Renate Welsh

Ohne Vamperl geht es nicht

Mit Bildern von Heribert Schulmeyer

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Renate Welsh

Renate Welsh lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Für ihre Kinder- und Jugendbücher hat sie neben zahlreichen anderen Auszeichnungen mehrfach den Österreichischen Staatspreis, den Preis der Stadt Wien und den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten. Mit dem ›Vamperl‹ schuf Renate Welsh einen der beliebtesten Klassiker der Kinderliteratur.

 

 

Heribert Schulmeyer, geboren 1954, zeichnet schon seit seinem zwölften Lebensjahr. Er studierte an der ehemaligen Kölner Werkschule im Fachbereich Illustration und Freie Grafik und lebt heute als freier Illustrator in Köln.

Über das Buch

»Ach, Vamperl!«

 

Im Gegensatz zu Vamperl hat sein Sohn Purzel nur Unsinn im Kopf. Statt unter den Menschen für Frieden zu sorgen, freut er sich, wenn es so richtig rundgeht. Als er dann auch noch anfängt, BLUTwurst zu mögen, beginnt Frau Lizzi sich ernsthaft Sorgen zu machen. Keine Frage: Ohne Vamperl geht es nicht! Doch der ist gerade im fernen Transsilvanien. Also müssen Hannes und Frau Lizzi sich etwas einfallen lassen.

 

Die geliebte Geschichte vom Vamperl und seinem Sohn Purzel — ein Vorlesespaß für die ganze Familie!

Impressum

Ungekürzte Ausgabe

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München

© 2010 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagbild: Heribert Schulmeyer

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-40640-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71756-4

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423406406

Lass das, Purzel!

Frau Lizzi saß mit aufgestützten Ellbogen am Küchentisch. Vor ihr lag die Zeitung von gestern, aber kaum hatte sie eine Überschrift überflogen, setzte sich Purzel mitten auf den Artikel, den sie lesen wollte.

Sie schimpfte. Er grinste.

Sie schubste ihn weg. Er rutschte zurück.

»Kann ich nicht ein einziges Mal in Ruhe lesen, was auf der Welt passiert?«

Er schüttelte den Kopf und blies eine Spuckeblase.

»Wenn du so weitermachst, dann …« Sie drohte ihm mit dem Finger.

Er rieb seinen kleinen runden Kopf an ihrem Daumen.

»Du glaubst, du kannst mit mir machen, was du willst«, brummte sie.

Er kitzelte ihre Handfläche mit einem Flügel.

Frau Lizzi seufzte. Was hatte sie sich da angetan mit Vamperls Sohn? Warum hatte sie nicht darauf bestanden, dass er mit Vamperl, Vamperlina und Schnurzel nach Transsilvanien fuhr? Ein ruhiges Leben hätte sie haben können, wie es sich gehörte für eine alte Frau.

 

Die Wohnungstür flog auf, krachte gegen den Küchenkasten. Hannes kam hereingestürmt.

»Unsere Englisch-Miss spinnt!«, rief er. »Die ist nicht ganz dicht, ehrlich. Morgen will sie zwei Seiten Vokabeln prüfen!«

Er schleuderte das Vokabelheft über den Tisch. Purzel jaulte auf und steckte seinen linken Fuß in den Mund.

»Wann hat sie euch das aufgegeben?«, fragte Frau Lizzi. »Vorgestern? Oder vorvorgestern?«

Hannes warf ihr einen bösen Blick zu. »Sie sind herzlos«, sagte er.

Frau Lizzi nickte. »Ich weiß. Und jetzt gib das Heft her. Ich prüfe dich ab.«

»Sie können doch gar kein Englisch«, blaffte er.

Sie musterte ihn streng. »Aber lesen kann ich!«, trumpfte sie auf.

Er setzte sich auf den Hocker wie auf eine Anklagebank.

»Also dann. Genug?«

»Wieso genug? Keinen Krümel hab ich bekommen und hab einen Riesenhunger!«

Frau Lizzi grinste. »In zehn Minuten können wir essen. Bis dahin geht sich eine Seite Vokabeln aus. Noch einmal: genug

»Inaff«, brummte Hannes.

Was war in Frau Lizzi gefahren? Sonst gab es nichts Wichtigeres auf der Welt, als ihm einen vollen Teller vor die Nase zu stellen, sobald er aus der Schule kam. Gleich nach Vamperls Abreise hatte sie zu seiner Mutter gesagt: »Ab heute isst Hannes bei mir. Dann lohnt es sich wenigstens zu kochen. Und ich kann mich ein bisschen um seine Hausaufgaben kümmern.«

Frau Lizzi schüttelte den Kopf.

»Das heißt aber inaff«, beharrte er.

»Warum steht dann hier e-n-o-u-g-h, wenn es inaff heißt? So ein Blödsinn.«

»Eben. Sagen Sie das der Englisch-Miss!«

 

Später am Nachmittag klopfte es zart an die Wohnungstür.

Hinter einem riesigen bunten Blumenstrauß tauchte der schüttere Schopf von Professor Obermeier auf.

Frau Lizzi hob hastig die Füße aus der Waschschüssel, Wasser schwappte auf den Küchenboden.

»Oh, Verzeihung, ich sehe, ich störe …«, stotterte der Professor.

Er rammte Frau Lizzi den Blumenstrauß ins Gesicht, ihre Brille und ihre Nase wurden gelb vom Blütenstaub. Als er sah, was er angerichtet hatte, fiel er in sich zusammen und rang die Hände.

Frau Lizzi fing an zu kichern. Sie stellte den Blumenstrauß in einen Kochtopf, für ihre Vasen war er viel zu groß. Dann putzte sie ihre Brille.

Sogar Professor Obermeier musste lächeln, als er ihre gelbe Nase sah.

Frau Lizzi füllte die Kaffeemaschine. Ihr Blick fiel auf ihre nackten Füße. Ihre Zehennägel gehörten geschnitten.

»So setzen Sie sich doch endlich«, herrschte sie den Professor an. »Nicht einmal einen Kuchen kann ich Ihnen anbieten …«

Der Professor zog eine Schachtel Bonbons aus seiner Jackentasche. »Die hätte ich glatt vergessen«, murmelte er.

Der Kaffee zischte in die Kanne und füllte die Küche mit seinem Duft. Frau Lizzi erwischte die Milch gerade zum richtigen Zeitpunkt, um sie zu Schaum zu schlagen. Erleichtert atmete sie auf und setzte sich mit den anderen an den Tisch.

Purzel zupfte Fäden aus dem Vorhang, leckte sie gründlich ab und drehte sie zu Kugeln, die er ordentlich auf die Gardinenstange reihte. Als Frau Lizzi zu ihm hochblickte, saß er mit gefalteten Flügeln und schief gelegtem Kopf da wie ein kleiner Engel und winkte.

Der Professor rutschte auf seinem Sessel hin und her. »Was soll denn das?«, ermahnte er sich lautlos. »Du bist doch sonst nicht so schüchtern. Du bist der Chef.« Er atmete tief ein, öffnete den Mund – und machte ihn gleich wieder zu.

Hannes schlürfte seinen Milchschaum mit einem Schluck Kaffee drin und wunderte sich, dass ein richtiger Professor genauso verlegen sein konnte wie ein Schüler, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Und was zuckte da in Frau Lizzis Mundwinkeln?

Der Professor hielt schon die ganze Zeit ein Bonbon in der Hand. Plötzlich bemerkte er, dass seine Finger mit Schokolade verschmiert waren.

Frau Lizzi bekam Mitleid mit ihm und reichte ihm ein Blatt von der Küchenrolle.

»Oh! Danke schön, tausend Dank!«

»Tausend ist ein bisschen zu viel«, sagte sie ernst.

Er kratzte sich am Kopf. »Also, ich wollte ja wirklich nicht stören, ich wollte mich nur erkundigen, wie die Reise war.«

»Aufregend«, sagte Frau Lizzi.

Der Professor wurde blass. »Das … das habe ich befürchtet …«

Purzel holte weit aus, zielte und traf mit dem ersten Kügelchen die Nase, mit dem zweiten die Stirn des Professors. Das dritte streifte sein Ohrläppchen. Der Professor wischte mit der Hand über sein Gesicht, dann blickte er hoch.

»Ja, hallo, Vamperl!«, rief er erstaunt.

Purzel zeigte ihm eine lange Nase.

»Frechdachs«, schimpfte Frau Lizzi. »Komm sofort herunter und entschuldige dich!«

Purzel stürzte sich von der Vorhangstange, machte einen Purzelbaum in der Luft und landete auf dem Knie des Professors. Er verbeugte sich und legte die rechte Hand aufs Herz.

»Das ist Purzel, der Sohn von Vamperl und Vamperlina«, stellte Frau Lizzi ihn vor.

Der Professor streckte ihm einen Finger entgegen. »Freut mich«, sagte er, »freut mich sehr.«

Frau Lizzi murmelte: »Warten Sie, bis Sie ihn kennenlernen!«

Purzel verzog sein kleines Gesicht.

Frau Lizzi steckte ein drittes Bonbon in den Mund, dann begann sie zu erzählen. Sie erzählte von ihrer Suche nach Vamperl, von den Erlebnissen in Draculas Schloss, von der seltsamen Reisegesellschaft, von den Diebstählen und schließlich auch von dem Besuch in dem verlassenen Dorf.

Der Professor rang die Hände.

Purzel flatterte zu Hannes, stellte sich auf sein linkes Knie und machte alle Bewegungen des Professors nach. Hannes musste lachen und bekam einen strengen Blick von Frau Lizzi.

»So lustig war das auch wieder nicht«, schimpfte sie und fuhr fort: »Ich war ja ziemlich sicher, dass ich das Rätsel der Diebstähle gelöst hatte. Aber ich hatte keine Beweise, verstehen Sie? Die Kommissare müssen doch auch immer Beweise finden. Ich wollte nur kurz allein sein und nachdenken, und da war dieses leere Haus, das hat mich irgendwie angezogen mit seinen Spinnweben und so. Seit ich Vamperl gefunden habe, sind Spinnweben für mich … Wie soll ich sagen? Eben anders, verstehen Sie? Nein? Macht auch nichts. Man kann nicht alles verstehen, hat schon meine Großmutter gesagt.

Ich bin einfach hinaufgegangen, die Stiegen haben laut geknarzt, als müssten sie mir etwas mitteilen. Also, ich bin ja nicht abergläubisch, aber da hatte ich wirklich so etwas wie eine Vorahnung, allerdings hab ich nicht erwartet, was dann gekommen ist.

Oben auf dem Dachboden waren noch mehr Spinnweben, wunderschön, richtige Kunstwerke, wirklich, wenn man einmal ein Auge dafür entwickelt hat. Ich stand also da und dachte natürlich an Vamperl, und plötzlich stand er hinter mir und redete vom Altar der Wissenschaft und dass er nicht zögern würde, mich zu opfern, ich wäre nämlich mit den Mächten der Finsternis im Bunde …«

Der Professor sprang auf. »Er? Wer?«