Zeit der Skorpione

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Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Nicole Seifert

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Fotos neuebildanstalt/Modi; mauritius images/CuboImages

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-463-40613-8 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-30851-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-30851-0

Dieser Text ist rein fiktiv. Eventuelle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen, Orten oder Ereignissen beruhen auf Zufällen und sind nicht beabsichtigt.

Es gibt Aussagen.

Es gibt Aussagen, die wahr sind.

Es gibt Aussagen, die nicht wahr sind.

Es gibt Aussagen, bei denen sich nicht entscheiden lässt,

ob sie wahr sind oder nicht.

Es gibt Aussagen, bei denen sich nicht entscheiden lässt,

ob die Aussage, dass sich nicht entscheiden lässt,

ob sie wahr sind oder nicht,

wahr ist oder nicht,

usw.

Hans Magnus Enzensberger

 

Die Tatsache ist ein kleiner kompakter Glaube

Les Murray

Kalte Schwaden stiegen, beinahe sichtbar, vom Waldboden auf und ließen den einsamen Wanderer frösteln. Die Sonne war bereits hinter dem Monte Amiata verschwunden, hatte zwischen den Bäumen grünliches Dämmerlicht zurückgelassen und die Wärme des Vorfrühlingstages mit sich genommen.

Paolo Massimo, völlig in Gedanken gefangen, nahm weder den Wald wahr noch die Landschaft, die sich hin und wieder zwischen den Bäumen auftat. Erst als er ausrutschte und der Länge nach hinschlug, kehrte er jäh in die Gegenwart zurück, als hätte ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt.

Ein paar Sekunden lang blieb er liegen, es fiel ihm schwer zu atmen, und er stellte verwirrt fest, dass er den Tränen nahe war.

Er hatte sich nicht verletzt, das war es nicht. Er empfand auch keine Schmerzen, nur den Schmerz des Schocks, die Erschütterung durch diesen unerwarteten Angriff. Ja, der Sturz hatte sich angefühlt wie ein Angriff, obwohl niemand ihn berührt oder gestoßen hatte.

Lächerlich, dachte er und schob den Erinnerungsfetzen beiseite, doch das Brennen blieb, wanderte von seinen Augen in seine Kehle hinab. Er schluckte ein paarmal, schüttelte den Kopf. Seine Hose war schlammbeschmiert, die Jacke ebenfalls, und dann stellte er fest, dass er viel zu weit gegangen war, mindestens eine Stunde würde er brauchen, um zum Haus zurückzukehren, wahrscheinlich länger.

Seine Schritte waren jetzt unsicher. Seine Knie fühlten sich anders an als vor dem Sturz. Weicher, zittrig. Normalerweise war er nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das konnte er sich nicht erlauben, nicht in seiner Stellung. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass es gefährlich sein konnte, im Wald herumzulaufen. Was, wenn er auf den Kopf gefallen wäre, auf einen Stein, eine harte Wurzel. Niemand würde ihn hier draußen finden, wenn er sich ein Bein bräche.

Ich hätte nicht herkommen sollen, dachte er, ein zweites Mal. Drei Tage hatte er sich genommen, um in seinem Landhaus allein zu sein, ohne Familie, ohne Angestellte, ohne Personal. Erst gestern, am späten Nachmittag, war er angekommen. Seiner Sekretärin hatte er

Auf seine Wanderung hatte er es nicht mitgenommen, er wollte ungestört nachdenken. Jetzt empfand er diese Entscheidung als äußerst unklug. Nicht einmal Hilfe könnte er rufen, falls ihm etwas zustieß.

Vor Ablauf des dritten Tages würde man ihn nicht vermissen, nicht nach ihm suchen. Hatte er nicht deutlich gesagt, dass er keine Störung wünsche? Andererseits erschien es ihm sehr unwahrscheinlich, dass es in den nächsten zwei Tagen keinen einzigen extrem wichtigen Anruf geben würde. Und falls er einen solchen Anruf nicht entgegennähme, würde seine Sekretärin Antonella mit Sicherheit unruhig werden und nach ihm suchen lassen. Würde sie?

Er hatte keine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Vielleicht respektierte sie seine Klausur, auf ihre bedingungslose Weise. Antonella war eine bedingungslose Assistentin, die Bezeichung Sekretärin war ihr nicht angemessen, denn sie besaß alle Qualitäten einer wirklichen Assistentin. Dafür bezahlte er sie auch verdammt gut, für Loyalität, Zuverlässigkeit, Verschwiegenheit, Organisationstalent und gutes Aussehen – für all das, was man als Vorstandsvorsitzender einer ziemlich großen Bank dringend brauchte.

Paolo Massimo fuhr zusammen, als rechts vom Weg etwas laut durchs Gebüsch brach, polternd, keuchend, unsichtbar.

Wildschweine, dachte er. Er wusste ja, dass es in

Jetzt war es wieder still.

Reglos lauschte Massimo. Wo waren sie hin? Wahrscheinlich beobachteten sie ihn, horchten ebenso angespannt wie er selbst. Falls sie schon Junge hatten, konnte es gefährlich werden.

Er begriff sein eigenes Verhalten nicht mehr. Weshalb nur war er einfach immer weitergelaufen? Er hasste es, wenn er Dinge tat, die ihm nicht bewusst waren, wenn ihn Gedanken so sehr in Anspruch nahmen, dass er seine Außenwelt nicht mehr wahrnahm. Andererseits konnte er sich beim Gehen besonders gut konzentrieren. Er schätzte die Vorwärtsbewegung, in jeder Beziehung – beruflich, privat, finanziell.

An diesem Nachmittag hatte er seine Wachsamkeit vergessen, obwohl er eigentlich ein sehr wachsamer Mensch war. Auch das gehörte zu seinem Beruf.

In diesen gefährlichen Zeiten erforderte das Bankgeschäft ständige Wachsamkeit. Paolo Massimo hatte es geschafft, griechische und irische Staatsanleihen rechtzeitig abzustoßen und auf diese Weise seine Bank aus größeren Schwierigkeiten herauszuhalten. Er hatte auch nicht in amerikanische Immobilienfonds investiert, sondern in australische Staatsanleihen und Bergbauaktien. Den Amerikanern hatte er ohnehin nie viel zugetraut, und ihre diversen Blasen und Krisen hatte er schon lange kommen sehen. Leuten, die auf einen lächerlichen italienischen Hochstapler hereinfielen, der sich als Repräsentant der Vatikanbank ausgab, wie es vor einigen

Obwohl er noch immer bewegungslos dastand und in den Wald horchte, stieß er bei der Erinnerung an diese Affäre ein leises Lachen aus. Sogar eine Hollywood-Schönheit war auf dieses Großmaul hereingefallen, ehe sie dann dabei half, ihn ins Gefängnis zu bringen.

Nein, die Amerikaner waren ihm zu naiv und auf zu direkte, ja schamlos gierige Weise profitorientiert. Sie hatten keinen Stil, keine Klasse. Manchmal waren sie nützlich, aber nur manchmal.

Massimo setzte stattdessen auf die Zusammenarbeit mit Deutschen und Schweizern. Die Entwicklung nach der großen Finanzkrise hatte ihm recht gegeben. Jetzt stand er kurz davor, eine deutsche Bank zu übernehmen, höflicherweise bezeichnete man das als Fusion. Gemeinsam mit seiner Banca libera eröffneten sich damit –

Schrill quiekend warfen sich die unsichtbaren Wildschweine erneut ins Unterholz, rasten, noch immer nicht zu sehen, knapp an Massimo vorbei talwärts, jedenfalls hörte es sich so an. Das Lärmen entfernte sich, aber jetzt fingen mehrere Vögel gleichzeitig zu singen an, als hätten die Schweine sie daran erinnert, dass sich der Tag neigte.

Paolo Massimo warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Vor sieben Uhr würde es nicht dunkel werden, eher halb acht. Er hatte also Zeit genug, zu seinem Haus zurückzukehren. Trotzdem beschleunigte er seinen Schritt – vielleicht hatte Antonella doch auf dem roten Telefon angerufen. Oder jemand anders.

Nach dem Streit gestern bei ihrem Geschäftsessen in Florenz hatte Massimo auf seinem Notizblock hinter den Namen Leo Hardenberg zwei Fragezeichen gemacht. Nun ja, Hardenberg war das eine. Aber da gab es noch mehr Fragezeichen: Einige der Manager bangten sichtlich um ihre Posten, das hatte er bei den Verhandlungen registriert. Möglicherweise fürchteten sie sich auch vor ganz anderen Dingen, die bei einer Fusion ans Licht kommen könnten.

Außerdem arbeitete die Hardenberg Bank mit einer Sicherheitsfirma zusammen, die Angestellte und Geschäftspartner ohne deren Wissen überprüfte … so etwas Ähnliches lief bei allen Banken, die Massimo kannte, auch bei seiner eigenen. Man musste vorsichtig sein, es ging schließlich um viel Geld, und das verführte mitunter auch die Besten zu unlauterem Verhalten. Im Grunde funktionierten die großen Banken und Konzerne inzwischen ähnlich wie Staaten, gaben viel Geld für ihre jeweils eigenen Geheimdienste aus, um ihre Profite abzusichern, an Insider-Informationen zu kommen und sich gegen Spionage und Betrüger zu wehren. Wer dabei nicht mitmachte, hatte das Nachsehen.

Seltsamer Spaziergang, dachte er. Entspannung in der Natur. Noch so ein Irrtum dieser Zeit.

Jetzt humpelte er, humpelte schneller, hatte das Gefühl, dass irgendetwas geschehen war und er dringend sein rotes Telefon erreichen sollte. Weil er durch den schmerzenden Oberschenkel behindert war, nahm er den Weg jetzt deutlicher wahr: Felsbrocken, über die man stolpern konnte, verrottende Edelkastanienschalen, die weichfellig und trügerisch die glitschige Erde bedeckten, wie ein rutschender Teppich auf glattem Parkett. Er hielt inne und schaute nach oben, um zu prüfen, wie lange es noch hell bleiben würde. Der Himmel über den Baumwipfeln war durchsichtig blau, an manchen Stellen hellgrün, weit oben zogen ein paar zerfledderte Wolken nach Osten, weiß und noch sonnenbeschienen.

Unten bei Paolo Massimo war es dämmrig, unterwasserartig grün. Er mochte das nicht, verstand plötzlich nicht mehr, weshalb er sich hier, an diesen waldigen Hängen, bisher meistens wohl gefühlt hatte. Möglicherweise lag es daran, dass er immer nur im Hochsommer hergekommen war. Im Sommer waren die Wälder warm und luftig, und seine Frau und die Kinder liebten das Haus, das große Schwimmbecken, den riesigen Park, die Ausflüge, auf denen sie Pilze suchten und Brombeeren pflückten. Meistens verbrachte seine Familie

Seit gestern war er allein hier, zum ersten Mal, und er war sich plötzlich sicher, dass er einen Fehler gemacht hatte. Das Haus war noch winterkalt, obwohl der Bauer Rieti, sein direkter Nachbar, vor Massimos Ankunft die Heizung eingeschaltet und sogar Feuer im offenen Kamin gemacht hatte. Rieti arbeitete nebenher als eine Art Hausmeister und Gärtner für einige Anwesen der Gegend um Bagno Vignoni.

Rätschende Eichelhäher flogen vor Paolo Massimo auf. In seinem Oberschenkel verebbten allmählich die Schmerzen, und dann, endlich, nach beinahe einer Stunde, öffnete sich der Wald, ging in Olivenhaine, Weinberge und Felder über. Da war das Tor, sein Tor. Er war angekommen.

Doch in seiner Abwesenheit hatte sich etwas Entscheidendes verändert. Als er vor ein paar Stunden zu seiner Wanderung aufgebrochen war, hatte er den stillen, völlig einsamen Park als erschreckend verlassen empfunden.

Jetzt war der Park voller Menschen. Er erkannte Uniformierte, Carabinieri, aber auch Männer und Frauen in Zivil, Hunde, sogar Autos.

Der Blick auf seinen Park erschien Paolo Massimo wie ein Traumbild. Am Rand dieses Bildes blieb er stehen und versuchte zu begreifen.

Vielleicht hatte Antonella die Polizei alarmiert, weil er seit beinahe drei Stunden nicht erreichbar gewesen war. Möglicherweise durchsuchte die Polizei gerade den

Welche anderen Gründe konnte es für diese Invasion seines Privatgeländes geben? Was suchten die Polizisten, wonach schnüffelten diese deutschen Schäferhunde? Wonach scharrten sie unter seinen alten Olivenbäumen? Ihm gefiel der Anblick dieser Hunde nicht. Die Begegnung mit den unsichtbaren Wildschweinen erschien ihm wie ein böses Omen. Waren es wirklich Wildschweine gewesen?

Was sonst?

Diese Stürze … seit seiner Kindheit war er nicht mehr hingefallen.

Paolo Massimo betrachtete seine verschmutzte Kleidung und überlegte, ob es nicht klüger wäre, ins Dorf hinaufzugehen und in der Bar abzuwarten, ob man tatsächlich nach ihm suchte. Wenn es so war, würde man ihn auch dort finden. Möglicherweise war es nicht günstig, schlammverschmiert vor den Carabinieri zu erscheinen. Schmutzige Menschen zogen immer Verdacht auf sich.

Seltsame Gedanken. Er versuchte sich zu konzentrieren, sich daran zu erinnern, ob er in letzter Zeit einen der Mächtigen verprellt hatte. Womöglich hatte einer von denen ihm die Finanzpolizei auf den Hals gehetzt, weil er fand, seine Banca libera sei zu erfolgreich, als dass es mit rechten Dingen zugehen konnte. Es musste ja nur irgendeiner Mafia und Geldwäsche oder Steuerhinterziehung schreien, dann gab es sofort

Er hätte nicht allein hierherkommen dürfen, ohne Haushälterin, ohne irgendeinen Zeugen, der für ihn bürgen konnte. Derzeit war alles möglich. Er hatte nur nicht geglaubt, dass auch in seinem Fall alles möglich sein könnte. Er hatte sich ziemlich sicher gefühlt. Außerhalb der üblichen Spiele.

Gerade, als er sich umdrehen und den steilen Pfad zum Dorf einschlagen wollte, hörte Paolo Massimo ein Räuspern, irgendwo rechts, hinter seinem Rücken. Er wollte nicht herumfahren, aber er fuhr herum. Sein Körper reagierte ganz ohne sein Zutun.

Rechts von ihm stand ein Mann in Regenjacke und Gummistiefeln. Ein großer, schlanker Mann mit dichten, dunklen Haaren und hellen Augen, die nicht zu seinem Haar passten. Er war vielleicht Mitte, Ende vierzig. Und nicht aus dem Dorf – vermutlich einer von den Schnüfflern. Jedenfalls sahen die Schnüffler im Fernsehen aus wie er, und die echten schienen sich diesen Vorbildern immer mehr anzupassen. Jetzt räusperte der Mann sich ein zweites Mal.

«Dottor Massimo, nehme ich an.» Die Stimme klang freundlich, dunkel und ein bisschen ironisch.

«No, sono Dottor Livingston», parierte Massimo leicht verächtlich. «Und das hier ist der Kongo.» Ironie konnte er auch.

Der Unbekannte lächelte und deutete eine Verbeugung an. «Angelo Guerrini, Commissario. Ich weiß Ihre Antwort zu schätzen, Dottor Massimo.»

«Das freut mich.» Offenbar hatte er die Anspielung

«Ja, das könnte ich.»

«Könnte?»

«Ja, könnte. Ich ziehe es aber vor, das etwas später zu tun, und möchte Sie bitten, mit mir ins Haus zu kommen.»

«In mein Haus, Commissario, das wollten Sie doch sagen, oder?»

Der Blick des Commissario glitt über Massimos schmutzige Jacke, seine Hose, die Stiefel.

«Ja, das wollte ich sagen.»

«Weshalb sollte ich das tun? Ich hatte gerade vor, ins Dorf zu gehen und einen heißen Caffè zu trinken. Es wird kühl am Abend. Sie können mich ja begleiten.»

«Danke für die Einladung, Dottor Massimo. Aber das wird nicht möglich sein. Im Haus wartet jemand auf Sie.»

«Wie können Sie es wagen, in mein Haus einzudringen? Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Wer wartet denn auf mich? Ich erwarte niemanden! Ich befinde mich in Klausur, weil ich über schwierige geschäftliche und politische Entscheidungen nachdenken muss. Ich komme gerade von einer langen Wanderung zurück, bei der ich ausgerutscht bin, falls Sie das interessiert. Dabei habe ich mir den Oberschenkel gezerrt. Also, wer wartet auf mich?»

Guerrini zuckte die Achseln und verzog leicht das Gesicht. Er räusperte sich noch einmal und antwortete

Paolo Massimo folgte mit seinen Augen der leichten Kopfbewegung des Commissario und stellte fest, dass der Weinberg des Bauern Rieti, der an seinen Park grenzte, einen Polizisten nach dem andern ausspuckte. Polizisten in Jeansjacken, mit halblangen Haaren, auffällig unauffällig. Massimo konnte sich die Pistolen vorstellen, die sie in Schulterhalftern trugen oder einfach im Bund ihrer Jeans. Abwartend standen sie da, jeder am Ende einer Reihe von Weinstöcken.

Wieder begannen Paolo Massimos Augen zu brennen, obwohl er keineswegs den Tränen nahe war. Jedenfalls meinte er, den Tränen keineswegs nahe zu sein. Was er jetzt empfand, war eine tiefe Beunruhigung. Irgendetwas musste sehr schiefgelaufen sein, und obwohl er leise Furcht empfand, war er doch ein klein wenig neugierig darauf, was sich hinter diesem eindrucksvollen Aufmarsch der Ordnungshüter verbergen mochte.

Kurz nachdem der Staatsanwalt dem Bankdirektor eröffnet hatte, dass er verdächtigt werde, eine Leiche, vermutlich die eines Mannes, in seinem Park vergraben zu haben, war das totale Schweigen ausgebrochen.

Zunächst hatte Paolo Massimo fassungslos reagiert, dann hatte er angefangen zu lachen, erst leise, dann immer lauter, und Guerrini war ziemlich sicher, dass dieses Lachen nach einer Weile in heiseres Schluchzen übergegangen war. Eine einzige Frage hatte Massimo gestellt: «Wer? Wer hat das getan?»

Als der Staatsanwalt ihm erklärte, dass er es derzeit nicht für angebracht halte, den Informanten zu nennen, fing er wieder an zu lachen.

Danach hatte Massimo sich zusammengenommen,

Paolo Massimo saß in einem geschwungenen dunkelbraunen Ledersessel, nah an der breiten Fensterfront, und starrte in die Finsternis hinaus. Das Kinn in eine Hand gestützt, rührte er sich nur dann, wenn er nach dem Wasserglas griff oder nach der Kaffeetasse. Die verschmutzte Kleidung hatte er unter Aufsicht eines Carabiniere gewechselt. Jetzt trug er einen dicken dunkelblauen Pullover mit Rollkragen und elegante Jeans. Sein graumeliertes Haar war äußerst gut geschnitten, und er strahlte eine respekteinflößende Distanziertheit aus, die man Würde nennen konnte, vielleicht auch Arroganz.

Guerrini war vom Schweigen des Bankdirektors beeindruckt, eigentlich von allen Facetten seines Verhaltens, dem Gelächter, der Ironie, dem überlegten Handeln. In seiner langen Erfahrung als Ermittler hatte Guerrini alle Arten von Reaktionen auf schwerwiegende Beschuldigungen oder drohende Festnahmen erlebt. Meistens versuchten die Leute sich herauszureden, die Polizisten davon zu überzeugen, dass sie unschuldig waren. Sie erfanden Geschichten, Alibis, beschuldigten andere, inszenierten Dramen. Vielleicht lag es an der ausgeprägten italienischen Lust am Theater, diesem Hang zum Extrovertierten. Doch vermutlich handelte

Paolo Massimo war anders. Er gab keine Vorstellung, dachte ganz offensichtlich nach und zeigte keine Angst vor der Stille, die beinahe jeden anderen mürbe gemacht hätte. Im Gegenteil: Er war der Ausgangspunkt dieser Stille, er beherrschte sie.

Amüsiert beobachtete Guerrini, dass inzwischen der Staatsanwalt – ein neuer, vermutlich kaum dreißig, sehr blass und mit früher Glatze – Anzeichen von Nervosität zeigte. Er scharrte mit den Füßen, stand häufig auf, setzte sich wieder, seufzte ab und zu, las zerstreut in einer Zeitung, kramte in seinen Papieren.

Dagegen trugen die Gesichter der bewachenden Carabinieri diesen leeren, ergebenen Ausdruck, als hätten sie sogar die Hoffnung aufgegeben, dass ihr Mobiltelefon klingeln könnte. Diskret lehnten sie an der Wand oder saßen etwas unglücklich auf Designerstühlen herum. Ab und zu löste sich einer von ihnen aus seiner Starre und legte im Kamin Holz nach. Alle tranken Caffè oder Wasser, und Guerrini konnte ihnen ansehen, dass sie das ewige Warten, das zum Leben eines Polizisten gehörte, ebenso satthatten wie er selbst.

Draußen im Park suchten die Kollegen noch immer mit starken Taschenlampen und Scheinwerfern jeden Zentimeter Boden ab. Eine Heerschar großer Glühwürmchen unter uralten Olivenbäumen. Ab und zu bellte einer der Spürhunde, rief jemand irgendetwas. Die Leiche hatten sie noch nicht gefunden.

Guerrini nickte den schweigenden Carabinieri zu.

«Ich geh mal raus und seh nach, wie weit die sind.»

«Ich komme mit, Commissario. Vengo anch’io.»

Tommasini schob die große Glastür auf und ließ dem Commissario den Vortritt.

Es ist immer noch zu kalt für die Jahreszeit, dachte Guerrini. Und es regnet zu viel. Das Klima in Italien ähnelte immer mehr dem von Irland. Ein Stiefel voller Wasser, Dreck und Schulden. Vielleicht lag es daran, dass er älter wurde und in die Phase eintrat, in der früher alles besser gewesen war: das Wetter sowieso, das Leben im Allgemeinen, die Politik. Nein, das behaupteten nicht einmal die ganz Alten, die angeblich nie Mussolini zugejubelt hatten. Die Politik hatte in etwa ihr niedriges Niveau gehalten. Guerrini seufzte und wandte sich zu Tommasini um.

«Mühsam, was?»

«Sì, Commissario. Glauben Sie, dass es noch lange dauern wird?»

«Keine Ahnung.»

«Glauben Sie, dass er’s war? Ich meine, dass er einen umgebracht und hier vergraben hat?»

«Ich glaube gar nichts. Ich warte auf Tatsachen.» Langsam ging Guerrini auf die hellsten Scheinwerfer zu.

«Aber irgendwas denken Sie doch, Commissario.»

«Nichts Besonderes. Ein merkwürdiges Theater ist das hier … mehr nicht. Außerdem bin ich müde und habe Hunger. Was denkst du denn, Tommasini?»

«Weshalb sollte ich dann etwas wissen, eh? Du hast mindestens so viel Erfahrung wie ich!»

«Was passiert, wenn wir keine Leiche finden?»

«Dann ziehen wir wieder ab wie die Idioten und sind auf einen anonymen Anruf reingefallen. Der Herr Bankdirektor wird sich einen edlen Drink genehmigen und beten, dass die Medien keinen Wind von der Geschichte bekommen. Aber das werden sie natürlich, und dann … ach, du weißt schon. Der Staatsanwalt kriegt einen Rüffel, der Richter auch. Irgendwer verliert seinen Posten oder auch nicht. Vielleicht lässt sich seine Frau scheiden oder er sich von ihr, weil sich herausstellt, das sie ihn hingehängt hat, um sich für irgendwas zu rächen. Was weiß ich!»

Tommasini grinste in der Dunkelheit und folgte dem Commissario als stiller Schatten. Nach einer Weile hustete er leise.

«Haben Sie eigentlich noch Schmerzen, Commissario? Von der Schusswunde, meine ich. Entschuldigen Sie die Frage.»

«Ja, leider habe ich noch Schmerzen, aber keine besonders starken. Nur ab und zu so ein unangenehmes Ziehen, das mich an meine Sterblichkeit erinnert.»

Tommasini seufzte. «Ich bin sehr froh, dass Sie wieder arbeiten können, Commissario. Es war nicht gut in der Questura ohne Sie. Das wollte ich nur mal sagen.»

«Ohne dich ist es auch nicht gut in der Questura, Tommasini. Aber ich danke dir auch dafür, dass du dich um Laura gekümmert hast, als ich im Krankenhaus lag.»

Ich auch, dachte Guerrini und wollte gerade sagen, dass sie jetzt beide Gefahr liefen, vor Rührung in Tränen auszubrechen, als ein Ruf aus der Ferne erklang, der von anderen aufgenommen wurde und endlich bei Guerrini und Tommasini ankam: «Hanno trovato il corpo!»

«Sie haben ihn gefunden», murmelte Tommasini mit belegter Stimme. «Was glauben Sie jetzt, Commissario?»

«Niente, Tommasini.»

Sie schlossen sich der Prozession von Glühwürmchen an, die sich in Richtung der Fundstelle in Bewegung setzte. Guerrini fühlte sich an die vielen nächtlichen Prozessionen erinnert, die er in seiner Kindheit mitgemacht hatte – auf Berge, durch Felder, enge Dorfstraßen. Mit Kerzen in den Händen, deren heißes Wachs auf seine Finger tropfte. Und vor ihm stets eine schwankende Marienstatue oder die irgendeines Heiligen, getragen von schwitzenden Männern, dahinter murmelnde alte Frauen in schwarzen Gewändern. Er hatte sich oft gefürchtet, damals, und in seiner Phantasie wurden die Gebete, deren Sinn er nicht verstand, zu Geisterbeschwörungen.

Das hier hatte ebenfalls etwas von einer Geisterbeschwörung. Außerdem verspürte Guerrini keinerlei Bedürfnis, eine Leiche zu begutachten, die gerade aus der nassen Erde gezogen worden war. Er versuchte nicht weiterzudenken, nicht an die mögliche Verbindung von Dottor Paolo Massimo zu dieser Leiche, auch nicht an andere Verbindungen. Denn natürlich hatte er Tommasini nicht die Wahrheit gesagt, natürlich hatte er

Im Licht der Handscheinwerfer und großen Taschenlampen leuchteten unter den Olivenbäumen Beete von rosa und blauen Frühlingsanemonen auf. Knapp darüber zitterte das Spinnennetz der rot-weißen Plastikbänder im Wind, das von den forensischen Technikern kreuz und quer durch den Park gespannt worden war.

 

Es wurde ein langer Prozessionsweg, talwärts. Ab und zu streiften Zweige ihre Gesichter. Endlich mussten sie über eine Trockenmauer aus Feldsteinen klettern, die den Park von den Feldern abgrenzte. Dann stauten sich die Polizisten, und Guerrini bahnte sich seinen Weg nach vorn. Plötzlich war es sehr hell, man hatte Lampen aufgestellt, die alle auf dieses eine dunkle Etwas gerichtet waren, das neben einem Erdhügel und einer flachen Kuhle lag. Das Etwas bestand aus einem länglichen schwarzen Müllsack. Offensichtlich hatten die Kollegen auf Guerrini gewartet, denn der Sack war noch verschlossen und unversehrt.

«Wo ist Dottor Salvia?», fragte Guerrini und schaute sich suchend nach dem Gerichtsmediziner um. «Salvia sollte dabei sein, wenn wir den Sack aufmachen.»

«Er ist verhindert. Wir müssen das hier ohne Polizeiärzte machen. Sie sind alle verhindert. Mi dispiace, Commissario.»

Guerrini glaubte den Kollegen nicht zu kennen, der hinter einem der Scheinwerfer stand. Schützend hob er

«Alle verhindert?»

«Alle.»

«Wird ja immer besser.»

«Was machen wir jetzt?», fragte der Unsichtbare.

«Wir schauen nach, ob wirklich eine Leiche in diesem Sack ist, was sonst.»

«Wie Sie meinen, Commissario.»

Guerrini drehte sich zu Tommasini um, der direkt hinter ihm stand. «Wer, zum Teufel, ist das?», flüsterte er.

«Das ist Ingegnere Mauretano, Raul. Der ist neu bei den Technikern. Ich wollte Ihnen das schon längst sagen, Commissario. Ich hab’s vergessen. Mi dispiace.»

«Schon gut», murmelte Guerrini. Seit seiner Rückkehr aus dem Krankenstand hatte er das Gefühl, als entgleite ihm die Kontrolle viel leichter als jemals zuvor. Erstaunlich, wie schnell die Welt sich veränderte, wenn man für ein paar Wochen oder Monate den Anschluss verpasste. Er war ziemlich sicher, dass sein Stellvertreter Lana bereits mehrfach auf seinem Sessel in der Questura Probe gesessen hatte. Die Enttäuschung über Guerrinis Rückkehr war ihm überdeutlich anzusehen gewesen.

Es spielte keine Rolle. Jetzt war er wieder da, im Zentrum des Geschehens, und sah zu, wie zwei Kollegen in Schutzanzügen vorsichtig den schwarzen Müllsack aufschlitzten. Guerrini wünschte von Herzen, dass einfach nur Müll zum Vorschein kommen würde, was in diesem Land mit seinen permanenten Abfallproblemen keine Überraschung wäre.

Die Kollegen schälten einen menschlichen Körper aus dem Plastiksack – männlich, bekleidet und ziemlich frisch.

«Der liegt noch nicht lange da», sagte einer der beiden Männer in Schutzanzügen. «Höchstens ein paar Stunden, würde ich schätzen. Außerdem ist er noch nicht lange tot.»

Guerrini ging in die Hocke und betrachtete den Toten. Er lag auf dem Rücken, die Arme steif am Körper, als würde er strammstehen. Die Füße waren zusammengebunden, vermutlich war es so leichter gewesen, ihn zu verpacken. Das Gesicht zeigte leichte Verfärbungen. Leichenflecken, wahrscheinlich hatte er eine Weile auf dem Gesicht gelegen. Irgendwer, vielleicht sein Mörder, hatte seine Augenlider zugedrückt. Der Mann war mittleren Alters, vermutlich zwischen fünfzig und sechzig, ein Typ wie Paolo Massimo. Guter Haarschnitt, allerdings brünett, kaum grau. Vielleicht gefärbt. Grauer Pullover, möglicherweise Kaschmir, schwarze Jeans, feine Lederstiefel. Aber mit dem Pullover war irgendetwas passiert, er zeigte dunkle Flecken, und auch die Jeans waren nicht besonders sauber.

Der Edle im Müllsack! Guter Titel für ein modernes Theaterstück, irgendwas von Dario Fo, dachte Guerrini.

Er zog Schutzhandschuhe aus seiner Jackentasche, streifte sie über und untersuchte die Hosentaschen des Toten. Sie waren leer. Er hatte nichts anderes erwartet.

«Sorg du für den Abtransport der Leiche, wenn die Spurensicherung fertig ist.» Guerrini sah zu Tommasini auf, der neben ihm stand. «Und bring Salvia auf Trab.

Tommasini nickte, presste die Lippen zusammen und betastete den schütteren Haarwuchs über seiner Stirn.

«Hätte nicht gedacht, dass wir tatsächlich eine Leiche finden, Commissario», sagte er leise.

«Ich auch nicht», erwiderte Guerrini und legte kurz eine Hand auf Tommasinis Schulter.

 

Vor der gläsernen Schiebetür blieb Guerrini stehen, drehte sich um und schaute über den dunklen Park bis hinunter ins Tal der Orcia. Milchiges Mondlicht beleuchtete die wellige Landschaft. Ab und zu krochen Autoscheinwerfer über einen Hügel und verschwanden in einem Tal. Ein Käuzchen rief, ein zweites und ein drittes antworteten aus der Ferne.

Es fiel dem Commissario schwer, diese Tür zu öffnen und Paolo Massimo mit dem Fund der Leiche zu konfrontieren. Weshalb eigentlich? Hatten die Abstürze gesellschaftlicher Größen in letzter Zeit nicht gezeigt, wie die Sitten verwildert waren?

Wenn es tatsächlich so war, wie es aussah, dann hätte er sich diesmal in seiner Einschätzung gründlich getäuscht. Wieder empfand Guerrini dieses beunruhigende Gefühl von Kontrollverlust – als fließe seine Kraft aus ihm heraus, irgendwohin, vielleicht in die Dunkelheit oder in den Boden, jedenfalls spürte er diesen Verlust sehr deutlich.

Trotzdem würde er jetzt in dieses Haus gehen und Paolo Massimo vorläufig festnehmen, nach Siena bringen und dem Haftrichter vorführen, der auch den Durchsuchungsbefehl ausgestellt hatte. Guerrinis Armbanduhr zeigte zehn vor elf – bis diese Prozedur abgeschlossen sein würde, konnte es noch Stunden dauern.

Langsam drehte er sich um, schob die Tür auf, gab sich einen Ruck und betrat den großen Raum. Es duftete immer noch nach Caffè. Massimo sah nur kurz auf, aber der junge Staatsanwalt sprang auf und eilte Guerrini entgegen, und auch die Carabinieri hoben die Köpfe und sahen sie an, Hoffnung im Blick.

«Also, was gibt’s?» Der Staatsanwalt, dessen Namen Guerrini sich nicht hatte merken können, wippte auf den Zehenspitzen.

«Eine Leiche.»

«Also doch!»

«Ja, also doch.»

Erstaunlich schnell machte der Staatsanwalt drei, vier geschäftige Schritte, baute sich neben dem geschwungenen Ledersessel von Paolo Massimo auf und sagte, eindeutig zu laut: «Was haben Sie zu diesem Leichenfund zu sagen, Dottor Massimo?»

Massimo starrte weiterhin in die Nacht hinaus, kniff nur leicht die Augen zusammen und verzog kaum merklich den Mund, als empfinde er Ekel.

«Niente», erwiderte er leise.

Guerrini betrachtete nachdenklich den Rücken des

«Ich möchte, dass Sie sich den Toten ansehen, Dottor Massimo. Wir haben keine Ahnung, um wen es sich handelt. Vielleicht können Sie ihn identifizieren.»

Auch jetzt verharrte Massimo lange in seiner Reglosigkeit. Endlich wandte er den Kopf und warf dem Commissario einen forschenden Blick zu.

«Weshalb glauben Sie, dass ich den Toten identifizieren könnte?»

«Es liegt nahe, finden Sie nicht?»

«Mir liegt diese Annahme sehr fern.»

«Trotzdem sollten Sie jetzt mitkommen und sich den Mann ansehen.»

«Und wenn ich mich weigere?»

«Falls Sie sich weigern mitzukommen, werden wir die Leiche hierherbringen, in Ihr Wohnzimmer. Ganz nebenbei möchte ich erwähnen, dass wir Sie vorläufig festnehmen müssen, Dottor Massimo.»

Massimo drehte dem Commissario wieder den Rücken zu und starrte in die Nacht hinaus. Dann stand er sehr langsam auf und bewegte mit geschlossenen Augen den Kopf von einer Seite zur anderen, offensichtlich, um seinen Nacken zu lockern. Danach betrachtete er seine Hände, steckte sie plötzlich in die Hosentaschen und zuckte die Achseln.

«Es geht wohl nicht anders … bei dieser erdrückenden Beweislage … nicht wahr?» Der Banker hatte seinen ironischen Tonfall wiedergefunden. Während er sprach, sah er nur Guerrini an, den jungen Staatsanwalt würdigte er keines Blickes.

 

Realitätsverlust, dachte er. Ich leide unter Realitätsverlust. Das geht vorbei, ich muss mich nur konzentrieren.

Paolo Massimos Vater war Psychiater gewesen. Der Wirklichkeitsverlust der Patienten seines Vaters war deshalb ein ständiger Begleiter von Paolos Kindheit und Jugend gewesen. Ihre Psychosen lieferten den Gesprächsstoff bei nahezu jeder Familienmahlzeit, zumal auch seine Mutter in der Praxis arbeitete und die Krankengeschichten nach den Notizen des Vaters aufschrieb.

Unter anderem deshalb war Massimo Banker geworden, hatte einen Beruf ergriffen, der sich mit konkreten Zahlen, Tatsachen, etwas Fassbarem auseinandersetzte. Nur hatte sich auch das inzwischen als Illusion herausgestellt. Der Umgang mit Geld und Wertpapieren hatte mit Realitätsverlust schon lange mehr zu tun als mit etwas Fassbarem, war virtuell geworden. Niemand konnte sich die Milliarden und Billionen vorstellen, die unablässig über den Globus verschoben wurden. Eine wabernde Masse von Krediten, Anleihen, Aktiengewinnen, Garantien, Schulden, Leerverkäufen, Geldwäschen, die häufig von den Rechnern ganz ohne menschliches Zutun in Bewegung gesetzt wurden.

Paolo Massimo wusste, dass manche Menschen eine Situation wie die, in der er gerade war, in ihrer Phantasie erlebten. Sie sahen Polizisten, Ärzte, Freunde oder Fremde, obwohl diese gar nicht existierten. Sie hörten Phantome sprechen, wurden von ihnen berührt, manchmal auch angegriffen oder verfolgt. Paranoia nannte man das.

Er war sich indes darüber im Klaren, dass dieser Begriff nicht auf ihn selbst zutraf, dass er tatsächlich gerade mit Polizisten durch seinen Park ging. Diese Polizisten beleuchteten den Weg vor ihm mit großen Taschenlampen. Als Massimo einmal stolperte, stützte ihn der Carabiniere zu seiner Rechten.

«Grazie», sagte Massimo.

Man hatte ihm keine Handschellen angelegt, obwohl ihm das vielleicht dabei geholfen hätte, die Wirklichkeit als solche wahrzunehmen. Vielleicht auch nicht. Er wusste eigentlich gar nichts mehr, nur, dass er vor dem Eintreffen seines Anwalts keinerlei Aussagen machen würde.

Realitätsverlust konnte auch dazu führen, dass Menschen sich nicht mehr an ihre eigenen Handlungen erinnerten. Seltsam, wie selbst Einzelheiten der Tischgespräche seiner Eltern in seinem Gedächtnis haften geblieben waren. Bisher hatte er nur selten darüber

Wieder stolperte er, wieder griff der junge Carabiniere nach seinem Arm, und Massimo murmelte erneut einen Dank.

Sie schienen angekommen zu sein, denn Commissario und Staatsanwalt blieben stehen.

«Bringt ihn her!», rief der Commissario über die rotweißen Plastikbänder zu den Polizisten hinüber, die unter den Olivenbäumen mit etwas beschäftigt waren, das Massimo nicht erkennen konnte. Der Commissario hatte von dem Toten gesprochen. Es musste sich also um einen Mann handeln. Massimo versuchte sich zu erinnern, sich vorzustellen, ob es derzeit in seinem Leben einen Mann geben könnte, den er aus dem Weg schaffen wollte.

In der Vergangenheit hatte es einige solcher Momente gegeben, in denen er sich das Verschwinden eines Widersachers gewünscht hatte, auch dessen Tod. Er hatte sich sogar Methoden ausgedacht für einen perfekten, unnachweisbaren Mord. Zum Beispiel konnte man einen anderen betrunken machen und in einer kalten Nacht draußen schlafen lassen, dazu reichten Temperaturen um null Grad. Es war ein sanfter Tod, wenn man an Unterkühlung starb, ein Unglücksfall, ein perfekter Mord.

Bisher hatte er seine Konkurrenten ohne solch endgültige Lösungen aus dem Feld schlagen können. Es gab andere Möglichkeiten: die Durchleuchtung ihres Privatlebens, ihrer geheimen Konten, die Aufdeckung ihrer Steuerfluchten, ihrer riskanten Geschäfte oder ihrer Verbindungen zur Mafia.

Die Kapuzenmänner blieben hinter der Absperrung stehen und setzten die Bahre ab. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige der Olivenbäume und beugte die Reihe der dünnen Zypressen, die der Bauer Rieti vor zwei Jahren gepflanzt hatte.

Es riecht nach Regen, dachte Massimo und hätte es beinahe laut gesagt. Abwegige Gedanken zu haben und sie auch zu äußern war ein typisches Symptom für Realitätsverlust. War es nicht abwegig, angesichts eines Toten, den er identifizieren sollte, zu denken, dass es nach Regen roch?

Neben ihm hüstelte der Staatsanwalt, dessen Namen er vergessen hatte. Normalerweise vergaß er niemals Namen von Personen, die wichtig waren.

«Würden Sie sich jetzt bitte den Toten ansehen», sagte der Commissario.

Paolo Massimo nahm sich zusammen und ging näher an die Bahre heran. Betrachtete erst die Füße des Toten, nahm die Schmutzflecke auf seiner Kleidung wahr, arbeitete sich langsam zum Gesicht vor, ahnte es schon auf halbem Weg und zuckte so heftig zusammen, dass dieses Mal beide Carabinieri ihn festhielten.

Hardenberg, dachte er. Es ist Leo Hardenberg. Warum Hardenberg? Warum liegt er hier?

Hardenberg war der Besitzer genau jener deutschen Bank, die Massimo übernehmen wollte, und ein strikter Gegner der Fusion. Schon deshalb, weil sein Urgroßvater diese Bank gegründet hatte. Gestern hatten sie sich in Florenz heftig gestritten. Gestern? Massimo versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen und sich zu konzentrieren.

Gestern.

Er konnte, verdammt noch mal, nicht genau sagen, ob es gestern oder vorgestern gewesen war. Jetzt, da Hardenberg tot vor ihm lag, entglitt ihm wieder die Wirklichkeit, und er befand sich in einem seltsamen Zwischenreich, war sich nicht einmal mehr sicher, ob er etwas mit dem Tod Hardenbergs zu tun hatte oder nicht. Hardenberg war bei der Fusion ein Hindernis gewesen, und er hatte ihn nicht gemocht. Mit ihm zu arbeiten wäre schwierig geworden.

Als der Commissario etwas sagte, verstand Massimo den Sinn der Worte nicht, hörte nur sein eigenes Ohrensausen und eigenartig hallende Laute, als redete der andere in einem leeren, riesigen Raum. Doch er wusste instinktiv, was der Commissario fragte, und gab deshalb die Antwort, die erwartet wurde: «Es ist Leo Hardenberg, Deutscher. Im Vorstand der Hardenberg Bank.»

Unerwartet fühlte er sich wieder klarer im Kopf, erinnerte sich jetzt sogar an den Namen des unangenehmen Staatsanwalts: Cichetto hieß er, Dottor Angelino Cichetto. Es wimmelte ja nur so von Doktoren hier. Wahrscheinlich hatten auch die Kapuzenmänner alle Doktortitel. Der Tote besaß ebenfalls einen.

«Sie kennen ihn also, Dottor Massimo? Ein Kollege?»

Das war jetzt der dünne Dottor Angelino Cichetto. Wahrlich ein Verbrechen, wenn Eltern ihren Sohn Angelino nennen, Engelchen. Trug nicht der einst hoffnungsvolle Thronfolger des gestürzten Ministerpräsidenten diesen Vornamen? Natürlich, noch ein Engelchen.

«Ja, ich kenne ihn.»

«Wie erklären Sie sich, dass dieser deutsche Kollege tot an der Außenmauer Ihres Parks liegt? Verpackt in einen schwarzen Müllsack? Vergraben in einer ziemlich flachen Kuhle, die wirkt, als hätte der Totengräber nicht genügend Zeit oder Kraft gehabt, sie tiefer auszuheben?»

Oho, das Engelchen hatte bereits Schlüsse gezogen.

«Davon abgesehen, dass ich es mir nicht erklären kann, werde ich weitere Fragen nur in Anwesenheit meines Anwalts beantworten. Können wir jetzt gehen?» Massimo fühlte sich besser, einen Schritt näher bei sich selbst.

«Andiamo», sagte der Commissario.

Als sie sich umdrehten, um zum Haus zurückzukehren, fing Massimo im Licht eines Scheinwerfers den Blick des Commissario auf. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber wieder erschrak er. Nicht so spürbar diesmal, dass seine Bewacher ihn festhalten mussten, aber umso tiefer. Der Commissario erschien ihm wesentlich gefährlicher als der lächerliche Staatsanwalt.

Er musste unbedingt seine Assistentin Antonella erreichen. Sie und der Sicherheitsdienst der Banca libera

Er war es nicht gewöhnt, über einen langen Zeitraum körperliche Schwäche zu fühlen, seine Gesundheit hatte ihn bisher selten im Stich gelassen. Einmal hatte er sich ein Bein gebrochen, weil eine junge Frau ihn einen steilen Abhang hinabgestoßen hatte – bei inoffiziellen Ermittlungen mit Laura in den Cinque Terre. Aber diesen Beinbruch hatte er nie bedauert, angesichts der intensiven Zeit, die er damals mit Laura verbracht hatte.

Das hier war anders. Er war noch nie angeschossen worden und hatte nicht einmal für möglich gehalten, dass ihm so etwas jemals zustoßen würde. Keiner seiner Sieneser Kollegen war in all den Jahren, die sie miteinander Dienst taten, ernsthaft verletzt worden. Galleo hatte in Siena einmal einen Streifschuss abgekommen und Laura Gottberg eine Schramme von einem Querschläger. Schwere Zwischenfälle gab es vor allem in den großen Städten, in Rom, Neapel, Palermo, seltener in Mailand oder Turin, noch seltener in Florenz, wo er viele Jahre lang gearbeitet hatte.