Dörthe Binkert

Roman

 

If my heart could only talk

Billie Holiday

 

Karl stand auf und hob das Sektglas, während die Glocken im Radio das Jahr 1952 aus- und das Jahr 1953 einläuteten.

Theo rückte seine schwarze Fliege zurecht. Die Kristallgläser klangen. »Prosit Neujahr! Uns allen das Beste!«, rief er.

Sie lachten und tranken.

»Und eine neue Frau für Karl«, sagte Viola feierlich.

»Nun stochere doch nicht immer in alten Wunden rum«, sagte Theo. Er nahm Karl am Arm und zog ihn mit sich. »Komm, Karl, wir machen die Gulaschsuppe warm. Lass du dir nur Zeit mit einer neuen Frau.«

In Karls Schlafzimmer gab es nicht nur zwei getrennt an den Wänden stehende Betten und einen Kleiderschrank, sondern auch einen Herd und ein Küchenmöbel, das allerdings weitgehend leer war. Karl besaß nur einen Suppenteller, der andere war kaputt gegangen, aber Viola goss die dicke, rötlichbraune Suppe einfach in Teetassen und drückte jedem einen Löffel in die Hand. »Da, das macht stark fürs neue Jahr. Und jetzt, Karl, mach die zweite Flasche auf!«

Karl öffnete das Mansardenfenster, griff ins Dunkel hinaus, das nur noch selten von Feuerwerk aufgerissen wurde, und holte die Flasche herein, die er draußen, der Kühle wegen, sorgsam mit Draht angebunden hatte. Theo stellte die Suppe ab, nahm die Flasche entgegen, lockerte den Korken. Der knallte gegen die abgeschrägte Decke, als wolle er direkt durchs Dach Richtung Mond fliegen, und die drei sahen zu, wie er oben abprallte und dann Viola, die auf dem Bett saß, in den Schoß fiel. Theo und Karl setzten sich zu ihr, und das neue Jahr begann.

So hielt es der Selbstauslöser der Kamera fest.

1

Die Kamera war ganz neu.

Theo hatte alle Register gezogen, um den Kauf zu befördern, als Karl und er einige Tage vor Silvester durch die Stadt gebummelt und vor Arnolds Fotoladen stehen geblieben waren. »Mensch, Karl, nun kauf das Ding endlich. Die Rollei ist dir treu, die hält ein Leben. Spiegelreflex. Stativ. Selbstauslöser.«

Karl fand sie bildschön. Das feste graue Schutzgehäuse mit Umhängeriemen, dazu der Belichtungsmesser.

»Und?«, drängte Theo. »Bist du so weit?«

Die Rollei wurde gekauft. Karl liebte sie von dem Moment an, als sie zum ersten Mal um seinen Hals hing, obwohl er sich ein bisschen angeberisch damit vorkam.

Eigentlich hätte Karl sie in Raten bezahlen müssen, aber Theo schien zu wissen, dass diese Tatsache den Kauf in letzter Minute vereiteln konnte. »Wir zahlen bar«, sagte er deshalb zu dem schnöseligen Verkäufer, als der den Preis berechnet hatte. Schulden, das hatte es bei Karls Familie nie gegeben, egal, wie knapp das Geld war, und es war immer knapp gewesen.

Der Lackaffe von Verkäufer betrachtete Theo daraufhin fast schon mit Anerkennung und rieb das graue Gehäuse, nachdem er den Fotoapparat darin verstaut hatte, noch einmal an seinem weißen Kittel blank. Dann überreichte er das gute Stück Theo, der es wortlos an Karl weitergab.

»Jetzt stehe ich in deiner Schuld, Theo. Ich weiß nicht …?«

Sie traten vor die Ladentür. Sacht fielen ein paar vereinzelte Schneeflocken auf den neuen Fotoapparat und verschmolzen mit dem hellen Grau der Hülle.

»… wie du das wiedergutmachen kannst? Geht nicht. Musst du zurückzahlen, mein Lieber.«

Das erste Bild des ersten Films, der Verkäufer hatte ihn noch eingelegt, zeigt den lachenden Theo vor Arnolds Fotoladen in der Mittelstraße. Den Kragen des Wintermantels, Pfeffer und Salz, hat er hochgeschlagen, eine Hand ist in der Tasche vergraben, mit der andern zieht er den Hut zum Gruß. Seine Miene scheint zu sagen: Nun mach schon, es ist kalt.

Viola würde ganz anders dastehen, später. Der Winter passte nicht zu ihr. Sie würde das Gesicht in die Sonne halten und ihm – auf einem Storchenbein stehend, die Arme ausgebreitet wie im Flug – ironisch zublinzeln.

Nachdem Karl Theo versuchsweise auf Zelluloid gebannt hatte, machte er die ersten Fotos bei sich zu Hause.

Alle fanden die Mansarde gemütlich, von Anfang an. Und Karl selbst wollte an keinem anderen Ort mehr leben. Zwei Zimmer mit Dachschräge und ein eigenes Bad. Das Bad ohne Fenster, aber mit Wanne und einem mit Holz beheizbaren Badeofen, der das Bad mitheizte, während er das Badewasser wärmte.

Die ganze Häuserzeile war neu hochgezogen worden, nur das Eckhaus war stehen geblieben und zeigte angekratzten Jahrhundertwendecharme. Die neuen Häuser waren einheitlich grau, Parterre, drei Stockwerke und die Mansarden, nachkriegsfunktional und für alle, die einzogen, ein großes Glück.

Karl hatte die Stadt kaum wiedererkannt, als er zurückgekommen war. Noch kurz vor Kriegsende waren die Bomben gefallen und hatten das Zentrum so gut wie ausgelöscht. Man wusste kaum mehr, wo man war, selbst wenn man sich eine ganze Kindheit und Jugend lang das Netz der Straßen in den Kopf eingeschrieben hatte.

Es war nicht leicht gewesen, die Wohnung zu bekommen. Edith war alle zwei Tage zum Wohnungsamt und zu den Baugenossenschaften gerannt. Sie gab nicht so schnell auf, wenn sie etwas wollte. Und das wollte sie nun wirklich: endlich raus aus der Wohnküche bei seiner Tante. »Tante Gertrud ist ein Drachen«, sagte sie, und die bedrohliche Falte erschien zwischen ihren geschwungenen dunklen Augenbrauen, die sie, das Gesicht ganz nah am Spiegel, mit einer Pinzette in Form zupfte, seit sie das in einer Frauenzeitschrift gesehen hatte. »Du solltest mal den ganzen Tag hier sein und miterleben, wie sie die Türen knallt!«

Edith. Dass sie sich wiedergefunden hatten! Schon lange vor Kriegsende hatten sie nichts mehr voneinander gehört. Das Chaos war einfach zu groß gewesen. Karl an der zusammenbrechenden Front im Osten, Edith im zunehmend eingekesselten Ostpreußen. Er hatte inständig gehofft, dass es ihr gelingen würde zu fliehen. Was ihr von den Russen geblüht hätte, wusste er besser als die Zuhausegebliebenen, denn er war in Russland und sah, was die Deutschen mit den Russen machten.

Im Juni 1945 hatte Edith an seine Eltern geschrieben und nach ihm gefragt. Sie war tatsächlich in den Westen gelangt. Die Adresse, die Karl ihr gegeben hatte, stimmte zwar nicht mehr, aber das Einwohnermeldeamt in Hagen hatte die neue Unterkunft der Osterlohs vermerkt, und der Brief wurde weitergeleitet. Er selbst war damals noch interniert gewesen, aber seine Mutter hatte Edith zurückgeschrieben. Ja, Karl lebe und werde bald entlassen werden.

Noch bevor er Edith wiedersah, die Frau, mit der er sich während des Krieges, vor Urzeiten, wie es ihm schien, verlobt hatte, traf Karl seinen Jugendfreund Theo wieder. Das war im Sommer 1946 in der Arztpraxis von Hermann Gronau. Den kannten sie beide aus den Jahren vor dem Krieg.

Kaum hatte Karl das Wartezimmer betreten, war ein großgewachsener, dunkelhaariger junger Mann von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte gerufen: »Mensch, Karlemann, du!«

»Theo!«

Da lagen sie sich in den Armen. Wunderten sich nicht, dass sie sich wiedergefunden hatten. Aber dass sie es beide zurück nach Hause geschafft und überlebt hatten!

Karl, dem nie die Tränen kamen, außer wenn er glücklich war, musste sehr an sich halten.

»Heulsuse.« Theos vertrautes Grinsen machte die Sache noch schlimmer. »Bist ja wie deine Schwestern …«

»Marie …«, begann Karl.

»Ich weiß«, antwortete Theo und lachte nicht mehr. Marie, Karls jüngere Schwester, war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. »Ich bin schon eine Weile zurück. Ich habe deine Mutter mal besucht. Da warst du noch im Lager.«

»Und deine Eltern?«, fragte Karl.

»Ich wohne bei ihnen«, entgegnete Theo.

Da wurde die Tür zum Behandlungszimmer aufgerissen. Die Patienten zuckten zusammen, aber mit einem gewissen Gleichmut. Der Doktor tat immer so, als gelte es den Feind mit einem Überraschungsangriff zu überwältigen. Aber jetzt war er selbst überrascht.

»Ihr?«, donnerte er, als er Karl und Theo entdeckte, »und gleich alle beide?« Er sah in die Runde und schien blitzschnell seine Patienten abzuschätzen. Dann verkündete er: »Kommen Sie rein, Frau Wiebe. Aber danach ist die Praxis für heute geschlossen. Und ihr«, er wandte sich an Karl und Theo, »ihr geht schon mal vor in die Altstadtklause. Ich komme gleich nach. Das Wiedersehen müssen wir feiern. Ihr könnt mir dann dort erzählen, wie krank ihr seid.«

Die Patienten warfen den beiden böse Blicke zu, wagten aber nicht zu protestieren. Der Doktor war eben so. Entweder man nahm ihn, wie er war, oder man suchte sich einen anderen. Dafür behandelte er einen, wenn er gerade da war, mit schlafwandlerischem Gespür. Notfalls kam er auch nachts nach einem sehen.

»Ich hab’s an den Nieren«, sagte Karl zu Theo. »Kannst du dir vorstellen, wie einem da nach Feiern zumute ist?«

»Da wird er dich mit Bier durchspülen«, sagte Theo. »Bringt bei mir nichts. Ich habe mich geschnitten, die Wunde heilt nicht ab.«

»Dann wirst du wahrscheinlich mit Korn desinfiziert«, erwiderte Karl.

2

Hermann Gronau war ein paar Jahre älter als sie und schon Fähnleinführer gewesen, als sie noch Pimpfe im Jungvolk waren. Karl und Theo bewunderten ihn unglaublich, weil er so viel über Flugzeuge wusste. Sicher war es Hermann zu verdanken, dass sie beide später unbedingt zur Luftwaffe wollten, fliegen oder wenigstens irgendwie damit zu tun haben. Dabei stach keiner von ihnen bei den sportlichen Wettkämpfen, den ewigen Angriffsspielen hervor. Wahrscheinlich war es genau das, was Karl und Theo zusammenbrachte: ein gewisser Mangel an Forschheit. Dennoch schien Hermann sie aus irgendeinem Grund zu mögen. Begeistert von der großen Sache waren sie ja.

Karl sah als Junge aus, wie der Führer sich seine Jugend nur wünschen konnte: Schlank und blond, die glatten Haare fielen ihm über die Stirn bis in die blauen Augen, und blitzend weiße Zähne hatte er, ein überaus gewinnendes Lächeln. Theo wäre auch gern blond gewesen, aber Karl hatte ihm gesagt, er fände dunkle Haare männlich. Theo war als Kind ein bisschen pummelig, deshalb nannte Karl ihn den »Dicken«. Karl war der Einzige, der das sagen durfte, ohne dass Theo sauer wurde. Aus seinem Mund klang es so vertraut, als riefe ihn seine Mutter vom Spielen rauf, nur dass Theos Mutter das nie tat. Mit dem Stimmbruch war Theo dann plötzlich in die Höhe geschossen und hatte allen Kinderspeck verloren.

Als Jugendliche waren Karl und Theo beim Bann, in der Abteilung Kultur. Theo spielte die Posaune und machte bei Theateraufführungen mit, Karl malte mit schwarzer Tusche in deutscher Fraktur Buchstabe für Buchstabe an der Chronik des HJ-Banns 138 »Mark«. Er hatte eine Engelsgeduld und schob, wenn er mit dem Pinsel Tusche in die Feder strich, die Unterlippe vor. Karl machte zu dieser Zeit bereits eine Lehre als Gebrauchsgrafiker in einem Atelier und ging in Wuppertal auf die Gewerbeschule. Die Typografie hatte es ihm besonders angetan Er kannte alle möglichen Schriften, aber die deutsche Fraktur war beim Bann Ehrensache. Karls Chef war mit der Aufgabe betraut, die Bannchronik zu gestalten, und Karl, sein Lehrling, verpatzte nicht ein Wort. Darauf konnte man sich verlassen.

Wie gern hätte Theo seine Familie gegen Karls Familie eingetauscht. Nicht nur wegen Karls Schwestern, aber auch. Karl war sozusagen eingebettet zwischen der älteren Elisabeth und der Jüngsten, Marie, bildschönen Mädchen, die nacheinander eine Verkäuferinnenlehre im Textil- und Modehaus Löwenstein machten und dort gelegentlich Kleider vorführen durften. Auf Fotos waren sie in duftigen Sommerkleidern und großen Strohhüten zu sehen, die die Augen beschatteten und der Schönheit der Mädchen etwas Geheimnisvolles gaben. Manchmal brachte Elisabeth Bonbonnieren von der Confiserie Höfer nach Hause, die aufmerksame Kunden ihr im Laden verehrt hatten und von deren Inhalt auch Karl und Theo kosten durften. Die Pralinenschachteln von Höfer hatten so üppig breite Schleifen aus Satin wie die, die Karls Mutter ihren Töchtern ins Haar gebunden hatte, als sie noch klein waren. Elisabeth hatte dunkle Haare, ein herzförmiges Gesicht und tiefblaue Augen, Marie war blond und helläugig wie Karl, ein leises, bescheidenes Mädchen, das der älteren Schwester grundsätzlich den Vortritt ließ.

Die drei Kinder der Osterlohs waren wie am Schnürchen auf die Welt gekommen, jeweils mit exakt zwei Jahren Abstand. Theo hingegen war ein Einzelkind. Er besuchte das Gymnasium, eine Selbstverständlichkeit für den Sohn eines Lehrers.

In seinem Denken war der alte Schulze in der deutschen Vergangenheit verwurzelt, und da vor allem in dem doch eben erst unter Bismarck und dem Kaiser erblühten National-, Militär- und Beamtenstaat. Er hielt rein gar nichts von den Versuchen der kränkelnden Weimarer Republik, demokratisches Denken in deutsche Köpfe zu pflanzen. Theos Vater war von Anfang an ein Nationalsozialist gewesen, überzeugt, dass nur eine starke Führung und nicht die linken Verräter, die den Versailler Frieden unterzeichnet hatten, das in den Staub gezwungene Deutschland wieder aufrichten konnten. Mit dieser Meinung hielt Ludwig Schulze nie hinter dem Berg, und er verbreitete sich auch gern am Sonntagmittag darüber, sodass sich das Essen hinzog. Theo bemühte sich zuzuhören, während er mit der Zunge die zwischen den Zähnen verkeilten Fasern des Sonntagsbratens zu lösen versuchte.

»Wir haben es ja erlebt«, sagte sein Vater, und es war, als säße man jeden Sonntag in der gleichen Predigt, »was es geheißen hat, als im November 1918 der sozialistische Arbeiter- und Soldatenrat unsere Stadt verwaltete. Offene Gefechte zwischen den Roten und dem Freikorps Lichtschlag alle Tage. Was, Käthe? War doch, als ob der Krieg gar nicht aufgehört hätte.«

Theo streifte verstohlen eine Fleischfaser am Stuhlbein ab.

»Das hätte ich euch gleich sagen können, dass die Reichswehr dem Gerangel hier kein Ende macht«, fuhr Ludwig Schulze fort, »egal, wie gründlich sie im Frühling 1920 die rote Ruhr-Armee niedergeschlagen haben. Eine schwache Regierung hat eben stumpfe Waffen.«

Theo kannte jedes Wort auswendig. Gleich würde sein Vater auf die Ruhrbesetzung durch die Franzosen kommen.

»Guck nicht aus dem Fenster, wenn ich mit dir rede!«

Theo gab sich einen Ruck.

»1923. Vergiss dieses Datum nie, Theo. Da sind die Franzosen in deine Heimat einmarschiert. Wollten unsere Ruhrkohle beschlagnahmen, weil wir die blutsaugerischen Reparationsforderungen nicht erfüllen konnten. Aber der Führer, die deutsche Jugend und auch du«, er zeigte mit dem Finger auf Theo, »wirst die Schande der Ruhrbesetzung und die von Versailles eines Tages tilgen.«

Der Bogen zur Gegenwart war geschlagen. Theo nickte erleichtert. »Ja, Vater, das weiß ich. Darf ich jetzt zu Karl?«

Theos Geburt war kompliziert gewesen. Käthe Schulze solle besser keine weiteren Kinder bekommen, meinte der Arzt, obwohl sie damals blutjung war, gerade mal einundzwanzig. So suchte sie sich andere Betätigungsfelder, engagierte sich in der NS-Frauenschaft und war eine begeisterte Turnerin. Dass Theo nicht besonders sportlich war, sondern sich mehr für Musik interessierte, enttäuschte sie. Theo langweilte sich zu Hause, seit er denken konnte. Darum ging er so oft wie möglich zu Karl und seinen Schwestern. Außerdem konnte Karls Mutter die leckersten Reibekuchen machen.

Selma Osterloh, Karls Mutter, nähte. Sie nähte fast immer, für fremde Leute wie für die eigene Familie. Sie saß an der Nähmaschine in einer Ecke der großen Wohnküche, und zum Rattern der Nadel, die eilig und ungeduldig in den Stoff stach, zum Auf und Ab der schwarz beschuhten Füße, die das gusseiserne Pedal traten und so das Schwungrad in Bewegung hielten, schmetterte der Kanarienvogel. Oft sang Selma Osterloh auch selbst, wenn der Vogel nicht gerade vor sich hin trillerte, und verstummte mit einem Lächeln, wenn jemand zur Tür hereinkam.

»Na, meine Jüngsken«, sagte sie, wenn Karl und Theo den Raum betraten, »hungrig und müde?«

Oft ging Theo gleich nach der Schule zu Osterlohs und machte an dem großen Esstisch mitten in der Küche Schulaufgaben, bis Karl vom Atelier nach Hause kam. Karls Schwester Elisabeth war schon in der Lehre, aber Marie saß oft am selben Tisch mit Schulheften, die so säuberlich eingeschlagen wie ihre Kleider gesäumt waren. Sicher hatte sie die hübschesten Kleider von allen in der Klasse. Manchmal saßen sie auch zu dritt vor ihren Heften, wenn Marie ihre Freundin Viola mitbrachte. Viola war lebhaft, zu lebhaft für die stets peinlich aufgeräumte, von Fleiß erfüllte Küche. »Nun halt schon still!«, sagte Marie manchmal. »Ich verwackele ja die Buchstaben.«

Weder Karl noch Theo schenkten Viola Beachtung. Sie nannten sie das Storchenbein, weil sie so lange Beine hatte und so dünn war. Karl interessierte sich eigentlich noch gar nicht für Mädchen, und Theo schwärmte für Karls Schwester Elisabeth, die hohe Absätze trug, zierlich wie ein Püppchen war und nach Kölnisch Wasser duftete. Der unerbittliche, perfekt gestärkte Kragen ihrer weißen Bluse ließ Theo jedes Mal erschauern. Er wartete insgeheim darauf, dass sie gegen Abend in die Wohnung schwebte und verzögerte deshalb unter verschiedenen Vorwänden den Aufbruch, zu dem Karl, der von Theos Anbetung für seine Schwester nichts wusste, eilig drängte, wenn sie zu irgendeiner HJ-Veranstaltung wollten. Hermann Gronau hatte ihnen immer Karten für die Abendveranstaltungen besorgt, zu denen sie eigentlich noch nicht hätten gehen dürfen.

 

Und mit genau diesem Hermann Gronau saßen sie im Sommer 1946 in der Altstadtklause bei Bier und Korn.

»Die Rechnung geht auf mich«, rief Hermann dem Mann am Tresen zu. Er stand auf und kramte das Geld aus der Hosentasche, in der Münzen und Noten lose durcheinanderfielen. »Karlemann kriegt gleich in der Praxis noch eine Spritze, damit die Nierensteine nicht so rumpeln. Was, mein Lieber?«

Er riss die Kneipentür auf, schob die beiden hinaus auf den Gehweg und hakte den leicht gekrümmten Karl unter. »Und du«, nickte er Theo zu, »kannst auch gleich mitkommen, wenn du willst.«

3

Seit Ende des Krieges wohnte Theo wieder zu Hause. Das Haus seiner Eltern war nur wenig beschädigt, die Eltern hatten beide überlebt. Er war vierundzwanzig Jahre alt, als er in sein ehemaliges Kinderzimmer zurückkehrte.

Die Möbel waren unversehrt, nur stand jetzt ein weiteres Bett darin. Käthe Schulze war doch noch einmal schwanger geworden und hatte im Jahr 1940 einem weiteren Sohn das Leben geschenkt – was sie fast das eigene gekostet hätte. Der kleine Siegfried aber war wohlauf, und sein Kinderbettchen wurde in Theos Zimmer aufgestellt. Theo wusste nicht viel mit dem Nachzügler anzufangen, er hätte fast sein Vater sein können, neunzehn Jahre älter, wie er war.

Sonst hatte sich in seinem alten Kinderzimmer nicht viel verändert. Einige Fotos, die er als Junge an die Wand gehängt hatte, waren verschwunden. Andere, vor allem die Aufnahmen verschiedener Flugzeugtypen, hingen noch an ihrem alten Platz. Theo stand vor den leeren Stellen seiner Bilderwand und konnte die Lücken problemlos mit seinen Erinnerungen füllen.

Da war Goebbels Besuch im Sommer 1932; Goebbels war damals Berliner Gauleiter der NSDAP gewesen. Der alte Schulze hatte seinen Sohn Theo zur Großkundgebung auf die »Kuhweide« mitgenommen. Die Straßen der Stadt waren schwarz von Menschen, zehntausend hatten an der Veranstaltung teilgenommen. Am Rand der Kundgebung gab es Proteste und Gegendemonstrationen, es kam zu Straßenschlachten. In eine wären sie auf dem Nachhauseweg fast hineingeraten. Nichts, was sich in seinem elfjährigen Leben bis dahin ereignet hatte, war so in Theos Kopf haften geblieben. Das Foto, das Goebbels während seiner Rede zeigte, hatte er aus der Zeitung ausgeschnitten und mit einem Ehrenplatz an der Wand bedacht.

Und dann war da das schöne Foto vom Haus Busch gewesen. Ein kleiner Steppke war er noch, als ihn die Eltern mit zum Besuch bei dem Hauptmann Franz Pfeffer von Salomon nahmen, der dort residierte. Er war ein Parteifreund seines Vaters. Theo selbst konnte sich nicht an den Nachmittag erinnern, er war zu der Zeit nicht älter als vier, fünf, aber die Eltern erzählten bei jeder Gelegenheit davon, denn auch der Führer und Rudolf Hess waren dort schon zu Gast gewesen. Aber nun war augenscheinlich selbst der Anblick der harmlosen Fassade des Hauses Busch ein verräterisches Indiz, das seine Eltern lieber aus dem Weg geräumt hatten.

Theo holte ein Küchenmesser, lockerte mit der Klinge die Reißzwecken, mit denen die verbliebenen Fotos befestigt waren, und hängte auch den Rest der Bilder ab. Die leere Wand in ihrem schmuddeligen gelbbräunlichen Chamois war ihm lieber als die lückenhafte Bildersammlung, die ihn daran denken ließ, dass es nur noch Flicken und Leerstellen gab, eine in Scherben gefallene, zerfetzte Welt, in der nicht einmal mehr die Bruchstücke der Lebensläufe der einzelnen Menschen zusammenpassten. »Irgendwann, wenn es wieder Farbe gibt, streichen wir die Wand«, sagte er zu Siegfried, der ihn nur staunend ansah.

Theo war kurz nach Kriegsende aus der Gefangenschaft entlassen worden, noch vor seinem Geburtstag im Oktober. Es war ein Weg zurück in eine unkenntlich gewordene Heimat. Natürlich, da war der Fluss, an dem man sich orientieren konnte. In der Volme trieben Gerümpel, Halbverkohltes, Zersplittertes. Der Wasserspiegel war angestiegen davon. Das Erste, was er von seiner Heimatstadt wirklich erkannte, war das Rathaus. Nur Reste standen noch und halbe Kirchtürme, tief gefüllt mit Himmel.

 

Der Frankreichfeldzug war so verlaufen, wie sie sich die Eroberung eines Landes in der Hitlerjugend vorgestellt hatten. Danach kommandierte man ihn ab nach Afrika. Er kam zu Rommels Truppen in Libyen, worum ihn viele Kameraden beneideten. Aber Rommel war weniger beliebt bei seinen Leuten, als es immer hieß. Theo, Funker bei der Flugsicherheit, bekam ihn nie zu Gesicht.

Am 16. Februar 1941 standen die Deutschen in Syrte, am 24. März besetzten sie El Agheila, im April schlossen sie mit Hilfe verbündeter italienischer Divisionen Tobruk ein. Dann begannen die Nachschubschwierigkeiten. Trotzdem hatte Rommel im Juni 1942 Tobruk erobert. Dann wendete sich das Blatt. Die erste Schlacht von El Alamein endete im Juli mit einem Patt, im Oktober 1942 zwangen die Alliierten unter General Montgomery Rommel in der langen, verlustreichen zweiten Schlacht von El Alamein zum Rückzug. Aus Siegen wurden Niederlagen. Theo kam es nun so vor, als seien sie immer nur auf dem Rückzug, obwohl es aus dem Reich ganz anders klang. Die Nachrichten, die von zu Hause kamen, die Reden und Siegesmeldungen erschienen ihm unwirklich. Generalfeldmarschall Rommel weigerte sich, dem Befehl Hitlers zu folgen und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Er zog die Truppen ab. Gewissermaßen verdankte Theo ihm sein Leben.

Die nächste Station war Italien gewesen. Die Achsenmacht Italien wankte. Als die Alliierten im Juli 1943 auf Sizilien landeten, Mussolini abgesetzt wurde und Italien nach der Landung alliierter Truppen auf dem Festland einen Waffenstillstand schloss, erklärte Deutschland den ehemaligen Freund und Verbündeten zum Feind. Theo aber, der mit seiner Einheit längere Zeit in Verona und Ravenna stationiert war, hatte sich mit einem Italiener, Massimo, angefreundet.

Italien. Was für ein Land, selbst im Krieg. Und das Italienische! Da war so viel Wohlklang. Theo sprach die Wörter lustvoll aus, ohne sie zu verstehen. Massimo gab ihm Italienischunterricht, Theo hatte ein gutes Ohr und eine schnelle Auffassungsgabe. Rommel, der die deutschen Truppen in Norditalien führte, hielt nichts von solcher Freundschaft. Er ließ über eine Million entwaffnete italienische Soldaten als »Militärinternierte« zur Zwangsarbeit nach Deutschland schaffen. Theo verlor seinen neuen Freund. Der umarmte ihn, gab ihm die Adresse seiner Mutter und versuchte sich zu den Partisanen durchzuschlagen.

Die Amerikaner und Briten rückten weiter den Stiefel hinauf, seine Einheit wurde verlegt. Rückzug. Weiterer Rückzug. Noch in Italien geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Dort ging es ihm gut, er konnte sich fast frei bewegen. Das Wort Kriegsgefangenschaft passt eigentlich nur zu den letzten wenigen Wochen, wo sie in einem Kriegsgefangenenlager auf die Entlassung vorbereitet wurden. Mit einigen Italienisch- und Englischkenntnissen und ohne jede Verwundung kehrte Theo nach Hause zurück.

 

In den Turnhallen der Stadt waren kurz nach Kriegsende Ausgebombte und Flüchtlinge untergebracht. Theos Mutter konnte nicht mehr turnen, auch die NS-Frauenschaft gab es nicht mehr. Theos Vater, Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbundes und Parteimitglied der NSDAP seit 1925, wurde nicht wieder als Lehrer angestellt. Er blieb nach Möglichkeit im Haus, und Käthe sah zu, was sie auf dem Schwarzmarkt oder bei den Bauern auf dem Land tauschen konnte. Die Rationen der Lebensmittelmarken waren ein Hohn, wenn man überhaupt bekam, was daraufstand.

Theo fühlte sich, wie früher schon, zu Hause fremd. Er wollte leben, neu anfangen, er war noch jung und wollte etwas lernen. Sein Vater war damit einverstanden, dass er studierte. Die ersten Züge fuhren, überquellend voll, schon bald wieder auf behelfsmäßig instand gesetzten Schienen, hielten an zerbombten Bahnhöfen oder Ersatzbahnhöfen. Und so fuhr Theo morgens in die nahegelegene Universitätsstadt und kam erst abends zurück.

Die alte Wohnung von Karls Familie nahe den Bahngleisen, in der Theo sich als Junge wie daheim gefühlt hatte und in der er im Winter so ungern aufs Klo im Zwischenstock gegangen war, weil einem bei Kälte fast der Hintern auf der Klobrille festfror, gab es nicht mehr. Eine kümmerliche Trümmerbirke hatte schon in einer Mauerritze der Ruine Wurzeln geschlagen. Doch Theo fand einen Zettel, den Heinrich und Selma Osterloh für alle, die nach ihnen suchten, an der Mauer befestigt hatten. Das Papier war schon ziemlich unleserlich, aber er konnte die Adresse entziffern, wo sie untergekommen waren.

Theo besuchte die Osterlohs im Haus der Witwe Strautkamp, wo sie einquartiert worden waren. Aber es war nicht mehr wie früher. Theo war kein Junge mehr. Karls Mutter nähte noch, aber ein Kanarienvogel sang nicht mehr dazu. Ihr aschblondes Haar war weiß geworden. Theo bemerkte es nicht gleich, weil sie ihr Haar nach wie vor in einem Knoten trug.

»Eine Brandbombe«, sagte sie, als er nach Karl und seinen Schwestern fragte. Sie wollte weitersprechen, schüttelte dann aber den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Er legte die Hand auf ihren Arm.

»Der Großangriff vom 2. Dezember 44«, sagte sie schließlich. »Es waren Hunderte von britischen Maschinen in der Luft. Ich weiß nicht, wieso es keinen Voralarm gab, was mit unserer Luftverteidigung los war. Gleich Vollalarm, ohne Vorwarnung. Abends um halb neun. Wir rannten los, Marie und ich, Richtung Bunker, aber da fielen die Bomben schon. Alle rannten, die einen wollten zum Bunker, andere versuchten, in irgendwelche Hauskeller zu kommen. Aber beim ersten Großangriff waren die Kellerausgänge oft von den Trümmern der Häuser verschüttet worden, und die Menschen kamen dann nicht mehr raus. Marie und ich schrien uns zu, dass wir lieber bis zum Bunker wollten. Dann wurden wir getrennt, ich stolperte, fiel hin, blieb zurück. Die Stadt war feuerrot erleuchtet von den Kaskaden der Zielmarkierungen. Die Brandbomben fielen wie Hagel. Von unserer Flakabwehr keine Spur.« Sie verstummte, aber Theo hatte längst verstanden.

Dann sagte sie, als wolle sie die Geschichte nun doch zu ihrem schrecklichen Ende bringen: »In der Marienkirche haben sie die Toten gesammelt, Menschenreste, Leichenteile lagen da in langen Reihen. Die Polizeibeamten nahmen die Personalien auf, wenn ein Angehöriger jemanden wiedererkannt hatte.«

Theo schwieg.

»Zinkblechwannen voller Leichenteile brachten sie herein«, sagte Karls Mutter so leise, dass Theo sie fast nicht mehr verstand.

Er lehnte sich weit zu ihr vor.

»Wenigstens habe ich sie gefunden. Sie ist von den Trümmern eines einstürzenden Hauses getroffen worden. Nicht weit vom Bunker entfernt. Ich habe ihr Kleid erkannt. Das Kleid, das sie unter dem Mantel trug. Das hatte ich ihr doch genäht.«

Als er sich verabschiedete, umarmte sie ihn.

»Viola hat uns vor kurzem besucht«, sagte sie, als sie schon an der Tür standen. »Sie wollte nach Marie fragen. Die beiden hatten sich so lange nicht gesehen. Viola, Maries Schulfreundin, erinnerst du dich noch?«

Ja, Viola. Das Mädchen mit den Storchenbeinen. Er erinnerte sich.

4

Im Sommer 1945 war Viola bei den Osterlohs erschienen, um nach Marie zu fragen. Sie wusste, dass Marie gleich nach der Lehre im Modehaus Löwenstein – im Jahr 1939 musste das etwa gewesen sein – einen Mann kennengelernt und sich mit ihm verlobt hatte. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren. Jetzt, da der Krieg vorbei war, dachte Viola wieder häufiger an Marie. Hatte sie geheiratet, war sie in der Stadt, lebte sie noch? Es war am einfachsten, nach den Eltern Osterloh zu suchen. Und sie machte sie ziemlich schnell ausfindig.

Ja, Marie hatte noch geheiratet, erfuhr sie, eine Kriegshochzeit wie so viele, das gab eine kleine finanzielle Unterstützung. Ihr Mann hatte überlebt, einer seiner Kameraden hatte Ende 1945 Maries Eltern aufgesucht und berichtet, dass er wohl bald aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen werde. Die Nachricht vom Tod seiner Frau hatte er allerdings schon erhalten.

»Und was machst du?«, hatte Maries Mutter gefragt.

»Ich habe eine Schneiderlehre gemacht.« Viola blickte auf Selma Osterlohs Nähmaschine. »Im Moment arbeite ich bei der Bahnhofsmission in Dortmund. Es herrscht ein solch unbeschreibliches Chaos. Heimkehrende Soldaten, Flüchtlinge aus dem Osten, Evakuierte, die wieder heimwollen und entdecken, dass sie kein Zuhause mehr haben. Alle sammeln sich bei uns. Daneben übersetze ich hier und da für die Engländer. Sprachenlernen fällt mir leicht, das macht mir richtig Spaß. Langsam verstehe ich immer mehr. Wir brauchen die Besatzer, wenn wir die Leute irgendwie versorgen wollen.«

Maries Mutter drückte schweigend den Rücken durch.

»Ich glaube, ich muss dann mal wieder«, sagte Viola unsicher.

»Möchtest du etwas Stoff mitnehmen?«, fragte Maries Mutter und erhob sich, ohne Viola noch zum Bleiben aufzufordern. »Ich habe noch Fahnenstoff. Nimm ruhig was mit. Näh dir ein Kleid daraus.«

5

Karl war nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft bei Tante Gertrud untergekommen, der Schwägerin seines Vaters. Seit Theo und Karl sich in Hermann Gronaus Wartezimmer wiederbegegnet waren, trafen sie sich regelmäßig. Sie versuchten, die zerrissenen Fäden wieder aufzunehmen.

»Weißt du noch? ›Wir sind geboren, für Deutschland zu sterben‹«, sagte Theo.

»›Nun lasst die Fahnen fliegen in das große Morgenrot, das uns zu neuen Siegen leuchtet oder brennt zum Tod‹«, antwortete Karl darauf. So ging das Lied der Hitlerjugend. Natürlich hatten sie an die Siege gedacht, für die sie sterben wollten, und nicht an ein Leben in der Niederlage. Aber darüber sprachen sie jetzt nicht.

»Kannst du dich eigentlich noch an Viola erinnern?«, fragte Theo eines Tages.

»Welche Viola?«, fragte Karl zurück.

»Na, die Schulfreundin deiner Schwester.«

Karl dachte nach. Aber er sah nur Marie vor sich. Die kleine Marie, wie begeistert sie war, wenn er sie mit nach draußen nahm und sagte, sie dürfe mit ihm und den Größeren spielen. Dabei hatte er sie nur an ein Plätzchen gesetzt, wo sie keinem im Weg war und er sie im Auge hatte. »Pass schön auf unsere Murmeln auf«, hatte er ihr eingeschärft. »Dass keins von den Schröder-Blagen kommt und sie klaut.« Und dann saß sie brav da, im schütteren Gras, durch das man den bröckeligen graubraunen Untergrund sah, mit ihrem gesmogten Hängekleidchen und der großen Schleife im Haar. Sie winkte ihm mit ihrem weichen Kinderhändchen zu, während er mit den anderen Jungen spielte.

Natürlich hatte Mutter ihr das Hochzeitskleid genäht. Marie hatte ihm ein Foto ins Feld geschickt. Richtig elegant hatte sie ausgesehen und sehr glücklich. »Zwei Tage nach der Hochzeit musste Ernst schon wieder zurück an die Front«, hatte sie in ihrer Schulmädchenschrift geschrieben. »Aber das geht ja allen so, die jetzt heiraten.«

»Viola hat mal deine Mutter besucht, kurz nach dem Krieg, und hat nach Marie gefragt. Die Viola, die mit den Storchenbeinen«, setzte Theo Karl auf die Schiene. »Deine Mutter sagt, sie hat sich sehr gemausert.«

»Hieß sie nicht Matussek?« Karl kramte den Nachnamen aus dem Dunkel seiner Erinnerungen hervor.

»Ja, genau. Matussek hieß sie.«

»Und wie kommst du jetzt gerade auf die?«, fragte Karl.

»Ich weiß nicht. Einfach so.«

Karl grübelte. »Sie hatte braune Augen«, sagte er schließlich.