Cover
Jenny Han
Der Sommer,
als ich schön wurde
Aus dem Englischen von
Birgitt Kollmann
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
The Summer I Turned Pretty.
Published by arrangement with Pippin Properties, Inc.
Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
© 2009 by Jenny Han
Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2011
2. Ebookversion 03/2021
Isbn: 978-3-446-24217-3
Umschlag und Umschlagfoto: Peter-Andreas Hassiepen, München
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
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Für die vielen wichtigen Schwesterfrauen in meinem Leben
und ganz besonders für Claire
Er klingt fast scheu, als er antwortet: »Ich auch nicht.« Dann zögert er. »Kommst du trotzdem mit?«
Unfassbar, dass er noch fragt. Überall würde ich mit ihm hingehen. »Ja«, antworte ich. Außerhalb dieses einen Wortes, dieses Moments scheint nichts zu existieren. Es gibt nur uns. Alles, was in diesem Sommer geschehen ist und in jedem Sommer davor, alles hat darauf hingeführt. Auf diesen Moment. Jetzt.

1

Wir waren seit geschätzten siebentausend Jahren unterwegs. Wenigstens fühlte es sich so an. Mein Bruder Steven fuhr noch langsamer als unsere Granny. Ich saß auf dem Beifahrersitz, die Füße auf dem Armaturenbrett. Meine Mutter hielt auf der Rückbank ein Nickerchen. Selbst wenn sie schlief, sah sie so konzentriert aus, als könnte sie jeden Moment wach werden und den Verkehr lenken.
»Jetzt schleich doch nicht so«, drängelte ich und bohrte Steven den Finger in die Schulter. »Und überhol endlich den Jungen auf dem Rad.«
Steven schüttelte mich ab. »Finger weg vom Fahrer!«, sagte er. »Und nimm gefälligst deine dreckigen Füße von meinem Armaturenbrett.«
Ich wackelte mit den Zehen. Mir kamen sie ziemlich sauber vor. »Was heißt hier dein Armaturenbrett? Das Auto ist demnächst meins, und das weißt du.«
»Falls du je den Führerschein schaffst«, spottete er. »Leute wie dich sollte man sowieso nicht ans Steuer lassen.«
»He, guck mal«, sagte ich und zeigte aus dem Fenster. »Der Typ da im Rollstuhl hat uns eben überholt!«
Aber Steven beachtete mich nicht, und so begann ich, am Radio rumzuspielen. Die örtlichen Radiosender gehörten für mich zu dem, was die Fahrt ans Meer so schön machte. Sie waren mir genauso vertraut wie die bei uns zu Hause, und erst wenn Q94 aus dem Lautsprecher kam, wusste ich, dass ich wirklich wieder da war, am Meer.
Ich stellte meinen Lieblingssender ein, den, der von Pop über Oldies bis hin zu Hip-Hop alles spielte. Genau das war auch sein Motto: »Wir spielen alles.« Tom Petty sang gerade Free Fallin’, und ich sang sofort mit. She’s a good girl, crazy ’bout Elvis. Loves horses and her boyfriend too.
Steven wollte den Sender wechseln, aber ich klopfte ihm auf die Finger. »Belly, wenn du singst, kriegt man glatt Lust, den Wagen ins Meer zu steuern.« Dabei tat er so, als schlingerten wir nach rechts.
Ich sang noch lauter, meine Mutter wachte auf und sang gleich mit. Wir hatten beide schreckliche Stimmen, und Steven schüttelte auf seine typische angewiderte Art den Kopf. Er hasste es, in der Minderheit zu sein. Das störte ihn auch an der Scheidung meiner Eltern am meisten, dass er jetzt der einzige Mann im Haus war, ohne Dad, der sich auf seine Seite schlug.
Wir fuhren langsam durch die Stadt, und obwohl ich Steven eben noch wegen seines Schleichtempos aufgezogen hatte, hatte ich im Grunde nichts dagegen. Ich liebte die Strecke, diesen Moment, wenn ich die Stadt wiedersah, Jimmys Krabbenbar, die Minigolf-Anlage, die vielen Surferläden. Es war wie nach Hause zu kommen, nachdem man ganz, ganz lange weg gewesen war. Der Sommer lag vor uns, mit seinen zahllosen Versprechen und Möglichkeiten.
Als wir dem Haus immer näher kamen, spürte ich dieses vertraute Flattern in meiner Brust. Wir waren fast da.
Ich ließ das Fenster runter, um alles in mich aufzunehmen. Die Luft schmeckte wie immer, roch wie immer. Der Wind, dieser salzige Seewind, von dem die Haare so klebrig wurden, alles fühlte sich genau richtig an. So als hätte alles nur auf mich gewartet.
Steven stieß mich mit dem Ellbogen an. »Na, denkst du an Conrad?«, fragte er spöttisch.
Ausnahmsweise war die Antwort mal Nein. »Nein!«, blaffte ich ihn an.
Meine Mutter streckte den Kopf zwischen den beiden Vordersitzen hindurch. »Hast du noch immer eine Schwäche für Conrad, Belly? Letzten Sommer sah es fast so aus, als würde zwischen dir und Jeremiah was laufen.«
»WAS? Du und Jeremiah?« Steven verzog das Gesicht. »Was war mit dir und Jeremiah?«
»Nichts«, erklärte ich den beiden. Ich spürte, wie mir die Röte langsam ins Gesicht stieg, und wünschte, ich wäre schon braun, damit es weniger auffiel. »Mom, bloß weil zwei Leute gut miteinander klarkommen, muss da doch nichts zwischen ihnen laufen. Fang bitte nicht noch mal damit an.«
Meine Mutter ließ sich wieder in ihren Sitz zurücksinken. »Abgemacht«, sagte sie mit einem so endgültigen Tonfall, dass ich wusste, dagegen käme Steven nicht an.
Aber weil Steven nun mal Steven war, ließ er trotzdem nicht locker. »Was war denn mit dir und Jeremiah? Ihr könnt doch nicht erst so eine Bemerkung machen und dann keine Erklärung dazu abgeben.«
»Damit musst du dich wohl abfinden«, sagte ich. Wenn man Steven irgendwas erzählte, dann würde er das bloß als Munition nehmen, um sich über mich lustig zu machen. Außerdem gab es nichts zu erzählen. Hatte es auch nie gegeben, nicht wirklich.
Conrad und Jeremiah waren Becks Söhne. Beck war Susannah Fisher, früher Susanna Beck. Meine Mutter war die Einzige, die sie Beck nannte. Die beiden kannten sich, seit sie neun waren – Blutsschwestern nannten sie sich. Und sie hatten auch die Narben, die das bewiesen, identische herzförmige Narben an den Handgelenken.
Als ich zur Welt kam – hat Susannah mir erzählt –, da wusste sie gleich, dass ich für einen ihrer Jungs bestimmt sei. Schicksal sei das, meinte sie. Meine Mutter, die es normalerweise mit diesen Dingen nicht so hatte, meinte, das sei doch perfekt, allerdings sollte ich mich vorher wenigstens noch ein paarmal anderweitig verlieben. Ein paar andere Liebhaber haben, hat sie übrigens wörtlich gesagt, aber das fand ich echt peinlich. Susannah nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und sagte: »Belly, du hast meinen Segen, ein für alle Mal. Ich fände es furchtbar, meine Jungs an eine andere zu verlieren.«
Seit meiner Geburt sind wir jeden Sommer in Susannahs Sommerhaus am Strand von Cousins Beach gewesen. Sogar schon vor meiner Geburt. Wenn ich an Cousins denke, denke ich mehr an das Haus und weniger an den Ort. Das Haus war meine Welt. Wir hatten unseren eigenen Strand, ganz für uns alleine. Es gab eine Menge, was für mich zum Haus gehörte: die Veranda, über die wir immer rings ums Haus rannten, die großen Kannen mit Sommertee, der nächtliche Pool – und die Jungs. Vor allem die Jungs.
Ich fragte mich immer, wie die beiden wohl im Dezember aussehen mochten. Ich versuchte sie mir mit Rollkragenpullovern und cranberryroten Schals vorzustellen, mit geröteten Backen oder neben einem Weihnachtsbaum, aber keins dieser Bilder schien zu stimmen. Ich kannte den Winter-Jeremiah oder den Winter-Conrad einfach nicht, und ich war eifersüchtig auf jeden, der das Glück hatte. Für mich blieben Flip-Flops und Badehosen und Sand und Nasen mit Sonnenbrand. Aber was war mit diesen Neuengland-Mädchen, die sich mit den beiden Schneeballschlachten im Wald lieferten? Die sich im Auto an sie kuschelten, bis die Heizung auf Touren kam, und denen sie ihre Jacken umhängten, wenn es draußen kalt war. Zumindest Jeremiah, der schon. Conrad nicht. Niemals, das war nicht sein Stil. Aber wie auch immer, es war nicht fair.
In Geschichte saß ich dicht neben der Heizung und fragte mich, was die beiden wohl machten, ob sie sich auch gerade irgendwo die Füße an einem Heizkörper wärmten. Und dabei die Tage zählten, bis wieder Sommer war. Für mich zählte der Winter so gut wie nicht. Bloß der Sommer, auf den kam es an. In meinem Leben zählten überhaupt nur die Sommer. So als lebte ich gar nicht richtig vor Juni, bevor ich wieder am Strand war, in diesem Haus.
Conrad war eineinhalb Jahre älter als Jeremiah.
Er war der düstere Typ, richtig finster. Und natürlich nicht greifbar. Unerreichbar. Er verzog immer leicht spöttisch den Mund, und irgendwie musste ich dauernd darauf starren. Diese spöttisch verzogenen Münder will man immer küssen, will sie glatt streichen und den Spott wegküssen. Oder vielleicht nicht einmal wegküssen … nur irgendwie unter Kontrolle kriegen. Ganz für sich haben. Genau das war es, was ich von Conrad wollte. Ihn für mich haben.
Jeremiah dagegen – er war mein Freund. Er war nett zu mir. Er war der Typ Junge, der noch immer seine Mutter umarmte und der noch immer ihre Hand hielt, auch wenn er theoretisch zu alt dafür war. Es war ihm aber auch nicht peinlich. Dafür hatte Jeremiah keine Zeit – er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu vergnügen.
Ich wette, Jeremiah war in der Schule viel beliebter als Conrad. Ich wette, er kam bei den Mädchen besser an. Ich wette, ohne sein Football wäre Conrad niemand Besonderes. Er wäre kein Footballgott, sondern einfach der stille, etwas mürrische Conrad. Mir gefiel das. Mir gefiel, dass Conrad lieber für sich blieb und Gitarre spielte. So als hätte er mit diesem ganzen albernen High-School-Kram nichts am Hut. Ich stellte mir gerne vor, dass Conrad, wenn er an meiner Schule wäre, nicht Football spielte, sondern in der Redaktion unseres Literaturmagazins wäre und auf jemanden wie mich aufmerksam würde.
Als wir endlich da waren und in die Einfahrt einbogen, saßen Jeremiah und Conrad vorn auf der Veranda. Ich lehnte mich an Steven vorbei und drückte zweimal auf die Hupe, was in unserer Sommersprache so viel bedeutete wie: Kommt und helft uns mit dem Gepäck. Aber dalli!
Conrad war jetzt achtzehn. Er hatte erst kürzlich Geburtstag gehabt. Er war noch größer als letzten Sommer, auch wenn man das kaum für möglich gehalten hätte. Die Haare, so dunkel wie eh und je, trug er jetzt um die Ohren herum kurz geschnitten. Jeremiahs dagegen waren länger geworden, ein bisschen verstrubbelt sah er aus, aber gut – wie ein Tennisspieler in den Siebzigern. Als er noch jünger war, hatte er lockige, hellblonde Haare, die im Sommer fast silbrig wurden. Jeremiah hasste seine Locken. Eine Zeit lang hatte Conrad es geschafft, Jeremiah einzureden, dass man von Brotkanten Locken bekam, und Jeremiah hatte ab sofort die Kanten von seinen Sandwiches liegen lassen, über die sich dann Conrad hermachte. Aber als Jeremiah älter wurde, wurden seine Haare von selbst eher wellig. Ich vermisste seine Locken. Susannah nannte ihn ihren kleinen Engel, und so sah er auch aus, mit seinen rosigen Wangen und blonden Locken. Die rosigen Backen hatte er immer noch.
Jeremiah formte ein Megafon mit den Händen und brüllte: »Steve-o!«
Ich blieb im Auto sitzen und sah Steven nach, wie er gemächlich zum Haus schlenderte und die beiden nach Jungenart umarmte. Die Luft roch feucht und salzig, so als könnte es jeden Moment Meerwasser regnen. Ich tat so, als müsste ich mir erst meine Turnschuhe zubinden, aber in Wirklichkeit brauchte ich einfach einen Moment, um ganz für mich einen Blick auf die Jungs und das Haus zu werfen.
Das Haus war groß und teils grau, teils weiß, und es sah eigentlich so aus wie die anderen Häuser in dieser Straße auch, nur besser. Es sah genau so aus, wie meiner Meinung nach ein Strandhaus auszusehen hatte. Ein richtiges Zuhause.
Inzwischen war auch meine Mom ausgestiegen. »Hey, Jungs – wo steckt eure Mutter?«, rief sie.
»Hey, Laurel. Sie hält gerade ein Nickerchen«, rief Jeremiah zurück. Normalerweise kam Susannah uns schon entgegengelaufen, kaum dass wir vorfuhren.
Mit drei Schritten war meine Mutter bei Conrad und Jeremiah und drückte beide fest an sich. Ihre Umarmungen waren so kräftig wie ihr Handschlag. Dann schob sie sich die Sonnenbrille auf den Kopf und verschwand im Haus.
Ich stieg aus und hängte mir die Tasche über die Schulter. Erst merkten die Jungs gar nicht, dass ich auf sie zukam. Aber als sie mich dann bemerkten, dann richtig. Conrad musterte mich schnell – so wie die Jungen im Einkaufszentrum es machen. In meinem ganzen Leben hatte er mich noch nie auf diese Art angesehen, kein einziges Mal. Ich spürte, wie ich wieder rot wurde, so wie zuvor im Auto. Jeremiah hingegen sah zweimal hin. So wie er mich anschaute, konnte man meinen, er erkannte mich gar nicht. All das passierte im Lauf von gerade mal drei Sekunden, aber es fühlte sich viel, viel länger an.
Conrad umarmte mich als Erster, aber mit sehr viel Abstand, um mir bloß nicht zu nahe zu kommen. Seine Haare waren frisch geschnitten, und die Haut in seinem Nacken sah rosig und neu aus, wie die eines Babys. Er roch nach Meer. Nach Conrad. »Mit Brille hast du mir besser gefallen«, sagte er, den Mund dicht an meinem Ohr.
Das saß. Ich schob ihn weg. »Tja, Pech. Ich bleib trotzdem bei Kontaktlinsen.«
Er lächelte mich an, und dieses Lächeln ging mir direkt ins Herz. Jedes Mal schaffte er das.
Dann packte mich Jeremiah und hob mich fast in die Luft. »Belly Button ist ja richtig groß geworden«, krähte er.
Ich lachte. »Lass mich runter, du stinkst nach Schweiß.«
Jeremiah lachte laut. »Ganz die alte Belly«, sagte er, doch dabei starrte er mich an, als wäre er sich da nicht so sicher. Dann legte er den Kopf schief und sagte: »Irgendwie siehst du anders aus, Belly.«
Ich wappnete mich innerlich für die Pointe, die sicher gleich kommen würde. »Logo, das machen die Kontaktlinsen.« Ich selbst hatte mich auch noch nicht ganz daran gewöhnt, keine Brille mehr zu tragen. Taylor, meine beste Freundin, hatte seit der sechsten Klasse auf mich eingeredet, ich solle mir Linsen machen lassen, und jetzt hatte ich endlich auf sie gehört.
Jeremiah lächelte. »Das ist es nicht. Du siehst einfach anders aus.«
Ich ging zum Auto zurück, und die Jungs kamen hinterher. Zusammen luden wir schnell das Auto aus, und sobald wir fertig waren, nahm ich meinen Koffer und meinen Rucksack und ging geradewegs in mein altes Zimmer. Es war mal Susannahs gewesen, früher, als sie noch ein Kind war. Es war weiß möbliert und hatte eine verblichene Stofftapete. Und es gab darin eine Spieldose, die ich liebte. Wenn man sie öffnete, sah man eine herumwirbelnde Tänzerin, die zu der altmodischen Ballettmusik aus Romeo und Julia tanzte. Ich bewahrte immer meinen Schmuck darin auf. Alles an meinem Zimmer war alt und verblichen, aber genau das mochte ich so daran. Es kam mir immer so vor, als wären Geheimnisse darin verborgen, in den Wänden, dem Himmelbett und vor allem in dieser Spieldose.
Nach dem Wiedersehen mit Conrad, nachdem er mich auf diese neue Art angesehen hatte, brauchte ich erst einmal eine Atempause. Ich schnappte mir den Eisbären von der Kommode und drückte ihn ganz fest an mich. Er hieß Junior Mint, oder, in der Kurzform, Junior. Ich setzte mich mit Junior auf das Doppelbett. Mein Herz klopfte so laut, dass ich es hören konnte. Alles war wie immer und doch wieder nicht. Sie hatten mich angesehen, als wäre ich ein richtiges Mädchen, nicht bloß die kleine Schwester von irgendwem.
2
mit zwölf
Meinen ersten großen Liebeskummer hatte ich in diesem Haus. Damals war ich zwölf.
Es passierte an einem jener wirklich seltenen Abende, an denen die Jungs nicht alle da waren – Steven und Jeremiah waren auf einem nächtlichen Angelausflug mit ein paar Typen, die sie in der Spielhalle kennengelernt hatten. Conrad hatte keine Lust gehabt mitzugehen, und ich war sowieso nicht eingeladen, also blieben er und ich alleine zurück.
Nicht zusammen, nur im selben Haus.
Ich saß in meinem Zimmer, die Beine an der Wand hochgelegt, und las einen Liebesroman, als Conrad auf dem Flur vorbeikam. Er blieb stehen und fragte: »Was hast du heute Abend vor, Belly?«
Ich klappte mein Buch schnell nach hinten um, damit der Umschlag nicht zu sehen war. »Nichts.« Ich bemühte mich, nicht sonderlich aufgeregt oder gespannt zu klingen. Die Tür hatte ich mit Absicht offen gelassen – ich hatte gehofft, er würde bei mir vorbeischauen.
»Kommst du mit zur Strandpromenade?«, fragte er. Es klang total beiläufig, fast schon zu beiläufig.
Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Jetzt war es so weit. Endlich war ich alt genug. Und irgendwo tief in mir wusste ich, dass ich bereit war. Ich warf ihm einen Blick zu, der ebenso gleichgültig schien wie seine Frage. »Vielleicht. Ich hab schon die ganze Zeit Lust auf kandierte Äpfel.«
»Ich kauf dir einen«, bot er an. »Mach schnell, zieh dir was an, und dann gehen wir. Unsere Mütter wollen ins Kino, sie setzen uns unterwegs ab.«
Ich setzte mich auf. »Okay.«
Sobald Conrad draußen war, schloss ich die Tür und rannte zum Spiegel. Ich löste meine Zöpfe und bürstete mir die Haare. In jenem Sommer waren sie richtig lang, fast bis zur Taille gingen sie mir. Dann zog ich den Badeanzug aus und weiße Shorts an, dazu mein blaues Lieblings-T-Shirt, von dem mein Dad immer sagte, es passe genau zu meiner Augenfarbe. Dann schnell noch Erdbeer-Lipgloss auf die Lippen. Die Tube steckte ich ein, für später. Konnte ja sein, dass ich es erneuern musste.
Im Auto lächelte Susannah mich die ganze Zeit im Rückspiegel an. Ich warf ihr einen Blick zu, der so viel heißen sollte wie Lass das, bitte – aber eigentlich hätte ich am liebsten zurückgelächelt. Conrad bekam sowieso nichts mit. Er guckte bloß dauernd aus dem Fenster, bis wir da waren.
»Viel Spaß, ihr zwei«, sagte Susannah und zwinkerte mir zu, als ich die Tür zuwarf.
Gleich als Erstes kaufte Conrad mir einen kandierten Apfel. Sich selbst kaufte er nur eine Cola, sonst nichts – normalerweise aß er mindestens einen Apfel, manchmal auch zwei, oder einen Spritzkuchen. Er wirkte nervös, weswegen ich gleich weniger nervös war.
Während wir die Promenade entlangschlenderten, ließ ich den linken Arm gerade runterhängen – für alle Fälle. Aber er nahm meine Hand nicht. Es war ein perfekter Sommerabend, nicht ein Tropfen Regen und ein kühles Lüftchen. Am nächsten Tag sollte es regnen, aber an diesem Abend gab es nur den Wind, weiter nichts.
»Können wir uns mal setzen, damit ich meinen Apfel essen kann?«, fragte ich, und wir setzten uns auf eine Bank mit Blick auf den Strand.
Vorsichtig biss ich in meinen Apfel. Ich hatte Angst, kleine Apfelstücke würden zwischen meinen Zähnen stecken bleiben, und wie sollte er mich dann küssen?
Er schlürfte geräuschvoll seine Cola, dann sah er auf die Uhr. »Wenn du fertig bist, können wir ja runter zur Wurfbude gehen.«
Er wollte ein Stofftier für mich gewinnen! Ich wusste genau, welches ich mir aussuchen würde – den Eisbären mit Schal und Drahtbrille. Den ganzen Sommer über hatte ich schon ein Auge auf ihn geworfen. Ich sah mich schon, wie ich ihn meiner Freundin Taylor vorführte. Ach, den? Den hat Conrad Fisher für mich gewonnen.
Mit zwei Bissen hatte ich den Rest meines Apfels verschlungen. »Okay«, sagte ich und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. »Gehen wir.«
Conrad steuerte mit großen Schritten auf die Wurfbude zu, und ich musste direkt rennen, um hinterherzukommen. Wie immer war er ziemlich schweigsam, dafür redete ich umso mehr. »Wenn wir wieder zu Hause sind, kriegen wir vielleicht endlich Kabelfernsehen. Steven und mein Dad und ich haben schon seit Ewigkeiten versucht, Mom zu überreden. Angeblich ist sie ja total gegen Fernsehen, aber seit wir hier sind, glotzt sie die ganze Zeit Filme auf A&E TV. Echt scheinheilig.« Meine Stimme wurde immer leiser, als ich merkte, dass Conrad mir überhaupt nicht zuhörte. Er beobachtete das Mädchen in der Wurfbude.
Ich schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn. Das Erste, was mir an ihr auffiel, waren ihre Shorts. Sie waren kanariengelb und richtig, richtig knapp. Genau die Art Shorts, weswegen die Jungs sich erst vor zwei Tagen über mich lustig gemacht hatten. Ich hatte sie zusammen mit Susannah gekauft und fand sie so toll, aber dann hatten die Jungs mich deswegen ausgelacht. An diesem Mädchen sahen sie sehr viel besser aus.
Ihre Beine waren dünn und sommersprossig, und die Arme genauso. Alles an ihr war dünn, selbst die Lippen. Ihr welliges langes Haar war rot, aber ganz hell, fast pfirsichfarben. Ich glaube, sie hatte das tollste Haar, das ich je gesehen hatte. Sie trug es seitlich gescheitelt, und weil es so lang war, warf sie jedes Mal den Kopf nach hinten, wenn sie Ringe ausgab.
Ihretwegen war Conrad also an den Strand gekommen. Mich hatte er nur mitgenommen, weil er nicht allein gehen wollte, und Steven und Jeremiah hätten ihn bloß aufgezogen. Das war’s. Das war der ganze Grund. Ich sah es an den Blicken, mit denen er sie ansah, daran, wie ihm fast die Luft wegblieb.
»Kennst du sie?«, fragte ich.
Er sah mich überrascht an, so als hätte er ganz vergessen, dass ich da war. »Das Mädchen? Nein, nicht wirklich.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ja und, willst du?«
»Will ich was?« Conrad war verwirrt, und das ärgerte mich.
»Willst du sie kennenlernen?«, fragte ich ungeduldig.
»Schon.«
Ich packte ihn am Ärmel und zog ihn direkt an den Stand. Das Mädchen lächelte uns an, und ich lächelte zurück, allerdings war es ein aufgesetztes Lächeln. Ich spielte Theater. »Wie viele Ringe?«, fragte sie. Sie trug eine Zahnspange, aber an ihr sah sogar das interessant aus, eher nach Piercing als nach Kieferorthopädie.
»Wir nehmen drei«, sagte ich. »Coole Shorts!«
»Danke«, sagte sie.
Conrad räusperte sich. »Ja, sehen gut aus.«
»Als ich genau die gleichen vor zwei Tagen anhatte, fandest du sie doch noch zu kurz, oder?« Ich sah wieder das Mädchen an. »Conrad ist so übertrieben fürsorglich. Hast du einen großen Bruder?«
Sie lachte. »Nein.« Dann fragte sie Conrad: »Findest du sie zu kurz?«
Er lief rot an. Solange ich ihn kannte, war das noch nie passiert. Und vermutlich war dieses erste auch das letzte Mal. Ich blickte auffällig auf die Uhr und sagte: »Con, ich will noch schnell eine Runde Riesenrad fahren, bevor wir gehen müssen. Sieh zu, dass du was für mich gewinnst, okay?«
Conrad nickte kurz, und ich sagte dem Mädchen Tschüss und ging mit großen Schritten in Richtung Riesenrad. Sie mussten nicht sehen, dass ich weinte.
Das Mädchen hieß Angie, wie ich später herausfand. Conrad brachte mir tatsächlich den Eisbären mit dem Schal und der Drahtbrille mit. Es sei ihr bester Preis, habe Angie gesagt. Und er selbst habe auch gemeint, er könnte mir gefallen. Ich hätte lieber die Giraffe gehabt, antwortete ich. »Aber trotzdem danke.« Ich nannte den Bären Junior Mint und ließ ihn da, wo er hingehörte, im Sommerhaus.

3

Als ich ausgepackt hatte, ging ich runter zum Pool. Ich wusste, dass ich die Jungs da finden würde. Sie lümmelten sich in den Liegestühlen, die dreckigen nackten Füße ließen sie seitlich runterbaumeln. Sobald Jeremiah mich sah, sprang er auf. »Meine Daaamen und Herrren«, begann er theatralisch und verbeugte sich wie ein Zirkusdirektor. »Der große Moment ist gekommen für … den ersten Bauchklatscher der Saison.«
Angespannt bewegte ich mich zentimeterweise rückwärts. Eine schnelle Bewegung, und es wäre vorbei – dann würden sie mich jagen. »Kommt nicht in Frage«, sagte ich.
Jetzt standen Conrad und Steven auf und gingen im Kreis um mich herum. »Gegen die Tradition kommst du nicht an«, sagte Steven, während Conrad nur hinterhältig grinste.
»Dafür bin ich zu alt«, sagte ich verzweifelt und machte einen größeren Schritt rückwärts – und sofort packten mich Steven und Jeremiah bei den Handgelenken.
»Hört auf, Jungs«, sagte ich, während ich versuchte, mich aus ihrem Griff zu winden, aber sie schleiften mich zum Wasser. Widerstand war zwecklos, das wusste ich, aber ich versuchte es doch jedes Mal wieder, auch wenn meine Fußsohlen von dem Gerutsche über die Fliesen brannten.
»Fertig?«, fragte Jeremiah und griff mir unter die Arme.
Conrad packte mich bei den Füßen, Steven nahm meinen rechten Arm, Jeremiah den linken. Wie einen Sack Mehl schaukelten sie mich vor und zurück. »Ich hasse euch!«, brüllte ich, um ihr Gelächter zu übertönen.
»Eins …«, begann Jeremiah.
»… zwei …«, sagte Steven.
»… und drei«, schloss Conrad. Dann warfen sie mich in den Pool, mit Kleidern und allem. Mit lautem Platschen landete ich im Wasser. Als ich untergetaucht war, hörte ich ihr grölendes Lachen.
Diese Sache mit dem Bauchklatscher, dem Belly Flop, hatten sie vor einer Million Jahren angefangen. Bestimmt war es Stevens Idee gewesen. Ich hasste es. Einerseits war ich dann zwar ausnahmsweise an ihren Späßen beteiligt, andererseits gefiel es mir überhaupt nicht, ihren ganzen Spott abzubekommen. Ich fühlte mich so komplett machtlos dabei, und es erinnerte mich daran, dass ich ein Außenseiter war, zu schwach, um gegen sie anzugehen, und das alles nur, weil ich ein Mädchen war. Die kleine Schwester von jemandem.
Sonst habe ich deswegen immer geweint und bin zu Susannah und meiner Mutter gerannt, aber das war zwecklos. Die Jungen warfen mir dann bloß vor, eine Petze zu sein. Dieses Mal würde es anders sein. Dieses Mal würde ich kein Spielverderber sein. Vielleicht hätten sie dann nicht mehr so viel Spaß an der Sache.
Als ich wieder auftauchte, sagte ich grinsend: »Ihr seid doch wirklich wie Zehnjährige!«
»Das bleiben wir auch, lebenslang«, sagte Steven mit einer so selbstzufriedenen Miene, dass ich große Lust hatte, ihn klatschnass zu spritzen, einschließlich seiner teuren Hugo-Boss-Sonnenbrille, für die er drei Wochen gearbeitet hatte.
»Ich glaube, du hast mir den Knöchel verrenkt, Conrad«, sagte ich und tat, als hätte ich Probleme, zu ihnen hinüberzuschwimmen.
Er kam an den Beckenrand. »Das überlebst du, da bin ich mir sehr sicher«, sagte er grinsend.
»Hilf mir wenigstens raus«, forderte ich ihn auf.
Er hockte sich hin und streckte mir eine Hand hin.
»Danke«, sagte ich vergnügt, ergriff seine Hand und zog dann mit aller Kraft an seinem Arm. Er verlor das Gleichgewicht, kippte vornüber und landete im Pool, mit einem noch lauteren Platscher als ich zuvor. So gelacht wie in dem Moment habe ich wohl sonst noch nie, und Jeremiah und Steven genauso. Ganz Cousins Beach muss uns gehört haben.
Conrad tauchte gleich wieder auf, und mit zwei Zügen war er bei mir. Ich fürchtete schon, er könnte sauer sein, aber das war er nicht, jedenfalls nicht nur. Er lächelte mich an, aber in seinem Blick steckte eine Drohung. Ich wich ihm aus. »Du kriegst mich nicht«, sagte ich schadenfroh. »Lahm wie du bist.«
Sobald er sich näherte, schwamm ich weg. »Marco«, rief ich kichernd.
Jeremiah und Steven, die auf dem Weg ins Haus waren, antworteten: »Polo!« Vor lauter Lachen wurde ich langsamer, und Conrad erwischte mich am Fuß. »Lass los!«, keuchte ich, immer noch lachend.
Conrad schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich sei so lahm«, sagte er und hielt sich wassertretend über Wasser. Wir waren im tiefen Bereich. Sein weißes T-Shirt war völlig durchnässt, so dass seine goldbraune Haut hindurchschien.
Plötzlich entstand ein seltsames Schweigen zwischen uns. Conrad hatte meinen Fuß noch immer in der Hand, und ich hielt mich mühsam über Wasser. Einen Moment lang wünschte ich, wieso auch immer, Jeremiah und Steven wären noch da.
»Lass los!«, sagte ich noch einmal.
Er zog an meinem Fuß und zog mich noch ein Stück näher zu sich heran. So dicht neben ihm fühlte ich mich verwirrt und nervös. Ein letztes Mal sagte ich, auch wenn ich es gar nicht so meinte: »Conrad, lass jetzt los.«
Er tat es. Und dann tauchte er mich unter. Aber das machte nichts. Ich hielt ohnehin schon die Luft an.

4

Kurz nachdem wir uns trockene Sachen angezogen hatten, kam Susannah von ihrem Nickerchen nach unten und entschuldigte sich, dass sie den großen Moment unserer Ankunft verpasst hatte. Sie sah noch ganz verschlafen aus, und auf der einen Kopfseite war ihr Haar wie zarter Flaum, wie bei einem kleinen Kind. Als Erstes umarmten sich die beiden Mütter, lang und fest. Meine Mutter war so glücklich, Susannah zu sehen, dass sie feuchte Augen bekam, und das passierte bei ihr sonst nie.
Dann war ich an der Reihe. Susannah drückte mich an sich in einer dieser langen, festen Umarmungen, bei denen man sich immer fragt, wie lange sie wohl dauern und wer sich als Erster löst.
»Wie dünn du bist«, sagte ich, teils, weil es stimmte, teils, weil ich wusste, wie gern sie das hörte. Sie hielt ständig Diät, achtete immer genau darauf, was sie aß. Ich fand, sie war genau richtig.
»Danke, Herzchen«, sagte Susannah und ließ mich endlich los, um mich auf Armeslänge zu betrachten. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist ja richtig erwachsen geworden – wann ist das denn passiert? Wann hast du dich in diese phänomenale junge Frau verwandelt?«
Ich lächelte verlegen. Bloß gut, dass die Jungen oben waren und Susannahs Bemerkung nicht gehört hatten! »Ich seh eigentlich mehr oder weniger wie immer aus.«
»Du warst immer schon ein tolles Mädchen, aber sieh dich doch an, Schätzchen.« Sie schüttelte den Kopf, als stünde sie staunend vor mir. »So hübsch bist du geworden! Bildhübsch. Ein ganz, ganz wunderbarer Sommer wird das für dich.« Susannah machte ständig solche Aussagen, an denen kein Zweifel erlaubt schien – wie Verkündigungen klangen sie, so als würden sie allein deshalb wahr werden, weil Susannah sie ausgesprochen hatte.
Aber Susannah behielt recht. Es wurde ein Sommer, den ich nie, nie vergessen sollte. Es war der Sommer, in dem alles begann. Der Sommer, in dem ich schön wurde. Weil ich mich zum ersten Mal so fühlte. Sommer für Sommer hatte ich bis dahin gehofft, die Dinge würden anders werden. Das Leben würde anders werden. Und in diesem Sommer war es endlich so weit. Das Leben war anders. Ich war anders.

5

Am ersten Abend gab es immer dasselbe: einen großen Topf mit gut gewürzter Bouillabaisse, die Susannah gekocht hatte, während sie auf uns wartete. Mit Garnelen und Krabbenbeinen und Tintenfisch – Susannah wusste, wie sehr ich Tintenfisch liebe. Schon als kleines Mädchen hatte ich mir immer den Tintenfisch herausgepickt und bis zuletzt aufgespart. Susannah stellte den Topf mitten auf den Tisch, dazu gab es ein paar knusprige Baguettes aus der nahen Bäckerei. Jeder bekam eine Schüssel, und wir bedienten uns während des Abends immer wieder selbst mit der großen Suppenkelle. Susannah und meine Mutter tranken normalerweise Rotwein dazu, wir Kinder Fanta Traube, aber an diesem speziellen Abend hatte jeder ein Weinglas vor sich stehen.
»Ich glaube, wir sind alle alt genug für ein Gläschen, meinst du nicht auch, Laur?«, fragte Susannah, als wir uns an den Tisch setzten.
»Ich weiß ja nicht«, begann meine Mutter, doch dann überlegte sie es sich noch mal. »Na gut. Schön. Ich bin wohl ziemlich spießig, stimmt’s, Beck?«
Susannah lachte, während sie die Flasche entkorkte. »Du? Nicht doch!«, sagte sie und goss jedem von uns ein wenig Wein ein. »Es ist ein besonderer Abend. Der erste Sommerabend.«
Conrad leerte sein Glas mit zwei Schlucken. Er trank, als wäre er daran gewöhnt. Im Laufe eines Jahres kann offensichtlich eine Menge passieren. »Heute ist nicht der erste Sommerabend, Mom«, widersprach er.
»Oh doch. Sommer ist erst, wenn unsere Freunde hier sind, nicht eher.« Susannah langte über den Tisch und berührte meine Hand und auch Conrads.
Er zog seinen Arm schnell weg, fast wie zufällig. Susannah schien nichts zu bemerken, ich schon. Ich bekam immer alles mit, was Conrad tat.
Jeremiah musste es auch bemerkt haben, denn er wechselte schnell das Thema. »Belly, willst du mal meine neueste Narbe sehen?«, fragte er und zog sein T-Shirt hoch. »An dem Abend hab ich drei Tore gemacht.« Jeremiah spielte Football, und er war stolz auf jede der Narben aus seinen Schlachten.
Ich beugte mich zu ihm hinüber, um gut sehen zu können. Eine lange Narbe, die gerade erst langsam blasser wurde, zog sich unterhalb des Magens einmal quer über Jeremiahs Bauch. Jeremiah hatte unübersehbar trainiert. Sein Bauch war flach und hart, so hatte er letzten Sommer noch nicht ausgesehen. Jeremiah kam mir jetzt kräftiger vor als Conrad. »Wow«, sagte ich.
Conrad schnaubte verächtlich. »Jere will doch bloß mit seinem Two-Pack angeben.« Er brach ein Stück Brot ab und dippte es in seine Schale. »Wieso zeigst du ihn nicht uns allen statt nur Belly?«
»Au ja, zeig doch mal, Jere«, feixte Steven.
Jeremiah grinste zurück und sagte zu seinem Bruder: »Du bist doch bloß neidisch, weil du aufgehört hast.« Conrad hatte mit Football aufgehört? Das war mir neu.
»Echt jetzt – du hast aufgehört, Conrad?«, fragte Steven. Anscheinend hatte er auch noch nicht davon gehört. Conrad war ein richtig guter Footballer; Susannah schickte uns immer wieder Zeitungsausschnitte, in denen er erwähnt wurde. Jeremiah und er hatten in den letzten beiden Jahren in derselben Mannschaft gespielt, aber Conrad war der Star gewesen.
Conrad zuckte gleichgültig mit den Achseln. Seine Haare waren noch nass vom Pool, genau wie meine. »Irgendwann wurde es öde.«
»Was er eigentlich sagen wollte, ist, dass er selbst öde wurde«, meinte Jeremiah. Dann stand er auf und zog sein Hemd aus. »Nicht schlecht, oder?«
Susannah warf den Kopf in den Nacken und lachte, genau wie meine Mutter. »Setz dich wieder, Jeremiah«, sagte sie und drohte ihm mit dem Brot wie mit einem Schwert.
»Was hältst du davon, Belly?«, fragte er mich. Er sah aus, als würde er mir zuzwinkern, aber so war’s nicht.
»Nicht schlecht«, sagte ich und unterdrückte mühsam ein Grinsen.
»Jetzt ist Belly an der Reihe mit Angeben«, sagte Conrad scherzhaft.
»Belly braucht nicht anzugeben. Man muss sie ja nur ansehen, um zu bemerken, wie schön sie ist«, sagte Susannah, nippte an ihrem Wein und lächelte mir zu.
»Schön?«, wiederholte Steven. »Eine ganz schöne Nervensäge, das ja.«
»Steven!«, warnte ihn meine Mutter.
»Was denn? Was hab ich denn gesagt?«, fragte er.
»Steven ist und bleibt ein Ferkel, er hat keine Ahnung von Schönheit«, sagte ich mit zuckersüßer Stimme und schob ihm das Brot hin. »Oink, oink, Steven. Nimm doch noch ein bisschen Brot.«
»Nichts dagegen«, sagte er und brach sich einen knusprigen Kanten ab.
»Belly, erzähl doch mal von all deinen heißen Freundinnen, die du mir vorstellen willst«, sagte Jeremiah.
»Haben wir das nicht schon mal versucht?«, fragte ich. »Sag nicht, du hast Taylor Jewel schon vergessen!«
Alles brach in Gelächter aus, sogar Conrad.
Jeremiah lief rosa an, aber er lachte kopfschüttelnd mit. »Wie mies von dir, Belly. Aber zum Glück gibt’s im Country Club genug süße Mädels, also mach dir um mich keine Sorgen. Sorg dich lieber um Conrad, der hat diesmal keine Chance.«
Ursprünglich war vorgesehen, dass Jeremiah und Conrad beide im Country Club als Bademeister arbeiten sollten. Conrad hatte den Job im vergangenen Sommer gehabt. In diesem Sommer war Jeremiah alt genug, um mit ihm zusammen zu arbeiten, aber im letzten Moment hatte Conrad seine Meinung geändert und beschlossen, stattdessen in einem Fischrestaurant die Tische abzuräumen.
Wir gingen ganz oft dahin. Kinder bis zu zwölf Jahren konnten dort für nur zwanzig Dollar essen. Als ich die Einzige war, die erst zwölf oder noch jünger war, vergaß meine Mutter nie, dem Kellner zu sagen, dass ich noch keine zwölf sei. Aus Prinzip sozusagen. Und jedes Mal wollte ich im Boden versinken oder mich in Luft auflösen. Es war nicht so, als hätten die Jungs sich über mich lustig gemacht, was ja nahegelegen hätte. Ich hasste es einfach, nicht dazuzugehören, mich als Außenseiter zu fühlen, das war’s. Ich hasste es, so herausgehoben zu werden. Ich wollte so sein wie die anderen.
6
mit zehn
Von Anfang an waren die Jungen eine Einheit. Conrad war der Anführer, sein Wort war Gesetz, jedenfalls meistens. Steven war sein Stellvertreter und Jeremiah der Hofnarr. An jenem ersten Abend entschied Conrad, dass die Jungen in ihren Schlafsäcken am Strand schlafen und vorher ein Lagerfeuer machen würden. Conrad war Pfadfinder und kannte sich mit so was aus.
Eifersüchtig saß ich auf dem Sofa und beobachtete die drei bei ihren Vorbereitungen. Vor allem, als sie Salzcracker und Marshmallows einpackten. Nehmt bloß nicht sämtliche Tüten mit, hätte ich gern gesagt. Aber hab ich natürlich nicht – das stand mir nicht zu. Ich war hier nicht zu Hause.