Viktor Sommer

Jetzt ist es genug!

Leben ohne Alkohol

 

 

Originalausgabe 2010
© 2005 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41231 - 5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 34222 - 3

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Inhaltsübersicht

Zur Einführung: Die Sache mit dem Alkohol

Bin ich’s oder bin ich’s nicht?

Präalkoholische Phase

Prodomalphase

Kritische Phase

Chronische Phase

Das Versteckspiel

Die kultivierte Form: Das eine Glas Wein

Das Arme-Schweinchen-Spiel

Es gibt kein fremdes Maß

Eine schwierige Übung

Das mangelnde Selbstbewusstsein

Das Bild des Kranken

Vom Umgang mit Gefühlen

Was ist Sucht?

Wie man aufhört

Der erste Schritt: Arztbesuch und Entgiftung

Der zweite Schritt: Die Auseinandersetzung mit der Psyche

Sie sind nicht allein!

Öffentlichkeit und Alkohol

Der Rückfall

Die plötzliche Lust

Das eine Bier

Was Sie als Belohnung bekommen

Anhang

Begriffsglossar

Kontakte

Zur Einführung: Die Sache mit dem Alkohol

Es gibt viele Bücher zu dem Thema Alkoholsucht, aber nur wenige aus der Sicht eines Betroffenen. Als Alkoholiker kenne ich viele Schwierigkeiten, die man sich als Abhängiger selbst bereiten kann. Doch nach meiner Erfahrung lassen sich eine ganze Reihe wirksamer Strategien angeben, wie man trocken werden und auch bleiben kann. Wer Probleme mit dem Alkohol hat oder auch nur glaubt, solche Schwierigkeiten zu haben, der findet in diesem Buch praktische Ratschläge und Erläuterungen. Für die Angehörigen von Alkoholikern sind hier außerdem grundsätzliche Informationen zusammengefasst, die ein Verständnis für das Verhalten der Betroffenen ermöglichen.

Die Alkoholsucht ist eine ziemlich komplexe Angelegenheit. Das beginnt schon damit, dass es sich um eine Krankheit handelt und nicht um Willensschwäche, wie oft fälschlich angenommen wird. Wenn es ganz einfach genügen würde zu wissen, dass Alkohol körperliche Schäden hervorruft und süchtig macht, dann könnten alle Betroffenen eines Tages den Entschluss fassen, ihren Alkoholkonsum einzustellen. Genau hier fangen die Schwierigkeiten aber für gewöhnlich an.

Es geht also um einen Erfahrungsbericht über die inneren Auseinandersetzungen, die Kämpfe, die psychischen Fußangeln und Fallgruben dieser Krankheit. Viele Alkoholiker haben berechtigte Angst, wenn ihnen der Arzt schlechte Leberwerte nachweist, und es gibt überhaupt keinen Grund, die körperlichen Schäden zu verharmlosen. Aber die weitaus schwierigere Seite des Alkoholismus sitzt als Suchtkrankheit in der Psyche der Betroffenen selbst.

Vom Alkohol geht für sie eine magische Wirkung aus, die alle Vorsätze und Schwüre auf Verzicht unterläuft. Trotz besseren Wissens wiederholt sich der Griff zur Flasche, er untergräbt das Selbstbewusstsein des Alkoholkranken und macht ihn im Endstadium zu einem psychischen und körperlichen Wrack. Handelt es sich bei Alkoholikern deshalb um besonders labile und schwache Menschen? Tatsächlich gibt es keinen »typischen« Alkoholiker. Sie sind weder besonders dick oder dünn, besonders intelligent oder dumm, noch besonders willensschwach oder stark.

Sie können diese Liste einfach ergänzen und werden nichts »Typisches« für den Alkoholiker finden. Sie rekrutieren sich aus dem ganzen menschlichen Tiergarten, aus allen Schichten und Berufssparten. Es ist sozusagen alles dabei, positiv wie negativ. Das einzig Besondere am Alkoholiker stellt seine Krankheit dar. Diese Krankheit lässt sich allerdings sehr viel schwieriger erfassen als etwa ein gebrochenes Bein. Dieses wird geschient, eingegipst und wächst zusammen, damit ist das Malheur meistens ausgestanden. Der Alkoholismus verlangt nach langwierigen Therapien und Gegenmaßnahmen.

Welche Probleme diese Krankheit bereitet, zeigt allein die Tatsache, dass sich die Betroffenen »auf Raten« umbringen. Dabei kommt ihnen ein besonderer Umstand der Krankheit entgegen: Es gibt eine Phase, in der die Alkoholkrankheit nur sehr schwer zu diagnostizieren ist – eine Zeit, in der sich die spätere Suchtkrankheit erst schwach abzeichnet und keine klaren Symptome aufweist. Der Verlauf ist also schleichend und als solcher besonders hinterhältig. Bei einer solch langsamen Entwicklung kann sich die Abhängigkeit vom Alkohol lange Zeit unbemerkt ausbilden. Das diffuse Vorstadium der Krankheit ohne eindeutige Alarmzeichen begünstigt die regelmäßige Selbstbeschwichtigung der Betroffenen.

Tatsächlich ist Alkoholismus eine Krankheit, die sich über lange Zeit hinweg verdrängen und verharmlosen lässt. Die fatale Folge: Das Drama der Krankheit spitzt sich unaufhörlich zu, denn der angehende Alkoholiker stellt immer wieder fest, dass er weitertrinken kann und darf, weil der Verlauf über lange Zeit hinweg kaum eindeutige Symptome liefert.

Der Abhängige nimmt sogar den eigenen frühzeitigen Tod in Kauf, um weitertrinken zu können.

Das Verblüffende dieser Suchtkrankheit zeigt sich darin, dass Abhängige sogar den eigenen frühzeitigen Tod in Kauf nehmen, um weitertrinken zu können. Darin steckt eine gehörige Portion an Widersinn, ja beinahe Wahnsinn. Bei genauerem Hinsehen und nach jahrelanger Erfahrung mit der Trockenheit lassen sich aber bestimmte Verhaltensweisen und Strategien des Alkoholikers erkennen. Diese Verhaltensweisen treten bei allen Betroffenen immer wieder auf, sie gehören zu einem bestimmten Repertoire der Selbstüberlistung, zu einer Strategie des Absturzes. Es geht also um jene stillen Zwiegespräche, die vor jedem Absturz, vor jeder Trinkphase ablaufen, und die uns später in verkatertem Zustand verwundert fragen lassen, warum dies nun wieder – schon wieder – so gekommen ist.

Die Alkoholkrankheit ist eine Suchtkrankheit, und sie macht etwas aus uns, was wir erst einmal begreifen müssen. Wer erste Probleme im Umgang mit dem Alkohol bei sich feststellt, der sollte sich aus Selbstsorge ernsthaft damit auseinander setzen. Die bloße Feststellung, dass man »etwas zu viel« trinkt, stellt zwar einen unverzichtbaren ersten Schritt dar, aber jede Suchtkrankheit greift in viel größerem Stil in unser Leben ein, als wir uns das zunächst vorstellen können. Je besser man die Suchtkrankheit Alkoholismus in ihren vielen Auswirkungen begreift, desto souveräner kann man mit ihr umgehen.

Bin ich’s oder bin ich’s nicht?

Die Selbsterkenntnis, Alkoholiker zu sein, erfordert einigen Mut. Alle Betroffenen scheuen vor diesem Eingeständnis anfänglich zurück. Für viele Menschen stellt sich zunächst die prinzipielle Frage, ob eine mögliche Suchtproblematik auf sie überhaupt zutrifft. Es ist nur natürlich, bei dieser Frage zu zögern, denn schließlich würde eine Alkoholkrankheit zahlreiche Konsequenzen fordern. Aus eigener Erfahrung weiß ich, welche Probleme das Eingeständnis der Krankheit macht, und wie unüberwindlich die damit verbundenen Auswirkungen auf das tägliche Leben zunächst erscheinen. Der Alkoholismus lässt sich sehr wohl überwinden, und es wird darum gehen, die entsprechenden Wege aus der Sucht aufzuzeigen. Aber Sie wissen vielleicht noch nicht, ob Sie überhaupt ein Problem mit dem Alkohol haben. Wie kann man sich Klarheit darüber verschaffen, ob man selbst zu den Alkoholkranken zählt oder eben nicht?

Fangen wir einmal drastisch an: Wenn Sie in der Früh in Ihr Waschbecken würgen und sich anschließend vorsichtig ein Bier einflößen müssen, damit Sie sich überhaupt ohne massive Entzugserscheinungen unter Menschen wagen können, dann sind Sie eindeutig alkoholkrank. So eindeutige Symptome zeigen sich allerdings erst sehr spät in der Karriere eines Betroffenen. Die erste Gegenmaßnahme besteht in jedem Fall darin, sich klar zu machen, dass man Alkoholiker ist. Das trifft auf alle Stadien der Alkoholkrankheit zu – auch die leichteren Fälle also, die von schweren morgendlichen Entzugserscheinungen noch weit entfernt sind.

Ein eindeutiges Kriterium für Ihre alkoholischen Probleme können Sie auch an anderen äußeren Symptomen ablesen, die weniger deutlich als das Würgen am Waschbecken sind. Zittern der gespreizten Finger, im Fachjargon auch Scheppern genannt, gilt als deutliches Anzeichen. Schweißausbrüche am Tag gehören ebenfalls dazu. Natürlich muss dem ein Alkoholmissbrauch am Vorabend oder Vortag vorausgegangen sein.

Das Zittern der Hände und die Schweißausbrüche sind so genannte körperliche Entzugssymptome nach überreichlichem Alkoholgenuss und treten am nächsten Tag auf. Die Qualen wachsen mit dem Grad und der Dauer der Alkoholabhängigkeit ganz erheblich und werden eben manchmal mit einem Morgenbier abgemildert. Über die Jahre steigert sich dies eventuell bis zum Dauerrausch, und die »Waschbeckenphase« ist erreicht. Sie können aber auch Alkoholiker ohne Waschbecken und Dauerrausch sein. Es gibt so genannte Quartalstrinker, die in regelmäßigen Abständen alkoholische Exzesse veranstalten: Beispielsweise einmal im Monat oder in anderen Abständen erlebt der Quartalstrinker den Totalabsturz. Die körperlichen Konsequenzen für ihn sind allerdings keinesfalls harmlos. Auch dieser Trinkertyp kann sich restlos zusammensaufen und elend an seiner Sucht sterben.

Eindeutige Beweise für eine Alkoholkrankheit stellen Heimlichkeiten und das Verstecken von Vorräten dar. Wer irgendwo, wie dezent auch immer, seine Flasche deponiert hat oder Vorräte anlegt, der gehört mit Sicherheit zu den Betroffenen. Regelmäßig verbindet sich die versteckte Flasche auch mit dem heimlichen Trinken. Der mitgeführte Flachmann in der Firma, das Nachtanken auf der Toilette, stellen eindeutige Symptome dar, und die Betroffenen sind sich in diesem Stadium über ihren Zustand zumindest ansatzweise auch im Klaren. Wer den offenen Konsum aus der Hausbar bevorzugt, darf dies umgekehrt nicht als pauschalen Freispruch werten. Hier kommt es auf den Anlass, die Häufigkeit und das Ausmaß des Alkoholkonsums an.

Eindeutige Beweise für eine Alkoholkrankheit stellen Heimlichkeiten und das Verstecken von Vorräten dar.

Weniger eindeutig als derartige Symptome und Verhaltensweisen sind verschiedene Vorstadien der Suchterkrankung. Angehende Alkoholabhängige ahnen, dass etwas nicht stimmt, und kaufen bereits gezielt und kontingentiert ein. Statt einer Kiste Bier im heimischen Keller holen sie sich ihren Bedarf flaschenweise. In diesem Fall liegt die Erkenntnis vor, dass jede größere Vorratshaltung zu einem Besäufnis führen könnte. Es besteht also beispielsweise die starke Neigung, eine Kiste Bier vollständig zu leeren und nicht aufzuhören, bevor nicht alles weggetrunken ist. Ein solches Verhalten muss noch nicht die Regel darstellen, es genügt schon, wenn es gelegentlich auftritt. Man sollte derartige Eskapaden keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen! Das Gefährdungspotenzial hat hier bereits sehr ernste Formen angenommen.

Wenn jemand regelmäßig »nur« zwölf Halbe aus der Kiste trinkt, muss ich ihn enttäuschen. Das Kriterium ist hier nicht, dass die Kiste jedesmal leer sein muss. Auch bei zwölf Halben wird das rechte Maß überschritten. Zwölf Bier sind zu viel – auch wenn Sie vielleicht jemanden kennen, der sein ganzes Leben lang 13 Bier pro Tag getrunken hat und dem es angeblich dabei immer hervorragend gegangen ist. Es können je nach persönlicher Konstitution auch schon drei Bier zu viel sein. Die ganzen Mengenangaben, auf die sich Alkoholiker gerne berufen und an denen sie verzweifelt festzumachen suchen, dass sie keine Alkoholiker sind, dienen in aller Regel nur dem selbstbetrügerischen Nachweis, gesund zu sein.

Wenn Sie herausbekommen wollen, ob Sie ein ernst zu nehmendes Alkoholproblem haben, vergessen Sie am besten zunächst die Mengenangaben, weil diese eben – obwohl sie ein so eindeutiges Kriterium zu bieten scheinen – auch vollkommen in die Irre führen können. Sich hier selbst zu täuschen, kann außerordentlich gefährlich sein, denn die Alkoholkrankheit verläuft – ohne Behandlung – immer tödlich. Sie haben nur eine einzige Chance: Falls Sie alkoholkrank sind, müssen Sie es selbst erkennen. Die Betonung liegt hier auf selbst. Dann haben Sie schon halb gewonnen. Selbst etwas zu erkennen heißt aber nicht zwingend, es für alle Zeiten allein aushalten zu müssen. Es gibt zahlreiche Leidensgenossen, und es werden immer mehr. Dabei gilt ein altes Sprichwort: »Geteiltes Leid ist halbes Leid«, aber davon später.

Woran können Sie aber nun zuverlässig erkennen, ob ein ernsthaftes Problem mit Alkohol vorliegt? Es gibt eine ganze Menge entsprechender Kriterien. Neben den oft irreführenden Mengenangaben – abgesehen von eindeutigen Fällen, wie den zwölf Bier und zwei Litern Wein pro Tag, von schärferen Getränken ganz zu schweigen – drängt sich die Häufigkeit des Alkoholmissbrauchs förmlich auf.

Wer einmal im Jahr ein Bier zu viel trinkt, zählt nicht zu den Alkoholikern. Auch wenn es zweimal passiert, ist das kein Grund zur Panik. Aber Sie ahnen vielleicht schon, wo auch hier das Problem liegt. Die Angabe einer Grenze ist sehr schwierig. Handelt es sich um einen Alkoholiker, wenn 17- oder 32-mal über den Durst getrunken wird? Das klingt harmlos. Aber bedenken Sie: Das Jahr hat 52 Wochen. Wer also 32-mal zu viel getrunken hat, der nähert sich bereits jener Grenze, die den wöchentlichen Missbrauch anzeigt. Wer nur 17-mal zuschlägt, der betrinkt sich immerhin schon öfter als einmal im Monat. Diese Anzahl an Räuschen erfüllt bereits die Kriterien des Quartaltrinkers.

Die wirkliche Anzahl derartiger Eskapaden verschwimmt im alltäglichen Leben außerdem sehr leicht, denn normalerweise führt niemand Buch über seine Räusche. Jede ungefähre Angabe im Fall der Alkoholkrankheit kann also stark täuschen und gilt nicht ohne Grund als höchst riskant. Ein scheinbar günstiges Ergebnis auf der Basis einer subjektiven Einschätzung kann einen Betroffenen hier sehr teuer zu stehen kommen. Es zählt auch zu den besonderen Tücken der Alkoholkrankheit, dass alle Argumente gegen die Krankheit gerne eine Überbetonung finden. Alkoholiker lieben jeden Einwand gegen die Krankheit, weil sie dann weitertrinken können. Wir bagatellisieren die Menge und die Anzahl unserer »Ausrutscher« höchst routiniert. Ich kann daher nur jeden warnen, die Menge und die Häufigkeit des Alkoholmissbrauchs zur Grundlage eines Urteils über denjeweiligen aktuellen Standes in Sachen Alkoholismus zu machen. Jeder sollte aus eigenem Interesse – und ich meine hier tatsächlich Lebensinteresse! – genauer hinschauen. Wer überleben will, sollte ein sehr strenger Richter mit sich selbst sein. Warum mit sich selbst? Weil es keinen anderen gibt. Niemand – wirklich niemand – kann einem erwachsenen Menschen den Alkohol verbieten, als solcher ist er ausschließlich seiner ureigenen Selbstkontrolle verantwortlich.

Waschbecken, Scheppern, Schweißausbruch, Heimlichkeiten und kontingentierter Einkauf von Alkohol stellen absolut verlässliche Kriterien für eine Alkoholerkrankung dar. Viel schwieriger, und dies trifft auf alle Alkoholabhängigen irgendwann zu, sind dagegen die Vorstadien und die unausgereiften Fälle zu beurteilen. Es gibt hier keine so eindeutigen körperlichen Symptome. Wir müssen also sehr viel genauer hinschauen, denn die Möglichkeiten der Selbsttäuschung wachsen in diesem Fall enorm.

Bevor wir die relevanten Positionen durchgehen, sollten Sie aber einen Punkt in aller Konsequenz und Klarheit erfasst haben, verinnerlichen und faktisch auswendig lernen:

Selbsttäuschung ist für den Alkoholiker deshalb so interessant, weil er dann das tun kann, was seine Krankheit fordert: weitertrinken. Der Alkoholiker sucht insgeheim also nach Auswegen, um weitertrinken zu können. Man sollte dies immer berücksichtigen, wenn man sich selbst die Frage stellt, ob man Alkoholiker ist oder nicht. Schauen Sie lieber dreimal hin, denn es geht um Ihr Leben.

Vorstadien schwerer Alkoholerkrankungen sind sehr heikel zu diagnostizieren. Nicht selten schleppen sich diese Menschen jahrelang mit ihrem Alkoholproblem durchs Leben – besser gesagt: Sie quälen sich durchs Leben, bis ihr Problem so gewachsen ist, dass die ganze Angelegenheit eindeutige Formen angenommen hat. Im Fachjargon heißt das, dass der Leidensdruck noch nicht groß genug für eine Veränderung des eigenen Verhaltens ist.

Wie kann ein minder schwerer Fall aussehen? Zunächst harmlos. Man trinkt eben ab und zu etwas zu viel. Aber das machen schließlich fast alle. Also »eigentlich« ist es nicht so schlimm. Wenn da dieser dumme Verdacht nicht wäre, oder zumindest dieses schlechte Gewissen. Immer wieder zu viel und jetzt schon wieder. Im Grunde, das haben wir uns schon oft in einem stillen Zwiegespräch mit uns selbst gesagt, geht das nicht so weiter. Vielleicht haben wir auch noch den Satz hinzugefügt, dass wir morgen aufhören, heute aber noch nicht.

Daran ist nichts besonderes, denn viele Menschen leisten derartige Schwüre regelmäßig zu Silvester. Das betrifft die Gewichtsreduzierung und das Rauchen sowie zahlreiche andere Gewohnheiten, von denen alle wissen, dass sie ungesund sind.

Aber einmal ehrlich, ist es bei Ihnen nicht ein wenig – nur ein ganz klein wenig – anders? Sie könnten beispielsweise diese Schwüre öfter leisten, vielleicht sogar in festen Abständen. Vielleicht fangen Sie dazu am besten an, ein Tagebuch zu schreiben. Dazu müssen Sie kein Schriftsteller sein. Für den Anfang genügt es vollkommen, wenn Sie vermerken, wann Sie getrunken haben, wann Sie zu viel getrunken haben und wann Ihnen dieses ganze Theater mal wieder so richtig zum Hals heraushängt. Auf diese Weise bekommen Sie eine ungeschminkte Übersicht.

Nehmen wir einmal an, Sie haben gerade Ihren Schwur auf Abstinenz geleistet und auch keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Sie haben also für längere Zeit – ein, zwei Tage oder vielleicht sogar zwei Monate – überhaupt keinen Alkohol mehr angerührt. Sie hatten aber bereits einen vielleicht nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass etwas mit Ihnen nicht stimmen könnte, und deshalb haben Sie sich diese abstinente Phase schließlich selbst verordnet. Das muss so sein, wenn Sie ehrlich sind, denn andernfalls hätten Sie sich überhaupt nichts gedacht und einfach weiter Ihr »normales« Quantum an Alkohol konsumiert, wie andere das ja auch tun. Natürlich würden Sie auch wieder gerne etwas trinken, obwohl der letzte Kater vielleicht sehr unangenehm war, aber der liegt nun schon weit hinter Ihnen.

Außerdem haben Sie eine Idee: Sie sagen sich: »Wenn ich mit dem Alkohol für längere Zeit Schluss gemacht habe, muss alles mit mir in Ordnung sein. Alkoholiker sind schließlich diejenigen, die dauernd an der Flasche hängen.« Jetzt können Sie natürlich auch den folgenden Schluss ziehen: »Ich bin kein Alkoholiker, weil ich aufhören konnte, und deshalb darf ich auch wieder etwas trinken.«

Sie machen dann bitte einen Eintrag in Ihr Tagebuch. Vielleicht haben Sie es schon gemerkt: Das kann eine Variante der Selbsttäuschung sein, einer der vielen Wege, sich selbst auszutricksen. In dieser Form der Selbstüberredung sind Alkoholiker äußerst erfinderisch und sehr großzügig.

Die abstinente Phase dient dazu sich selbst zu beweisen, dass man wieder trinken darf. Das klingt verrückt, gehört aber zu den üblichen Strategien des Alkoholikers. Das Ziel der Selbstüberlistung besteht immer im Weitertrinken.

Der Fachausdruck für das beschriebene Verhalten heißt übrigens kontrolliertes Trinken

Kontrollverlust

Die Alkoholkrankheit besteht aus einer Abfolge von typischen Symptomen – der »Alkoholikerkarriere«.

Problemtrinker

Neben den typischen Einzelerscheinungen des Alkoholismus und seiner Vorstufen gibt es auch die Möglichkeit, den Gesamtverlauf dieser Krankheit zur Einschätzung der eigenen Betroffenheit heranzuziehen. Die Alkoholkrankheit besteht aus einer Abfolge von typischen Symptomen, man spricht daher auch von einer »Alkoholkarriere«. Jede Phase dieser Karriere durchläuft typische Stadien, die sich am besten in einer Art Überblick darstellen lassen. Da es sich nur um ein Schema handelt, finden die einzelnen Stadien nur eine knappe Darstellung. Wichtig ist der Gesamtverlauf: