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Aus dem Englischen von Wolfgang Krauß, Bammental

Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-701-0

John Howard Yoder

Die Politik Jesu

Vicit Agnus Noster

(Unser Lamm hat gesiegt)

Inhalt

Vorwort von Tobias Faix

Vorwort von Fernando Enns

Vorwort von Jürgen Moltmann

Vorwort des Autors zur ersten Auflage

Vorwort des Autors zur zweiten Auflage

1. Die Möglichkeit einer messianischen Ethik

Das Problem

Die herrschende Ethik: Jesus ist nicht die Norm

Gibt es eine andere Norm?

Kommentar zu Kapitel 1

Die Grundthese

Warum nicht Jesus?

Wenn nicht Jesus, was dann?

2. Das kommende Königreich

Die Ankündigung: Lukas 1,46ff, 68ff; vgl. 3,7ff

Berufung und Versuchung: Lukas 3,21–4,14

Das öffentliche Wirken: Lukas 4,14ff

Eine neue Stufe der Öffentlichkeit: Lukas 6,12ff

Das Brot in der Wüste: Lukas 9,1–22

Der Preis der Nachfolge: Lukas 12,49–13,9; 14,25–36

Die Erscheinung im Tempel: Lukas 19,36–46

Der letzte Verzicht: Lukas 22,24–53

Hinrichtung und Erhöhung: Lukas 23–24

Kommentar zu Kapitel 2

Die Voreingenommenheiten des Lukas

Historische Skepsis und der historische Jesus

Von der Erzählung zum Dogma

War Jesus ein Rebell?

Weitere Unterstützung

3. Die Bedeutung des Jubeljahres

Die Brache

Schuldenerlass und Sklavenbefreiung

Die vierte Vorschrift des Jubeljahres: die Rückerstattung des Kapitals

Kommentar zu Kapitel 3

Allzu einfache Relevanz

Weitere Forschungen

Pastorale Anwendung

4. Gott wird für uns kämpfen

Der Exodus

Die Königreiche

Nach dem Exil

Kommentar zu Kapitel 4

5. Die Möglichkeit gewaltfreien Widerstands

6. Zwischenbilanz

Von Lukas zu Paulus

Zurück zur Gegenwart

Kommentar zu Kapitel 6

7. Jünger Jesu und der Weg Christi

I. Jünger und die Liebe Gottes

II. Jünger und das Leben Christi

III. Jünger und der Tod Christi

Zusammenfassung

Das „Kreuz“ in der protestantischen Seelsorge

Nachahmung und Entsagung

Kommentar zu Kapitel 7

8. Christus und Macht

Ein- und Mehrdeutigkeit des Machtbegriffs

Christus und die Mächte in der zeitgenössischen Theologie

Der Ursprung der Mächte im Schöpfungsplan Gottes

Die gefallenen Mächte in der Vorsehung Gottes

Das Werk Christi und die Mächte

Das Werk der Kirche und die Mächte

Die Kirche hat Vorrang in der christlichen Sozialstrategie

Das „pietistische“ Missverständnis

Christus und die Mächte heute

Kommentar zu Kapitel 8

9. Revolutionäre Unterordnung

Bedenken

Der Blick weitet sich

Eine neue Schöpfung

Kommentar zu Kapitel 9

10. Jedermann sei untertan: Römer 13 und die Autorität des Staates

1) Das Neue Testament spricht auf vielfältige Weise über den Staat; Römer 13 steht nicht im Mittelpunkt der neutestamentlichen Staatslehre

2) Die Kapitel 12 und 13 bilden eine literarische Einheit. Römer 13,1–7 kann daher nicht isoliert betrachtet werden

3) Die geforderte Unterordnung erkennt jede existierende Gewalt an, akzeptiert jegliche Herrschaftsstruktur. Der Text bestätigt nicht, wie die Tradition behauptet, eine bestimmte Regierung als göttlich eingesetzt

4) Die Römer sollten einer Obrigkeit untertan sein, in der sie keine Stimme hatten. Der Text bedeutet nicht, dass Christen zum Militär- oder Polizeidienst berufen sind

5) Die Christen sollen sich dem Schwert des Staates unterwerfen, d. h. sie sollen seine Richter- und Polizeigewalt anerkennen. Das Schwert bezieht sich nicht auf die Todesstrafe oder den Krieg

6) Christen, die sich der Obrigkeit unterordnen, behalten ihre moralische Unabhängigkeit und ihr Urteilsvermögen. Die Autorität der Obrigkeit rechtfertigt sich nicht selbst. Jede bestehende Obrigkeit ist Gott untergeordnet; der Text behauptet jedoch nicht, alles, was die Regierung tut oder von ihren Bürgern verlangt, sei gut

Zusammenfassung

Kommentar zu Kapitel 10

11. Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben

Paulus und der moderne Mensch

Der neue Mensch

Die neue Rechtfertigung

Die „neue Kreatur“

Zuerst für die Juden, doch auch für die Griechen

Kommentar zu Kapitel 11

12. Der Krieg des Lammes

Der Krieg des Lammes

Ohnmacht annehmen

Zusammenfassung

Kommentar zu Kapitel 12

Anhang

Zum Autor

Literatur

Verwendete Abkürzungen

Verwendete Literatur

Weitere wichtige Werke von John Howard Yoder (Auswahl)

Sekundärliteratur zu John Howard Yoder (Auswahl)

Register

Personen- und Autorenregister

Bibelstellenregister

Weitere Bücher der Edition Bienenberg

Vorwort von Tobias Faix

Dieses Buch ist ohne Zweifel ein Ärgernis. Und dies schon seit 40 Jahren. Aber das war von John Howard Yoder durchaus beabsichtigt. Es soll „anregende Verwirrung“ stiften, wie Yoder selbst formuliert, und das trifft es ganz gut. Seine Gedanken sind quer und gehören nicht zu dem theologischen „Fast food“, das heutzutage oft angeboten wird. Seine interdisziplinären Querverweise machen dieses Buch zwar nicht immer einfach zu lesen, aber sie geben der Thematik die nötige Tiefe und Weisheit. Yoder hat ein kluges Buch geschrieben. Ein Buch voller prophetischer Kraft, das dem Zeitgeist in die Parade fährt und schon in den 1970er Jahren vieles kritisch vorhersah, mit dem wir uns heute als Christinnen und Christen auseinandersetzen.

Yoders theologische Überlegungen haben das Ziel, das vorherrschende theologische Korsett zu sprengen und neu zu fragen, was Jesus für uns heute bedeutet. Er konfrontiert den Jesus der Evangelien mit der Gegenwart, ohne in die naiv-theologische Falle des Simplizismus zu geraten, der Nachfolge mit einfacher Nachahmung des Weges Jesu verwechselt. Nein, Yoder ist sich der historischen Situation um die Person Jesu bewusst und möchte die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart überwinden, indem er mit exegetischen und hermeneutischen Mitteln einen eigenen sozialethischen Ansatz zu entwickeln, der Christinnen und Christen hilft mitten in der Welt als Kontrastgesellschaft zu leben. Dies zeigt sich vor allem durch die präsentische Betonung in seiner Reich-Gottes-Theologie. Yoder ermutigt, sich den Macht- und Strukturproblemen unserer Zeit aktiv zu stellen und das Evangelium nicht auf eine individualistisch verengte Auslegung zu reduzieren. Seine These, dass Jesus als Urheber eines radikalen sozialen Wandels betrachtet werden müsse und tatsächlich zu Lebzeiten ein Jubeljahr ausgerufen hat (Lk 4,16–30), beeinflusste viele Theologen weltweit. So schreibt Yoder (S. 80 in dem vorliegenden Buch):

Jesus proklamierte im Jahr 26 tatsächlich ein Jubeljahr nach den mosaischen Sabbatvorschriften: ein Jubeljahr, das in der Lage gewesen wäre, die sozialen Probleme Israels durch Schuldenerlass und durch die Befreiung von Schuldnern, deren Zahlungsunfähigkeit sie zur Sklaverei erniedrigt hatte, zu lösen.

Diese Gedanken haben eine ganze Generation von Christen weltweit beeinflusst, wie beispielsweise Ronald J. Sider, David Bosch, Samuel Escobar, Brian McLaren, Jim Wallis oder Shane Claiborne. Gerade Letzterer hat Yoders Gedanken aufgenommen und in seiner Lebensgemeinschaft in einem Armenviertel von Philadelphia (The Simple Way) praktisch umgesetzt und in seinen Bestsellern Ich muss verrückt sein, so zu leben: Kompromisslose Experimente in Sachen Nächstenliebe und Jesus for President reflektiert, verarbeitet und weiterentwickelt und ist so ein Vorbild für viele geworden.

Yoders Kombination aus Klarheit und Radikalität macht Die Politik Jesu zu einem der wichtigsten Bücher der letzten Jahrzehnte. Die Neuauflage kommt deshalb gerade richtig, mitten in eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und des diakonischen Aufbruchs. Viele Kirchen und Gemeinden entdecken ihren gesellschaftlichen Auftrag wieder neu und versuchen, die Liebe Christi in ihre Nachbarschaft zu tragen. Dabei stoßen sie auf sozialethische Fragen, wie wir Christen mit Konsum, Umweltzerstörung oder Konflikten umzugehen haben. Yoder zeigt, dass die Bibel diese Fragen auf und ernst nimmt und sie in eine ganzheitliche Nachfolge Christi führen. Yoders Sprache ist dabei immer so scharf und pointiert wie sein Inhalt und wer sich mit „dem Krieg des Lammes“ oder „der revolutionären Unterordnung“ auseinandersetzt, lernt einen großen intellektuellen und doch demütigen Nachfolger Christi kennen, der in Schlichtheit und Kraft ein Buch geschrieben hat, das auch die nächsten 40 Jahren noch gelesen werden wird, dessen bin ich mir sicher.

Tobias Faix

Vorwort von Fernando Enns

Nur wenigen Büchern ist es vergönnt, noch zu Lebzeiten des Autors zum „Klassiker“ zu werden. John Howard Yoder gelang dies – freilich ohne Absicht – mit diesem Buch bereits in der ersten Auflage (1972). Ganze Generationen von Theologinnen und Theologen – bei weitem nicht nur aus der friedenskirchlichen Tradition – behaupten inzwischen, dies sei in ihrer gesamten theologischen Bildung zur bahnbrechenden Lektüre geworden. Die Zeitschrift Christianity Today zählte im Jahr 2000 Die Politik Jesu gar zu den zehn wichtigsten theologischen Büchern des 20. Jahrhunderts überhaupt.

Das liegt sicherlich nicht zuletzt darin begründet, dass Yoder in unvergleichlicher Einfachheit die These vertritt, dass das Leben und die Lehre Jesu relevant sind für die sozialpolitische Gestaltung der Gesellschaft. Wer Christus bekennt und die Wahrheit des Hereinbrechens seines Reiches glaubt, findet in den Zeugnissen des Neuen Testaments einen deutlich vorgezeichneten Aufruf zum Leben einer entsprechenden „messianischen Ethik“.

Yoder lässt sich nicht zuerst auf eine durch Jahrhunderte dogmengeschichtlich geprägte Christologie ein, noch vertraut er einer individualisierten, nach innen gerichteten Christusfrömmigkeit. Er behauptet schlicht: Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Einladung zur Teilhabe am Reich Gottes. Die Annahme dieser Einladung verwirklicht sich in der konkreten Nachfolge Christi, die sich in jedem gegebenen und vorfindlichen politischen Kontext zuerst von dieser Größe ausgerichtet weiß. Das findet seine Entfaltung in der aktiven (!) Gewaltfreiheit, der Relativierung aller politischen Kräfte und Mächte sowie einer stets kritischen Solidarität gegenüber jeder Form von Regierung. Ein Hang zur Werkgerechtigkeit oder die Gefahr der Gesetzlichkeit kann einer solchen Ethik kaum vorgeworfen werden, denn sie weiß sich erst durch die Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben hierzu befreit. Die Botschaft von Jesus Christus (von der Inkarnation über das Leben und Sterben am Kreuz, bis hin zur Auferstehung) zielt – so Yoder – auf die Gestaltung dieser Welt und will als realistische Option inmitten der politischen Debatte verstanden werden.

In den internationalen wie innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu Beginn der 1970er Jahre musste eine solche „Provokation“ auf fruchtbaren Boden fallen. Im Grunde konnte es sich niemand leisten, dieser Herausforderung zum radikalen Ernstnehmen des Lebens Jesu auszuweichen: die Vertreter einer christlichen (nicht unbedingt jesuanischen) Ethik, die stets um die angepasste Übersetzung in die scheinbaren „Realitäten“ der politischen Umstände bemüht waren, ebenso wenig wie jene, die solch konsequente Lebensführung allein im Rückzug aus der Gesellschaft für lebbar hielten. Und für alle, die sich in ihrem christlichen Glauben längst bequem eingerichtet und mit den jeweiligen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten arrangiert hatten, musste diese schlichte These ohnehin zum Ärgernis werden.

Entsprechend umfangreich und zum Teil höchst kritisch fielen die Reaktionen denn auch aus. Die Vorwürfe reichten von mangelndem exegetischen Sachverstand über „schlechte“ – weil die vielen wichtigen theologischen Schulen kaum berücksichtigende – Theologie, bis hin zu naivem Schwärmertum oder auch einer viel zu politisch-konkreten Auslegung des Evangeliums. – Im Grunde hatte Yoder damit erreicht, was einem Theologen wichtig sein muss: nicht zuerst die Auseinandersetzung mit irgend einer neuen Variation von Thesen. Vielmehr sahen sich alle Lager, ob konservativ oder progressiv, ob hochkirchlich oder kongregationalistisch ausgerichtet, ob eher ökumenisch-weltoffen oder evangelikal-innergemeindlich orientiert, anhand dieses Buches erneut der Provokation ausgesetzt, die sich in der Begegnung mit dem Leben Jesu selbst stellt. – Und eben das fasziniert letztlich.

Es dauerte mehr als zwanzig Jahre, bis John H. Yoder sich zu einer erweiterten Neuauflage überreden ließ, auf einige der Vorwürfe und Diskussionen eingehend, aber der ursprünglichen Aussage treu bleibend. In der englischsprachigen Welt gehört The Politics of Jesus längst in die Kern-Curricula der größten theologischen Schulen. Theologen aus nicht-mennonitischem Hintergrund haben Yoder neu entdeckt und interpretiert, vor allem Stanley Hauerwas, und so zu einer regelrechten Renaissance des Werkes im 21. Jahrhundert beigetragen. Unzählige Dissertationen sind zur Theologie Yoders verfasst worden, viele weitere sind in Arbeit, ein Ende ist nicht abzusehen. Keine davon lässt dieses Schlüsselwerk des Autors aus, auch wenn die dort zugrunde gelegten exegetischen Erkenntnisse längst durch neuere Forschungsergebnisse zu ergänzen wären. Der schlichten, manchmal aufregenden, manchmal ärgerlichen Provokation an sich tut das keinen Abbruch.

Ich habe es in den vielen Begegnungen innerhalb des deutschsprachigen Raumes stets bedauert, dass die Neuauflage gerade dieses so wirkmächtigen Buches nicht ins Deutsche übersetzt worden ist: in ökumenischen Begegnungen, in denen die mennonitisch-friedenskirchliche Position verdeutlicht werden sollte, in theologischen Auseinandersetzungen mit Mainstream-Ansätzen zur Christologie, in polarisierten Debatten zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern – gerade hinsichtlich der Möglichkeit zur Gewaltfreiheit, in der Lehre mit Studierenden, auch in der Darstellung einer dezidierten Position christlicher Ethik im interreligiösen Dialog. – Diese Lücke ist mit der hier vorliegenden Übersetzung geschlossen. Dafür bin ich dem Verlag sehr dankbar.

Fernando Enns

Vorwort von Jürgen Moltmann

Mit der längst fälligen deutschen Übersetzung dieses Buches von John Yoder kommt endlich die mennonitische, „täuferische“ und friedenskirchliche Stimme in unseren gegenwärtigen theologischen und politischen Diskussionen zu Gehör. Das ist in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung:

1. Es ist höchste Zeit, dass die evangelische Theologie und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland ihre vierhundert Jahre alten Vorurteile gegenüber dem „linken Flügel“ der Reformation revidieren und die Verurteilung der angeblichen „Schwärmer“ und „Rottengeister“ aufheben. Auch diese radikalen Gruppen der Reformation gehören zur Reformation und sind Zeugen des Evangeliums Christi. Wie mächtig jedoch uralte Vorurteile sind und wie schwer es ist, sie aufzuheben, zeigte sich 1980 bei der 450. Jahrfeier der Confessio Augustana in Augsburg: ökumenisch war nur das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche im Blick, die „Täufer“ wurden sowohl historisch wie gegenwärtig vergessen. Es war den Veranstaltern viel daran gelegen, die römische Verurteilung der Reformationskirchen aufzuheben. Sie dachten aber nicht daran, die in ihrem eigenen Bekenntnis ausgesprochenen Verdammungen der „Täufer“ aufzuheben oder auch nur zur Diskussion zu stellen. Verdammen kann man nur, wenn man seines Urteils ganz gewiss ist. In der Frage der Kindertaufe (Confessio Augustana Art. IX), der Bewahrung bis ans Ende (Art. XII), der Todesstrafe und des gerechten Krieges (Art. XVI) sowie der Allversöhnung und des Chiliasmus (Art. XVII) ist die Diskussion sowohl exegetisch wie systematisch weiter gegangen. Die Verdammungsurteile der Confessio Augustana lassen sich nicht mehr aufrecht erhalten. Die Schwerfälligkeit der Landeskirchen, sich für das Zeugnis der täuferischen Gemeinden zu öffnen, ist auch in historischer Schuld begründet, wurden diese doch in der Reformationszeit von evangelischen und katholischen Kirchen und Obrigkeiten gemeinsam verfolgt, unterdrückt und ausgerottet!

In John Yoders Buch kommt das mennonitische Zeugnis des Evangeliums so klar zum Ausdruck, dass wir im Blick auf diese Verurteilungen und Verfolgungen beschämt und zugleich von dieser Last der Vergangenheit befreit werden.

2. Evangelische Theologie versteht sich als Theologie, die allein und ganz dem Evangelium verpflichtet ist, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt ist. Der Stachel im Evangelium aber ist Jesu Bergpredigt. Wie kommt es, dass nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu und nach der Verkündigung vom darin offenbaren Heil durch die Urgemeinde und durch Paulus die synoptischen Evangelien noch einmal auf den irdischen Jesus zurückkommen, sein Evangelium vom Reich für die Armen erzählen, seinen Weg in die Passion für die Glaubenden und ihre Nachfolge verbindlich machen und also die Glaubenden in die Gemeinschaft mit dem Volk Jesu bringen? Die Bergpredigt ist mit ihrer bedingungslosen Seligpreisung der Armen, Hungrigen und Weinenden und mit ihrem rücksichtslosen Anspruch auf Feindesliebe und Gewaltlosigkeit immer ein Ärgernis in der Geschichte von Theologie und Kirche gewesen. Im Mittelalter half man sich mit der Verteilung der Nachfolgeethik für die Orden und einer allgemeinen Naturrechtsethik für die Weltchristenheit. Die reformatorische Theologie verinnerlichte die Seligpreisungen und verdrängte die Forderungen auf das private Leben im Rahmen der jeweiligen politischen Ordnung. Auch die neue Begründung der christlichen Ethik auf die Herrschaft Christi über das ganze Leben (Karl Barth) lassen den irdischen Jesus und die Nachfolge zurücktreten. Selbst Dietrich Bonhoeffer wandte sich von der Nachfolgeethik, die er 1938 wiederentdeckt hatte, ab, als er in den aktiven Widerstand gegen die Hitlerdiktatur ging. Mit John Yoders Buch über die „Politik Jesu“ gewinnen wir einen neuen Zugang zum irdischen Jesus, zum Weg Jesu und zu einer Christopraxis, ohne die der auferstandene Herr und die Christologie nicht verstanden werden können. Yoder zählt sich selbst zur exegetischen Schule des „biblischen Realismus“. Manche seiner neutestamentlichen Thesen mögen heute umstritten sein, wie zum Beispiel die historische These vom Jubeljahr, das Jesus in Nazareth ausgerufen hat, oder die „Theologie der Mächte“, die Yoder bei Paulus findet. Aber unumstritten ist sein Gedanke von der „messianischen Ethik“ Jesu und weiterführend ist seine Auslegung der Bergpredigt von der Praxis damals zur Praxis heute. Denn durch die Bergpredigt wird unsere Wirklichkeit nicht nur anders interpretiert, sondern vielmehr verändert. Sie wird verändert, weil sie im Anbruch des Reiches Gottes erfahren wird.

3. Der Friedensdienst der Kirche Christi ist heute aktueller denn je. Nachdem die europäische Entspannungspolitik der Großmachtpolitik der Supermächte zu weichen beginnt, werden die alten Fronten wieder aufgerichtet. Was dient dem Frieden: „Ohne Rüstung leben“ und also Abrüsten oder „den Frieden sichern“ und also Nachrüsten zwecks Abschreckung potenzieller Feinde? Unter den Bedingungen atomarer Weltvernichtung können die alten Traditionen des „gerechten Krieges“ oder der optimistische Pazifismus nichts mehr sagen. Keiner kann sicher sein, dass seine Entscheidung dem Frieden und nicht dem Krieg dient. Die Risiken sind auf beiden Seiten unübersehbar geworden. Darum wird von Theologen und Kirchen auch nicht eine bessere Kalkulation der Gefahren erwartet, als die Regierenden leisten können, sondern moralische Vollmacht und eine Hoffnung, die gewiss macht. Doch wo ist der Ansatzpunkt dafür?

John Yoder fordert uns mit diesem Buch auf, in der Nachfolge Jesu zu handeln und im Horizont des anbrechenden Reiches Gottes zu urteilen. Auf diesem Weg erschließt sich die „Politik Jesu“. Die Nachfolge Jesu kann nur mit ganzer Seele, ganzem Herzen und allen Kräften angetreten werden. Sie ist ungeteilt und unteilbar. Die Nachfolge Jesu ist teure Gnade (Bonhoeffer): Sie schließt Verachtung, Verfolgung, Folter und Hinrichtung nicht aus, sondern ein. Wehrlosigkeit und Leidensbereitschaft gehören zusammen. Das haben die Täufer immer gewusst. Sie sind aber nur die Kehrseite des schöpferischen Lebens für den Frieden im Anbruch des Reiches Gottes. Das Nein zu Rüstung, Abschreckung und Kriegführung ist immer nur die Kehrseite eines größeren und umfassenderen Ja zum Leben. Christen aus allen kirchlichen, theologischen und politischen Lagern können von den Mennoniten lernen, was aktiver Friedensdienst in unserer Weltsituation heißt.

Tübingen, 7. März 1981
Jürgen Moltmann

Vorwort des Autors zur ersten Auflage

Das Anliegen dieses Buches lässt sich nicht schnell und in wenigen Worten umschreiben. Auf der am wenigsten abgehobenen Ebene ist es die Antwort eines engagierten christlichen Pazifisten auf die Tatsache, dass die etablierte christliche Theologie nie um Auswege verlegen war, die sie an den pazifistischen Inhalten der Botschaft des Neuen Testaments vorbeiführten.

Auf der abstrakteren Ebene stellt es eine Übung in fundamentaler philosophischer Hermeneutik dar. Es versucht die Einsichten über das biblische Weltbild, die unter der Bezeichnung „biblischer Realismus“ bekannt geworden sind, auf das Leben der christlichen Gemeinschaft anzuwenden. Seit den Pionierleistungen von Hendrik Kraemer, Otto Piper, Paul Minear, Markus Barth und Claude Tresmontant ist es nicht mehr unvorstellbar, dass in der biblischen Sicht der Realität Dimensionen enthalten sind, die sich nicht einfach in zeitgenössische Weltbilder einfügen lassen, sondern in kreativer Spannung zu der Kultur unserer und vielleicht jeder Zeit stehen. Das Hauptinteresse der Bewegung des „biblischen Realismus“ vor einer Generation richtete sich auf die Metaphysik und die Persönlichkeit Gottes. Daraus erwuchs die erneute Beschäftigung mit Ekklesiologie und Eschatologie, ohne die weder bestimmte ökumenische Entwicklungen noch das Entstehen der „Theologie der Hoffnung“ möglich gewesen wäre. Dieses Buch erarbeitet auf dem Gebiet der Ethik – als späte Frucht der biblisch realistischen Revolution – eine Sicht, in der gerade Ekklesiologie und Eschatologie neue Bedeutung für das Wesen der Ethik erhalten.

Auf beiden Ebenen – der ethischen und der hermeneutischen – möchte dieses Werk Zeugnis davon ablegen, dass – über die Fragen theoretischer und formaler Natur hinaus – in Jesu Vision der göttlichen Ordnung genug konkretes und spezifisches Material enthalten ist, um die heutige Zeit anzusprechen. Und selten war eine Zeit so aufnahmebereit wie die unsere – vorausgesetzt, man befreit das Material von verfälschenden Vorurteilen.

In den zehn Jahren seit der Verfassung dieses Textes in der amerikanischen Urform hat manche Kritik, manches Forschungsergebnis das Bild im Kleinen geändert; doch bleibt die Hauptthese nach wie vor vertretbar. Nur an wenigen Stellen wurde versucht, Neueres hinzuzufügen. Etliche rein amerikanische Anspielungen wurden fallen gelassen, einige neuere Literaturhinweise ergänzt.

Die Vorbereitung des amerikanischen Textes wurde durch Unterstützung des Institute of Mennonite Studies und der Schowalter Foundation ermöglicht; viele Kollegen und Freunde haben durch ihren Rat und ihre Kritik mitgeholfen. Für die deutsche Fassung bin ich dem Übersetzer zu Dank verpflichtet. Für ihre Anregungen und ihre Kritik danke ich besonders Ruthild Foth, Julia Hildebrandt und Andrea Lange. Die Drucklegung wurde durch Unterstützung des Mennonite Central Committee (Peace Section), des Deutschen Mennonitischen Friedenskomitees, der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden und durch die Hilfe vieler Freunde ermöglicht.

Vorwort des Autors zur zweiten Auflage

Jedes Kapitel der ersten Auflage von 1972 war damals eine Zusammenfassung der allseits bekannten Forschung jener Zeit. Es war keine eigene neutestamentliche Forschung, sondern die Popularisierung vorhandener Erkenntnisse. In der Vorbereitung des Buches beobachtete ich einige Jahre die damals aktuellen Veröffentlichungen, doch nie habe ich behauptet, selbst professioneller Neutestamentler zu sein.

Es liegt auf der Hand, dass ich das heute noch weniger bin als damals. Inzwischen gab es in jedem der angeschnittenen Themengebiete erhebliche neue Forschungen. Diese Themen erfuhren in den letzten Jahrzehnten weitere Aufmerksamkeit, nicht weil ich 1972 darüber geschrieben hatte, sondern weil mein Buch die damals lebendigen Fragestellungen der Forschung wiedergab.

Es wäre daher unangemessen, im Rahmen eines doch kurzen Buches, den Text als solches umzuschreiben, um ein Vierteljahrhundert Forschung aufzuholen. Das Buch sollte nie ein Kompendium neutestamentlicher Forschung sein, sondern nur an einigen Beispielen eine Hauptthese unterstützen.

Diese „Hauptthese“ gehört jedoch nicht ins Gebiet der Exegese, sondern der ethischen Methodenlehre. Sie hat noch nicht einmal mit dem Inhalt des ethischen Zeugnisses der neutestamentlichen Texte an sich zu tun, sondern mit der Frage, ob ihr Zeugnis „politisch“ ist.

Dennoch fragen Leserinnen und Leser zu Recht, inwieweit die damals in der Synthese von 1972 zusammengefassten Einsichten von der weiteren Forschung unterstützt oder hinter sich gelassen wurden. Im Großen und Ganzen wurden sie „bestätigt“, doch nur eine Detailuntersuchung kann diese generelle Feststellung belegen. Für die vorliegende Revision der Politik Jesu bedeutet das, dass der Text selbst nur minimale Veränderungen erfährt, auf die meisten Kapitel jedoch ein kurzer aktualisierender Kommentar folgt. Darin versuche ich die Linien der weiteren Forschung herauszuarbeiten. In der Vorbereitung dieser Kommentare und anderen aktualisierenden Detailarbeiten wurde ich unterstützt von Kim Pfaffenroth.

Zweierlei konnte und sollte ich in einer solchen Aktualisierung nicht tun: a) umfassend Rechenschaft geben, „wie sich mein Denken in einem Vierteljahrhundert verändert hat“, oder b) detailliert auf die Kritik an bestimmten Passagen eingehen. Es gibt natürlich zahlreiche Punkte, wo meine Position von 1972 korrigiert oder zurück genommen werden müsste. An anderen Stellen wäre es angebracht, sie gegen Fehlinterpretationen zu verteidigen oder sich mit Dialogpartnern auseinanderzusetzen, die sie zwar richtig verstehen, aber anderer Meinung sind. Eine solche Vorgehensweise würde jedoch viel mehr Raum erfordern und auch eine wesentlich diffizilere Argumentation, als der ursprüngliche Text beabsichtigte. Eine Überarbeitung des ganzen Buches hätte die Revision also unangemessen überlastet.

Etwas anderes sind stilistische Änderungen des Originaltextes, etwa um auf den heute sensibleren Umgang mit geschlechtsspezifischen Ausdrücken einzugehen. Die wichtigsten Beiträge zur Überarbeitung in dieser Hinsicht kamen von Augustus und Laurel Jordan.

In meinem ersten Vorwort bezeichnete ich meine Art der Exegese mit dem Begriff „biblischer Realismus“. Unter Fachwissenschaftlern war das ein in den 1960ern gängiger Ausdruck. Wie die wesentlichen Inhalte meiner Darstellung war es kein eigenes von mir geschaffenes Konzept. Der Begriff wurde jedoch nie sehr bekannt, noch versuchten die Forscher, die er damals bezeichnete, jemals konzertiert als Team oder „Schule“ zusammen zu arbeiten. Es bezeichnete einen Ansatz, der sich aller Werkzeuge der literarischen und historischen Kritik bediente, ohne sich von der traditionellen Schulwissenschaft fesseln zu lassen oder zuzulassen, dass der Kirche die Schrift weggenommen wird.

Gegen meine Intention wurde dieses Buch von manchen als eigenständiger Ansatz wahrgenommen, Bibel und Kirche oder Bibel und Ethik aufeinander zu beziehen.1 Andere missverstanden es als „fundamentalistisch“.

Hätte ich gewusst, dass das Buch als Prototyp einer ambitionierten oder fundierten Methodik auf den Prüfstand gestellt würde, hätte ich mich womöglich stärker auf eine Erörterung der theoretischen Prolegomena eingelassen – oder gerade das verweigert, denn in der abstrakten Methodendiskussion gerät man leicht an einen Punkt, wo solche Diskussion sich dem biblischen Text in den Weg stellt und ihm seine zentrale Rolle in der Identität der Kirche streitig macht.

1 Etwa von Birch und Larry Rasmussen, die mich in zwei Auflagen von Birch & Rasmussen (1976) auf verschiedene Weise und in verschiedenen Belegen so zitierten. Ähnlich bei Curran (1981).

KAPITEL 1

Die Möglichkeit einer messianischen Ethik

Das Problem

Unsere Zeit erhebt einerseits den Anspruch, das Christentum hinter sich gelassen zu haben. Man spricht von der nachchristlichen Gesellschaft. Andererseits scheint Jesus, je mehr die traditionelle, kirchlich sanktionierte Auslegung seiner Worte und Werke verblasst, auf viele und besonders auf junge, kritische Menschen eine verstärkte Faszination auszuüben. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass seit Ende der 1960er Jahre viele junge Männer dem Jesus der Sonntagsschulplakate sehr ähnlich sehen. Auch die Rebellen der Studentenrevolte trugen Bart und langes Haar. Ihre Behauptung, Jesus sei ebenfalls ein Sozialkritiker, ein Agitator,2 ein sozialer Drop-Out und der Sprecher einer Gegenkultur gewesen, ist sicher nicht zufällig.

Unter den Theologiestudenten der westlichen Welt fiel die „Theologie der Befreiung“ auf fruchtbaren Boden, weil sie eben diese Behauptung aufstellt. Kann die christliche Ethik diese These genauso schlagfertig (bzw. leichtfertig) zurückweisen, wie sie oft aufgestellt wird? Könnte der Vorwurf mangelnder Ehrfurcht oder der Vereinnahmung für eigene Ziele nicht leicht auf sie zurückfallen? Oder steckt hinter dieser vielleicht übertriebenen Aussage eine biblische Wahrheit, die nun erst, da Revolution zum Schlagwort unserer Zeit geworden ist, in die allgemeine Wahrnehmung einbricht? Hat die ehrfurchtsvolle und „verantwortliche“ christliche Ethik in dieser Beziehung versagt?

Das behauptet diese Arbeit. Sie behauptet nicht nur, dass Jesus dem biblischen Zeugnis nach ein Modell radikalen politischen Handelns darstellt, sondern dass dieser Sachverhalt jetzt in der neutestamentlichen Forschung allgemein sichtbar wird, auch wenn die Neutestamentler ihn bisher nicht so entschieden vertreten haben, dass die Ethiker am anderen Wegrand ihn zur Kenntnis nehmen mussten.3

Eben dies zu tun, ist alles, was die vorliegende Arbeit leisten will; die Geschichte von Jesus so sprechen zu lassen, dass jeder, der sich mit Sozialethik befasst, zuhören kann, statt wie bisher mit einer Reihe von Standardausflüchten anzunehmen, Jesus sei nicht oder zumindest nicht in erster Linie relevant für gesellschaftliche Angelegenheiten.

Ein solcher Versuch der interdisziplinären „Übersetzung“ hat seine spezifischen, ernstzunehmenden Risiken. Er muss beiden Parteien, die er gegenseitig in Hörweite bringen will, übervereinfachend erscheinen, da er damit beginnt, die Grenzen und Axiome der jeweiligen Disziplin nicht zu respektieren. Zudem ist der „Übersetzer“ oder Brückenbauer immer irgendwie ein Fremder, in gewisser Weise ein Laie, der außerhalb seines Fachgebietes wildert. Wir können zur Entschuldigung nur geltend machen: Hätten die Experten die dringend benötigte Brücke gebaut, so hätte der Laie dazu nicht antreten müssen.

Unsere Arbeit versucht also die Beziehung zu beschreiben, die das Studium des Neuen Testaments4 mit der zeitgenössischen Sozialethik verbinden könnte, besonders da die zweite Disziplin sich zur Zeit vordringlich mit den Problemen der Gewaltausübung und Revolution beschäftigt.5 Die Theologen haben lange die Frage nach der Beziehung zwischen Jerusalem und Athen erörtert; hier wird behauptet, dass Bethlehem etwas über Rom – oder Massada – zu sagen hat.

Mit welchem Recht aber darf es einer wagen, ein Seil über den tiefen Graben werfen zu wollen, der gemeinhin die Disziplinen neutestamentlicher Exegese und zeitgenössischer Sozialethik trennt? Normalerweise müsste jedes Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen des Diskurses extrem lang und indirekt sein. Als erstes ist da die enorme Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden, und zwar mit Hilfe der Hermeneutik von der Exegese zur zeitgenössischen Theologie; sodann muss ein weiterer großer Schritt von der Theologie zur Ethik getan werden, über die Soziologie und Ernst Troeltsch. Aus der Perspektive des Kirchengeschichtlers, der normalerweise auf einer Insel zwischen beiden Abgründen sitzt und daher ein Amateur auf beiden Ufern ist, kann ich es nur aus zwei Gründen rechtfertigen, mich auf so amateurhafte Weise in das Problem zu stürzen. Zum einen scheint es, dass die Experten, die auf die lange Reise gehen, nie am Ziel ankommen. Die Exegeten entwickeln in ihren hermeneutischen Meditationen ausgedehnte Systeme der Kryptosystematik und das Feld der Ethik bleibt, wie es war; oder falls dort etwas Neues geschieht, wird es meist aus anderen Quellen gespeist.6

Der zweite Grund für meine Verwegenheit – er könnte selbst Gegenstand einer Debatte in der Exegetengilde sein – ist das radikale protestantische Axiom, das in jüngster Zeit unter dem Namen „biblischer Realismus“ wieder mit Leben gefüllt wurde. Danach ist es sicherer für das Leben der Kirche, das ganze Volk Gottes liest die ganze Breite des biblischen Kanons, als dass es seine Erleuchtung den diversen Filterungsprozessen anvertraut, durch die die Gelehrten der jeweiligen Zeit alle Wahrheit hindurchschicken möchten.7

Ich gehe daher im vorliegenden Buch das Risiko der Synthese weder blind noch unverantwortlich ein, indem ich vorschlage, den Jesus der kanonischen Evangelien mit der Gegenwart zu konfrontieren. Dieses gefährliche Wagnis bedeutet keine Respektlosigkeit gegenüber den vielfältigen, durchaus angemessenen historischen Fragen zur Verbindung zwischen dem Jesus der kanonischen Evangelien und den anderen Jesus-Figuren, die die Wissenschaft entwerfen kann.

Die herrschende Ethik: Jesus ist nicht die Norm

Der klassische naive Ansatz sah einst eine direkte Verbindung zwischen dem Werk oder den Worten Jesu und dem, was es heute bedeuten könnte, gläubig „in seinen Fußstapfen zu wandeln“.8 Darauf gibt es in jeder Epoche christlichen Nachdenkens über Gesellschaft eine ebenso klassische nicht-naive Antwort. Wenn wir diese Antwort der vorherrschenden Richtung formulieren, haben wir den Schauplatz für unsere Erörterung hergestellt. Die erste und schwerwiegendste Feststellung dieser klassischen Verteidigung gegen eine Imitationsethik gründet sich auf die Beobachtung, dass Jesus einfach nicht maßgeblich sei – zumindest nicht direkt – in sozialethischen Fragen. Die große Vielfalt der Versuche, diese negative Feststellung zu belegen, lässt sich vielleicht nicht unfair in drei Thesen zusammenfassen, deren erste die sechsfache Behauptung von Jesu Irrelevanz ist:9

1. Jesu Ethik ist eine Ethik für ein „Interim“, das sich Jesus sehr kurz vorstellte. Der apokalyptische Bergprediger braucht sich nicht um das Überleben fester Gesellschaftsstrukturen zu kümmern, da er meint, die Welt nähere sich dem Ende. Seine ethische Lehre kümmert sich daher logischerweise nicht um das Überlebensbedürfnis der Gesellschaft und die geduldige Konstruktion dauerhafter Institutionen. Die Ablehnung der Gewalt, der Selbstverteidigung, der Anhäufung von Reichtum zum Zwecke der Sicherheit sowie auch die Unbehaustheit des Propheten, der das Königreich Gottes verkündet, sind keine dauerhaften und zu verallgemeinernden Einstellungen gegenüber sozialen Werten. Sie haben nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass das Ende dieser Werte unmittelbar bevorsteht. Deshalb kann Jesus überall dort keine Hilfe sein, wo die Sozialethik sich mit Problemen der Dauer befassen muss. Wenn die Nichtdauerhaftigkeit der sozialen Ordnung eine Voraussetzung der Ethik Jesu ist, dann hat ganz offensichtlich das jahrhundertelange Überleben seiner Bewegung schon diese Voraussetzung ungültig gemacht. So gewinnt das Überleben der Gesellschaft als Wert an sich ein Gewicht, das Jesus ihm nicht gegeben hat.10

2. Jesus war, wie seine franziskanischen und tolstoianischen Nachahmer gesagt haben, eine einfache ländliche Gestalt. Er sprach zu Fischern und Bauern, Aussätzigen und Ausgestoßenen über Spatzen und Lilien. Seine radikale Personalisierung aller ethischen Probleme ist nur in einer Dorf-Gesellschaft möglich, wo die kulturellen Voraussetzungen gegeben sind, dass jeder jeden kennt und als Person behandelt. Das schlichte „Von-Angesicht-zu-Angesicht-Modell“ der sozialen Beziehung ist das einzige, das ihn beschäftigte. Es gibt also in der Ethik Jesu keine Intention, Wesentliches zu den Problemen komplexer Organisation, zu Institutionen und Ämtern, über Cliquen, Macht und Massen zu sagen.

3. Jesus und seine ersten Nachfolger lebten in einer Welt, auf die sie keinen Einfluss hatten. Es ist daher ganz einleuchtend, dass sie sich keine andere Art sozialer Verantwortung vorstellen konnten als die, einfach eine gläubige, bezeugende Minderheit zu sein. Nun hat jedoch die Christenheit in der Geschichte große Fortschritte gemacht, was sich symbolisch in der Bekehrung Konstantins und praktisch in den „jüdisch-christlichen“ Voraussetzungen manifestiert hat, die unserer ganzen westlichen Kultur zugrunde liegen. Daher müssen Christen Fragen beantworten, die sich Jesus seinerzeit nicht gestellt haben. Als einzelne oder gemeinsam müssen Christen Verantwortlichkeiten akzeptieren, die in Jesu Situation unvorstellbar waren.11

4. Das Wesen der Botschaft Jesu ist ahistorisch per Definition. Sie handelt von geistlichen, nicht von gesellschaftlichen Angelegenheiten, von Existenziellem, nicht von Konkretem. Er verkündete keinen sozialen Wandel, sondern ein neues Selbstverständnis, nicht Gehorsam, sondern Sühne. Was immer er auch von sozialer und ethischer Bedeutung sagte oder tat, darf nicht für sich selbst betrachtet werden, es muss vielmehr als die symbolische oder mythische Einkleidung seiner geistlichen Botschaft verstanden werden.12 Wenn auch die Texte der Evangelien in diesem Punkt nicht klar genug sind, so erhalten wir doch definitive Aufklärung in den späteren apostolischen Briefen. Besonders Paulus entfernt uns von der letzten Spur eines allzu sozialen Missverstehens Jesu und bringt uns die Innerlichkeit des Glaubens nahe.

5. Oder, um es ein wenig anders zu sagen: Jesus war ein radikaler Monotheist. Er führte die Menschen weg von den irdischen und zeitlichen Werten, denen sie ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatten, und verkündete die Herrschaft des Einzigen, der würdig war, angebetet zu werden. Die Wucht dieser radikalen Diskontinuität zwischen Gott und Mensch, zwischen der Welt Gottes und menschlichen Wertvorstellungen, soll alle menschlichen Wertvorstellungen relativieren. Der Wille Gottes kann nicht mit einer bestimmten ethischen Antwort oder einer gegebenen menschlichen Wertvorstellung in gedankliche Übereinstimmung gebracht werden, da diese alle endlich sind. Praktisch bedeutet diese Relativierung für das Wesen der Ethik jedoch, dass diese Werte sich verselbständigt haben. Denn das Einzige, was nun über ihnen steht, ist das Unendliche.13

6. Oder der Grund ist im Ton „dogmatischer“. Jesus kam doch wohl, sein Leben für die Sünden der Menschen zu geben. Das Werk der Versöhnung oder das Geschenk der Rechtfertigung, wodurch Gott den Menschen befähigt, wieder Gemeinschaft mit ihm zu haben, ist ein gerichtlicher Akt, eine Gnadengabe. Römische Katholiken mögen diesen Rechtfertigungsakt im Zusammenhang mit den Sakramenten sehen und Protestanten im Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis, in der Antwort auf das verkündigte Wort; doch nie wird er mit der Ethik in Verbindung gebracht. Genauso wie Schuld nicht heißt, sündige Handlungen begangen zu haben, so hat auch Rechtfertigung nichts mit richtigem Verhalten zu tun. Wie der Tod Jesu unsere Rechtfertigung bewirkt, ist ein göttliches Wunder und Geheimnis; wie Jesus starb, oder wie sein Leben aussah, das zu diesem Tod führte, ist daher für die Ethik nicht von Belang.

Aus dieser Ansicht des Denkens und der Lehre Jesu folgt, dass es nicht seine Absicht gewesen sein kann – oder wir können zumindest nicht sagen, dass es sein Verdienst gewesen sei –, präzise Richtlinien auf ethischem Gebiet bereitzustellen. Seine apokalyptische Tendenz und sein Monotheismus können uns lehren, bescheiden zu sein; sein Personalismus kann uns lehren, die Werte der persönlichen Beziehung zu schätzen; aber wenn es darum geht, wie wir Entscheidungen treffen sollen, müssen wir uns anderswo nach Hilfe umsehen.

Gibt es eine andere Norm?

Die zweite grundsätzliche Behauptung des vorherrschenden ethischen Konsenses folgt aus der ersten. Wie wir gesehen haben, ist Jesus selbst (sowohl seine Lehre als auch sein Verhalten) letztlich nicht ethisch normativ. Es muss also so etwas wie eine Brücke oder einen Übergang in eine andere Denkweise oder Gedankenwelt geben, sobald wir anfangen, über Ethik nachzudenken. Und zwar nicht nur eine Brücke vom ersten Jahrhundert in die Gegenwart, sondern auch von der Theologie zur Ethik oder vom Existenziellen zum Institutionellen. Eine gewisse, recht bescheidene Fracht lässt sich über diese Brücke befördern: vielleicht ein Konzept der absoluten Liebe und Demut, Glaube oder Freiheit. Aber die Fundamente der Ethik müssen auf unserer Seite der Brücke rekonstruiert werden.

Drittens: Die Rekonstruktion einer Sozialethik auf dieser Seite des Übergangs wird darum ihre Richtung vom gesunden Menschenverstand und der Natur der Dinge erhalten. Wir wägen ab, was „passend“ und „adäquat“ ist; was „relevant“ und „effektiv“. Wir sind „realistisch“ und „verantwortlich“. Alle diese Leitsätze verweisen auf eine Erkenntnistheorie mit dem klassischen Etikett natürliche Theologie. Die Natur der Dinge meint man in ihrer bloßen Gegebenheit angemessen zu erfassen. Recht ist, was das wesentlich Gegebene respektiert oder seine Verwirklichung fördert. Ob man dieser Ethik in der reformatorischen Form begegnet, wo sie als Ethik der „Berufung“ oder des „Standes“ bezeichnet wird, oder in der augenblicklich populären Form der „Situationsethik“, oder in den älteren katholischen Formen, wo „Natur“ in anderer Weise auftaucht – immer ist es der Struktur nach das gleiche Argument: durch die Beobachtung der Realitäten um uns herum, nicht durch das Hören einer Verkündigung Gottes, erkennen wir, was recht ist.14

Hat man diese Annahmen über die Quellen relevanter Sozialethik und über die geistliche Natur von Jesu Botschaft einmal akzeptiert, so kann man eine negative Rückkopplung bezüglich der Interpretation des Neuen Testaments selbst beobachten. Wir kennen nun die Behauptung, Jesu habe keine relevante Sozialethik praktizieren oder lehren können. Dann müssen die jüdischen und römischen Machthaber, die dachten, dass er gerade das täte, und ihn dafür verurteilten, ihn sehr missverstanden haben. Das ist ein Beweis der Verhärtung ihrer Herzen. Auch Matthäus, der die Lehren Jesu so anordnete und interpretierte, als wolle er daraus einen einfachen ethischen Katechismus machen, hat Jesus missverstanden. Aus seinem Missverständnis entwickelte sich das bedauerliche Phänomen, das protestantische Historiker „Frühkatholizismus“ nennen.15

Glücklicherweise, so fährt die Erklärung fort, wurden die Dinge bald durch den Apostel Paulus richtiggestellt. Er korrigierte die Tendenz zum Neo-Judaismus oder zum Frühkatholizismus durch die Betonung der Priorität der Gnade und der sekundären Bedeutung der Werke, so dass ethische Belange nicht mehr zu ernst genommen werden konnten.

wer eine Frau hat, [soll] sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht.

1Kor 7,29ff (Einheitsübersetzung)

Die zweite paulinische Korrektur klärte die soziale Radikalität von Jesus selbst (nicht nur die judaisierende Fehlinterpretation Jesu) und rückte sie zurecht.16 Positive Achtung vor den Institutionen der Gesellschaft, sogar vor der Unterordnung der Frauen und vor der Sklaverei; Anerkennung der göttlich sanktionierten Legitimation der römischen Regierung; Anleihen bei stoischen Konzeptionen der Naturethik – das sind einige Elemente der paulinischen Richtigstellung; so dass die Kirche nun in der Lage war, eine Ethik zu konstruieren, zu welcher Person und Charakter Jesu – und besonders sein Lebensweg – keinen besonderen oder entscheidenden Beitrag mehr darstellten.

Angesichts dieses hastig skizzierten Musters der vorherrschenden Strukturen ethischen Denkens wird die systematische und die historische Theologie einige sorgfältige Fragen stellen müssen. Da ist die Frage nach der Autorität dieser hermeneutischen Annahmen.17 Wenn die Bedeutung Jesu so vom Verständnis seiner Jünger und seiner Feinde in Palästina abweicht, wenn diese einfachen Verständnisse erst durch einen hermeneutischen Filter gepresst und durch eine Ethik sozialen Überlebens und der Verantwortlichkeit ersetzt werden müssen, was ist dann aus dem Konzept der Offenbarung geworden? Gibt es überhaupt so etwas wie eine christliche Ethik? Wenn es keine christliche Ethik gibt, sondern nur natürliche menschliche Ethiken, denen Christen wie andere anhängen, bezieht sich dann diese extreme Preisgabe spezifischer Substanz nur auf ethische Wahrheit? Warum nicht auch auf jede andere Wahrheit?

Eine zweite Frage müssen wir stellen: Was wird aus der Behauptung der Menschwerdung, wenn Jesus nicht als Mensch normative Bedeutung hat? Wenn er Mensch ist, aber nicht Vorbild, ist das nicht die alte ebonitische Häresie? Wenn er irgendwie Autorität ist, aber nicht in seiner Menschlichkeit, ist das nicht ein neuer Gnostizismus?

Auch die innere Schlüssigkeit ist problematisch. Warum sollten Christen innerhalb der Machtstrukturen soziale Verantwortung ausüben, wenn ihr Handeln dort von denselben Maßstäben geleitet ist wie das der Nichtchristen?

Wollten wir diese Fragen vom systematischen oder historischen Ende aufrollen, so hätte das mit biblischer Forschung nichts zu tun. Wir könnten aber, da wir nun einmal durch diese Fragen sensibilisiert sind, wiederum am Anfang beginnen, und zwar so, dass wir versuchen, einen Teil des Neuen Testaments ohne die üblichen negativen Vorurteile über seine Verbindlichkeit zu lesen. Oder schärfer gesagt: Ich schlage vor, die Evangeliumserzählung mit der dauernd gegenwärtigen Frage zu lesen: „Gibt es hier eine Sozialethik?“ Mit anderen Worten, wir testen die den vorherrschenden Annahmen entgegenlaufende Hypothese, dass nämlich Dienst und Anspruch Jesu am besten so verstanden werden, dass Jesus den Menschen nicht die Vermeidung politischer Stellungnahmen empfiehlt, sondern gerade eine bestimmte soziale – politische – ethische Stellungnahme nahelegt.

Diese Studie geht also zwei recht verschiedene Aufgaben an. Die beiden unterscheiden sich in Inhalt und Vorgehensweise. Sie verlangen also auch nach verschiedenen Methoden und Veranschaulichungen.

1. Ich will versuchen, ein Verständnis Jesu und seines Dienstes zu skizzieren, aus dem die direkte Bedeutung Jesu für die Sozialethik ersichtlich wird. Das fällt in das Gebiet neutestamentlicher Forschung innerhalb der exegetischen Wissenschaft.

2. Ich werde außerdem zeigen, dass Jesus, so verstanden, nicht nur relevant, sondern auch normativ ist für eine zeitgenössische christliche Sozialethik.

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das Unternehmen nur dann von Bedeutung ist, wenn beide Antworten bejaht werden können. Wenn aus allgemeinen Gründen der systematischen oder philosophischen Theologie, wie sie lange Zeit die theologische Ethik weitgehend beherrschten, Jesus, wer immer er war, kein Modell für die Ethik ist, dann wird es im Detail bedeutungslos, wer er war und was er tat.

Wenn Jesus jedoch, anders als alle anderen Menschen, kein politisches Wesen war, oder wenn er weder Originalität noch Interesse gezeigt hätte, auf die Fragen einzugehen, die seine soziopolitische Umgebung ihm stellte, so wäre es witzlos, nach der Bedeutung seiner Haltung für uns heute zu fragen.