Jasper Fforde

Es ist was faul

Roman

Deutsch von Joachim Stern

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Neuausgabe 2011
© 2006 der deutschsprachigen Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41129 - 5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21296 - 0

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www.dtv.de/​ebooks

Für Maddy, Rosie,
Jordan und Alexander
Mit all meiner Liebe

 

Inhalt

1. Ein Minotaurus in Nebraska

2. In der Heimat

3. Stell mir keine heiklen Fragen

4. Eine Stadt wie Swindon

5. Ham(let) und Cheese

6. SpecOps

7. Die LitAgs

8. Die Zeit wartet auf niemanden

9. Die Anonymen Angehörigen der NichtungsOpfer

10. Mrs Tiggy-winkle

11. Die Größe des hl. Zvlkx

12. Spike und Cindy

13. Milton

14. Das Apologarium

15. Beim Vorstandsvorsitzenden

16. Am selben Abend

17. Emperor Zhark

18. Schon wieder Emperor Zhark

19. Will-Klone jagen

20. Chimären und Neandertaler

21. Sieg auf der Victory

22. Roger Kapok

23. Granny Next

24. Wieder zu Hause

25. Praktische Probleme bei der Ent-Nichtung

26. Frühstück mit Mycroft

27. Unheimliche Scheiße auf der M4

28. Raststätte Dauntsey

29. Die ehemalige Cheshire Cat

30. Das Neandertaler-Reservat

31. Planungskonferenz

32. Zone 21 : Das Elan Valley

33. Shgakespeafe

34. St Zvlkx und Cindy

35. Was Thursday als Nächstes tat

36. Kaine gegen Next

37. Vor dem Spiel

38. WCL SuperHoop ’ 88

39. Sudden Death

40 .Zweite Erste Person

41. Der Tod steht ihr gut

42 .Erklärungen

43. Genesung

44. Der letzte Vorhang

Danksagung

1.

Ein Minotaurus in Nebraska

Seit ich – damals hochschwanger – zur Leiterin der Jurisfiktion ernannt worden war, jener hoch qualifizierten Polizeiorganisation, die innerhalb der literarischen Welt für Ordnung sorgt, waren zwei Jahre vergangen. Genau wie die anderen Agenten der Jurisfiktion hatte ich die Literatur vor allen möglichen Attentaten beschützt und – meist erfolgreich – die Ideen der Autoren und die Erwartungen der Leser gegen die bürokratischen Richtlinien des GattungsRates verteidigt. Die Arbeit war äußerst abwechslungsreich. Mal musste ich den unglaublich schüchternen Darcy überreden, aus der Toilette zu kommen, mal musste ich einen Angriff der Marsbewohner abwehren, die zum x-ten Mal versuchten, Die Leute von Seldwyla zu überfallen. Es gab viele bizarre Abenteuer, aber wenn Das Besondere und Das Völlig Verrückte ganz normal werden, beginnt man sich nach dem Gewöhnlichen dringend zu sehnen.

THURSDAY NEXT,
Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen

 

Gemessen an seiner literarischen Bedeutung hatte uns der Minotaurus schon viel zu viel Ärger gemacht. Nach seinem Ausbruch aus dem Käfig im Schwert der Zanobier hatte uns der stierköpfige Sohn der kretischen Königin auf seinem Weg in den Wilden Westen durch Dutzende von Romanen gejagt. Bereits einen Monat nach seiner Flucht war er in den Riders of the Purple Sage gesehen worden. Wir waren damals noch fest entschlossen, ihn lebend zu fangen, und hatten ihn deshalb mit einer kleinen Dosis Slapstick beschossen. Wir hatten die Theorie, dass wir ihn mühelos finden könnten, wenn im Wilden Westen plötzlich Tortenschlachten ausbrechen oder Leute gegen Laternenpfähle rennen würden, aber das Experiment scheiterte kläglich. Der Slapstick war entweder nicht stark genug, oder die Abneigung der BuchWelt gegen visuelle Späße hatte ihn zu stark verdünnt.

Jedenfalls suchten wir den Minotaurus zwei Jahre nach seiner Flucht immer noch in der weiten Prärie, wo er sich am liebsten beim Viehtrieb versteckte. Und so kam es, dass Commander Bradshaw und ich eines Tages oben auf Seite 73 einer wenig bekannten Cowboystory aus den dreißiger Jahren mit dem Titel Death at Double-X Ranch landeten.

»Na, was meinst du, altes Mädchen?«, fragte Bradshaw, dessen Safarianzug und Tropenhelm absolut ideal für den Nebraska-Sommer waren. Er war fast einen Kopf kleiner als ich, aber viel älter. Seine sonnenverbrannte Haut und sein schneeweißer Schnurrbart stammten aus Afrika. Er war die Hauptfigur von dreiundzwanzig Commander Bradshaw-Kolonialromanen aus den zwanziger und dreißiger Jahren, die 1963 zum letzten Mal gelesen worden waren. Viele Romanfiguren definieren sich über ihre Popularität, bei Commander Bradshaw war das nicht so. Nachdem er sein abenteuerliches und gänzlich fiktionales Leben damit verbracht hatte, Britisch-Ostafrika gegen alle möglichen und unmöglichen Feinde zu verteidigen und praktisch jedes Tier zu töten, das dafür in Frage kam, genoss er jetzt seinen Ruhestand. Seine Kollegen von Jurisfiktion wussten seine Furchtlosigkeit unter Feuer und seine detaillierte Kenntnis der gesamten BuchWelt zu schätzen.

Er zeigte auf das verwitterte Schild mit der Aufschrift: PROVIDENCE, 2 387 Einwohner. Der kleine Ort lag etwa eine halbe Meile vor uns in einer Senke.

Ich hob die Hand, um meine Augen vor der Sonne zu schützen, und sah mich um. Ein Teppich von Salbeibüschen erstreckte sich bis zu den Bergen. Die wiederkehrenden Muster der Vegetation zeigten deutlich, dass ihre Ursprünge fiktional waren. Die chaotische Natur der wirklichen Welt zu beschreiben, war dem Autor nicht möglich gewesen. In der künstlichen Welt, in der ich jetzt seit zwei Jahren wohnte, gab es im Wald nur acht verschiedene Baumarten, am Strand nur fünf verschiedene Kiesel und am Himmel nur zwölf verschiedene Wolken. Am Anfang hatte mich das nicht weiter gestört, aber seit einigen Monaten sehnte ich mich nach einer Welt, wo jeder Baum, Felsen und Hügel seine eigene Gestalt und Identität hat. Die Sonnenuntergänge vermisste ich ganz besonders. Selbst die besten Beschreibungen konnten einem echten nicht das Wasser reichen. Ich sehnte mich danach, wieder einmal die zarten Farben am Himmel zu sehen, wenn die Sonne unter den Horizont sank, den langsamen Wandel von Rot zu Orange, Blau und Lila und Schwarz.

Bradshaw sah mich an und hob fragend die linke Braue. Als Protokollführerin – das heißt als Chefin der Jurisfiktion – hätte ich eigentlich gar nicht im Außendienst arbeiten dürfen, aber ich war nun mal kein Bürohengst, und es war wichtig, den Minotaurus zu fangen. Er hatte einen von unseren Agenten getötet, und das konnte nicht akzeptiert werden.

In der vergangenen Woche hatten wir erfolglos sechs Bürgerkriegs-Epen, drei Planwagen-Schmöker, achtundzwanzig passabel geschriebene Western und neunundsiebzig Cowboyheftchen durchsucht. Nicht mal ein Hauch Minotaurus! Dabei kann so ein Vieh ganz schön hauchen, das können Sie mir glauben.

»Wäre das denkbar?«, fragte Bradshaw und zeigte auf das verwitterte Ortsschild von Providence.

»Wir können’s ja mal versuchen«, sagte ich, setzte meine Sonnenbrille auf und studierte meine Liste mit typischen Minotaurus-Verstecken. »Wenn wir nichts finden, können wir wenigstens zu Mittag essen, ehe wir Oklahoma Kid aufsuchen.«

Bradshaw nickte, öffnete den Verschluss des Jagdgewehrs, das er in der Hand hielt, und legte eine Patrone ein. Die Waffe war ganz konventionell, aber die Munition war es nicht. Unsere Stellung erlaubte uns den Gebrauch postmoderner abstrakter Technologie. Ein Treffer mit der Eraserhead-Kugel in Bradshaws Gewehr, und der Minotaurus würde sich in die Elemente seiner fiktionalen Existenz auflösen: ein bisschen Text und blauer Nebel. Also alles, was übrig bleibt, wenn die Verbindung zwischen Text und Bedeutung zertrennt wird. Der Artenschutz war in diesem Fall kein Problem, denn es gab auf griechischen Urnen, in Büchern und Comics über eine Million praktisch identische Stiermenschen, die brav ihre mythologische Rolle als Kinderschreck spielten. Unser Minotaurus aber war anders. Er war ein SeitenLäufer.

Als wir näher kamen, erreichten uns die Geräusche einer aufstrebenden kleinen Wild-West-Stadt. Ein neues Gebäude wurde errichtet, und das Hämmern der Zimmerleute mischte sich mit dem Schlagen der Hufe, dem Klingeln der Pferdegeschirre und dem Rumpeln der Räder auf der ausgetrockneten Erde. Aus der frisch gestrichenen Bretterkirche hörte man einen Chor singen, während der Hufschmied mit lautem Klingen ein heißes Eisen bearbeitete. Wir erreichten die Ecke von Eckley’s Livery Stables und warfen einen vorsichtigen Blick auf die Hauptstraße.

Providence befand sich im glücklichen Zustand einer ungestörten Kulisse, die der Held der Geschichte erst zwei Seiten später betreten würde. Wir hatten keinerlei Interesse, in die Handlung des Romans verwickelt zu werden, aber das war auch nicht nötig. Der Minotaurus wollte nicht auffallen und hielt sich deshalb auch nur im Hintergrund auf. Sollten wir der Handlung aus irgendwelchen Gründen zu nahe kommen, würde mich der HNA (HandlungsNäheAnzeiger) warnen, den ich dabeihatte. Dann konnten wir uns verstecken, bis sie vorbei war.

Ein Reiter trabte vorbei, als wir die knarrenden Bretter vor dem Saloon betraten. Bevor wir die Schwingtür erreichten, hielt ich Bradshaw noch eine Sekunde zurück, denn der ortsansässige Säufer flog traditionsgemäß gerade hinaus auf die Straße. Der Barkeeper trat hinter ihm aus der Tür und wischte sich an einem Geschirrtuch die Hände trocken.

»Komm bloß nicht wieder, ehe du Geld hast!«, brüllte er und sah uns misstrauisch an.

Ich zeigte ihm meine Dienstmarke, während Bradshaw sich wachsam umsah. Es gab viel zu viele Revolverhelden im Western. Als das Genre eingerichtet wurde, hatte man den Bedarf stark überschätzt, und die vielen arbeitslosen Scharfschützen stellten eine echte Gefahr dar. In einem Western zu arbeiten, konnte bis zu neunundzwanzig Schießereien in der Stunde bedeuten.

»Jurisfiktion«, sagte ich. »Das ist Bradshaw, und ich bin Next. Wir suchen den Minotaurus.«

Der Barkeeper starrte mich feindselig an. »Schätze, ihr seid in der falschen Gattung.«

Alle Personen in einem Roman sind von A-1 bis D-10 klassifiziert. Der Kategorie A gehören die Jane Eyres und Tonio Krögers an, während die Statisten im Hintergrund und Straßenpassanten grundsätzlich bloß Kategorie D sind. Der Barkeeper hatte ein paar Zeilen gehabt, daher war er vermutlich ein C-2 oder höher. Intelligent genug, um ein paar Auskünfte zu geben, aber ohne besondere Tiefe.

»Er benutzt vielleicht den Decknamen Johnson«, erklärte ich und zeigte ihm das Foto des SeitenLäufers. »Groß, breitschultrig, Stierkopf, frisst gerne Menschen.«

»Ich kann euch nicht helfen«, sagte er und schüttelte gelangweilt den Kopf.

»Hattet ihr vielleicht in letzter Zeit eine Slapstick-Epidemie?«, fragte Bradshaw. » Leute, die auf eine Harke treten? Wasserschläuche, die plötzlich losspritzen?«

»Nö«, sagte der Barkeeper. »Hier gibt’s keine spritzenden Schläuche. Aber ich habe gehört, der Sheriff hätte letzten Dienstag eins mit der Pfanne übergebraten gekriegt.«

Bradshaw und ich wechselten vielsagende Blicke.

»Wo ist der Sheriff zu finden?«

Wir folgten der Handbewegung des Barkeepers und wanderten den hölzernen Bürgersteig hinunter. Vor dem Friseurladen saßen zwei graubärtige Goldsucher und redeten höchst authentischen Western-Slang. An einer Seitenstraße hielt ich Bradshaw zurück, denn es sah so aus, als würde es gleich eine Schießerei geben. Vorläufig stritten sich die Beteiligten – die einen in hellen, die anderen in schwarzen Anzügen – aber vor allem darüber, wer an diesem Show-down eigentlich teilnehmen dürfe. Offenbar hatten zwei völlig verschiedene Gruppen dieselbe Zeit zugewiesen bekommen. Die Revolvergürtel hingen schwer an den Hüften, das Weibervolk war ängstlich versammelt, aber die Knallerei konnte nicht losgehen, weil noch nicht entschieden war, welcher Bösewicht von welchem Helden erlegt werden sollte.

Schließlich eilte der Bürgermeister herbei und sagte den beiden Teams, es würde gar kein Show-down stattfinden, wenn sie sich nicht einigen könnten. Daraufhin warfen sie eine Münze. Die Verlierer zogen knurrend mit ihren Frauen davon, während die Sieger auf die Hauptstraße kamen und die Bevölkerung pflichtschuldigst Deckung suchte. Im Abstand von zwanzig Schritten bauten die beiden Revolverhelden sich auf, dann knallte es zweimal, und der Schütze in Schwarz ging zu Boden. Der Held hob seinen durchlöcherten Hut wieder auf und schaute recht grimmig, während er den Revolver einsteckte und seine Liebste ihm an die Brust sank.

»Was für ein Kitsch«, knurrte Bradshaw. »Der echte Westen war anders!«

»Darum geht es doch gar nicht«, sagte ich, während der tote Bösewicht weggeschleift wurde. Natürlich gab es im Wilden Westen kaum je Schießereien. Mit den Revolvern der damaligen Zeit konnte man kaum etwas treffen, und die Rauchentwicklung des Pulvers war so stark, dass man in einem gut besuchten Saloon glatt dran erstickt wäre. Aber Legenden sind eben viel lesbarer. Außerdem gibt es immer mehr schlechte Prosa als gute, und man konnte auch nicht erwarten, dass sich unser gehörnter Freund in einem Zane Grey oder einem Owen Wister versteckte.

Als wir am Majestic Hotel, einer besonders klapprigen Bretterbude, vorbeikamen, rumpelte eine Postkutsche über die Hauptstraße. Die Peitsche knallte über den Köpfen der Pferde, und die Räder wirbelten Wolken von Staub auf.

»Da drüben«, sagte Bradshaw und zeigte auf das einzige aus Ziegeln gemauerte Gebäude der Stadt. Tatsächlich stand das Wort SHERIFF über der Tür. Wir überquerten eilig die Straße, denn unsere Bekleidung war uns jetzt doch etwas peinlich. Unter all den Männern mit Cowboyhüten, karierten Hemden und Patronengurten und den Frauen mit Häubchen, Jäckchen und langen Kleidern wirkten wir ziemlich exotisch. Aber Kostüme trugen nur Agenten mit Daueraufträgen, soweit sie nicht einfach aus dem entsprechenden Genre selbst rekrutiert wurden und sich gar nicht erst umziehen mussten.

Wir klopften und traten ein. Im Inneren war es nach dem grellen Licht auf der Straße relativ dunkel, und unsere Augen brauchten einen Augenblick, um sich anzupassen. An der Wand hingen zahlreiche Steckbriefe, die sich nicht nur auf das Nebraska des Jahres 1875, sondern auch auf die BuchWelt im Allgemeinen bezogen. Für Hinweise auf den Aufenthaltsort von Big Martin wurden zum Beispiel $ 300 geboten. Darunter stand eine Kaffeekanne aus Blech auf einem gusseisernen Ofen. Auf der linken Seite stand ein Gewehrschrank. Auf dem Aktenschrank schlief eine getigerte Katze. Die gegenüberliegende Wand wurde von den vergitterten Zellen gebildet. In einer davon lag ein Betrunkener auf der Pritsche und schnarchte eindrucksvoll.

In der Mitte des Raums stand ein riesiger Schreibtisch, der einen halben Meter hoch mit Gesetzbüchern und Akten bedeckt war. Außerdem befanden sich zwei abgetragene Stiefel darauf, in denen zwei Beine steckten, die am Sheriff festgemacht waren. Seine Bekleidung war größtenteils schwarz und musste dringend gewaschen werden, soweit ich das beurteilen konnte. An seiner Weste hing ein silberner Stern, aber von seinem Gesicht sah man nur den gewaltigen grauen Schnurrbart, der unter seinem Stetson hervorlugte. Auch er schlief den Schlaf des Gerechten und balancierte gefährlich auf den hinteren Stuhlbeinen, die sein Schnarchen mit rhythmischem Quietschen akzentuierten.

»Sheriff?«

Keine Antwort.

»SHERIFF!«

Erschrocken fuhr der Mann hoch, verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Mit Donnergetöse landete er auf dem Boden, wobei seine Beine den Wasserkrug auf dem Schreibtisch umstießen. Das Wasser durchnässte ihn völlig. Das Gebrüll des Gesetzeshüters weckte die Katze, die fauchend in den Vorhang sprang. Die morsche Vorhangstange zerbrach, und das trockene Gewebe fiel auf den heißen Ofen. Beim Versuch, die Flammen zu löschen, stieß ich den geladenen Revolver des Sheriffs vom Schreibtisch. Ein Schuss löste sich und durchtrennte die Schnur, mit der ein ausgestopfter Elchkopf befestigt war. Es erstaunt wohl kaum noch, dass Bradshaw den Elch auf den Kopf kriegte.

Natürlich war das alles sehr ärgerlich, aber gleichzeitig war es genau das, wonach wir gesucht hatten: eine katastrophale Slapstick-Epidemie.

 

»Tut mir leid, Sheriff«, sagte ich, nachdem ich das Feuer gelöscht, meinen Partner von seinem Geweih befreit und dem durchnässten Gesetzeshüter auf die Beine geholfen hatte. Er war über einsneunzig groß, hatte ein wettergegerbtes Gesicht und tiefblaue Augen. Ich zeigte ihm meine Dienstmarke. »Thursday Next, Jurisfiktion. Das ist mein Partner, Commander Bradshaw.«

Der Sheriff entspannte sich etwas und lächelte vorsichtig. »Da bin ich aber froh. Dachte schon, es wären die Baxters«, sagte er und begann sich die Haare mit einem Handtuch der Bordellgenossenschaft Dawson City zu trocknen. »Jurisfiktion, ja? Von euch hab ich schon lange keinen mehr in dieser Gegend gesehen. Halt’s Maul, Howell.«

Howell war der Betrunkene, der jetzt aufgewacht war und einen Whisky verlangte, um »wieder ins Lot zu kommen«.

»Wir suchen den Minotaurus«, erklärte ich und zeigte dem Sheriff das Foto.

Er kratzte sich das Stoppelkinn und schüttelte schließlich den Kopf. »Näh, Missy, das Vieh hab ich noch nie gesehen.«

»Wir haben Grund zu der Annahme, dass er kürzlich in Ihrem Büro war. Er ist mit einem Slapstick markiert worden.«

»Ach, deshalb«, sagte der Sheriff. »Hab mich schon gewundert, warum wir neuerdings alle so rumstolpern.«

»Er könnte sich verkleidet haben und einen falschen Namen benutzen. Sagt Ihnen der Name Norman Johnson etwas?«

»Weiß ich nich’, Missy. Wir haben hier sechsundzwanzig Johnsons, aber die sind alle C-7. Nich’ wichtig genug, um sich Vornamen leisten zu können.«

Ich zog einen Filzstift heraus, setzte dem Foto des Minotaurus einen Stetson auf, malte ihm einen Staubmantel und fügte noch einen Revolvergurt und eine Weste hinzu.

»Ach, der Mr Johnson ist das!«, sagte der Sheriff in jäher Erkenntnis.

»Sie wissen also, um wen es sich handelt?«

»Na klar. War ja erst letzte Woche bei mir im Gefängnis. Er hatte ’nen Viehdieb gefressen.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Er hat seine Kaution bezahlt und wurde entlassen. Der Verzehr von Viehdieben ist nach unseren Gesetzen ja schließlich nicht strafbar. Moment mal!«

Auf der Straße war ein Schuss gefallen, gefolgt von erschrockenen Schreien. Der Sheriff überprüfte seinen Colt und machte die Tür auf. Draußen auf der Straße stand ein einsamer junger Mann, der ihn mit ernstem Blick ansah und seine Hand am Revolvergriff baumeln ließ.

»Geh heim, Abe!«, rief der Sheriff. »Heute ist kein guter Tag zum Sterben.«

»Du hast meinen Pappi erschossen«, sagte der junge Mann. »Und den Pappi von meinem Pappi. Und meine Brüder Jethro, Hank, Hoss, Red, Peregrine, Marsh, Junior, Dizzy, Luke, Peregrine, George und die anderen. Ich fordere dich heraus, Mann des Gesetzes.«

»Du hast Peregrine zweimal gesagt.«

»Den hab ich besonders gemocht.«

»Das ist Abel Baxter«, sagte der Sheriff leise. »Einer von den Baxter Boys. Sie tauchen regelmäßig hier auf, und ich muss sie regelmäßig erschießen.«

»Wie viele haben Sie schon erschossen?«, fragte ich ebenso leise zurück.

»Nach letzter Zählung ungefähr sechzig. Geh nach Hause, Abe, ich sag’s nich noch mal.«

Der junge Mann entdeckte Bradshaw und mich und sagte: »Hast du neue Deputies, Sheriff? Die wirst du auch brauchen!«

Und jetzt sahen wir plötzlich, dass Abel Baxter doch nicht allein war. Aus den Ställen auf der anderen Seite der Straße traten vier übel aussehende Burschen. Ich runzelte die Stirn. Irgendwie passten die Kerle nicht in die Double-X Ranch. Keiner von ihnen trug Schwarz, ihre Sporen klirrten nicht, und sie hatten auch keine geprägten Lederholster mit vernickelten Revolvern, sondern Gewehre. Mit Schaudern sah ich, dass bei einem ein Knopf an der Weste fehlte und bei einem anderen die Schuhsohle schlappte. Fliegen summten den Männern um die verschmutzten Gesichter, und ihre Hüte waren voll Schweiß. Das waren keine Standard-Revolverhelden der Klasse C-2, sondern detailliert gestaltete A-7-Figuren aus einem hochklassigen Western, und wenn sie genauso gut schießen konnten, wie der Autor sie beschrieben hatte, dann hatten wir ein Problem.

Der Sheriff schien das auch zu spüren.

»Wo kommen deine Freunde her, Abe?«

Einer der Männer legte sich die Winchester schussbereit in den Arm und sagte mit träger Stimme: »Uns schickt Mr Johnson.«

Damit eröffneten sie das Feuer. Kein Abwarten, kein Drama, kein erzählerischer Rhythmus. Bradshaw und ich hatten uns längst verzogen. Sich vor einem Revolverhelden aufzubauen ist vielleicht heldenhaft, aber fürs Überleben recht unpraktisch.

Der Sheriff merkte das leider zu spät. Wenn er, wie eigentlich vorgesehen, bis Seite 164 gelebt hätte, wäre die Sache ein bisschen anders verlaufen. Nach einer dramatischen Vorbereitung von etwa zwei Seiten hätte er seine Kugel gefangen. Er hätte sich zweimal im Staub überrollt und dann noch lange genug gelebt, um tränenreichen, aber unblutigen Abschied von seiner Verlobten zu nehmen. Keine Chance. Der Sheriff starb einen realistischen Tod. Die schwere Kugel durchschlug seine Brust und riss ihm ein tellergroßes Loch in den Rücken. Er fiel hart aufs Gesicht, und seine Arme knickten unnatürlich unter seinem Gewicht ein. Er lag nicht einmal flach auf dem Boden, sondern sein Hintern ragte ungeschickt in die Luft.

Sobald kein Ziel mehr da war, stellten die Killer das Feuer ein. Die Schießerei hatte Bradshaws Jagdinstinkte geweckt. Er riss das Gewehr hoch und schoss auf den Mörder des Sheriffs. Es krachte gewaltig, und der Radierer schlug ein. Der Killer wurde mitten auf der Straße getroffen und löste sich in einer Fontäne von Text auf. Wörter zerspritzten zu Buchstaben, bildeten einen blauen Dunst auf dem Boden und lösten sich nach einer Sekunde ganz auf.

»Was machen Sie?«, fragte ich irritiert.

»Er oder wir«, sagte Bradshaw und lud sein Martini-Henry-Gewehr neu. »Er oder wir.«

»Haben Sie nicht gesehen, aus wie viel Text er bestand?«, sagte ich wütend. »Der Mann war über einen Absatz lang! So viel Text kriegen nur wichtige Leute. Jetzt fehlt irgendwo eine Figur, bloß weil Sie ihn voreilig ausradiert haben.«

»Aber das konnte ich doch nicht wissen«, sagte Bradshaw beleidigt.

Ich schüttelte den Kopf. Hatte Bradshaw den fehlenden Knopf, die Schweißflecken und kaputten Schuhe denn nicht gesehen? Wenn eine wichtige Figur ausgelöscht wurde, musste man endlose Formulare ausfüllen, angefangen von F 36 / 34 (Abfeuern eines Radierers) über P 13 / 36 (Schadensabschätzung) bis B 9 / 32 (Ersatzbeschaffung). Das würde mich zwei volle Arbeitstage kosten. Ich hatte gedacht, die Bürokratie in der Wirklichkeit wäre schlimm, aber in der Papierwelt war sie ganz übel.

»Was schlagen Sie vor?«, fragte Bradshaw. »Sollen wir sie höflich bitten, sich zu ergeben?«

»Ich glaube . . .«, erwiderte ich, zog mein mobiles Fußnotofon aus der Tasche und drückte auf den mit Kater markierten Knopf. In der BuchWelt ist das Fußnotofon die übliche Form der Kommunikation, aber hier draußen . . .

»Verdammt! Kein Netz«, murmelte ich.

»Die nächste RepetierStation ist im Virginian«, sagte Bradshaw, ließ das Schloss der Martini-Henry einschnappen und spähte nach draußen. »Aber aus der Trivialliteratur kann man nicht direkt in die Klassiker springen.«

Da hatte er recht. Wir waren seit sechs Tagen von einem Buch zum anderen gesprungen, und obwohl wir uns im Notfall zurückziehen konnten, hätten wir dem Minotaurus damit natürlich einen riesigen Vorsprung verschafft. Das war gar nicht gut, aber so richtig schlimm war es auch nicht – bisher jedenfalls.

»He!«, rief ich aus dem Fenster. »Wir wollen reden!«

»Ach, wirklich?«, sagte eine Stimme von draußen. »Mr Johnson sagt, mit Reden wäre er fertig. Es sei denn, Sie würden ihm Straffreiheit zusichern.«

»Darüber ließe sich reden«, erwiderte ich.

Es piepte in meiner Tasche.

»Verdammt«, murmelte ich und warf einen Blick auf den HandlungsNäheAnzeiger. »Bradshaw, die Haupthandlung nähert sich von Südosten, Abstand derzeit 250 Meter. Seite 74, Zeile sechs.«

Bradshaw schlug sein Exemplar der Double-X Ranch auf. Sein Finger folgte der entsprechenden Zeile: Als McNeil in die Stadt Providence ritt, hatte er noch fünfzig Cent in der Tasche und Mord im Gemüt . . .

Vorsichtig spähte ich aus dem Fenster. Tatsache, da kam ein Cowboy auf einem falben Pferd in die Stadt. Im Grunde war es egal, ob wir die Handlung ein bisschen änderten, denn das Buch war in den letzten zehn Jahren eh bloß sechzehnmal gelesen worden, aber unser Ehrenkodex war streng. »Lasst die Geschichte genau so, wie es der Autor gewollt hat!« Diesen Satz hatte ich mir während der Ausbildung tausendmal anhören müssen. Ich hatte einmal dagegen verstoßen – und einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Ich hatte nicht die Absicht, so etwas noch einmal zu tun.

»Ich muss mit Mr Johnson reden«, sagte ich und behielt McNeil, der immer noch ein Stück weit entfernt war, dabei scharf im Auge.

»Niemand redet mit Mr Johnson, wenn er das nicht wünscht«, erklärte die Stimme. »Aber wenn Sie eine Amnestie anbieten, wird er sie annehmen und keine Menschen mehr fressen.«

»Ehe wir nicht mit Mr Johnson gesprochen haben, gibt’s keine Amnestie!«, rief ich zurück.

»Dann gibt’s keine Abmachung!«, kam es zurück.

Ich spähte wieder nach draußen und sah, wie drei neue Revolverhelden erschienen. Der Minotaurus hatte eine Menge Freunde im Wilden Westen gewonnen.

»Wir brauchen Verstärkung«, murmelte ich.

Bradshaw war offensichtlich derselben Meinung. Er schlug sein JurisfiktionBuch auf und zog eine Pistole mit einer Leuchtrakete heraus. Das war ein TextMarker, mit dem man andere Jurisfiktion-Agenten auf unsere Notlage aufmerksam machen konnte. Das Gerät war erheblich größer als die Seite, in der es versteckt war, denn das JurisfiktionBuch war natürlich multidimensional und räumlich ambivalent.

»Jurisfiktion weiß zwar, dass wir im Western-Genre sind, aber sie wissen nicht genau, wo. Ich schicke mal ein Signal.«

Er ging zur Tür, zielte in die Luft und feuerte. Es gab einen dumpfen Schlag, und die Rakete schoss in den Himmel. Hoch über uns explodierte sie ohne Geräusch, und für den Bruchteil einer Sekunde sah ich den Text der Seite, auf der wir uns befanden, am wolkenlos blauen Himmel. Die Buchstaben waren natürlich verkehrt rum, aber als ich einen Blick in Bradshaws Exemplar von Death at Double-X Ranch warf, stellte ich fest, dass das Wort »ProVIDence« plötzlich drei Versalien aufwies. Jetzt würde bald Hilfe kommen. Die Frage war nur, ob der Minotaurus flüchten oder die Sache auskämpfen würde.

»Mit hübschem Feuerwerk könn’ Sie uns nich’ erschrecken, Missy«, sagte die Stimme. »Kommen Sie freiwillig raus oder müssen wir Sie uns holen?«

Ich warf Bradshaw einen fragenden Blick zu. Der lächelte. »Was ist?«, fragte ich.

»Ist das nicht ein tolles Abenteuer?«, sagte der Commander und kicherte wie ein Schuljunge, der beim Äpfelstehlen erwischt worden ist. »Macht mehr Spaß, als Elefanten zu schießen, sich mit Löwen herumzubalgen oder den Eingeborenen ihre Schätze zurückzubringen, die irgendwelche skrupellosen Ausländer weggeschleppt haben.«

»Das dachte ich früher auch«, sagte ich leise. Zwei Jahre lang hatte ich solche Einsätze durchaus genossen, auch wenn ich oft Augenblicke der Unsicherheit, Nervosität und Furcht erlebt hatte. Aber jetzt hatte ich einen zweijährigen Sohn zu Hause, der mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge brauchte, als ich ihm bei diesem Job geben konnte. Alleinverantwortliche Leiterin der Jurisfiktion zu sein war verdammt stressig, und ich brauchte dringend Urlaub in der wirklichen Welt. Ich hatte es schon vor einem halben Jahr nach dem Abenteuer gespürt, das als das Große Samuel-Pepys-Fiasko in die Annalen eingehen sollte, aber damals hatte ich es noch nicht wahrhaben wollen. Jetzt kehrte das Unbehagen zurück – und war obendrein noch viel stärker geworden.

Irgendwo über uns ertönte ein lautes Rumpeln. Die Scheiben klirrten, der Putz zeigte Risse, und aus den Deckenbalken rieselte Staub. Eine Blechtasse fiel auf den Boden. Ein Schatten fiel über die Straße.

Das Getöse verstärkte sich, übertönte den kläglich wimmernden HNA und wurde schließlich so laut, dass man es nur noch als Vibration und rollenden Donner empfand. Das Büro des Sheriffs bebte wie Espenlaub, und die ganze Straße begann zu zittern. Jetzt endlich begriff ich, was vorging.

»Oh . . . nein!«, heulte ich, während das Getöse zu einem dumpfen Grollen verebbte. »Diese Idioten schicken einen Vorschlaghammer, um Nüsse zu knacken.«

»Emperor Zhark?«, fragte Bradshaw.

»Wer sonst würde mit einem interstellaren Raumschiff in einem Western auftauchen?«

Wir warfen einen Blick nach draußen, wo der majestätische Schlachtkreuzer über uns hinzog. Seine heißen Triebwerke wirbelten Wolken von Sand und Felsbrocken auf und ließen die Stallungen abbrennen. Dann wurden die hydraulischen Standbeine ausgefahren, und das Schiff landete direkt auf McNeil, der zur Größe eines Pennys zusammengequetscht wurde.

Ich dachte an die vielen Formulare, die ich deswegen würde ausfüllen müssen, und das Herz sank mir bis in die Füße. Die Bewohner von ProVIDence rannten herum wie kopflose Hühner, während die A-7-Killer ihre Winchester-Gewehre sinnlos auf die gepanzerte Hülle des Raumschiffs abfeuerten. Innerhalb von Sekunden ergoss sich eine kleine Armee von Zharkischen Marinesoldaten aus der Ladeluke des Kreuzers. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet.

Ich stöhnte. Es kam oft genug vor, dass der Emperor in solchen Augenblicken zu weit ging – viel zu weit. Als unumstrittener Herrscher der Emperor Zhark-Serie und gefürchteter Gottkaiser der Galaxie (soweit sie bekannt war) hatte er von vornehmer Zurückhaltung leider nie was gehört.

In wenigen Minuten war alles vorbei. Sämtliche A-7-Killer waren entweder tot oder hastig in ihre eigenen Bücher geflüchtet, und das Zhark’sche Marine Corps jagte den Minotaurus. Ich hätte ihnen sagen können, dass das keinen Sinn hatte. Der Tiermensch war längst verschwunden.

Dafür musste ich jetzt Quellenforschung betreiben, um die A-7-Figuren und McNeil zu ersetzen. Und die ganze Double-X Ranch musste neu zusammengesetzt werden, um einen Schlachtkreuzer des 26. Jahrhunderts aus einem Roman zu entfernen, der 1875 in Nebraska spielte. Ich war stinksauer, als der Kaiser mit einem Gefolge von Aliens aus seinem Raumschiff herabstieg. In seiner Begleitung befand sich die wie immer etwas bieder gekleidete Mrs Tiggy-winkle, eine weitere Jurisfiktion-Agentin.

»Was zum Teufel soll das Theater?!«

»Oh!«, sagte der Kaiser betreten. »Ich dachte, Sie würden sich freuen, dass wir Ihnen helfen!«

»Die Situation war etwas unangenehm«, sagte ich, »aber doch nicht verzweifelt. Jetzt schauen Sie sich an, was Sie gemacht haben!« Ich zeigte auf die angekokelte Stadt.

Die verschreckten Bewohner kamen gerade aus ihren halb zertrümmerten Häusern. Seit dem Auftritt von Asterix und Obelix in Wild Horse Mesa war nichts so Aufregendes mehr in einem Western passiert.

»Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass Sie mir so etwas antun! Haben Sie überhaupt kein Gefühl für Diskretion und Raffinesse?«

»Nein, eigentlich nicht«, sagte der Kaiser und betrachtete verlegen die Finger an seiner linken Hand. »Tut mir leid.«

Sein Gefolge, dem die Angelegenheit peinlich war, zog sich hopsend, schleimend und stelzend ins Raumschiff zurück.

»Sie hatten doch eine Signalrakete geschickt –«

»Na und? Können Sie kein Buch betreten, ohne gleich alles platt zu machen, was Ihnen begegnet?«

»Regen Sie sich nicht so auf, Thursday«, sagte Commander Bradshaw und legte mir die Hand auf den Arm. »Wir haben um Verstärkung gebeten, und wenn der gute alte Zharky am nächsten dran war, dann sollten wir dankbar sein, wenn er uns hilft. Ich meine, normalerweise vernichtet er ganze Planeten. Da ist es doch schon ein Fortschritt, dass er diesmal bloß Pro VIDence in Nebraska ein bisschen angesengt hat . . .«

»KRRCHZZZ!«, brüllte ich. »Bin ich denn von Idioten –«

Abrupt brach ich ab. Meine Kollegen so zu beschimpfen, war nicht in Ordnung. Einen Nervenzusammenbruch konnte ich mir nicht leisten. Als ich diese Aufgabe übernommen hatte, war sie ein Vergnügen gewesen. Ich hatte genauso viel Spaß wie Bradshaw, aber jetzt war ich fix und foxi. Ich brauchte Urlaub, ich musste nach Hause!

»Thursday?«, fragte Mrs Tiggy-winkle besorgt. »Ist alles in Ordnung?« Sie näherte sich und pikte mich dabei mit ihren Stacheln.

»Autsch!«, kreischte ich und rieb mir den Arm, während Mrs Tiggy-winkle errötend zurücksprang. Igelinnen sind außerordentlich feinfühlig, auch wenn sie sechs Fuß groß sind.

»Mir geht’s gut«, sagte ich und klopfte mir den Staub von den Kleidern. »Es macht mich nur nervös, dass die Dinge immer so . . . außer Kontrolle geraten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie ich das meine? Wie ich das meine? Na ja, heute Morgen war ich noch dabei, im Wilden Westen ein mythologisches Geschöpf zu verfolgen, und heute Nachmittag landet ein Weltraumkreuzer aus dem 26. Jahrhundert in ProVIDence. Klingt das nicht ein bisschen verrückt?«

»Wir sind halt in der Literatur«, sagte Zhark unschuldig. »Da erwartet man eigenartige Dinge.«

»Ich nicht«, sagte ich. »Ich hätte gern etwas mehr Wirklichkeit in meinem Leben.«

»Wirklichkeit?«, sagte Mrs Tiggy-winkle. »Ist das nicht eine Gegend, wo Igel nicht sprechen können und nie Große Wäsche machen?«

»Wer soll denn dann die Jurisfiktion leiten?«, fragte der Kaiser. »Sie sind die beste Protokollführerin, die wir hatten!«

Ich schüttelte den Kopf, warf die Hände in die Luft und ging zu der Stelle, wo die Überreste des von Bradshaw ausradierten Killers im Staub lagen. Ich bückte mich, hob ein D auf und drehte es in den Händen.

»Bitte, überlegen Sie sich das noch mal«, sagte Bradshaw, der mir gefolgt war. »Ich glaube, Sie werden feststellen, dass die Wirklichkeit stark überschätzt wird.«

»Nicht genug, Bradshaw«, erwiderte ich. »Manchmal ist der Job an der Spitze eben doch nicht der einfachste.«

»Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt«, murmelte Bradshaw, der mich wohl besser als die anderen verstand. Er und seine Frau waren die besten Freunde, die ich in der BuchWelt hatte. Mrs Bradshaw und mein Sohn waren fast unzertrennlich. »Ich wusste, dass Sie nicht für immer bleiben würden.« Bradshaw senkte die Stimme, damit uns die anderen nicht hörten. »Wann werden Sie uns verlassen?«

Ich zuckte die Achseln. »Sobald ich kann. Vielleicht morgen.«

Ich warf einen Blick auf die Zerstörung in Death at Double-X Ranch. Die Aufräumarbeiten und der Papierkram würden einige Zeit kosten, und vielleicht gab es sogar ein Disziplinarverfahren, wenn der GattungsRat davon Wind bekam, was passiert war.

»Schätze, ich muss erst noch einen Bericht schreiben«, sagte ich langsam. »Also sagen wir: drei Tage.«

»Sie hatten aber versprochen, Jeanne d’Arc zu vertreten, wenn sie ihren Märtyrer-Fortbildungskurs macht«, sagte Mrs Tiggywinkle.

Das hatte ich völlig vergessen. »Dann eben in einer Woche«, sagte ich. »In einer Woche geh ich in Urlaub.«

Wir standen stumm in der Gegend. Ich dachte an meine Rückkehr nach Swindon, und die anderen – mit Ausnahme von Emperor Zhark, der eine Invasion des Planeten Thraal plante – dachten darüber nach, was es für Folgen haben würde, wenn ich tatsächlich wegging.

»Sie sind fest entschlossen?«, fragte Bradshaw.

Ich nickte.

Es gab außer Emperor Zharks Zerstörungswut noch andere Gründe für meine Rückkehr in die wirkliche Welt. Ich hatte einen Ehemann, der nicht existierte, und einen Sohn, der sein Leben schließlich nicht in der BuchWelt zubringen konnte. Vor allem aber spürte ich, dass mir die klar umrissenen Regeln der Jurisfiktion nicht mehr genügten, ich wollte zurück in die Unsicherheit meiner realen Gefühle.

»Ja«, sagte ich lächelnd. »Ich bin fest entschlossen.«

Trotz all ihrer Fehler hatte ich gern mit Bradshaw, dem Kaiser und Mrs Tiggy-winkle gearbeitet. Es war nicht alles schlecht gewesen. Bei meiner Tätigkeit für die Jurisfiktion hatte ich Dinge gesehen und getan, die ich niemals geglaubt hätte. Ich hatte Grammasiten über den Kuppeln von Xanadu fliegen sehen, ich war auf ungesattelten Einhörnern durch die belaubten Wälder von Zenobia geritten und hatte mit Ozymandias, dem König aller Könige, Schach gespielt. Ich war mit Biggles über den Schützengräben des Ersten Weltkriegs geflogen und hatte mit Long John Silver die Klingen gekreuzt. Ich hatte den unbegangenen Weg erforscht, um auf Englands grünen Hügeln zu wandern. Aber trotz all dieser wunderbaren Momente gehörte mein Herz doch nach Swindon, zu einem Mann namens Landen Parke-Laine. Er war der Vater meines Kindes und mein Ehemann. Ich liebte ihn, auch wenn er nicht existierte.