Kristina Dunker

Durchgebrannt

Roman

 

 

 

 

Originalausgabe 2011

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40608 - 6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 78251 - 7

 

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Inhaltsübersicht

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Der Schokonusskranz riecht lecker wie immer. Sein Duft erfüllt die ganze Küche und wird noch intensiver, als ich mir ein Stückchen herausbreche. Diesen glasierten Gugelhupf zu backen war lächerlich von meiner Mutter. Als ob wir einen Geburtstag wie jeden anderen feierten. Wahrscheinlich will sie der Verwandtschaft zeigen, dass uns die gute Laune nicht ausgeht. Mir ist die schon lange vergangen. Ich finde, eine Kuchenruine passt viel besser zu uns.

»Lass das Naschen, zieh dich endlich an.« Meine Mutter ist in Hektik: Sie durchsucht die Küchenschubladen, reißt sich dabei einen Knopf am Blusenärmel ab -- »Verflixt!« -- und reicht mir eine Plastikschachtel. »Die müssen auch mit.«

Kerzchen: rosa, gelb, himmelblau und zum Aufstecken auf den Kuchen gedacht. Ich krieg 'ne Krise.

»Mama! Sarah wird achtzehn.« Meine Mutter macht Sarah neuerdings oft jünger, als sie ist. Meine vier Jahre ältere Schwester ist jetzt »die Kleine«, ich bin »unser Großer«. Anfangs fand ich das okay, mittlerweile weiß ich, dass es nur bedeutet, ich soll mich gefälligst wie ein Erwachsener benehmen.

»Dieser Babykram ist peinlich«, sage ich etwas lauter, denn meine Mutter hat mal wieder ihre Ohren auf Durchzug gestellt. »Hast du gehört?« Ich klinge auch schon wie ein Erwachsener. Das müsste ihr doch gefallen.

Endlich dreht sie sich zu mir um. »Mag sein, dass du das so siehst. Aber Sarah wollte noch mal einen richtigen Geburtstag. Mit allem Drum und Dran. So wie früher.«

Quatsch. Sarah hatte ganz andere Wünsche für ihren Achtzehnten: Am Abend vorher im Rockpalast reinfeiern und am nächsten Tag, heute, dem Samstag vor Pfingsten, mit mir und den Freunden aus dem Sportverein ins Zeltlager an die Nordsee fahren. Das ist das Ereignis des Jahres. Darauf hatten wir uns seit Monaten gefreut. Eine Weile sah es auch so aus, als ob Sarah mitkommen könnte. Sie hatte sich sogar schon von unserem Trainer einen extrawarmen Schlafsack ausgeliehen, ein Überlebensteil, mit dem man angeblich sogar am Nordpol hätte zelten können. Und mit ihrer Freundin Anna hatte sie einen ganzen Nachmittag nur darüber diskutiert, welche Mädchen mit ihnen im Zelt schlafen sollten.

Ich will meiner Mutter unter die Nase halten, dass Sarah also ganz sicher kein Kindergeburtstagsfest mit Kerzenausblasen und Tantentreffen wollte, aber ich schaff's nicht, denn ich schlucke schwer an dem »noch mal«. Auch das höre ich in letzter Zeit öfter.

»Sarah will noch mal ins Fußballstadion.«

»Sarah will noch mal bei Da Luigi Lasagne essen.«

»Sarah will noch mal zum Theaterfestival.«

Ich weiß nicht, ob die anderen das nicht merken? Was soll denn dieses »noch mal«? Im Klartext kann es doch nur heißen: »noch ein letztes Mal«. Die Worte scheinen nur so dahingesagt. Jeder sagt das mal. Aber bei uns deuten sie auf das mögliche Ende. Sarah ist sehr krank. Wir müssten damit rechnen, dass Sarah sterben könnte, haben uns ihre Ärzte in der Uniklinik gesagt, die Heilungschancen stünden fifty-fifty.

Wie soll ich da widersprechen?

Meine Mutter legt mir eine Hand auf die Schulter, erahnt meine Gedanken. »Ich weiß, dass du anderer Meinung bist, Florian. Aber Dinge ändern sich nun mal. Sarah hat sich verändert. Und sie hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass sie sich das jetzt genau so wünscht.«

Möglich ist das natürlich schon.

»Ja. Und jetzt guck nicht so mürrisch. Nimm dich ein bisschen zusammen. Hilf uns, die Sachen einzupacken! Es ist ihr Geburtstag. Der soll doch« -- sie macht eine Pause, als wolle sie »noch mal« sagen, sagt es aber nicht -- »möglichst schön für sie sein.« Ein Ruck geht durch ihren Körper, und wie um dem »noch mal« etwas entgegenzusetzen, beginnt sie plötzlich Viel Glück und viel Segen zu summen.

Mir wird schlagartig übel. Ich kann Singerei nicht ab. Außerdem ärgert's mich, dass meine Mutter überhaupt nicht kapiert, dass auch ich Sarah einen schönen Tag wünsche. Genau wie ich ihn mir gewünscht hätte. Aber ich bin ja wohl ein Egoist. Zumindest sieht es mein Vater, der mit halb umgebundener Krawatte die Treppe hinunterkommt, so: »Es ist Viertel vor zehn und du bist immer noch im Schlafanzug. Statt zu pennen, hättest du mir beim Aufbau der Gästebetten helfen können. Hast du wieder die halbe Nacht vorm Computer gesessen?«

Ich habe schlecht geschlafen. Er übrigens auch. Neuerdings hat er oft Albträume, in denen er so unruhig ist, dass er nicht nur meine Mutter weckt, sondern auch mich zwei Zimmer weiter. Aber daran, dass er heute Nacht wieder im Schlaf um Hilfe gerufen hat, will er bestimmt nicht erinnert werden.

»Ihr habt vergessen, mich zu wecken.«

»Meine Güte, wir haben heute ja wohl andere Dinge im Kopf und können uns nicht dauernd um dich kümmern.«

Mein Vater schießt immer gleich zurück, wenn man ihn kritisiert. Diesmal nehme ich's ihm aber nicht übel, denn ich weiß, dass er eigentlich auch keinen Bock auf die Sippe hat, und ich sehe seinen verzerrten Blick, als er aus der Küche Mama »Gesundheit und Frohsinn sei'n auch mit dabei« singen hört.

Ich wage einen winzigen Spaß: »Das singen wir gleich im Kanon, mit Daniel als Dirigent.«

Mein Vater sieht mich ratlos an - unentschieden, ob er sich auf mein Lästern einlassen und lachen oder mich anschreien soll. Kann sein, dass er mir gleich wieder lautstark vorwirft, »kontraproduktiv« zu sein. Er öffnet schon den Mund. In dem Moment klingelt's an der Haustür.

»Schwiegermutter«, brummt mein Vater und hat nun keine Zeit mehr, meine Bemerkung zu kommentieren. »Zwei Minuten, dann ist Abflug. Wenn du nicht fertig bist, bleibst du zu Hause.«

Liebend gern.

 

In meinem Zimmer stolpere ich fast über die Gestelle der Gästebetten, die -- noch ohne Matratzen -- mitten im Raum stehen. In einem werde ich schlafen, im anderen mein Cousin Daniel. Im richtigen Bett, in meinem, wird sich mein fetter Onkel Thomas breitmachen. Thomas, die Walze, schwitzt schon, wenn er ein Glas Bier trinkt. Obwohl das Schwabbeln und Schweißabsondern eklig ist, darf er mein Bett beanspruchen, wegen seines Bandscheibenschadens. Sein Sohn Daniel ist angeblich hochbegabt, was außer den Eltern aber noch nie jemandem aufgefallen ist. Auf mich macht das verkannte Genie auch eher einen behinderten Eindruck. Mit ihm kann man rein gar nichts anfangen, nicht mal am PCspielen.

Was hab ich eine Wut! Dieses Wochenende wird das ganze Haus voller Leute sein - alles Leute, die Sarah nicht sehen will. Ich übrigens auch nicht. Ich wollte mir mit Nils, Eric und Ferhad ein Zelt teilen. Ich wollte am Strand Fußball spielen, mich in die Nordseewellen werfen und abends einen draufmachen. Fluchend checke ich mein Handy. Keine neuen SMS von Sarah, dafür eine von Nils: Halt durch, Alter. Bis Dienstag. Durchhalten - leichter gesagt als getan.

Mama hat zur Krönung des Irrsinns verlangt, dass ich mein Konfirmationshemd anziehe. So seh ich aus wie Daniels Klon. Ich werde mir wohl absichtlich Kaffee oder giftgrünen Wackelpudding drüberkippen.

Sarah wird wahrscheinlich schlafen, wenn wir auf der Station ankommen. Sie wird die Augen zuhaben und davon träumen, Turnschuhe, Bikini und Schlafsack in die Reisetasche zu stopfen und sich mit mir auf den Weg zur Bushaltestelle am Sportplatz zu machen. Sie ist leider zu schwach, überhaupt für längere Zeit aus dem Bett aufzustehen, und ich bin zu jung, um mich gegen meine Eltern durchzusetzen.

Um meine Laune ein bisschen zu heben, stelle ich mir vor, mein Onkel und mein Cousin müssten ohne Matratzen auf den Gestellen der Gästebetten schlafen. Angekettet und ohne Abendessen. Wenn ich ihr Gefängniswärter wäre, würde die Walze schnell wieder auf normale Maße zusammenschrumpfen. Damit hätte ich sogar noch ein gutes Werk getan, weil ich die Krankenkassen entlaste. Die rücken doch so wenig Geld raus, jedenfalls behauptet das mein Vater. Und weil sie selbst der krebskranken Sarah nicht alles bezahlen, müssen wir eben noch was drauflegen: die Urlaubskasse, mein Taschengeld . . . und natürlich die paar Euro, die für meine Wochenendfreizeit mit dem Sportverein draufgegangen wären.