Joss Stirling

Saving Phoenix

Die Macht der Seelen 2

Roman

Aus dem Englischen von
Michaela Kolodziejcok

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Rachel Pearson

Blumenranke

Kapitel 1

Der Junge schien das perfekte Opfer zu sein. Er stand ganz hinten in der Besuchergruppe, die das Londoner Olympiastadion besichtigte, und seine Aufmerksamkeit galt den Baufahrzeugen, die sich die gewaltige Rampe zum Athleteneingang hinaufschoben, und nicht dem Dieb, der ihn ins Visier genommen hatte.

Das Gebäude war fast fertiggestellt und erinnerte meiner Meinung nach stark an einen gigantischen Suppenteller mit Drahtgeflecht in der Mitte, platziert auf einem grünen Tischtuch. Alles, was jetzt noch auf dem Gelände zu tun blieb, waren die Abschlussbepflanzung und ein allerletztes Handanlegen hier und dort, bevor die Welt zu den Spielen anreisen würde. Mitglieder der Community arbeiteten auf der Baustelle und sie hatten mir gezeigt, wo man am besten an den strengen Sicherheitskontrollen vorbeigelangte. Ich war schon öfter hier gewesen, weil Touristen wie diese Studenten leichte Beute waren. Ich hatte jede Menge Zeit, mein Opfer auszuspähen, und es waren nur wenige Leute da, die mir in die Quere kommen konnten. Wenn ich einen guten Fang machte, könnte ich den Rest des Tages faulenzen oder mich an meinen Lieblingsplatz in der Bibliothek verkrümeln und bräuchte keine Angst zu haben, was wohl passieren würde, wenn ich mit leeren Händen nach Hause käme.

Hinter einen Schaufellader geduckt, beobachtete ich meine Zielperson. Das da musste der Typ sein, den ich mir schnappen sollte; alle anderen waren zu klein und er passte auch zu dem Foto, das mir gezeigt worden war. Mit seinen rabenschwarzen Haaren, dem gebräunten Teint und seiner selbstbewussten Körperhaltung sah er nicht aus wie jemand, dem der Verlust des Handys oder der Brieftasche groß zu schaffen machen würde. Vermutlich war er versichert oder hatte Eltern, die einspringen und den Verlust sofort ersetzen würden. Dieser Gedanke tröstete mich, denn ich klaute keineswegs freiwillig; es war einfach eine Überlebensstrategie. Sein Gesicht war nur zur Hälfte sichtbar, aber er machte irgendwie einen abwesenden Eindruck; er trat von einem Fuß auf den anderen und blickte nicht in dieselbe Richtung wie der Rest der Studenten, die alle aufmerksam den Ausführungen der Fremdenführerin folgten. Das waren doch schon mal gute Voraussetzungen, denn Träumer gaben erstklassige Opfer ab, da sie zu langsam reagierten, um einen auf frischer Tat zu ertappen. Er trug knielange Kaki-Shorts und ein T-Shirt mit dem Aufdruck ›Wrickenridge Wildwasser-Rafting‹. Er sah aus, als würde er viel Sport treiben, darum durfte mir kein Fehler unterlaufen. Sollte er mir hinterherjagen, würde ich ihm vermutlich nicht entwischen können.

Ich band die Schnürsenkel meiner abgeranzten Keds zu und hoffte, dass sie nicht ausgerechnet jetzt rissen. Also, wo waren seine Wertsachen? Ich veränderte leicht meine Position und sah, dass er einen Rucksack über der Schulter hängen hatte. Da mussten sie drin sein.

Ich kam vorsichtig aus meinem Versteck heraus und hoffte, dass ich mich in meinen lässigen Jeans-Shorts und dem Tanktop unbemerkt unter die Gruppe mischen könnte. Es waren meine besten und neuesten Klamotten, die ich erst vor einer Woche bei Top Shop geklaut hatte. Ein Nachteil meiner Fähigkeit ist, dass ich ganz nah an mein Ziel heranmuss, um einen erfolgreichen Coup zu landen. Das ist immer der riskanteste Teil der Aktion. Aber ich war gut vorbereitet und hatte einen Baumwollbeutel mitgebracht, den ich in einer Boutique in Covent Garden eingesteckt hatte. Er gehörte zu der Sorte, die Touristen gern als Andenken kaufen, mit einem ›London Calling‹- Aufdruck in affiger Pseudo-Graffiti-Schrift. Ich war recht zuversichtlich, dass ich als gut betuchte Touristin durchgehen würde, solange man meine Schuhe für ein bewusstes Fashion-Statement hielt, allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich es hinkriegte, intelligent genug auszusehen, um zu ihrer Gruppe gezählt zu werden. Meinen Informationen nach waren sie alle Teilnehmer einer Konferenz über Umweltforschung oder irgend so ’nen Schlaubergerquatsch, die an der London University stattfand. Ich hatte nie groß eine Schule besucht; meine Bildung bestand aus dem gelegentlichen Unterricht, den mir andere aus der Community erteilten, und dem, was ich mir selbst in der Bibliothek angelesen hatte. Ich würde also nicht wie eine Studentin der Naturwissenschaften daherquatschen können, sollte mir irgendjemand Fragen stellen.

Ich zog mir das Gummiband aus den Haaren und kämmte mir mit den Fingern ein paar lange dunkle Strähnen ins Gesicht, um auf den Bildern der Überwachungskameras, die überall auf dem Gelände verteilt waren, nicht sofort erkennbar zu sein. Ich pirschte mich an zwei Mädchen heran, die etwa einen Meter von meinem Opfer entfernt standen. Sie trugen Shorts und Tanktops wie ich, aber der leichenblassen Haut der Blondine nach zu urteilen, hatte sie diesen Sommer deutlich mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbracht als ich. Die andere hatte drei kleine Ringe im Ohr, weswegen meine fünf Piercings hoffentlich nicht weiter auffielen. Die Mädchen warfen mir einen Seitenblick zu und lächelten.

»Hi, tut mir leid, ich bin zu spät«, flüsterte ich. Man hatte mir gesagt, dass sie sich untereinander nicht besonders gut kannten, da sie erst letzte Nacht für ihre Konferenz angereist waren. »Hab ich irgendwas Spannendes verpasst?«

Das Mädchen mit den Ohrringen grinste mich an. »Wenn du Wildblumenwiesen magst, dann schon. Sie haben auf dem Gelände Unkraut ausgesät, zumindest würde mein Opa es so bezeichnen.« Sie hatte einen breiten Südstaaten-Akzent, der von Zucker und Magnolien troff. Ihr Haar war zu engen Cornrows geflochten, bei deren Anblick ich unwillkürlich ›autsch‹ dachte.

Die Blondine beugte sich zu mir herüber. »Hör nicht auf sie. Es ist total faszinierend.« Sie hatte auch einen Akzent – Skandinavisch vielleicht. »Sie verwenden für das Dach eine leichte Membran auf Polymerbasis. Ich hab mit dem gleichen Stoff letztes Jahr im Labor rumexperimentiert … Wird also interessant sein, als wie haltbar sich das Ganze jetzt erweist.«

»O ja, das ist echt … cool.« Ich war bereits total von ihnen eingeschüchtert: Sie waren eindeutig Genies und schafften es trotzdem, toll auszusehen.

Die Fremdenführerin winkte die Gruppe weiter und wir marschierten die Rampe hinauf ins eigentliche Stadion. Dem Grund meines Hierseins zum Trotz überkam mich das erhabene Gefühl, nun denselben Weg zu nehmen wie schon bald die olympische Fackel. Nicht dass ich jemals die Chance gehabt hätte, am eigentlichen Ereignis teilzuhaben; meine Träume von einer sportlichen Karriere waren nie aus den Startblöcken herausgekommen. Es sei denn, das olympische Komitee würde den verrückten Einfall haben, Diebstahl zur medaillenwürdigen Disziplin zu erklären – dann standen meine Chancen nicht schlecht. Ein geglückter Raubzug war ein unglaublicher Kick, für das geschickte Zugreifen und die unbemerkte Flucht brauchte man mindestens genauso viel Talent wie fürs Im-Kreis-Rennen auf irgend so einer blöden Bahn! Ja, in meiner Disziplin war ich eine Anwärterin auf die Goldmedaille.

Die quietschvergnügte Fremdenführerin schwenkte ihren Schirm als Aufforderung zum Weitergehen und so betraten wir das große Stadion-Oval. Wow! Bis hierhin war ich bei meinen vorherigen Abstechern auf das Gelände noch nie gekommen. In meinem Kopf ertönte der Jubel der Menge. Reihe um Reihe der leeren Sitze füllte sich mit den Schattengestalten der zukünftigen Zuschauer. Mir war nicht klar gewesen, dass die Zukunft in gleicher Weise Geister bereithielt wie die Vergangenheit, aber ich konnte sie klar und deutlich sehen. Die Energie sickerte durch die Zeit bis zu diesem ruhigen Mittwochmorgen im Juli.

Ich rief mir wieder meinen eigentlichen Auftrag ins Gedächtnis und rückte unauffällig näher an den Jungen heran. Ich konnte ihn jetzt im Profil sehen: Er hatte die Sorte von Gesicht, wie man es in Mädchenzeitschriften sieht, neben irgendeinem umwerfenden Model. Er hatte in puncto gute Gene voll abgesahnt: eine fein geschnittene Nase, lässig frisiertes tintenschwarzes Haar, dunkle Augenbrauen, zum Sterben schöne Wangenknochen. Seine Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt, aber ich hätte wetten können, dass sie riesengroß, schokobraun und gefühlvoll waren – o ja, er war zu perfekt, um wahr zu sein, und dafür hasste ich ihn.

Ich ertappte mich dabei, wie ich den Kerl finster musterte, und war von mir selbst überrascht. Warum reagierte ich so auf ihn? Normalerweise empfand ich nichts für meine Opfer, abgesehen von einem leisen Anflug von schlechtem Gewissen, dass ich ausgerechnet sie herausgegriffen hatte. Ich versuchte immer Leute auszuwählen, denen der Verlust nicht so viel ausmachen würde, ein bisschen wie Robin Hood. Es machte mir Spaß, meine reichen Opfer auszutricksen, aber dabei sollte niemand wirklich zu Schaden kommen.

Dieser Coup fiel ein bisschen aus der Reihe, da ich im Auftrag handelte; es war eher die Ausnahme, dass man mich bat, eine bestimmte Person zu beklauen, aber ich war froh, dass mein Opfer anscheinend zu der Sorte zählte, die bis zum Anschlag versichert war. Weder er noch ich hatten uns diese Situation ausgesucht, darum war es total irrational, dass ich ihn zu meinem Feind erklärte. Er hatte nichts getan, dass er so was verdiente; er stand einfach nur rum und sah so unbekümmert, frisch und in sich ruhend aus, während ich einfach nur hoffnungslos durch den Wind war.

Die Fremdenführerin quasselte weiter und erläuterte, dass die Bestuhlung so konstruiert worden war, dass man sie später einmal herausnehmen konnte. Was kümmerte mich die Zeit nach Olympia? Ich war davon überzeugt, nicht mal den nächsten Monat zu erleben, geschweige denn die nächsten zehn Jahre.

Ein Flugzeug donnerte im Anflug auf Heathrow Airport über unsere Köpfe hinweg und entstellte mit seiner weißen Spur den klaren Sommerhimmel. Als der Junge den Kopf hob und nach oben schaute, schritt ich zur Tat.

Ich griff nach ihren Mentalmustern …

Sie schwirrten los wie viele bunte Kaleidoskope, die sich ständig verändern. Und dann …

… hielt ich die Zeit an.

Na ja, stimmt nicht ganz, aber genauso empfindet es derjenige, auf den meine Macht einwirkt. Tatsächlich lege ich das Wahrnehmungsvermögen lahm, sodass niemand bemerkt, wie die Zeit vergeht – darum brauche ich auch kleine Gruppen in geschlossenen Räumen. Sonst würden womöglich andere Leute mitkriegen, dass ein Haufen Menschen zu Wachsfiguren erstarrt ist. Es fühlt sich ein bisschen so an, wie wenn man unter Vollnarkose wegdriftet und dann plötzlich wieder aufwacht, zumindest haben es mir so Mitglieder der Community beschrieben, an denen ich meine Fähigkeit mal ausprobiert habe. Die Community ist sozusagen mein Zuhause, auch wenn es da oft eher wie im Zoo zugeht.

Alle in der Community sind Savants: Menschen mit extrasensorischer Wahrnehmung und Begabung. Savants existieren, weil ab und zu ein Mensch mit einer besonderen Gabe geboren wird, einer speziellen Dimension im Gehirn, die ihm erlaubt, Dinge zu tun, von denen andere nur träumen. Einige von uns können Gegenstände mittels Gedankenkraft bewegen – Telekinese; ich habe ein paar kennengelernt, die mitbekommen, wenn man Telepathie benutzt, und es gibt einen Mann, der in deinen Kopf eindringen und dich dazu zwingen kann, seinem Willen zu gehorchen. Die Kräfte der Savants sind ganz verschieden und vielfältig, aber niemand verfügt über eine solche Gabe wie ich. Das fand ich super; es gab mir das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein.

Die kleine Gruppe von zehn Studenten und die Fremdenführerin erstarrten in ihren Bewegungen, die Hand der Skandinavierin hielt auf halbem Weg durch ihr Haar inne, ein junger Asiate verharrte mitten im Niesen – das ›Ha‹ blieb ohne das ›tschi‹.

Wie krass: Ich kann sogar eine Erkältung stoppen.

Ich durchwühlte schnell den Rucksack meines Opfers und stieß auf eine Goldgrube: Er hatte ein iPad und ein iPhone. Das waren super Nachrichten, denn beides ließ sich leicht verstecken und hatte einen hohen Wiederverkaufswert, der sich fast auf den Originalladenpreis belief. Mich überkam das bekannte Triumphgefühl und ich musste der Versuchung widerstehen, mit dem Handy ein Bild von ihnen zu schießen, wie sie da alle so standen, eine Gruppe Achtzehnjähriger, die Stopptanz spielten. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich meine Siegesfeier mit hämmernden Kopfschmerzen bezahlen würde, wenn ich sie länger als zwanzig oder dreißig Sekunden auskostete. Ich stopfte meine Beute in den Baumwollbeutel und hängte ihm den Rucksack wieder über die Schulter, genau in der gleichen Position wie vorher – ich habe ein Auge für Details. Aber jetzt, wo ich so dicht vor ihm stand und ihn fast umarmte, konnte ich hinter der Sonnenbrille seine Augen erkennen. Mir stockte das Herz, als ich den Ausdruck darin sah. Es war nicht der dumpfe glasige Blick, den meine Opfer normalerweise zeigten; nein, er war sich voll darüber bewusst, was hier passierte, und in seinen Augen brannte Wut.

Er konnte sich doch unmöglich meinen Kräften widersetzen, oder? Das hatte noch niemand geschafft, noch nicht mal die mächtigsten Savants der Community hatten meine Paralysierungsattacke abwehren können. Ich konzentrierte mich und überprüfte sein Mentalmuster. Es ist mir möglich, Gehirnwellen zu sehen, so wie den Strahlenkranz der Sonne; das ist ein bisschen so, als würde die betreffende Person vor einem runden, ständig farbwechselnden Fenster zu ihrer Seele stehen. Anhand der Farben und Muster erfährt man viel über einen Menschen, erhält sogar Einblicke in seine Sorgen.

Sein Mentalmuster war nicht erstarrt und hatte sich seit meinem Angriff noch mal verändert – kurz vorher hatte es ausgesehen wie ein abstrakter blauer Heiligenschein mit ineinander verwobenen Zahlen und Buchstaben; sein Gehirn regte sich also noch, zwar langsamer, aber er war eindeutig bei Bewusstsein. Der Kranz nahm eine rötliche Tönung an und mein Gesicht tanzte in den Flammen.

Was für eine Scheiße!

Ich ließ den Reißverschluss einfach halb offen stehen und nahm die Beine Richtung Ausgang in die Hand. Ich spürte, wie die Wahrnehmung der Studenten meiner Kontrolle entglitt, viel schneller als sonst, so wie Sand, der einem zwischen den Fingern hindurchrieselt. Ein Teil von mir schrie, dass das nicht möglich sein konnte: Ich verstand mich auf nichts wirklich gut, außer darauf; meine Fähigkeit, den Geist anderer Menschen erstarren zu lassen, war das Einzige, worauf in meinem ganzen chaotischen Leben immer Verlass gewesen war. Ich hatte panische Angst, dass mir das nun irgendwie abhandenkam. In dem Fall wäre ich geliefert. Erledigt.

Mein linker Schuh schlappte mir vom Hacken, als ich aus dem Stadion rannte – der verdammte Schnürsenkel war gerissen. Ich lief auf den Schaufellader zu, hinter dem ich mich vorhin versteckt hatte. Wenn ich es bis dorthin schaffte, könnte ich mich außer Sicht bringen und in der Wildblumenwiese in Deckung gehen. Von da könnte ich zu der Betonröhre robben, mit der ich mein Einstiegsloch zum Baugelände verdeckt hatte.

Ich rutschte aus und verlor meinen Schuh endgültig auf der Rampe, war aber zu panisch, um ihn mir wiederzuholen. Sonst machte ich nie solche Fehler. Ich zog meine Raubzüge immer durch, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

Ich erreichte den Schaufelllader, mein Herz wummerte in meiner Brust wie ein verstärkter Basssound. Die Verbindung riss ab und ich wusste, dass der Rest der Studenten jetzt auch wieder voll bei Bewusstsein war. Aber hatte er es geschafft, meine Paralysierungsattacke schon vorher abzuschütteln und sich mir an die Fersen zu heften?

Der Lärm der Bauarbeiten dröhnte ununterbrochen weiter. Kein Rufen, keine Pfiffe. Ich spähte hinter dem Reifen des Schaufelladers hervor. Der Junge stand oben an der Rampe und ließ den Blick über den Olympiapark schweifen. Er machte kein Tamtam, schrie nicht um Hilfe oder nach der Polizei. Er schaute einfach nur. Das machte mir noch mehr Angst. Das war einfach nicht normal.

Keine Zeit zum Grübeln. Ich duckte mich in das lange Gras und fand den Pfad platt gedrückter Halme, den ich auf dem Hinweg auf der Wiese hinterlassen hatte. Bald würde ich in Sicherheit sein. In diesem Bereich des Geländes gab es weniger Überwachungskameras und verschiedene schwer einsehbare Stellen, wenn man nur wusste, wo. Ich würde also nicht leicht zu orten sein. Ich konnte noch immer davonkommen.

Ich lag bäuchlings im Gras, legte den Beutel neben mir ab und ließ meinen Kopf für einen Moment zu Boden sacken. Das Adrenalin rauschte mir noch immer durch die Adern wie ein außer Kontrolle geratener U-Bahn-Zug. Mir war schlecht. Ich war angewidert von meiner unprofessionellen Panik und hatte Angst, was als Nächstes passieren würde. Ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken; ich musste hier raus, zurück auf die Straße, und das Zeug loswerden, das ich gestohlen hatte.

Mir fiel wieder ein, dass ich im Besitz von zwei sauteuren Gegenständen war, und ich warf einen prüfenden Blick in den Beutel. Darin fühlte es sich warm an – nein, heiß. Ich steckte meine Hand hinein, um nachzusehen, was da los war – so was von dämlich!

Das Telefon und das iPad gingen in Flammen auf.

Wild fluchend zog ich meine Hand zurück und stieß den Beutel von mir weg. Meine Finger taten höllisch weh und es sah aus, als wäre meine ganze Hand verbrannt. Doch es blieb keine Zeit, mir die Wunden genauer zu besehen, denn jetzt brannte der Beutel lichterloh und schickte Rauchzeichen in den Himmel, die verrieten, wo sich der Dieb befand. Ich rappelte mich hoch und lief blindlings und ächzend vor Schmerzen auf den Zaun zu. Ich musste meine Hand unbedingt mit Wasser kühlen. Es war mir egal, ob mich jemand sah; ich musste einfach nur weg von hier.

Mit mehr Glück als Verstand fand ich die Betonröhre und die Lücke im Zaun. Als ich mich durch das Maschendrahtgeflecht zwängte, blieb ich mit den Haaren hängen und musste fest reißen, um loszukommen – eine Verletzung mehr auf meiner immer länger werdenden Liste. Dann humpelte ich, die zerschundene Hand an der Brust geborgen, quer über das Brachgelände zur U-Bahn-Station Stratford und tauchte in der Menschenmenge auf dem Bahnsteig unter.

Blumenranke

Kapitel 2

»Tony, Tony, lass mich rein!« Ich hämmerte mit meiner unverletzten Hand gegen die abgewetzte Brandschutztür auf der Rückseite des Gebäudes der Community; die Tür ließ sich nur von innen per Druckstange öffnen und so musste ich warten, bis sich jemand erbarmte und mich reinließ.

Wie ich es mir schon gedacht hatte, schob Tony heute Morgen als Einziger Wache. Die anderen waren unterwegs, um die Reichtümer der Community zu ›vermehren‹. Ich konnte hören, wie er zur Tür schlurfte, sein schlimmes Bein schleifte bei jedem zweiten Schritt über den Boden. Mit einem Rums ließ er sich gegen die Druckstange fallen und zwang sie auf. Die untere Kante der Tür schabte über das rissige Betonpflaster.

»Phee, was machst du denn schon so früh wieder zu Hause?« Er wich ein Stück zurück, um mich durchzulassen, dann zog er die Tür wieder zu. »Wo ist dein Beutel? Hast du ihn irgendwo gebunkert?« Tony, ein kleiner Kerl mit grau melierten Haaren, sonnengebräunter Haut und Augen wie ein Luchs war für mich in der Community das, was einem Freund am nächsten kam. Vor zwei Jahren hatte er bei dem Versuch, einen Truck in einer Parkbucht in Walthamstow zu knacken, den Kürzeren gezogen, da er nicht bemerkt hatte, dass der Fahrer auf dem Fahrersitz schlief. Der Mann war losgebraust, als er hörte, wie Tonys telekinetische Kräfte am Türschloss zum Einsatz kamen, ohne nach der Ursache des Geräuschs zu schauen. Tony war unter die Reifen geraten und fast gestorben. Seitdem konnte er nur noch einen Arm und ein Bein benutzen, die anderen beiden Gliedmaßen waren zertrümmert und nie wieder richtig verheilt. Den Mitgliedern der Community ist es nicht erlaubt, zum Arzt zu gehen. Laut unserem Anführer müssen wir unsichtbar bleiben.

»Du solltest noch gar nicht zurück sein.« Tony verharrte unentschlossen im Eingangsbereich, als wüsste er nicht recht, ob er mich gleich wieder rauswerfen sollte.

»Ich bin verletzt.«

Er warf einen nervösen Blick über die Schulter. »Aber du stehst noch aufrecht und kannst laufen, Phee … Du kennst die Regeln!«

Ich hatte für heute die Nase voll vom Mich-durchschlagen-Müssen und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich kenne die verfluchten Regeln, Tony. Mein Beutel hat sich in Rauch aufgelöst, okay? Und ich hab mich verbrannt.« Ich hielt meine von Blasen übersäte Hand hoch. Ausnahmsweise wollte ich mal Mitleid haben und mir nicht anhören, was meine Pflicht war. »Es tut echt schweineweh.«

»Oh, dashur, das sieht aber böse aus.« Er ließ für eine Sekunde resigniert die Schultern hängen und bedachte die Konsequenzen, dann straffte er sich. »Ich sollte dich eigentlich nicht reinlassen, aber was soll’s? Komm mit, ich seh mir das mal an.«

»Danke, Tony. Du bist ein Schatz.« Sein Entgegenkommen bedeutete mir mehr, als er ahnte.

»Wir beide wissen, dass das noch nicht das Ende vom Lied ist, nicht wenn der Seher davon hört.« Er zuckte verzagt mit den Schultern. »Aber jetzt wollen wir uns erst mal um deine Verletzung kümmern.«

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen weg. »Tut mir leid.«

»Ja, ja.« Den Rücken mir zugewandt, machte er eine wegwerfende Handbewegung, eine trotzige Geste angesichts des bevorstehenden Ärgers. »Uns tut es allen leid … die ganze Zeit.« Er schlurfte den übel riechenden Gang hinunter, der teils Keller, teils Leitungstunnel war. Die Community hatte sich in einem der leeren Sozialbauten breitgemacht, die zum Abriss freigegeben waren. Ich glaube, die Lokalbehörden hatten davon geträumt, dass diese hässlichen Exemplare ihres Wohnungsbestandes im Zuge der Olympia-Bebauung geschluckt und vertilgt würden, aber die Wirtschaftskrise hatte diese Träume zunichtegemacht. Man hatte die niedrigen Häuserblöcke leer geräumt, in dem Glauben, dass die von Stütze lebenden Bewohner durch steuerzahlende Angestellte ersetzt würden, aber die Bulldozer, welche die Betonklötze hätten plattmachen und neue, schicke Wohnungen errichten sollen, waren nie angerückt. Stattdessen waren wir vor sechs Monaten hier untergekrochen und hatten unsere eigene kleine Siedlung gegründet. Es war nicht so übel wie andere Quartiere, in denen wir gehaust hatten, denn es gab noch immer fließend Wasser, auch wenn der Strom abgestellt worden war. Die Polizei hatte nach Zahlung von angemessenen Bestechungsgeldern einfach weggeschaut, als wir die verrammelten Wohnungen aufbrachen. Und die harten Jungs aus der Gegend, die das Gelände als Drogenumschlagplatz genutzt hatten, waren von unseren Wachen ruck, zuck verscheucht worden. Wenn hier schon irgendwas Illegales lief, dann wollte unser Anführer auch sichergehen, dass gefälligst er davon profitierte. Und so waren wir ganz unter uns, eine Gruppe von ungefähr sechzig Savants und ein dominanter Seher, der die Rolle der Bienenkönigin einnahm, während wir anderen die Arbeitstiere abgaben.

»Rein mit dir.« Tony schob mich in den schrankgroßen Raum, den man ihm zugewiesen hatte. Wegen seiner Verletzung hatte er aus dem ›aktiven Dienst‹ ausscheiden müssen, war aber dank der ›Herzensgüte‹ unseres Anführers noch geduldet. Seine Herzensgüte reichte allerdings nur für diese Bruchbude hier aus. Mir hingegen hatte man ein richtiges Schlafzimmer im obersten Stock zugestanden – das entsprach etwa einer offiziellen Auszeichnung. Und als die Beste meines Handwerks hatte ich den Seher auch noch nie enttäuscht, bis heute.

»Wie schlimm?«, fragte ich vorsichtig und hielt meinen Arm am schmierigen Fenster ins Licht. In der Mitte meiner Handfläche hatten sich lauter kleine weiße Blasen gebildet und die Haut an meinem Arm war bis hoch zum Ellenbogen knallrot und wund. Tony sog scharf die Luft ein. »Vielleicht hättest du doch zur Notaufnahme gehen sollen, Phee.«

»Du weißt, das darf ich nicht.«

Er nahm eine Tube Salbe aus seiner Reisetasche, die auf der Matratze lag. Keiner von uns packte je aus, da wir jederzeit abmarschbereit sein mussten. Er betastete mit leichtem Druck meine Haut, dann sah er mich durch halb gesenkte Lider an. »Es sei denn, du hättest vorgehabt, nicht wiederzukommen.«

»Ich … ich kann doch nirgends hin, das weißt du.« Wollte er mich auf die Probe stellen? Der Seher prüfte des Öfteren unsere Loyalität, indem er uns gegeneinander aufhetzte, und außerdem war klar, dass wir Spione in unserer Mitte hatten.

»Ach wirklich? Ein junges Mädchen wie du sollte doch in der Lage sein, ein besseres Leben zu finden als das hier.« Er kramte in seiner Tasche herum und förderte eine Rolle Klebeband zutage – unsere Version eines Wundverbands. Wir lebten wie Soldaten auf Feindesgebiet und waren unsere eigenen Notfallmediziner. »So sollte die Wunde eigentlich sauber bleiben.«

Ich biss mir vor Schmerzen auf die Lippe, als er das Klebeband um meine verletzte Hand und den Arm wickelte, und sah dabei zu, wie die Salbe zwischen Wunde und Deckschicht platt gedrückt wurde. »Gibt es denn noch irgendwas anderes als das hier, Tony? Ich hab noch nie außerhalb der Community gelebt. Der Seher sagt, dass Menschen wie wir da nicht willkommen sind.«

Tony schnaubte verächtlich. »Na klar, und er ist ja allwissend.«

So war es mir jedenfalls mein Leben lang vorgekommen. »Warum bist du denn dann noch hier?« Wenn ich schon auf die Probe gestellt wurde, dann wollte ich mich wenigstens revanchieren.

»Ich kann wirklich nirgends woandershin. Ich habe kein Geld und außerdem bin illegal im Land, dashur. Wenn sie mich wieder nach Hause schicken, lande ich in Albanien, ein gescheiterter, mittelloser Ex-Autoknacker, der sich nicht allein über Wasser halten kann. Ich habe meine Familie nicht gerade auf die feine Art verlassen, vermutlich erschießen sie mich, sobald sie mich zu Gesicht kriegen.«

Den meisten in der Community erging es so wie Tony – sie waren staatenlos und ohne Wurzeln. Das war nur ein Teilstück der Falle, in der wir alle festsaßen. »Ich bin auch illegal. Ich habe keine Geburtsurkunde, nichts. Ich weiß noch nicht mal genau, wo ich geboren worden bin.«

»Ich war dabei.« Er riss das letzte Stück Klebeband von der Rolle. »Ich glaube, wir waren damals in Newcastle.«

»Echt? So weit im Norden?« Mir war nicht bewusst gewesen, dass Tony schon so lange bei uns war; ich lechzte förmlich danach, dass ein Stück der Lücke gefüllt wurde. »Erinnerst du dich denn noch an meine Mutter?«

Tony zuckte mit den Achseln. »Ja, sie war damals eine der Gefährtinnen des Sehers. Ein hübsches Ding. Du siehst ihr ein bisschen ähnlich. Hast du denn gar keine Erinnerungen mehr an sie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht aus jener Zeit – ich erinnere mich nur noch an später, als es schon schlecht um sie stand.« Sie war an Krebs gestorben, als ich acht war, nachdem sie ein Jahr lang vergeblich gegen die Krankheit gekämpft hatte, und alles, woran ich mich klar und deutlich erinnerte, war eine schmerzlich dünne Frau, die mich beim Umarmen fast erdrückte. Zum Glück war ich damals schon alt genug gewesen, um ihre Beitragspflichten zu übernehmen, sodass wir nicht obdachlos wurden. Selbst mit der tödlichen Diagnose Krebs durfte sie keinen Arzt aufsuchen – der Seher hatte es nicht erlaubt. Er hatte mir damals gesagt, Ärzte würden meiner Mutter auch nicht mehr helfen können, wenn schon seine eigenen Heilkräfte den Tumor nicht hatten töten können. Zu jener Zeit glaubte ich ihm, aber heute, neun Jahre später, hatte ich da so meine Zweifel. Mir war es immer so vorgekommen, als hätten seine Heilungskräfte letztlich nur auf die Willenskraft gewirkt. Und meine Mutter hatte bewiesen, dass man entgegen seiner Behauptung nicht über sich hinauswachsen und die Schmerzen ignorieren konnte, wenn der Körper aufgab.

»So, das sollte genügen.« Tony stopfte die Verbandssachen wieder in seine Tasche. »Willst du mir erzählen, wie das passiert ist?«

Ich holte tief Luft und nickte. Ich würde die Geschichte nachher dem Seher erzählen müssen, da war es keine schlechte Idee, sie erst mal an einem Freund auszuprobieren. »Ich war auf dem Baugelände, so wie man es mir gestern Abend aufgetragen hat.«

Tony setzte sich auf die Matratze. Diesen Part kannte er bereits, da er dabei gewesen war, als bei der Versammlung wie immer die Aufgaben an uns verteilt worden waren.

»Alles lief wie geschmiert … ich hatte das iPhone und das iPad aus seinem Rucksack geholt … ein gelungener Coup.«

Tony pfiff anerkennend.

»Ich hatte es schon so gut wie nach draußen geschafft, als die Teile … ähm … explodiert sind.«

Tony schüttelte den Kopf. »Phee, diese Dinger gehen nicht einfach so in die Luft.«

Ich hielt ihm zum Beweis meine Hand hin. »Seit heute schon. Es war fast so, als hätte der Kerl da Feuerwerkskörper reingetan. Er hat die Sachen irgendwie manipuliert, schätze ich.« Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Vielleicht war der Typ ein Terrorist, der einen Anschlag verüben wollte?«

»Nicht, wenn du dir nur die Finger verbrannt hast. Das klingt für mich mehr nach ’nem elektrischen Feuer als nach einer Bombe.« Tony legte die Stirn in Falten.

Mein Gesichtsausdruck spiegelte seinen. »Ich hab vor ein paar Jahren mal etwas über Laptops gelesen, die einfach hochgegangen sind … da war irgendwas mit den Batterien nicht in Ordnung.«

»Ja schon, aber dass das passiert ist, kurz nachdem du’s geklaut hat … das kann kein Zufall sein.«

Zu diesem Schluss war ich selbst auch schon gekommen.

Tony kratzte sich am Kinn, schabte mit seiner rauen Hand über die Stoppeln in seinem Gesicht. »Aber er hätte doch gar nicht merken dürfen, dass du ihn abgezockt hast, jedenfalls nicht, solange du noch auf dem Gelände warst.« Tony war ein schlauer Fuchs; er kannte die Wirkung meiner besonderen Gabe und hatte sofort die Schwachstelle in meiner Geschichte entdeckt.

Ich kauerte mich am Fuß des Bettes zusammen, müde bis in die Knochen. »Ich weiß. Das war für mich auch ein Riesenschock. Er hat alles mitgekriegt – ich schwör’s. Ich hab mein Gesicht in seinen Gedanken sehen können, als ich ihn beklaut habe. Er hat sich der Paralysierung widersetzt, war nicht komplett weggetreten.«

»Phee!« Tony rappelte sich mühevoll hoch. Er war über die jüngsten Ereignisse genauso erschüttert wie ich. »Das kannst du dem Seher nicht sagen! Er wird dich umbringen, wenn er glaubt, dass jemand weiß, wer du bist.«

Meine Kehle wurde staubtrocken. »Das würde … er doch nicht machen, oder?«

Tony lachte heiser auf. »Was glaubst du denn, wo Mitch hin ist, nachdem er letztes Jahr festgenommen und gegen Kaution freigelassen worden war?«

Ich wollte das nicht hören – ehrlich nicht. »Er ist doch nach Spanien gefahren, nicht? Im Auftrag des Sehers.«

»Spanien? Tja, so kann man’s auch nennen. Er ist in ein dunkles Grab im Wald gefahren, dashur. Der Seher war sehr, sehr wütend auf ihn.«

Ich schlang mir den unverletzten Arm um die Taille und lehnte mich an die Wand. Sie fühlte sich kalt und glitschig an auf meiner nackten Schulter. Ein Teil von mir hatte schon immer das Grauen gespürt, das unterhalb der Oberfläche unseres Lebens mit dem Seher existierte, aber ich hätte gern noch ein Weilchen länger die Ahnungslose gespielt. Ich fürchtete, dass mir die Angst den letzten Rest Unabhängigkeit und Stolz rauben würde, den ich mir bislang noch hatte bewahren können.

Tony seufzte, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Phee, es gibt nur zwei Wege, um aus der Community herauszukommen – man stirbt oder man verschwindet.«

»Ich dachte, wir könnten gehen, sobald wir unseren Seelenspiegel gefunden haben, unsere andere Hälfte«, sagte ich mit leiser Stimme.

Tony verzog das Gesicht. »Wer hat dir denn dieses Märchen aufgetischt?«

Meine Mutter, aber das würde ich ihm nicht auf die Nase binden. Sie hatte immer gehofft, eines Tages vom Leben in dieser Hölle erlöst zu werden, indem sie in einer der vielen Städte, die wir durchreisten, über ihr Gegenstück stolpern würde. Mom zufolge hatte jeder von uns Savants solch ein Gegenstück, jemanden, der irgendwo auf der Welt genau zur gleichen Zeit gezeugt worden war wie man selbst. Diese beiden Menschen, die im Abstand von mehreren Tagen oder Wochen voneinander geboren waren, suchten ihr Leben lang nach demjenigen, der sie vervollständigen würde. Die Vorstellung, eines Tages meinen Seelenspiegel zu finden, hatte mich meine ganze Kindheit lang mit Hoffnung erfüllt und meine Mutter hatte mir eingeflüstert, dass irgendwo da draußen mein ganz eigener Prinz Charming auf mich wartete. Und falls meine Mutter ihren Seelenspiegel vor mir fände, würden wir die Community verlassen und ich hätte einen Vater, der mich lieben würde wie seine eigene Tochter. Ich hatte mich nie entscheiden können, welche der beiden Geschichten in Erfüllung gehen sollte. Doch dann war meine Mutter gestorben.

Und mit ihr war ganz langsam auch der Traum von meinem Seelenspiegel gestorben, der Traum von diesem ganz besonderen Menschen, der sich um mich sorgen und mich lieben würde, von dieser Beziehung, die tiefer ging als jede andere normale Liebe. Wenn ich jetzt darüber nachdachte, war das Ganze zu schön gewesen, um wahr zu sein.

»Ich glaube nicht mehr daran, dass es diese Seelenspiegel gibt.« Tony ballte seine gesunde Hand zur Faust. »Es ist zu grausam, immer weiter zu hoffen. Und selbst wenn du deinen finden solltest, der Seher würde dich niemals gehen lassen.«

Ich schloss kurz die Augen und schwelgte noch ein letztes Mal in der Vorstellung, dass ich ein Leben außerhalb der Community führen könnte, zusammen mit jemandem, mit dem ich für immer vereint wäre. Savants ohne Seelenspiegel gehen nie eine feste Beziehung ein – das können sie nicht; sie wechseln von einem Partner zum nächsten, so wie das meine Mutter auch getan hatte. Ich hatte nie so leben wollen, aber es war die Art von Existenz, die ich führen würde. Es war ein kindlicher Wunsch, dass jemand nur darauf wartete, mich zu retten. Und ich musste mich von ihm verabschieden.

»Du hast also zwei Möglichkeiten, Phee – sterben oder abhauen«, fuhr Tony fort. »Bitte, bitte, denk über letztere nach; ich will nämlich nicht dabei sein, wenn der Seher für dich erstere wählt.« Tony trat dicht an mich heran und legte mir seine verkrüppelte Hand auf die Wange. »Du hast etwas Besseres verdient. Und erzähl ihm nicht, was du mir erzählt hast.«

»Er wird’s herausfinden. Das tut er immer.« Aus diesem Grund beherrschte er uns: Der Seher konnte eine Lüge auf hundert Schritt Entfernung riechen. Seine Gabe war mächtig. Er konnte Maschinen mittels Gedankenkraft an- und ausschalten, Elektrizität manipulieren und in den Geist eines anderen Menschen eindringen und ihn so weit steuern, dass er tat, was der Seher wollte, bis hin zum Selbstmord. Mitch hatte vermutlich sein eigenes Grab geschaufelt und war dann auf Geheiß des Sehers hineingesprungen. Unser Anführer verfügte zudem über eine untrügliche Menschenkenntnis und identifizierte einen verräterischen Gedanken, noch ehe man die Chance hatte, ihn in die Tat umzusetzen. Wir wussten schon, warum wir ihm dermaßen bereitwillig dienten.

Tony ließ den Kopf sinken. »Er wird sich nur die Mühe machen nachzuhaken, wenn er dir nicht glaubt, also muss deine Geschichte absolut wasserdicht sein. Du musst deine Abschirmung trainieren.«

»Ich hab’s noch nie geschafft, irgendwas vor ihm geheim zu halten.« Ich hatte immer viel zu viel Angst gehabt, etwas dermaßen Aufsässiges zu versuchen.

»Der Seher mag dich. Er wird nicht nach Ungereimtheiten suchen, wenn du ihm dazu keinen Grund gibst. Du musst dir eine neue Geschichte zurechtlegen.« Tony rieb sich die Stirn. »Ich weiß was – erzähl ihm doch, dass diese Touristengruppe nicht zur Führung erschienen ist. Du behauptest einfach, dass es da eine Planänderung gegeben hat. Ich rede mal mit Sean – er hatte heute Dienst und wird bestimmt dichthalten, wenn du den Verlust morgen wiedergutmachst. Deine Brandwunde musst du natürlich verstecken.« Sean war einer von uns und arbeitete als Wachmann auf dem Olympiagelände.

»Und was habe ich dann den ganzen Tag lang gemacht?«

Tony schritt in dem winzigen Zimmer auf und ab. »Du … du hast dich auf die Suche nach deinem Zielobjekt gemacht, nachdem die Studenten nicht erschienen waren … Sie sind wegen einer Konferenz hier, richtig? Im Queen Mary College?«

Ich nickte.

»Und du hast rausgekriegt, wann morgen für dich der beste Zeitpunkt ist, um zuzuschlagen und Dinge im Wert von mindestens zwei Arbeitstagen zu erbeuten. Mach dem Seher den Mund richtig schön wässrig nach all den Laptops und Handys und prall gefüllten Börsen. Er wird dir einen Tag Zeit geben, damit du dich bewähren kannst.«

Ich strich mir oberhalb der Brandwunde mit der Hand über den Arm. »Aber er wollte, dass ich mir eine ganz bestimmte Person vornehme, und dieser Typ hat mich gesehen. Zweimal hintereinander dieselbe Person abzocken zu wollen, da ist Ärger doch vorprogammiert.«

»Na ja, da wirst du dir natürlich etwas einfallen lassen müssen.« Tony sah nicht mehr mich an, sondern die Risse im Putz an der Decke.

»Was meinst du damit?«

»Ich schätze, du musst einfach dafür sorgen, dass der iPad-Knabe nicht mehr länger darüber nachdenkt, wer ihn beklaut hat, indem du ihm andere, handfeste Probleme bescherst.«

»Was für Probleme zum Beispiel?«

»Du liebe Güte, Phee, benutz deine Fantasie. Paralysiere ihn und schubs ihn ’ne Treppe runter, verpass ihm eine Gehirnerschütterung, lass ihm ’nen Hammer auf die Hand fallen … irgendeine Idee wirst du ja wohl haben. Bisher hast du deine Gabe nur zum Stehlen benutzt, aber du weißt doch, dass du noch ganz andere Möglichkeiten hast.«

»Aber nachher wird er ernsthaft verletzt!«

»Dann gib dir halt Mühe.« Tony drehte sich empört von mir weg. »Ich sage ja nicht, dass du ihn umbringen sollst – sorge einfach dafür, dass er eine Weile mit anderen Dingen beschäftigt ist. Wenn er seine Zeit bei Ärzten verbringt, wird er sich nicht wegen eines explodierten iPads sorgen. Sieh zu, dass er wieder nach Hause fährt.«

»Ich … ich kann so was nicht.«

Tony riss die Tür auf. Er war mit seiner Geduld am Ende. »Du vergisst, Phee, dass du mich in die Sache mit reingezogen hast, als ich dich ohne Beute hier reingelassen habe. Du musst dafür sorgen, dass die Sache gut ausgeht und morgen wieder alles so ist wie immer – entweder das oder du verschwindest, damit das Ganze nicht auf mich zurückfällt.« Er warf mich praktisch raus, aus Angst, weil wir inzwischen dermaßen viele Regeln gebrochen hatten. »Verschwinde jetzt und überleg dir eine Geschichte für den Rapport morgen. Ich kann dir deine Entscheidungen nicht abnehmen – das ist allein deine Sache.«

Ich war gerade gegen eine dieser Barrieren geprallt, die wahrer Freundschaft im Weg stehen und die Bestandteil des Lebens in der Community waren. Ich dankte ihm mit knappen Worten und ging. Wir versuchten alle zu überleben und standen nur bis zu einem gewissen Punkt loyal zueinander.

Ich hoffte inständig, dass mich niemand sehen würde, als ich die Treppe zu meiner Wohnung hinaufhuschte. Die Lichtverhältnisse und der Geruch wurden merklich besser, je höher man kam. Meine Wohnung lag im fünften Stock, den Rest der Etage nahm der Seher zusammen mit seinem kleinen Trupp von Bodyguards und Günstlingen ein. Sie wären als Einzige um diese Uhrzeit zu Hause, aber ich musste einfach darauf vertrauen, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt waren und nicht im Treppenaufgang Patrouille schoben. Der Seher hatte seine Wohnung recht luxuriös ausgestattet und besaß sogar einen eigenen Generator, der vor meiner Tür abgestellt war, sodass alle meine Abende begleitet waren von Motorgebrumm und stinkendem Dieselmief. Mir machte das nichts aus, denn es dämpfte den Lärm der ausschweifenden Partys, die der Seher feierte und bei denen schlimme Sachen passierten. Zum Glück war es mir bislang gelungen, mich davon fernzuhalten. Allerdings fragte ich mich, wie lange noch: Mir war aufgefallen, dass mich der Seher neuerdings so seltsam ansah. Ich zählte zu den wenigen, die in der Community aufgewachsen waren, und die Kinderzeit hatte mir einen gewissen Schutz gewährt; doch jetzt war ich siebzehn und die Sache änderte sich langsam. Ich wollte nicht, dass der Seher auf mich aufmerksam wurde, mich benutzte und dann wegwarf, wie er es schon mit so vielen anderen Frauen getan hatte.

So wie mit meiner Mutter.

Ich schaffte es bis in meine Wohnung, ohne gesehen zu werden. Sobald ich drinnen war, legte ich die mickrige Kette vor; nicht dass sie irgendjemanden aufgehalten hätte, aber ich fühlte mich sicherer. Die Kunst, mit dem Leben in der Community zurechtzukommen, bestand darin, aus den kleinen Gefälligkeiten, die uns der Seher erwies – und Privatsphäre zählte zu den kostbarsten –, das meiste herauszuholen. Meine Wohnung wurde als Warenlager genutzt: geklaute Elektrogeräte, Weinkisten, Kartons voller Lederjacken. Es roch nach Kaufhaus, nicht nach Zuhause. Mir war ein Schlafzimmer mit einem richtigen Bett gewährt worden, eindeutig ein Zeichen der Anerkennung, denn die meisten von uns schliefen auf Matratzen am Boden. Dieses Privileg genossen sonst nur noch die Bodyguards des Sehers und zwei andere jüngere Mitglieder der Community, beides Jungen, Unicorn und Dragon. Schräge Namen, aber ich sollte da wohl ganz still sein, schließlich hieß ich Phoenix. Die beiden standen dem Seher sehr nahe, sodass ihre Vorzugsbehandlung nicht groß überraschte, meine Privilegien hingegen ließen sich nicht so leicht erklären; vermutlich fand unser Anführer meine Gabe sehr nützlich und einzigartig.

Falls sie überhaupt noch funktionierte. Dem Seher würde es nicht gefallen, sollte er erfahren, dass meine besondere Fähigkeit nicht ausnahmslos Wirkung zeigte. Vor dem Coup hatte ich mir gedanklich noch eine Goldmedaille umgehängt, jetzt fühlte ich mich wie ein Läufer, der den schmachvollen letzten Platz belegt hatte. Was auch immer ich dem Jungen noch antun würde, es durfte nie jemand erfahren, dass er in der Lage gewesen war, sich mir zu widersetzen.

Blumenranke

Kapitel 3

Neun Uhr abends: die Tageszeit, vor der mir immer graute. Bei Wind und Wetter versammelte sich dann die Community auf dem abgewrackten Spielplatz in der Mitte der Wohnanlage, um dem Seher Bericht zu erstatten. Wie der Papst am Ostersonntag trat der Seher hinaus auf den Laubengang über unseren Köpfen und sah dabei zu, wie seine Handlanger durch die Reihen gingen und die erbeuteten Sachen einsammelten. Danach wurden die Aufgaben für den nächsten Tag verteilt und dann, soweit alles gut war, löste sich die Versammlung auf und wir gingen entweder zurück auf unsere Zimmer oder zogen los, um einen Job zu erledigen.

Soweit alles gut war.

Wenn nicht, wurde der Missetäter für ein Gespräch nach oben zum Seher gebracht. Ich wusste, dass mich sehr wahrscheinlich genau das erwartete: Mit leeren Händen dazustehen würde definitiv zur Folge haben, dass sich der Seher persönlich der Sache annahm.

Ich bereitete mich auf das Treffen vor, indem ich mir ein langärmeliges T-Shirt anzog, das meine Brandverletzung verdeckte, und mir einen Handverband anlegte, mit dem es so aussah, als hätte ich mich bloß geschnitten – eine Verletzung, die man sich oft bei Einbrüchen zuzog und die keinen Verdacht erwecken würde. Ich warf einen prüfenden Blick auf meine Erscheinung in der Spiegelscherbe, die über dem Waschbecken im Badezimmer hing. Meine gebräunte Haut ließ meine blauen Augen heller erscheinen als sonst; meine schulterlangen Haare hatte ich mir vor einer Woche zurechtgestutzt und jetzt fielen sie mir in verschieden langen, an den Enden ausgefransten Strähnen ins Gesicht. Es sah besser aus, als ich gedacht hatte, in Anbetracht der stümperhaften Ausführung mithilfe einer Nagelschere. Ohne Schminke und mit einer Reihe schlichter Stecker im Ohr sah ich jünger aus als siebzehn – hoffentlich ein Pluspunkt für mich.

Mein Wecker auf dem Nachttisch piepste und mahnte mich, dass es Zeit für den Appell war. Ich machte mich im Laufschritt auf und stieß zu den anderen, die treppabwärts zum Spielplatz rannten. Keiner sagte etwas: Zu diesem Zeitpunkt waren alle immer sehr angespannt; erst wenn die Tortur überstanden war, nahmen wir uns Zeit, um miteinander zu sprechen. Ich schlüpfte an meinen gewohnten Platz neben dem Karussell und setzte mich dort auf den äußersten Rand. Ich sah Tony drüben bei den Schaukeln herumschleichen. Wie immer hielt er sich möglichst im Hintergrund.

Um Punkt neun ließ der Seher per Gedankenkraft die Flutlichter angehen. Eine Wohnungstür öffnete sich im obersten Stock und unser Anführer trat in einem weißen Anzug hinaus an die Brüstung.

Der Seher – sein richtiger Name war unbekannt. Schwarzes, zurückgekämmtes Haar, ein aufgedunsenes Gesicht mit Doppelkinn, kleine dicke Finger voller Ringe: Er war der typische Herzinfarkt-Kandidat, hatte bislang aber noch nicht mal so viel wie ein Stechen verspürt. Manchmal malte ich mir aus, wie es wäre, wenn er tatsächlich aus den Latschen kippte: Würden wir alle auseinanderrennen wie entflohene Häftlinge oder würde irgendein neuer Tyrann das Ruder übernehmen? Er hatte Dragon und Unicorn in den letzten Jahren auf den Spitzenjob vorbereitet und sich einen Spaß aus ihrem Konkurrenzkampf gemacht. Wenn irgendjemand von uns in seine Fußstapfen treten würde, dann einer von den beiden. Dragon hatte die Fähigkeit, Dinge mit bloßer Gedankenkraft zu bewegen – auf diese Weise hatte er schon die Position ganzer Autos verändert; Unicorn konnte Dinge altern lassen – er ließ Früchte reifen, Pflanzen erblühen und welken – solche Sachen. Ich würde lieber von Dragon attackiert werden: durch einen Raum geschleudert zu werden war in vielerlei Hinsicht reizvoller, als schlagartig um Jahre zu altern.

Die Handlanger des Sehers schwärmten aus, um die Diebesbeute einzusammeln. Sie trugen eine Art Uniform – schwarzes T-Shirt, Lederjacke und -hosen, die im krassen Kontrast zu dem weißen Anzug des Sehers standen. Ich hielt den Blick auf meine Finger gerichtet, pulte an meinem blauen Nagellack herum und hoffte, dass ein Wunder geschehen möge und sie einfach an mir vorbeigingen. Ich hatte genug Zeit, um mich an den Rand der Depression zu grübeln. Was war das bloß mit uns Savants? Warum waren wir trotz unserer Begabung auf ein dermaßen beschissenes Leben beschränkt? Ich hatte genug Fernsehen geguckt, um zu wissen, dass die meisten Leute in meinem Alter Familien hatten, zur Schule gingen, ein normales Leben führten an irgendwelchen netten Orten. Warum saß ich in diesem Loch fest? Ich hätte liebend gern ein Zuhause, wo es mehr Bewohner als Ratten gibt. Ein Savant zu sein hätte doch eigentlich bedeuten müssen, den Hauptgewinn in der genetischen Lotterie gezogen zu haben, da wir aufgrund einer Laune der Natur mit einer besonderen Beigabe bedacht worden waren, aber irgendwie schienen wir doppelt gestraft zu sein. Erstens waren wir von der alltäglichen Welt um uns herum ausgeschlossen durch eine Begabung, von der andere nichts wissen durften, weil sie uns sonst wie Laborratten sezieren oder aus Angst umbringen würden; zweitens waren wir dazu verdammt, allein zu bleiben, weil uns das Schicksal einen Partner zugedacht hatte, den wir aller Wahrscheinlichkeit niemals treffen würden. Wir waren so wie einer von diesen Lego-Baukästen, bei dem die eine Hälfte der Steine irgendwo auf der anderen Seite der Weltkugel verstreut war.

»Und, Phee, was hast du heute mitgebracht?«

Na toll, mein Glücksstern machte anscheinend Dauerurlaub. Es war Unicorn, der vor mir stehen geblieben war. Hochgewachsen und schlaksig und mit einer gewaltigen Nase erinnerte er mich an eine lang gestreckte Version von Mr Bean mit dem Gemüt von Hitler. Es bereitete ihm größte Freude, gegen die schwächeren Mitglieder der Community Strafen zu verhängen; wir alle hielten uns möglichst von ihm fern.

»Oh, hallo Unicorn. Mein Zielobjekt ist heute nicht auf dem Olympiagelände erschienen. Aber ich hab rausgekriegt, wo sich die Truppe morgen im College trifft, und hab vor, sie mir dann da zu greifen.« Klang meine Story einleuchtend genug?

Er rieb sich den Rücken seiner schnabelartigen Nase. »Heißt das etwa, du hast jetzt gar nichts für uns?«

Ich brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, dass unsere kleine Unterhaltung anfing, Aufmerksamkeit zu erregen. Verzögerungen beim Einsammeln der Beute verhießen nie etwas Gutes.

»Heute nicht. Aber morgen schnapp ich mir ’nen richtig fetten Fisch.«

»Oh, Phoenix, du weißt, morgen interessiert den Seher nicht«, sagte er mit gespielt mitleidsvoller Stimme.

»Ich … ich dachte, das geht mal in Ordnung, weißt du. Nur dieses eine Mal.«