst. Gerade saß er noch in seinem Arbeitszimmer beim siebten Wort des 25. Satzes vom letzten Kapitel seines neuen Buches Und Dunkelheit brach über sie herein und im nächsten Augenblick war er tot. Ein tragischer Verlust – dieser Gedanke schoss ihm noch durch den Kopf, als er bereits abtauchte.

Zur Beerdigung kamen Familienangehörige und Bekannte, aber kaum Freunde. Gordon war nicht sonderlich beliebt gewesen in der Verlagswelt, denn obwohl die Bücher, die er schrieb – sie handelten von Horror, Zauberei und unerklärlichen Vorkommnissen –, regelmäßig auf den Bestsellerlisten landeten, hatte er die beunruhigende Angewohnheit, Leute zu beleidigen, ohne es zu wollen, und dann über ihre geschockte Reaktion zu lachen. Und es war auf Gordons Beerdigung, als Stephanie den Gentleman in dem braunen Überzieher zum ersten Mal sah.

Er stand abseits von den anderen Trauergästen unter einem großen Baum, und obwohl es warm war an diesem Nachmittag, hatte er den Mantel bis oben hin zugeknöpft und einen Schal um die untere Hälfte seines Gesichts gewickelt. Selbst aus der Entfernung – Stephanie stand auf der anderen Seite des Grabes – konnte sie die gigantische Sonnenbrille erkennen und die wilde Lockenmähne, die unter seinem breitrandigen Hut hervorquoll. Sein Äußeres machte sie neugierig und sie schaute immer wieder zu ihm hin. Als spürte er, dass er beobachtet wurde, drehte er sich um und ging durch die Grabsteinreihen davon.

Nach der Trauerfeier fuhr Stephanie mit ihren Eltern zum Haus ihres toten Onkels. Der Weg führte über eine Bogenbrücke und dann eine schmale Straße hinunter, die sich durch einen dichten Wald schlängelte. Das mächtige, prunkvoll verzierte Tor zu dem Grundstück stand einladend offen. Das Anwesen war riesig und das Haus darauf geradezu lächerlich groß.

Im Wohnzimmer gab es eine besondere Tür, eine, die als Bücherregal getarnt war, und als kleines Mädchen hatte Stephanie sich immer vorgestellt, dass niemand von dieser Tür wusste, nicht einmal ihr Onkel. Es war eine Geheimtür, wie sie in den Geschichten vorkam, die sie gelesen hatte, und sie dachte sich selbst die größten Abenteuer aus. Die Geheimtür ermöglichte ihr die Flucht vor Geistern und Piraten und die Bösewichte waren jedes Mal total fertig, wenn Stephanie so plötzlich auf unerklärliche Weise verschwand. Doch jetzt stand diese Tür, ihre Geheimtür, offen – ein stetiger Strom von Menschen wälzte sich durch und sie war traurig, dass ihr dieses kleine Geheimnis genommen worden war.

Es gab Tee, Drinks wurden ausgeschenkt und kleine Sandwiches auf Silbertabletts gereicht und Stephanie beobachtete die Trauergäste, wie sie die Räumlichkeiten beim Herumschlendern genauestens unter die Lupe nahmen. Hauptthema der gedämpften Unterhaltung war das Testament. Gordon war nicht der Typ gewesen, der abgöttisch geliebt oder jemandem starke Zuneigung bezeugt hatte und so konnte niemand voraussagen, wer das nicht unbeträchtliche Vermögen erben würde. Stephanie sah, wie dem anderen Bruder ihres Vaters, einem unangenehmen Menschen namens Fergus, die Gier in die wässrigen Augen schwappte, während er traurig nickte, mit ernster Miene Beileidsbekundungen entgegennahm und Teile des Silberbestecks einsackte, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Fergus’ Frau Beryl war eine zutiefst unsympathische Person mit kantigen Gesichtszügen. Sie schob sich in nicht gerade überzeugend gespieltem Schmerz durch die Menge, saugte jeden Klatsch auf und stocherte nach Skandalen, die sie selbst weitertratschen konnte. Ihre Töchter bemühten sich nach Kräften, Stephanie zu übersehen. Carol und Crystal waren Zwillinge, fünfzehn Jahre alt und genauso mürrisch und nachtragend wie ihre Eltern. Sie waren wasserstoffblond, stämmig und trugen Kleider, die ihre Rundungen an genau den falschen Stellen betonten. Stephanie dagegen war dunkelhaarig, groß und schlank. Wenn die braunen Augen nicht gewesen wären, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die Zwillinge mit ihr verwandt sein könnten. Ihr war das recht, denn die Augen waren wirklich das Einzige, was ihr an ihnen gefiel. Sie ignorierte die geringschätzigen Blicke und das abfällige Getuschel ihrer Cousinen und machte sich zu einem Rundgang durchs Haus auf.

Die Flure im Haus ihres Onkels waren lang und mit Bildern geschmückt, die Parkettböden auf Hochglanz gebohnert, und das ganze Haus roch irgendwie alt. Nicht unbedingt modrig, eher … erfahren. Diese Wände und die Böden hatten schon allerhand erlebt und Stephanie war lediglich ein gehauchtes Flüstern für sie. Eben noch hier, im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden.

Gordon war ein guter Onkel gewesen. Arrogant und verantwortungslos, klar, aber er konnte auch albern und ungeheuer witzig sein, und er hatte dieses Leuchten in den Augen, ein schalkhaftes Glitzern. Wenn alle anderen dachten, er meinte es ernst, sah Stephanie das Zwinkern und Nicken und das versteckte Lächeln, das er ihr zuwarf, wenn niemand guckte. Obwohl sie erst zwölf war, hatte sie das Gefühl, ihn besser zu verstehen als die meisten Erwachsenen. Ihr gefielen seine intelligente Art und sein Witz und dass er sich nicht darum scherte, was die Leute von ihm hielten. Doch, er war ihr ein guter Onkel gewesen. Sie hatte eine Menge von ihm gelernt.

Stephanie wusste, dass ihre Mutter und Gordon kurze Zeit miteinander gegangen waren – er hatte ihr „den Hof gemacht“, wie ihre Mutter es ausdrückte –, doch als er sie seinem jüngeren Bruder vorgestellt hatte, war es bei den beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen. Gordon hatte sich danach immer gern beklagt, dass er von ihr nie mehr als einen flüchtigen Kuss auf die Wange bekommen hätte. Trotzdem hatte er großzügig das Feld geräumt und sich ganz zufrieden damit abgefunden, auch weiterhin zahlreiche heiße Affären mit zahlreichen schönen Frauen zu haben. Er hatte oft gesagt, dass es zwar ein recht fairer Tausch gewesen sei, er aber vermutlich doch den Kürzeren gezogen habe.

Stephanie ging die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu Gordons Arbeitszimmer und trat ein. An den Wänden teilten sich die eingerahmten Schutzumschläge seiner Bestseller den Platz mit allen möglichen Auszeichnungen. Eine Wand bestand nur aus vollgestopften Bücherregalen. Es gab Biografien und historische Romane und wissenschaftliche Abhandlungen und psychologische Schinken und dazwischen zerfledderte Taschenbücher. Auf einem der unteren Regalbretter lagen Zeitschriften, Buchbesprechungen und Magazine. Stephanie ging an dem Regal mit den Erstausgaben von Gordons Romanen vorbei zu seinem Schreibtisch.

Sie betrachtete den Stuhl, auf dem er gestorben war, und versuchte, ihn sich dort zusammengesunken vorzustellen.

Und dann war da plötzlich eine Stimme, so weich, dass sie aus Samt hätte sein können.

„Wenigstens starb er mitten in seiner geliebten Arbeit.“

Überrascht drehte sie sich um und sah den Mann mit dem braunen Mantel und dem Hut, der ihr bei der Beerdigung aufgefallen war, im Türrahmen stehen. Er hatte den Schal noch um, die Sonnenbrille noch auf und die wilden Locken schauten noch genauso unter dem Hut hervor. Außerdem trug er Handschuhe.

„Ja“, sagte sie, weil ihr nichts anderes einfiel, „wenigstens das.“

„Du bist eine seiner Nichten, stimmt’s?“, fragte der Mann. „Da du nichts klaust und nichts kaputt machst, nehme ich an, du bist Stephanie.“

Sie nickte und ergriff die Gelegenheit, ihn sich genauer anzuschauen. Zwischen Schal und Sonnenbrille war nicht das kleinste Stückchen Gesicht zu sehen.

„Waren Sie ein Freund von ihm?“, erkundigte sie sich. Der Mann, der da vor ihr stand, war groß, groß und schlank, auch wenn es schwierig war, seine Figur unter dem Mantel genau auszumachen.

„Das war ich“, erwiderte er und nickte. Durch diese kleine Bewegung fiel ihr auf, dass der Rest seines Körpers unnatürlich steif wirkte. „Ich kannte ihn viele Jahre. Wir lernten uns in einer Bar in New York kennen, als ich drüben war, damals, nachdem er gerade seinen ersten Roman veröffentlicht hatte.“

Stephanie konnte hinter der Sonnenbrille nichts erkennen. „Sind Sie auch Schriftsteller?“

„Ich? Nein, ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte. Aber ich konnte meine schriftstellerischen Fantasien durch Gordon ausleben.“

„Sie hatten schriftstellerische Fantasien?“

„Hat die nicht jeder?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.“

„Oh. Dann würde man mich deshalb für einen merkwürdigen Kauz halten, ja?“

„Na ja“, meinte Stephanie, „es wäre eine Merkwürdigkeit mehr.“

„Gordon hat oft von dir gesprochen und mit seiner kleinen Nichte regelrecht angegeben. Er hatte Charakter, dein Onkel. Du auch, wie mir scheint.“

„Sie sagen das so, als würden Sie mich kennen.“

„Willensstark, intelligent, scharfzüngig, hat keine Geduld mit Dummköpfen … erinnert dich das an jemanden?“

„Ja. An meinen Onkel.“

„Interessant“, sagte der Mann. „Denn ganz genau so hat er dich immer beschrieben.“

Er griff mit seinen behandschuhten Fingern in seine Manteltasche und zog eine prächtige Taschenuhr an einer feinen Goldkette heraus.

„Ah“, sagte er, „ich muss los. Schön, dich kennengelernt zu haben, Stephanie. Viel Glück bei was immer du aus deinem Leben machst.“

„Danke“, erwiderte Stephanie verlegen, „Ihnen auch.“

Sie hatte den Eindruck, als lächle der Mann, obwohl sie keinen Mund erkennen konnte. Dann drehte er sich um und ging. Sie konnte den Blick nicht von der Stelle wenden, an der er gestanden hatte. Wer war er? Er hatte ihr nicht einmal seinen Namen genannt.

Mit ein paar raschen Schritten war sie an der Tür und trat auf den Flur, doch er war weg. Wie hatte er nur so schnell verschwinden können? Sie lief die Treppe hinunter in die große Eingangshalle, doch dort war er auch nicht. Als sie die Haustür öffnete, sah sie gerade noch einen alten schwarzen Wagen durch das Tor auf die Straße einbiegen. Sie schaute ihm nach, blieb noch einige Augenblicke stehen und ging dann wieder zu ihrer Verwandtschaft ins Wohnzimmer, wo sie Fergus dabei ertappte, wie er einen silbernen Aschenbecher in seiner Brusttasche verschwinden ließ.

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DAS TESTAMENT

Das Leben im Haus der Edgleys verlief meist ziemlich ereignislos. Stephanies Mutter arbeitete in einer Bank, ihr Vater besaß eine Baufirma. Stephanie hatte keine Geschwister und so herrschte im täglichen Miteinander ein freundlicher Umgangston. Und dennoch war da immer diese Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr sagte, dass das Leben ihr eigentlich mehr bieten müsste als das kleine Küstenstädtchen Haggard. Doch Stephanie kam nicht darauf, was dieses Mehr sein könnte.

Ihr erstes Jahr in der weiterführenden Schule war gerade zu Ende gegangen und sie war froh, endlich Ferien zu haben. Sie ging nicht gern zur Schule. Es war nicht einfach für sie, mit ihren Klassenkameraden klarzukommen – nicht, weil die nicht nett gewesen wären, sie hatte einfach nichts mit ihnen gemein. Und Lehrer mochte sie auch nicht. Sie mochte die Art und Weise nicht, wie sie Respekt einforderten, den sie nicht verdient hatten. Stephanie hatte kein Problem damit, zu tun, was man von ihr verlangte, solange man ihr einen guten Grund dafür nannte.

In den ersten Ferientagen hatte sie ihrem Vater in der Firma geholfen, hatte Anrufe entgegengenommen und Schreibkram abgeheftet. Gladys, seine Sekretärin, hatte nach sieben Jahren beschlossen, dass sie genug hatte vom Baugewerbe und ihr Glück als Performance-Künstlerin versuchen wollte. Stephanie war es immer irgendwie peinlich, wenn sie auf der Straße an ihr vorbeiging, an dieser 43 Jahre alten Frau, die eine moderne Tanzversion von Goethes Faust darbot. Gladys hatte sich auch ein Kostüm für ihre Auftritte genäht, ein Kostüm, das, wie sie sagte, Fausts inneren Kampf symbolisierte, und anscheinend ging sie nicht mehr ohne dieses Kostüm aus dem Haus. Stephanie bemühte sich stets, ihrem Blick auszuweichen.

Wenn Stephanie nicht im Büro half, war sie entweder zum Schwimmen am Strand, oder sie hörte in ihrem Zimmer Musik.

Sie suchte gerade nach dem Ladegerät für ihr Handy, als ihre Mutter anklopfte und hereinkam. Mrs Edgley trug immer noch die dunklen Kleider, die sie zur Beerdigung angehabt hatte. Doch Stephanie hatte bereits zwei Minuten, nachdem sie nach Hause gekommen waren, das lange dunkle Haar zurückgebunden und war in die üblichen Jeans und Turnschuhe geschlüpft.

„Gerade kam ein Anruf von Gordons Rechtsanwalt“, sagte die Mutter. Sie schien etwas überrascht. „Wir sollen zur Testamentseröffnung kommen.“

„Oh. Da bin ich aber gespannt, was er dir hinterlassen hat! Was meinst du?“

„Das werden wir morgen erfahren. Du auch, denn du kommst mit.“

„Ach ja?“ Stephanie runzelte leicht die Stirn.

„Dein Name steht mit auf der Liste, mehr weiß ich auch nicht. Wir fahren um zehn hier los. Okay?“

„Eigentlich sollte ich Dad morgen helfen.“

„Er hat Gladys gefragt, ob sie ihm den Gefallen tut und für ein paar Stunden ins Büro kommt, und sie hat Ja gesagt – unter der Voraussetzung, dass sie ihr unsägliches Kostüm tragen darf.“

Am nächsten Morgen verließen sie um Viertel nach zehn das Grundstück, um zur Testamentseröffnung zu fahren, eine Viertelstunde später als geplant. Das lag an Stephanies Vater, der Pünktlichkeit mit lockerer Missachtung strafte. Er taperte durchs Haus mit einem Gesicht, als hätte er etwas vergessen und warte nur darauf, dass ihm wieder einfiel, was es war. Wenn seine Frau ihn bat, sich zu beeilen, nickte und lächelte er und sagte: „Ja, selbstverständlich“, und kurz bevor er dann tatsächlich das Haus verließ, um zu ihnen ins Auto zu steigen, drehte er noch einmal ab und schaute sich mit nachdenklichem Blick um.

„Das macht er extra“, sagte Stephanies Mutter, als sie schon eine Weile angeschnallt und bereit zum Losfahren im Auto saßen. Sie beobachteten, wie er endlich aus dem Haus kam, in sein Jackett schlüpfte, sein Hemd in die Hose stopfte, einen Schritt machte – und innehielt.

„Er sieht aus, als würde er gleich niesen“, bemerkte Stephanie.

„Falsch“, erwiderte ihre Mutter, „er überlegt nur.“ Sie steckte den Kopf aus dem Fenster. „Desmond, was ist denn jetzt noch?“

Er schaute ratlos auf. „Ich glaube, ich hab noch was vergessen.“

Stephanie beugte sich vor, betrachtete ihn kurz und sagte dann etwas zu ihrer Mutter. Die steckte wieder den Kopf aus dem Fenster. „Wo sind deine Schuhe, Schatz?“

Er blickte auf seine Socken hinunter – eine braun, die andere marineblau – und sein umwölkter Gesichtsausdruck klärte sich. Erleichtert gab er ihnen das Okay-Zeichen und verschwand erneut.

„Dieser Mann!“ Stephanies Mutter schüttelte den Kopf. „Wusstest du, dass er einmal einen Einkaufsmarkt vergessen hat?“

„Er hat was?“

„Habe ich dir das nie erzählt? Es war der erste große Auftrag, den er bekam, und seine Firma hat alles wunderbar hingekriegt. Als der Markt fertig war, wollte er ihn seinen Auftraggebern zeigen, aber er hatte vergessen, wo er ihn gebaut hatte. Er fuhr fast eine Stunde herum, bis er etwas sah, das ihm bekannt vorkam. Er mag ja ein ausgesprochen begabter Bauingenieur sein, aber er hat das Konzentrationsvermögen eines Goldfischs. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. So ganz anders als Gordon.“

„Sie waren sich nicht sehr ähnlich, oder?“

Ihre Mutter lächelte. „Das war nicht immer so. Früher haben sie alles gemeinsam unternommen. Die drei waren unzertrennlich.“

„Was, selbst Fergus?“

„Selbst Fergus. Erst als deine Großmutter starb, sind sie getrennte Wege gegangen. Gordon hat sich danach mit seltsamen Leuten eingelassen.“

„Seltsam in welcher Hinsicht?“

„Ach, vielleicht kamen sie uns auch nur seltsam vor“, erwiderte ihre Mutter mit einem leisen Lachen. „Desmond stieg ins Baugeschäft ein und ich war am College – wir waren das, was man so normal nennt. Gordon wollte nicht normal sein und seine Freunde machten uns irgendwie Angst. Wir wussten nie, was sie eigentlich taten, aber wir wussten, dass es nichts …“

„… Normales war.“

„Genau. Deinem Vater machten sie am meisten Angst.“

„Warum?“

Stephanies Vater kam aus dem Haus, mit Schuhen an den Füßen, und schloss die Tür hinter sich.

„Ich denke, er glich Gordon mehr, als er zugeben wollte“, antwortete die Mutter leise. Dann stieg der Vater ins Auto.

„Alles klar“, verkündete er stolz, „ich bin fertig.“

Ausgesprochen zufrieden mit sich nickte er, schnallte sich an und drehte den Zündschlüssel um. Der Motor sprang an. Stephanie winkte Jasper zu, einem achtjährigen Jungen mit gewaltigen Segelohren, als ihr Dad rückwärts auf die Straße fuhr, den Vorwärtsgang einlegte, losbrauste und dabei fast die Mülltonne mitnahm.

Die Fahrt zum Anwaltsbüro in der Stadt dauerte eine knappe Stunde und sie erreichten es mit zwanzig Minuten Verspätung. Sie wurden eine knarrende Treppe zu einem kleinen Büro hinaufgeführt, in dem es zu warm war, das aber ein großes Fenster mit einem wundervollen Blick auf die Backsteinmauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte. Fergus und Beryl waren bereits da und sie zeigten ihren Unmut darüber, dass man sie hatte warten lassen, durch finstere Blicke und demonstratives Auf-die-Uhr-Schauen. Stephanies Eltern setzten sich auf die freien Stühle und Stephanie stellte sich hinter sie. Der Anwalt betrachtete sie durch eine Brille mit einem gesprungenen Glas.

„Können wir jetzt anfangen?“, fauchte Beryl.

Der Anwalt, ein kleiner untersetzter Mann namens Fedgewick, der aussah wie eine schwitzende Bowlingkugel, versuchte sich an einem Lächeln. „Eine Person fehlt noch“, sagte er.

Fergus riss die Augen auf. „Wer denn?“, wollte er wissen. „Es gibt niemanden mehr, wir sind die einzigen Verwandten, die Gordon hatte. Es ist doch niemand von der Wohlfahrt, oder? Ich hab der Wohlfahrt noch nie getraut. Ständig wollen sie was von einem.“

„Es … es handelt sich nicht um einen Wohlfahrtsverband“, erwiderte Mr Fedgewick. „Der Herr sagte allerdings, dass es ein wenig später werden könnte.“

„Wie heißt der Herr denn?“, fragte Stephanies Vater, worauf der Anwalt auf den Aktenordner hinunterschaute, der aufgeschlagen vor ihm lag.

„Er hat einen ganz und gar ungewöhnlichen Namen. Wie es scheint, warten wir auf einen Mr Skulduggery Pleasant.“

„Du liebe Güte, wer ist das denn?“ Beryl wirkte verunsichert. „Dieser Name klingt wie …, er klingt wie … Fergus, wie klingt er denn?“

„Er klingt, als würde er zu jemandem gehören, der nicht ganz dicht ist“, meinte Fergus, wobei er Fedgewick einen finsteren Blick zuwarf. „Ist dieser Mr Skulduggery Pleasant etwa nicht ganz dicht?“

„Das kann ich wirklich nicht beurteilen.“ Fedgewicks klägliche Imitation eines Lächelns verging ihm unter den bösen Blicken von Fergus und Beryl vollends. „Aber ich bin sicher, dass er bald kommt.“

Fergus runzelte die Stirn und kniff seine Knopfaugen so weit es ging zusammen. „Wie können Sie so sicher sein?“

Fedgewick wurde verlegen, weil ihm offensichtlich kein Grund einfiel, den er hätte nennen können. Da ging die Tür auf, und der Mann im braunen Mantel betrat das Büro.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, entschuldigte er sich und schloss die Tür hinter sich. „Es ging nicht früher.“

Alle im Raum starrten ihn an, starrten auf den Schal und die Handschuhe und die Sonnenbrille und das wilde Kraushaar. Es war ein wunderschöner Tag, und es gab absolut keinen Grund, sich so einzumummeln. Stephanie schaute sich das Haar genauer an. Aus der Nähe betrachtet sah es nicht einmal echt aus.

Der Anwalt räusperte sich. „Ähem. Sind Sie Mr Skulduggery Pleasant?“

„Zu Ihren Diensten“, erwiderte der Mann. Stephanie hätte der Stimme den ganzen Tag zuhören können. Ihre Mutter hatte dem Fremden in ihrer Unsicherheit zugelächelt, doch ihr Vater musterte ihn so eindeutig ablehnend, wie sie das bei ihm noch nie erlebt hatte. Der Ausdruck verschwand nach einer Weile von seinem Gesicht. Er nickte höflich und wandte sich wieder Mr Fedgewick zu. Fergus und Beryl konnten den Blick nicht von dem Fremden abwenden.

„Stimmt mit Ihrem Gesicht etwas nicht?“, erkundigte sich Beryl.

Fedgewick räusperte sich erneut. „Okay, dann wollen wir mal, jetzt, wo alle da sind. Hervorragend. Sehr gut. Es geht selbstverständlich um den Letzten Willen und das Testament von Gordon Edgley, dessen jüngste Änderung fast ein Jahr zurückliegt. Gordon war die letzten zwanzig Jahre mein Klient und ich habe ihn in dieser Zeit recht gut kennengelernt. Lassen Sie mich Ihnen, der Familie und … und seinem Freund mein tief empfundenes …“

„Ist ja schon gut“, unterbrach ihn Fergus und wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Können wir diesen Teil nicht überspringen? Wir sind ohnehin schon spät dran. Sagen Sie uns einfach, wer was bekommt. Wer bekommt das Haus? Und wer die Villa in Frankreich?“

Beryl beugte sich auf ihrem Stuhl vor. „Wer bekommt das ganze Geld?“

„Die Tantiemen?“, meldete sich Fergus wieder. „Wer bekommt die Tantiemen von seinen Büchern?“

Stephanie schaute aus den Augenwinkeln zu Skulduggery Pleasant hinüber. Er stand mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Hände in den Manteltaschen, und blickte den Anwalt an. So sah es zumindest aus; hinter dieser Sonnenbrille hätte er aber auch sonst wohin schauen können. Sie wandte sich wieder Fedgewick zu, als dieser ein Blatt von seinem Schreibtisch nahm und vorzulesen begann.

„,Meinem Bruder Fergus und seiner wunderbaren Frau Beryl‘“, las er, und Stephanie musste sich ein Grinsen verkneifen, „,hinterlasse ich meinen Wagen, mein Boot und ein Geschenk.‘“

Fergus und Beryl blinzelten. „Seinen Wagen?“, hakte Fergus nach. „Sein Boot? Wie kommt er auf die Idee, mir sein Boot zu hinterlassen?“

„Du kannst Wasser nicht ausstehen“, sagte Beryl wütend. „Du wirst seekrank.“

„Ich werde tatsächlich seekrank“, fauchte Fergus, „und er wusste es!“

„Und wir haben bereits einen Wagen“, sagte Beryl.

„Und wir haben bereits einen Wagen!“, wiederholte Fergus.

Beryl war auf ihrem Stuhl so weit nach vorn gerutscht, dass sie halb auf dem Schreibtisch lag. „Das Geschenk“, sagte sie mit leiser, drohender Stimme, „ist es das Vermögen?“

Mr Fedgewick hüstelte nervös, holte ein kleines Kästchen aus seiner Schreibtischschublade und schob es ihr und Fergus zu. Sie schauten das Kästchen an. Sie schauten es noch eine Weile länger an. Dann griffen beide gleichzeitig danach und Stephanie sah, wie sie sich gegenseitig auf die Hände schlugen, bis Beryl es sich schnappte und rasch den Deckel öffnete.

„Was ist drin?“, zischte Fergus. „Der Schlüssel zu einem Tresor? Eine … eine Kontonummer? Frau, was ist es?“

Aus Beryls Gesicht war alle Farbe gewichen und ihre Hände zitterten. Sie blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten, und drehte das Kästchen dann so, dass alle es sehen konnten. Und alle sahen die Brosche in der Größe eines Glasuntersetzers, die auf dem Samtkissen lag. Fergus starrte sie an.

„Es sind nicht einmal Edelsteine drin“, stellte Beryl mit erstickter Stimme fest. Fergus riss den Mund auf wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, und wandte sich Fedgewick zu.

„Was bekommen wir noch?“, fragte er, einer Panikattacke nah.

Mr Fedgewick versuchte es noch einmal mit einem Lächeln. „Die, äh, die Zuneigung Ihres Bruders?“

Stephanie hörte ein hohes Jaulen und es dauerte eine Sekunde, bis ihr klar war, dass es von Beryl kam. Fedgewick war sichtlich bemüht, die schockierten Blicke zu ignorieren, die Fergus und seine Frau ihm zuwarfen, und wandte sich wieder dem Testament zu.

„,Meinem guten Freund und Berater Skulduggery Pleasant hinterlasse ich folgenden Rat: Dein Weg ist ganz allein deiner und ich will dich nicht davon abbringen, doch manchmal finden wir den größten Feind in uns selbst und führen die größten Schlachten gegen die Dunkelheit in uns. Ein Sturm zieht auf und manchmal bleibt uns der Schlüssel zum sicheren Hafen verborgen. Manchmal dagegen liegt er direkt vor unseren Augen.‘“

Wie alle anderen starrte auch Stephanie Mr Pleasant an. Sie hatte gewusst, dass irgendetwas an ihm anders war, hatte es vom ersten Augenblick an gewusst – er hatte etwas Exotisches an sich, etwas Geheimnisvolles, etwas Gefährliches. Er senkte jedoch nur leicht den Kopf, das war seine einzige Reaktion. Eine Erklärung bezüglich der Bedeutung von Gordons Botschaft gab er nicht ab.

Fergus tätschelte seiner Frau das Knie. „Schau, Beryl, ein Wagen, ein Boot, eine Brosche – das ist gar nicht so schlecht. Er hätte uns auch irgendeinen blöden Rat geben können.“

„Ach, halt die Klappe!“, fauchte Beryl und Fergus machte sich auf seinem Stuhl ganz klein.

Mr Fedgewick las weiter. „,Meinem Bruder Desmond, dem Glückspilz der Familie, hinterlasse ich seine Frau. Ich denke, sie gefällt dir.‘“ Stephanie sah, wie ihre Eltern sich an den Händen fassten und traurig lächelten. „,Nachdem du mir erfolgreich meine Freundin ausgespannt hast, würdest du ihr vielleicht gerne mal meine Villa in Frankreich zeigen, die ich dir ebenfalls hinterlasse.‘“

„Sie kriegen die Villa?“, kreischte Beryl und sprang auf.

„Beryl“, sagte Fergus, „bitte …“

„Weißt du überhaupt, wie viel diese Villa wert ist?“, zeterte Beryl weiter. Sie sah aus, als wollte sie gleich auf Stephanies Eltern losgehen. „Wir bekommen eine Brosche, sie eine Villa? Sie sind nur zu dritt! Wir haben Carol und Crystal! Wir sind mehr! Wir könnten den zusätzlichen Platz gut gebrauchen! Womit haben sie die Villa verdient?“ Sie schob das Kästchen mit einer heftigen Bewegung zu ihnen hinüber. „Los, wir tauschen!“

„Mrs Edgley, bitte setzen Sie sich wieder, sonst können wir nicht weitermachen“, sagte Mr Fedgewick und nach einem finsteren Glupschaugenrollen setzte Beryl sich wieder hin.

„Danke.“ Fedgewick machte den Eindruck, als hätte er genug Aufregung gehabt für einen Tag. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, rückte seine Brille zurecht und schaute wieder ins Testament. „‚Wenn es etwas in meinem Leben gibt, das ich bedaure, dann die Tatsache, dass ich keine Kinder gezeugt habe. Es gibt natürlich Augenblicke, in denen ich mich aus demselben Grund glücklich schätze, zum Beispiel wenn ich sehe, was Fergus und Beryl produziert haben, aber es gibt auch Zeiten, wo es mir das Herz bricht. Und so will ich endlich zu meiner Nichte Stephanie kommen.‘“

Stephanie riss die Augen auf. Was? Sie sollte auch etwas bekommen? Dass er ihren Eltern die Villa vermacht hatte, genügte Gordon nicht?

Fedgewick las weiter. „‚Die Welt ist größer, als du weißt, und unheimlicher, als du es dir vielleicht vorstellen kannst. Die einzige Währung, die etwas wert ist, besteht darin, sich selbst treu zu bleiben, und das einzige Ziel, nach dem es zu streben lohnt, ist herauszufinden, wer man wirklich ist.‘“

Stephanie spürte die finsteren Blicke von Fergus und Beryl und bemühte sich, sie zu ignorieren.

„‚Mach deine Eltern stolz und sorge dafür, dass sie froh sind, dich zu haben, denn ich hinterlasse dir meinen gesamten Besitz, meine Vermögenswerte und meine Tantiemen. Sie sollen mit dem Tag, an dem du achtzehn wirst, auf dich übertragen werden. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und sagen, dass ich euch auf meine Art alle liebe, selbst die, die ich nicht sonderlich leiden kann. Damit bist du gemeint, Beryl.‘“

Fedgewick nahm seine Brille ab und sah auf.

Stephanie merkte, dass alle sie anstarrten, doch sie hatte keinen Schimmer, was man von ihr erwartete. Fergus gab noch einmal seine Fisch-in-Atemnot-Nummer und Beryl zeigte mit einem langen, knochigen Finger auf sie und wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus. Ihre Eltern schauten sie in sprachlosem Erstaunen an. Nur Skulduggery Pleasant rührte sich. Er trat hinter sie und legte ihr leicht eine Hand auf den Arm.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte er und ging dann weiter zur Tür. Kaum war sie hinter ihm ins Schloss gefallen, fand Beryl ihre Stimme wieder.

„SIE?“, kreischte sie. „SIE?“

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SO KLEIN UND
GANZ ALLEIN

Am Nachmittag fuhren Stephanie und ihre Mutter die Viertelstunde von Haggard hinaus zu Gordons Landgut. Die Mutter öffnete die Haustür und trat dann einen Schritt zurück.

„Die Hausbesitzerin zuerst“, sagte sie mit einem Lächeln und einer leichten Verbeugung und Stephanie trat ein. Sie sah sich nicht als Eigentümerin des Hauses, die Vorstellung war zu gewaltig, zu bescheuert. Wie konnte sie, selbst wenn ihre Eltern rein technisch gesehen die Verwalter waren, bis sie 18 wurde, ein Haus besitzen? Wie viele Kinder in ihrem Alter besaßen Häuser?

Nein, die Vorstellung war wirklich zu bescheuert. Zu fremd. Zu verrückt. Genau das, was Gordon für völlig normal gehalten hätte.

Das Haus war groß und still und leer. Plötzlich erschien Stephanie alles ganz neu und sie merkte, dass sie anders als sonst auf die Möbel und Teppiche und Bilder reagierte. Gefiel es ihr hier? War ihr diese Farbe oder jener Stoff angenehm? Eines musste man Gordon lassen, er hatte ein gutes Auge gehabt. Stephanies Mutter stellte fest, dass sie nur sehr wenig verändern würde, wenn überhaupt. Einige der Bilder waren ihr vielleicht etwas zu unruhig, doch alles in allem war die Einrichtung von einer zurückhaltenden Eleganz und strahlte Klasse aus, wie es für ein Haus von diesem Format angemessen war.

Sie wussten noch nicht, was sie tun sollten. Sämtliche Entscheidungen in Zusammenhang mit diesem Haus waren Stephanie überlassen, doch ihre Eltern mussten auch noch über die Villa nachdenken. Insgesamt drei Häuser zu besitzen, schien etwas übertrieben. Ihr Vater hatte vorgeschlagen, die Villa zu verkaufen, doch ihre Mutter hätte sich von einem so idyllischen Ort nur sehr ungern getrennt.

Sie hatten in diesem Zusammenhang auch über Stephanies Ausbildung gesprochen und sie wusste, dass das Thema noch lange nicht vom Tisch war. Kaum hatten sie Mr Fedgewicks Büro verlassen, hatten die Eltern sie auch schon ermahnt, sich das alles nicht zu Kopf steigen zu lassen. Die jüngsten Ereignisse dürften nicht bedeuten, dass sie nicht mehr zu lernen, keine Pläne mehr fürs College zu machen bräuchte. Sie müsse auf eigenen Beinen stehen, sagten sie, müsse in der Lage sein, ihr Leben auch unabhängig von der Erbschaft zu meistern.

Stephanie ließ sie reden, nickte ab und zu und murmelte Zustimmung, wenn Zustimmung erwartet wurde. Sie machte sich nicht die Mühe, ihnen zu erklären, dass das College für sie eine Selbstverständlichkeit war, um ihren eigenen Weg in der Welt zu finden und irgendwie aus Haggard herauszukommen. Sie hatte nicht vor, ihre Zukunft in den Sand zu setzen, nur weil sie mit 18 zu Geld kommen würde.

Stephanie und ihre Mutter hielten sich so lange im Erdgeschoss auf, dass es schon fünf Uhr war, als sie endlich nach oben gehen wollten. Sie beschlossen, es für diesen Tag gut sein zu lassen, sperrten das Haus ab und gingen zum Wagen. Als sie einstiegen, platschten die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Stephanie schnallte sich an und ihre Mutter drehte den Zündschlüssel um.

Der Motor spuckte ein wenig, stöhnte kurz und gab dann keinen Mucks mehr von sich. Ihre Mutter schaute sie an.

„O-oh.“

Sie stiegen wieder aus, gingen um den Wagen herum und öffneten die Motorhaube.

„Er ist zumindest noch da“, meinte die Mutter mit Blick auf den Motorblock.

„Kennst du dich denn mit Motoren aus?“, fragte Stephanie.

„Dafür habe ich einen Mann“, erwiderte die Mutter, „damit ich mich darum nicht kümmern muss. Motoren und Regale, dafür wurde der Mann erfunden.“

Stephanie nahm sich vor, etwas über Motoren in Erfahrung zu bringen, noch bevor sie 18 war. Um die Regale machte sie sich weniger Sorgen.

Ihre Mutter wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Handy und rief den Vater an, doch der war auf einer Baustelle und konnte vor Einbruch der Dunkelheit unmöglich dort weg. Sie gingen zurück ins Haus, von wo aus die Mutter einen Mechaniker verständigte, auf den sie allerdings eine Dreiviertelstunde warten mussten.

Der Himmel war grau und düster und es regnete heftig, als der Pick-up um die Ecke bog. Die Mutter zog ihre Jacke über den Kopf und lief hinaus. Im Führerhaus des Wagens sah Stephanie einen großen Hund, der dem Mechaniker nachschaute, als dieser ausstieg, um sich ihr Auto anzusehen. Ein paar Minuten später kam ihre Mutter völlig durchnässt wieder ins Haus gerannt.

„Er kann es hier nicht reparieren“, sagte sie und wrang ihre Jacke auf der Schwelle aus, „deshalb schleppt er es in die Werkstatt. Es sollte nicht allzu lang dauern, bis er den Wagen wieder flott hat.“

„Haben wir in dem Pick-up beide Platz?“

„Du kannst auf meinem Schoß sitzen.“

„Mum!“

„Oder ich auf deinem, wie du willst.“

„Kann ich hierbleiben?“

Die Mutter sah sie an. „Allein?“

„Bitte! Du hast eben gesagt, dass es nicht lange dauert, und ich würde mich hier gern noch einmal umschauen, nur ich allein.“

„Ich weiß nicht, Steph…“

„Bitte! Ich bin nicht das erste Mal allein. Und ich mach auch nichts kaputt, ich schwör’s.“

Ihre Mutter lachte. „Also gut. In einer Stunde sollte ich wieder da sein. Ist das okay? Höchstens eineinhalb Stunden.“

Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.“

Sie lief wieder nach draußen und sprang zu dem Hund ins Führerhaus, der sofort begann, ihr das Gesicht abzulecken. Stephanie schaute ihrem am Abschleppseil hängenden Wagen nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand.

Jetzt, wo sie allein war, hatte sie doch wieder Lust, das Haus weiter auszukundschaften. Sie ging die Treppe hinauf und direkt in Gordons Arbeitszimmer.

Seamus T. Steepe, sein Verleger von Arc Light Books, hatte am Vormittag angerufen, kondoliert und gefragt, wie weit Gordons letztes Buch gediehen sei. Ihre Mutter hatte versprochen nachzusehen, ob Gordon es zu Ende gebracht hatte, und gesagt, sie würde es ihm schicken, falls dem so sei. Mr Steepe lag sehr viel daran, das Buch in die Buchhandlungen zu bekommen, da er sicher war, dass es sich auf die Bestsellerliste katapultieren und lange Zeit dort bleiben würde. „Tote Schriftsteller verkaufen sich wie verrückt“, hatte er gesagt, als sei Gordons Tod eine clevere Marketingstrategie gewesen.

Stephanie öffnete die Schreibtischschublade und fand das Manuskript in einem ordentlichen Stapel. Vorsichtig, damit nichts durcheinanderkam, zog sie es heraus und legte es auf den Schreibtisch. Auf der ersten Seite stand fett gedruckt der Titel, weiter nichts.

 

Und Dunkelheit brach über sie herein

 

Das Manuskript war dick und schwer, wie alle Werke von Gordon. Die meisten davon hatte sie gelesen, und von einigen hochtrabenden Stellen einmal abgesehen, hatten sie ihr ganz gut gefallen. Die Geschichten handelten meist von Menschen, die Erstaunliches und Wunderbares vollbringen konnten, und von den unerklärlichen und schrecklichen Ereignissen, die unvermeidlich zu ihrem spektakulären und grausamen Tod führten. Ihr war aufgefallen, dass ihr Onkel meist einen starken und edlen Helden auftreten ließ und dieser im Verlauf des Buches systematisch brutal bestraft wurde, um ihm jegliche Arroganz und Selbstüberschätzung zu nehmen, sodass er am Ende ganz bescheiden war und seine Lektion gelernt hatte. Und dann ließ Gordon ihn über die Klinge springen, meist auf die unwürdigste Art und Weise. Manchmal hatte Stephanie fast geglaubt, den Onkel verschmitzt lachen zu hören, während sie las.

Sie hob die Titelseite ab und legte sie vorsichtig mit der Schrift nach unten neben das Manuskript. Dann begann sie zu lesen. Sie hatte nicht vorgehabt, sich länger damit zu beschäftigen, doch bald verschlang sie jedes Wort; das Knarren des alten Hauses und das Rauschen des Regens drangen nicht mehr zu ihr durch.

Als ihr Handy klingelte, fuhr sie zusammen. Sie hatte zwei Stunden gelesen! Sie drückte auf den Knopf und hob das Telefon ans Ohr.

„Hallo, meine Kleine“, kam die Stimme ihrer Mutter. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Ich lese.“

„Du liest doch nicht eines von Gordons Büchern, Steph, oder? Er schreibt über grausige Monster und das ganze unheimliche Zeug und über böse Menschen, die noch bösere Dinge tun. Davon kriegst du nur Albträume!“

„Nein, Mum, ich … ich lese im Wörterbuch.“

Selbst aus der kurzen Pause am anderen Ende war die Skepsis herauszuhören. „Im Wörterbuch? Tatsächlich?“

„Ja“, erwiderte Stephanie. „Wusstest du, dass Knopper ein Wort ist?“

„Du bist noch merkwürdiger als dein Vater, weißt du das?“

„Ich hab so etwas vermutet … Ist das Auto fertig?“

„Nein, deshalb rufe ich auch an. Sie kriegen es nicht hin und die Straße zu dir raus ist überflutet. Ich nehme mir ein Taxi, so weit es geht, und versuche dann, irgendwie zu Fuß rauszukommen. Aber es wird noch mal zwei Stunden dauern. Mindestens.“

Stephanie witterte ihre Chance. Schon als kleines Mädchen war sie lieber allein gewesen als in der Gesellschaft anderer Menschen und ihr wurde bewusst, dass sie noch nie eine Nacht ohne ihre Eltern verbracht hatte. Sie waren immer in der Nähe gewesen. Das war der Geschmack der Freiheit, fast konnte sie ihn auf der Zunge spüren.

„Mach dir keinen Stress, Mum. Das brauchst du nicht. Ich komme hier gut ohne dich klar.“

„Ausgeschlossen! Ich kann dich doch in einem fremden Haus nicht allein lassen!“

„Es ist kein fremdes Haus, es ist das von Gordon, und es ist völlig in Ordnung. Es macht doch keinen Sinn, dass du bei diesem Regen versuchst, hier rauszukommen.“

„Liebes, ich brauche nicht lang.“

„Du wirst ewig brauchen. Wo ist denn die Straße überflutet?“

Wieder eine kurze Pause. „Bei der Brücke.“

„Bei der Brücke? Und du willst von der Brücke bis hierher zu Fuß gehen?“

„Wenn ich jogge …“

„Mum, das ist doch Quatsch. Sag Dad, er soll dich von der Werkstatt abholen.“

„Bist du sicher, Liebes?“

„Mir gefällt es hier. Ehrlich. Okay?“

„Na gut“, stimmte ihre Mutter widerstrebend zu. „Aber gleich morgen früh komme ich und hole dich, ja? Wie ich gesehen habe, waren in den Schränken noch Lebensmittel. Du kannst dir also etwas zu essen machen, wenn du Hunger hast.“

„Alles klar. Dann bis morgen.“

„Ruf an, wenn du etwas brauchst, und sei es auch nur jemand zum Reden.“

„Mach ich. Gute Nacht, Mum.“

„Ich hab dich lieb.“

„Ich weiß.“

Stephanie beendete die Verbindung und grinste. Sie steckte das Handy wieder in ihre Jackentasche, legte die Füße auf den Schreibtisch, lehnte sich gemütlich im Sessel zurück und las weiter.

Als sie wieder aufschaute, stellte sie überrascht fest, dass es fast Mitternacht war und der Regen aufgehört hatte. Wenn sie jetzt zu Hause wäre, läge sie längst im Bett. Ihre Augen brannten und sie musste blinzeln. Sie stand auf und ging hinunter in die Küche. Bei all seinem Reichtum und Erfolg und seinem extravaganten Geschmack war Gordon in Essensdingen ein ziemlicher Durchschnittstyp gewesen und dafür war sie nun dankbar. Das Brot war alt und das Obst schon etwas überreif, aber es gab Kekse und Müsli, und die Milch im Kühlschrank war noch bis zum nächsten Tag haltbar. Stephanie stellte sich ihre Mahlzeit zusammen und ging damit ins Wohnzimmer, wo sie den Fernseher anstellte. Sie setzte sich auf die Couch und wollte es sich gerade so richtig bequem machen, als das Telefon klingelte.

Sie schaute es an. Es stand auf dem Tisch neben ihrem Ellbogen. Wer konnte das sein? Wer wusste, dass Gordon tot war, würde nicht anrufen, und sie hatte keine Lust, es jemandem sagen zu müssen, der es noch nicht wusste. Es könnten natürlich auch ihre Eltern sein, aber warum versuchten die es nicht auf ihrem Handy?

Da es als neue Besitzerin des Hauses wohl ihre Pflicht war, an ihr eigenes Telefon zu gehen, nahm sie ab. „Hallo?“

Stille.

„Hallo?“, sagte Stephanie noch einmal.

„Wer ist da?“, fragte eine Männerstimme.

„Tut mir leid“, erwiderte Stephanie. „Wen möchten Sie denn sprechen?“

„Wer ist da?“, fragte die Stimme noch einmal und dieses Mal schwang Ärger mit.

„Falls Sie Gordon Edgley sprechen wollen, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass er …“

„Ich weiß, dass Edgley tot ist“, unterbrach der Mann sie unwirsch. „Wer bist du? Dein Name?“

Stephanie zögerte. „Warum wollen Sie das wissen?“

„Was tust du in dem Haus? Warum bist du in seinem Haus?“

„Wenn Sie morgen noch einmal anrufen wollen …“

„Das will ich nicht! Okay? Hör zu, Mädchen, wenn du die Pläne meines Meisters durcheinanderbringst, wird er sehr wütend und er ist keiner, den man wütend machen will. Hast du das verstanden? Und jetzt sag mir, wer du bist!“

Stephanie merkte, dass ihre Hände zitterten. Sie zwang sich dazu, tief durchzuatmen, und bald trat Wut an die Stelle ihrer Nervosität. „Mein Name geht Sie nichts an“, sagte sie. „Wenn Sie mit jemandem sprechen wollen, rufen Sie morgen zu einer vernünftigen Zeit noch einmal an.“

„So redet niemand mit mir!“, zischte der Mann.

„Gute Nacht“, sagte Stephanie bestimmt.

„So redet niemand …“

Stephanie legte den Hörer auf. Plötzlich war die Vorstellung, die ganze Nacht allein im Haus ihres Onkels zu verbringen, nicht mehr ganz so verlockend wie zu Anfang. Sie überlegte, ob sie ihre Eltern anrufen sollte, fand diese Reaktion dann aber auch kindisch. Kein Grund, sie zu beunruhigen, dachte sie, kein Grund, sie wegen so etwas zu beun…

Jemand hämmerte an die Haustür.

„Aufmachen!“, kam die Stimme des Mannes, dann wurde weitergehämmert.

Stephanie stand auf und schaute vom Wohnzimmer aus in den Flur. Durch das gefrostete Glas um die Haustür herum erkannte sie einen dunklen Schatten.

„Mach die verdammte Tür auf!“

Stephanie wich zum Kamin zurück. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Er wusste, dass sie hier drin war; es hatte keinen Zweck, so zu tun, als sei sie nicht da, doch vielleicht würde er aufgeben und gehen, wenn sie sich ganz still verhielt. Sie hörte ihn fluchen und das Hämmern wurde so heftig, dass die Tür zitterte.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“, rief Stephanie.

„Mach die Tür auf!“

„Nein!“ Zu schreien tat gut, sie konnte dahinter ihre Angst verbergen. „Ich rufe die Polizei! Ich rufe jetzt gleich die Polizei!“

Das Hämmern hörte augenblicklich auf und sie sah, dass der Schatten sich von der Tür entfernte. War es das gewesen? Hatte sie ihm mit dieser Drohung eine solche Angst eingejagt, dass er sich davonmachte?

Die Hintertür fiel ihr ein – war sie abgeschlossen? Natürlich war sie abgeschlossen, sie musste abgeschlossen sein. Aber Stephanie war sich nicht sicher. Sie griff nach einem Schürhaken und streckte die andere Hand nach dem Telefon aus, als neben ihr ans Fenster geklopft wurde.

Sie schrie auf und machte einen Satz rückwärts. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, aber draußen war es stockfinster. Sie konnte absolut nichts erkennen.

„Bist du allein?“, kam die Stimme. Sie klang spöttisch, spielte mit ihr.

„Verschwinden Sie!“, sagte Stephanie laut und hielt den Schürhaken hoch, damit er ihn sehen konnte. Der Mann lachte.

„Was willst du denn damit?“, fragte er von draußen.

„Ihnen den Schädel einschlagen!“, kreischte Stephanie voller Angst und Wut. Wieder hörte sie ihn lachen.

„Ich will einfach nur rein“, sagte er. „Mach mir die Tür auf, Mädchen, und lass mich rein.“

„Die Polizei wird gleich hier sein.“

„Du lügst.“

Sie konnte hinter der Scheibe immer noch nichts erkennen, doch er sah alles. Sie ging zum Telefon und riss den Hörer von der Gabel.

„Tu das nicht“, kam die Stimme.

„Ich rufe die Polizei.“

„Die Straße ist überschwemmt, Kleine. Wenn du die Bullen rufst, trete ich die Tür ein und bring dich um, Stunden, bevor sie hier sind.“

Die Angst verwandelte sich in Panik und Stephanie erstarrte. Gleich würde sie anfangen zu heulen. Sie spürte es, die Tränen standen ihr schon in den Augen. Sie hatte seit Jahren nicht mehr geweint. „Was wollen Sie?“, fragte sie in die Dunkelheit. „Warum wollen Sie reinkommen?“

„Es hat nichts mit dir zu tun, Kleine, man hat mich lediglich geschickt, damit ich etwas abhole. Lass mich rein, ich sehe mich um, nehme mir das, was ich suche, und gehe wieder. Ich werde dir keines deiner hübschen Haare auf deinem hübschen Kopf krümmen, das verspreche ich! Aber mach jetzt augenblicklich die Tür auf!“

Stephanie packte den Schürhaken mit beiden Händen und schüttelte den Kopf. „Nein!“ Jetzt hatte sie doch tatsächlich angefangen zu weinen, Tränen liefen ihr über die Wangen. Dann schrie sie auf und sprang erschrocken zurück, als eine Faust die Scheibe zertrümmerte und es Glassplitter auf den Teppich regnete. Der Mann starrte sie mit funkelnden Augen an und kletterte ins Zimmer, ohne sich um das gesplitterte Glas zu kümmern. Im selben Augenblick, in dem er einen Fuß auf den Teppich setzte, stürzte sie hinaus, rannte zur Haustür und versuchte, sie aufzuschließen.

Starke Hände ergriffen sie von hinten. Sie schrie erneut, als sie hochgehoben und über den Flur zurückgetragen wurde. Sie trat um sich und traf den Mann am Schienbein. Er stöhnte und ließ los. Stephanie drehte sich blitzschnell um und wollte ihm den Schürhaken über den Schädel ziehen, aber er erwischte ihn und entwand ihn ihrem Griff. Die andere Hand fuhr ihr an den Hals, sodass sie würgen musste. Sie bekam keine Luft mehr, als der Mann sie mit Gewalt zurück ins Wohnzimmer schob.

Er stieß sie in einen Sessel und presste sie in die Kissen.

„So, meine Kleine“, sagte er und verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen, „und jetzt gibst du mir ganz einfach den Schlüssel, ja?“

Genau in diesem Moment wurde die Haustür aus den Angeln gehoben und Skulduggery Pleasant stürmte ins Haus.

Der Mann fluchte, ließ Stephanie los und holte mit dem Schürhaken aus, doch Skulduggery lief direkt in ihn hinein und verpasste ihm einen solchen Haken, dass Stephanie dachte, der Kopf des Mannes würde davonkullern. Er ging zu Boden und landete auf dem Rücken, rollte sich jedoch herum und kam wieder auf die Beine, als Skulduggery zum nächsten Schlag ausholte.

Der Mann hechtete nach vorn. Die beiden prallten aufeinander und flogen über die Rückenlehne der Couch, wobei Skulduggery seinen Hut verlor. Stephanie sah kurz etwas Weißes über dem Schal aufblitzen.

Sie standen wieder auf, rangen miteinander, und der Mann versetzte Skulduggery einen solchen Schlag, dass dessen Sonnenbrille durchs Zimmer flog. Skulduggerys Antwort war gemein. Er fasste den Mann um die Taille, drehte sich etwas zur Seite und rammte ihn dann mit der Hüfte. Der Mann fiel um wie ein Baum.

Er fluchte kurz weiter, während er am Boden lag. Dann fiel ihm Stephanie ein und er wollte sich auf sie stürzen. Stephanie sprang auf, doch bevor der Fremde bei ihr war, war Skulduggery zur Stelle und kickte ihm die Beine weg. Der Mann krachte mit dem Kinn auf einen niedrigen Beistelltisch und heulte auf vor Schmerz.

„Du glaubst doch nicht, dass du mich aufhalten kannst!“, brüllte er, während er versuchte, sich aufzurappeln. Er war offenbar nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. „Weißt du überhaupt, wer ich bin?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Skulduggery.

Der Mann spuckte Blut und grinste herausfordernd. „Aber ich kenne dich“, sagte er. „Mein Meister hat mir alles über dich erzählt, Detektiv, und wenn du mich aufhalten willst, musst du dir schon etwas anderes einfallen lassen.“

Skulduggery zuckte die Schultern und Stephanie beobachtete staunend, wie ein Feuerball in seiner Hand aufloderte, er ihn auf den Mann warf und dieser plötzlich in Flammen stand. Doch statt zu schreien, legte der Fremde den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. Die Flammen hüllten ihn zwar von oben bis unten ein, doch sie verbrannten ihn nicht.

„Weitermachen!“, lachte er. „Mach weiter!“

„Wenn du unbedingt willst …“

Damit zog Skulduggery einen altmodischen Revolver aus seinem Mantel und drückte ab. Der Rückstoß riss seine Hand nach oben. Die Kugel traf den Mann in die Schulter und er schrie auf. Er drehte sich um, stürzte zur Tür, stolperte, duckte sich und schlug Haken wie ein Hase, um nicht noch einmal getroffen zu werden. Wegen der Flammen sah er fast nichts, sodass er auf seinem Weg nach draußen im Flur vor die Wand lief.

Und dann war er verschwunden.

Stephanie starrte auf die Tür und versuchte zu begreifen, was da gerade Unmögliches geschehen war.

„Das bekommt man nicht alle Tage zu sehen, wie?“, bemerkte Skulduggery hinter ihr.

Sie drehte sich um. Zusammen mit seinem Hut hatte er auch seine Haare verloren. In dem Durcheinander hatte sie einen kalkweißen Schädel gesehen und erwartete nun, vielleicht einem glatzköpfigen Albino gegenüberzustehen.

Weit gefehlt.

Ohne Sonnenbrille und mit dem heruntergerutschten Schal ließ sich die Tatsache, dass er kein Fleisch auf den Knochen hatte, keine Haut, keine Augen und kein Gesicht, nicht leugnen.

Sein Kopf war ein Totenschädel.

Vignette

DER GEHEIME KRIEG