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Markus Baum

Jochen Klepper

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Dieses Buch als E-Book: ISBN 978-3-86256-707-2

Dieses Buch in gedruckter Form: ISBN 978-3-86256-014-1, Bestell-Nummer 588 725

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Lektorat: Dr. Thomas Baumann, Lahr

2. Auflage 2012

© 2011 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

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Inhalt

Einführung: Vorsicht Gas!

1. Pfarrers Kinder

2. Von der Mutter die Natur

3. Gebrochene Linie

4. Unmögliche Verbindung

5. Denkmal und Abgesang

6. Schicksalsgemeinschaft

7. Könige und Tyrannen

8. Aufrechter oder gebeugter Gang?

9. Poesie als Freiraum

10. Sternträger

11. Prinz-Albrecht-Straße 8

Anhang

Stationen

Bibliografie

Anmerkungen

Einführung: Vorsicht Gas!

Berlin Nikolassee, Teutonenstraße 23. Ein Zettel warnt: »Vorsicht Gas!«. Der Handschrift nach von der Hausherrin – Johanna Klepper, verwitwete Stein, geborene Gerstel. Vordergründig betrachtet eine unspektakuläre Botschaft in der Preislage von »Achtung Stufe!« oder »Frisch gebohnert!«. Aber an diesem Morgen des 11. Dezember 1942 verheißt »Vorsicht Gas!« nichts Gutes und der dazugehörige Geruch auch nicht. Anni Tiecke, Haushaltshilfe der Kleppers, wagt sich in Begleitung von Frau Karbe, der Mutter des Nachbarn, in die Küche und findet dort drei leblose Gestalten auf dem Boden. Johanna Klepper in der Mitte, Renate Stein, ihre Tochter aus erster Ehe, rechts von ihr. Und links neben ihr Jochen Klepper, der Schriftsteller, der Liederdichter, der Familienmensch, zu diesem Zeitpunkt noch keine 40 Jahre alt. Die drei haben nichts dem Zufall überlassen, davon zeugen einige leere Schlafmittel-Schachteln. Das Gas (der Hahn des Küchenherdes ist geöffnet) hat nur den Rest besorgt.

Der selbst gewählte Tod der Familie Klepper ist kein Einzelfall, ist im nationalsozialistischen, judenfeindlichen Deutschland nicht außergewöhnlich, fällt in jenem vierten Kriegsjahr auch statistisch nicht ins Gewicht angesichts Tausender ziviler Bombenopfer, angesichts einer halben Million gefallener deutscher Soldaten allein an der Ostfront – und angesichts der Massendeportation deutscher Juden seit Oktober 1941 in die Arbeits- und Todeslager im Osten.

Aber der Weg Jochen Kleppers, seiner Frau und seiner Stieftochter bis zu jenem tragischen Ende ist so gut dokumentiert wie kaum ein anderes Familienschicksal im Dritten Reich. Die Kleppers hatten Freunde, pflegten zahlreiche Briefpartnerschaften, waren jedenfalls oberflächlich betrachtet nicht einsam. Außerdem hat Jochen Klepper zehn Jahre Tagebuch geführt. Zunächst einmal natürlich nicht für die Öffentlichkeit.

Weggefährten haben, nachdem die erste Bestürzung überwunden war, sein Andenken gepflegt. Eine Schwester hat Jochen Kleppers Tagebücher in Auszügen 1956 veröffentlicht und ihm damit ein Denkmal gesetzt – und zwar eines aus seinen eigenen Beobachtungen und Gedanken. Gute Freunde haben in den 50er- und frühen 60er-Jahren ihre persönlichen Erinnerungen an – und ihre Briefwechsel mit Jochen Klepper in mehreren kleinen Büchern herausgebracht. Wichtige und aufschlussreiche Zeugnisse für alle, die heute mit wissenschaftlichem Interesse an die Personalie Jochen Klepper herangehen. Aber wer mit mehr als zwei Generationen Abstand verstehen will, wer Jochen Klepper war und wie er so werden konnte, dem oder der verstellen die Freunde und Gefährten mitunter eher den Zugang. Denn die persönliche Nähe prägt ihre Perspektive, ihre Sprache atmet das Pathos jener Zeit. Dadurch bleibt Jochen Klepper dem heutigen Leser fern.

Selbst wer seine Lieder schätzt, weiß oft nicht viel über den Dichter: Klepper ist immerhin der wohl bedeutendste evangelische Liederdichter seit Gerhard Tersteegen und Philipp Friedrich Hiller. Ein halbes Dutzend seiner Liedtexte findet sich in quasi jedem aktuellen Gesangbuch des deutschsprachigen Protestantismus, und das heißt: Im gemeinsamen Liederkanon der deutschsprachigen evangelischen Christenheit kommt Klepper zusammen mit Martin Luther direkt nach Paul Gerhardt.

Dabei ist das Leben und Glauben Jochen Kleppers nicht nur für sich genommen bunt und spannend. Es spiegelt sich in dieser Biografie auch ein wesentlicher Teil deutscher Zeitgeschichte. Und viele Fragen, die Jochen Klepper umgetrieben haben, sind heute noch aktuell.

Wie erzählt man eine solche Geschichte wie die Jochen Kleppers? Zwangsläufig vom Ende her. Wesentlich an diesem Ende ist nicht der Hinweis »Vorsicht Gas!« und all das Unbegreifliche und Bestürzende dahinter. Wesentlich ist »das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben« – so der letzte Tagebucheintrag Jochen Kleppers am 10. Dezember 1942. Am Ende der segnende Christus.

Markus Baum

1. Pfarrers Kinder

Freut euch mit Jerusalem!« – ein Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja verleiht dem Sonntag Laetare, dem vierten Fastensonntag im Kirchenjahr, seinen Namen. Im Jahr 1903 fällt der Sonntag Laetare auf den 22. März, und just an diesem Tag, unter diesem Motto erblickt Joachim Georg Wilhelm Klepper das Licht der Welt. Das dritte Kind, der erste Sohn des schlesischen Pfarrers Georg Klepper und seiner Frau Hedwig geb. Weidlich. Die Schwestern Margot und Hildegard sind bereits sieben bzw. fünf Jahre alt, als sich der kleine Erdenbürger anmeldet. Am 26. April tauft Georg Klepper seinen Sohn, bezeichnenderweise mit Jordanwasser. Als Taufspruch gibt er ihm einen Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja mit auf den Lebensweg: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!«1

Jochen Klepper ist also in ein evangelisches Pfarrhaus hineingeboren worden, und das sind in der Blütezeit des deutschen Kaiserreichs denkbar gute Startbedingungen. Als zweiter Pfarrer im Oderstädtchen Beuthen, Landkreis Glogau, Regierungsbezirk Liegnitz, genießt der Vater gesellschaftliches Ansehen. Dazu verfügt er von väterlicher Seite her über ein gewisses Vermögen und kann sich und seiner Familie einen weit überdurchschnittlichen Lebensstandard erlauben. Auch die Mutter ist buchstäblich nicht von schlechten Eltern. Ihr Vater war Amtsgerichtsrat und Kreisrichter erst in Hultschin, später im oberschlesischen Neustadt. Ihr Großvater mütterlicherseits hat aus den Freiheitskriegen 1815 eine Frau mitgebracht, eine Comtesse Rohan – wahrscheinlich aus einer Nebenlinie des weit verzweigten, ursprünglich bretonischen Adelshauses. Ein Schuss französische Noblesse, Stilbewusstsein, Kunstsinn und eine frankophile Ader hat sich auch zwei Generationen später noch erhalten und wird auf die Klepper-Kinder abfärben. Auf Margot, Hildegard, Jochen – und die jüngeren Brüder, die noch nachfolgen werden: Erhard (*1906) und Wilhelm (*1915).

Stadt, Land, Fluss

Stadt, Land, Fluss – ein Dreiklang, der die Kinder- und Jugendjahre von Jochen Klepper prägt. Anders als die wirtschaftlich brummende oberschlesische Industriestadt Beuthen mit ihren rund 60 000 Einwohnern ist Beuthen an der Oder um die Jahrhundertwende ein kleines, nur an Traditionen und Geschichte reiches Städtchen von etwas mehr als 3 000 Seelen. Im 17. Jahrhundert hatte dieses Beuthen an der Oder eine eigene protestantische Universität beherbergt – nach dem Stifter Freiherr Georg von Schönaich »Schönaichianum« genannt. Im Dreißigjährigen Krieg war die Stadt x-mal besetzt, geplündert und verheert worden – durch Kosaken, durch Lichtensteiner Dragoner, durch Kroaten, Sachsen, Schweden, Kaiserliche und wieder Schweden. Nach der Gegenreformation hat erst der Vertrag von Altranstädt 1707 Religionsfreiheit für die evangelischen Einwohner der Stadt gebracht. Die evangelische Kirche, in der Georg Klepper seit 1892 seinen Dienst versieht, steht seit 1744 auf dem Gelände des ehemaligen Schönaichianums. Und wovon leben die Beuthener? Von der Oder und dem Handel, den sie bringt und ermöglicht, vom Obst- und Ackerbau, neuerdings auch von der Braunkohle, die in der Umgebung im Tagebau gefördert wird.

1907 wird nach mehr als 260 Jahren wieder eine Brücke über die Oder geschlagen, eine elegante eiserne Bogenbrücke. Die Stadtväter lassen sich das Bauwerk 575 000 Mark kosten in der Hoffnung, es möge der Wirtschaft einen kräftigen Schub verleihen. Die feierliche Einweihung am 16. Juni 1907 ist das erste gesellschaftliche Großereignis, das der zu diesem Zeitpunkt vierjährige Jochen bewusst miterlebt. Ein Jahr später bekommen Beuthens Straßen Gasbeleuchtung – nach dem Eisenbahnanschluss und der Oderbrücke das dritte Zeichen für die Ankunft des Städtchens in der Moderne.

Das Land: Beuthen liegt in Niederschlesien, und Schlesien insgesamt ist ein kultiviertes Land im doppelten Sinn. Die Landschaft rechts und links der Oder ist über Jahrhunderte von Menschenhand gestaltet, umgestaltet, bebaut, bearbeitet worden. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist Schlesien aber auch ein künstlerisch und literarisch fruchtbares Land. Martin Opitz, der in Beuthen am Schönaichianum studiert hat, gilt als »Vater der deutschen Dichtkunst«. Zusammen mit Andreas Gryphius, Johannes Scheffler und anderen hat er von Schlesien aus die deutschsprachige Barockdichtung geprägt. Einen vergleichbaren Stellenwert hat Joseph von Eichendorff für die Romantik, Gerhart Hauptmann für den Naturalismus. Nicht ohne Grund hat der Germanist und Volksliedforscher Rochus von Liliencron Schlesien als »Land der 666 Dichter« bezeichnet. Das wirkt sich natürlich auch auf den Schulunterricht aus und prägt sich dem kollektiven Bewusstsein der Schlesier ein – also auch der Familie Klepper.

Der Fluss: Die Oder ist nicht der längste und auch nicht der wasserreichste Strom in Mitteleuropa, aber sie hat ein paar markante Eigentümlichkeiten: Träge mäandert sie durch Schlesien und Pommern, anders als Rhein und Donau nicht über weite Strecken zwischen Gebirgszügen eingezwängt. Zwischen Breslau und der Mündung regulieren seit Mitte des 19. Jahrhunderts keine Stauwerke mehr ihren Lauf. Dafür sind die Ufer über Hunderte von Kilometern durch Buhnen gegliedert. Sommerliches Badevergnügen in den fast strömungsfreien Bereichen zwischen den Buhnen, dazu die Schifffahrt, der Handel und die Fischerei auf dem Fluss – die Oder bietet neugierigen Kindern und Heranwachsenden allerlei Aufregendes.

Die Kinderjahre verbringt Jochen Klepper mit seinen Geschwistern im »Sukkerschen Haus« in der Beuthener Bahnhofstraße. Dort hat der Vater eine ganze Etage im Hochparterre gemietet, mit direktem Zugang zum Garten über eine Veranda. Später, Georg Klepper ist inzwischen zum Oberpfarrer aufgerückt, lebt die Familie »ganz für sich alleine« in einem größeren Haus in der Finkenstraße – »es galt als einigermaßen herrschaftlich.«2

Kinderjahre

Jochen wird schon als kleines Kind von Asthmaanfällen geplagt, ist eher zart und kränklich. Deshalb besucht er auch nur ein Jahr lang die evangelische Volksschule im kombinierten Pfarr- und Schulhaus, unter der Leitung des Rektors Krüger. Danach bekommt er zusammen mit einigen anderen Kindern seines Alters Privatunterricht beim Vater in der heimischen Wohnung. Damit hat der Kleine mehr von seinem Vater, als man es sonst erwarten könnte. Denn Georg Klepper hat in seiner Pfarrgemeinde gut zu tun: ca. 100 Taufen, 30 Trauungen und 70 kirchliche Beerdigungen im Jahr, jeweils rund 100 Konfirmanden zu betreuen – abgesehen von den Predigtdiensten, der Frauenhilfe, dem Jungmänner- und Jungfrauenverein. Und natürlich muss ein Pfarrer der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union auch noch allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen.

So sehr Georg Klepper in seiner Arbeit aufgeht, er versteht es auch, seine Freizeit zu genießen. Er ist hochmusikalisch (wie seine Frau), Hausmusik gehört bei den Kleppers zum guten Ton, und der Pfarrer leitet selbst ein kleines Orchester. Er ist naturverbunden und entführt seine Kinder oft in die Umgebung. Gehört aber auch zu den ersten Bürgern von Beuthen, die ein eigenes Auto besitzen und selbst fahren. Und einen Filmapparat schafft er sich an und unterhält damit die zahlreichen Gäste, die sich in der Wohnung der Kleppers einstellen. Im Sommer reist er regelmäßig mit der ganzen Familie an die Ostsee. Er geht gern »auf, auf zum lustigen Jagen«. Er schwimmt in der Oder – der einzige Sport, den Jochen mit ihm teilt. Er packt spontan mit an, wenn es einen Karren zu ziehen oder eine Last zu tragen gilt. Er ist eine robuste und markante Erscheinung – sein Sohn wäre es bestimmt auch gern, bleibt aber schmal und blass.

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Fotopostkarte mit rückseitiger Beschriftung: »Meiner lieben Lilli zum 62. Geburtstag von Ihrem Jochen28.10.1918

Im Kreis der Geschwister erprobt Jochen Klepper erstmals sein schauspielerisches und dramaturgisches Talent. Da werden selbst ersonnene, biblische oder märchenhafte Stoffe zur Aufführung gebracht, in Rollenspielen oder mit dem vielköpfigen Puppentheater, das die Kinder selbst einkleiden. Jochens bester Freund in Kindertagen ist der jüngere Bruder Erhard. Mit ihm plant und fabriziert er in den Ferien unter anderem eine »Kunstzeitung« – Erhard als Illustrator, Jochen als Redakteur. Die Eltern lassen sie gewähren; der Ernst des Lebens kommt früh genug. Und der beginnt für Jochen Klepper formell im Alter von 14 Jahren mit dem Wechsel aufs Gymnasium, praktisch aber schon zweieinhalb Jahre früher, im August 1914 mit dem Ausbruch des Krieges.

Die Front ist anfangs keine 200 Kilometer entfernt. In der evangelischen Kirche wird erstmals am 5. August und von da an wöchentlich immer mittwochs eine »Kriegsgebetsstunde« abgehalten. Das Rote Kreuz richtet in Beuthen bereits 1914 ein Lazarett ein. Und dem Vater obliegt die traurige Aufgabe, evangelischen Familien die Nachricht vom Soldatentod ihrer Männer, Väter, Söhne zu überbringen. Todesnachrichten als Teil des Alltags – das hat sich dem jungen Jochen Klepper tief eingeprägt.

Wirklich idyllisch können die Kinderjahre Jochen Kleppers also nicht gewesen sein. Dafür haben allein schon die Krankheitszeiten gesorgt, eine rätselhafte Drüsenoperation im Alter von zehn Jahren (Drüsen? Was für Drüsen?) und immer wieder quälende Asthmaanfälle. Gästen und Besuchern wird verborgen geblieben sein, was Jochen und seine Geschwister vermutlich mehr schmerzte: die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Es war eben nicht, jedenfalls nicht nur, die ideale, harmonische Ehe. Da gab es natürlich auch Streit und wechselseitige Vorwürfe. Und der kleine Jochen ergriff im Zweifel Partei für die ihm wesensverwandte Mutter, nicht für den ebenfalls geliebten, aber manchmal eben fremden Vater. Gut vorstellbar, dass sich bestürzende, zutiefst widersprüchliche Gefühle bis hin zur Todessehnsucht einstellten, wenn der Knabe unfreiwillig Zeuge eines solchen Streits wurde. Jahre später wird Jochen Klepper solche Eindrücke in der Novelle »Die Nacht in der Schachtel« verarbeiten. Wobei man sich hüten sollte, das dort Geschilderte für bare Münze zu nehmen und 1:1 als kindliches Erlebnis des Autors zu verbuchen, denn Klepper bezeichnet sich später ausdrücklich als »Feind des Autobiographischen in der literarischen Produktion«.3

Richtig ist sicher, dass Jochen Klepper schon als Junge ziemlich aufmerksam und helle war, dass er nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst genau beobachtet hat weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Rita Thalmann hat in ihrer umfassenden Klepper-Monografie einige Einträge des Jungen aus dem »Erkenne dich selbst«-Album der Familie zitiert,4 und da tritt einem ein frühreifes, altkluges und irgendwie erdfernes Kind entgegen, ein Produkt des Kulturprotestantismus. Normal ist das jedenfalls nicht, wenn ein Achtjähriger sich selbst Eleganz als herausragenden Wesenszug bescheinigt oder ein Zwölfjähriger als Lebensmotto angibt: »Bevor du Wissenschaft lernst, lerne dich selbst kennen.« Viel von seiner Lebensenergie hat Jochen Klepper offenbar schon als Kind vergeistigt. »Französisch sprechen und Lesen« nennt er unter anderem als Lieblingsbeschäftigung. Und zu lesen bekommt er im elterlichen Haushalt natürlich keinen »Schund«, sondern wertvolle Literatur.

Der Ernst des Lebens

Von seinem 14. Geburtstag an, ab März 1917 also, besucht Jochen Klepper das Evangelisch-Humanistische Gymnasium in Glogau. Damit endet ziemlich abrupt die Fixierung auf Vater und Mutter und das Leben im Pfarrhaus, das er viele Jahre später als »Höhepunkt meiner Familiengeschichte« bezeichnet.5 Zusammen mit seinem Freund Seth Demel, dem Sohn des Arztes der Familie, kommt er in die Untertertia (8. Klasse). Zunächst pendeln die beiden täglich. Mit dem Zug sind es von Beuthen nach Glogau nur vier Stationen, eine knappe halbe Stunde dauert die Fahrt.

Glogau ist Garnisons- und Kreisstadt, alles dort ist zwei Nummern größer als in Beuthen. Es gibt ein königliches Schloss mit Schlossgarten, ein Landgericht und eine Militärakademie, gleich mehrere Exerzier- und Truppenübungsplätze und eine ausgedehnte Parkanlage außerhalb der ehemaligen Schanzwerke. Die Stadt beherbergt neben dem evangelischen auch ein katholisches Gymnasium und eine höhere Mädchenschule. Außer dem katholischen Mariendom in der Vorstadt jenseits der Oder gibt es zwei weitere katholische Kirchen, drei evangelische Kirchen und zwei Synagogen. Der alte und der neue Hafen, der Bahnhof und die Eisenbahn-Werkstätten: Glogau ist wahrlich keine Metropole, macht aber doch deutlich mehr her und hat einem Gymnasiasten auch mehr zu bieten als das beschauliche Heimatstädtchen.

»In seinem Matrosenanzug wie aus dem Ei gepellt, peinlich sauber und adrett«6 – und still: so erinnert sich ein Schulkamerad an Jochen Kleppers ersten Auftritt in der Untertertia am Evangelischen Gymnasium. »Mit einem Gesicht wie ein Asket, hager und kränklich ... Klepper blickte uns ernst und gesammelt aus großen, fast schwermütigen Augen entgegen ... weltfern ... eigenartig.« Auch Jochen Kleppers Freund Seth Demel ist eher von zarter, introvertierter Natur; die beiden bleiben in der Klasse für sich. Wenig hilfreich ist der Umstand, dass Jochens körperliche Konstitution nach wie vor wackelig ist. Vom Sommerhalbjahr verpasst er einen guten Teil krankheitshalber, und deshalb ist auch mit dem täglichen Pendeln bald Schluss – zumindest in seinem Fall.

Vermutlich zum Winterhalbjahr 1917 wird Jochen bei seinem Französischlehrer Erich Fromm einquartiert, einem Freund der Familie und besonders seines Vaters. Fromm ist zu dem Zeitpunkt etwa dreißig Jahre alt und selbst Sohn eines Pfarrers. Ein gelehrtes Haus, ein strammer Patriot (und Antisemit, aber das wird erst später deutlich hervortreten), belesen und begeistert von der klassischen Kultur. Er nimmt den Halbwüchsigen unter seine Fittiche und wird für die kommenden Jahre zu seiner wichtigsten Bezugsperson. Gibt ihm das Gefühl, ernst genommen zu werden, sicher nicht nur als Gesprächspartner auf dem Pausenhof, wo Jochen mit Erich Fromm »französisch parlierte oder irgendein Thema über Literatur abhandelte«. Der Mentor prägt zweifellos auch Jochen Kleppers Vorstellungen von Männerfreundschaft, Ehrgefühl, männlichem Auftreten. Hat also einen erheblichen Einfluss.

Das Verhältnis ist natürlich nicht symmetrisch. Der junge Jochen Klepper ist der Schutzbefohlene, ist Schüler, ist abhängig, und es deutet einiges darauf hin, dass der Lehrer und väterliche Freund diese Abhängigkeit irgendwann ausgenutzt hat. Die Beziehung bekommt eine homoerotische Note. Ob Erich Fromm tatsächlich übergriffig geworden ist, wie Martin Wecht in seiner gründlichen Biografie vermutet7, das lässt sich nicht zweifelsfrei erschließen. Auf jeden Fall aber richtet Fromm durch seine »eifersüchtige Obhut« (Thalmann) in dem Heranwachsenden ein erhebliches emotionales Chaos an, und das wäre schon schlimm genug. Emotionaler und/oder körperlicher Missbrauch, verübt durch den Mann, dem ihn der Vater anvertraut hat, der beim Vater ein und aus ging. Darüber reden kann er nicht. Gefühlsverwirrung und Scham verschließen dem jungen Mann den Mund. Vielleicht ist er auch nicht als Einziger betroffen. Von zwölf Schülern seines Gymnasialjahrgangs werden sich bis zum Schulabschluss fünf das Leben nehmen. Das lässt darauf schließen, dass Jochen Klepper die letzten Glogauer Jahre nicht allein als »namenlos schwere letzte Schülerzeit«8 empfindet. Die innere Abhängigkeit von seinem Lehrer wird er erst 1926 abschütteln, also mit vier Jahren Abstand zu seiner Gymnasialzeit.

Revolution

Der Schulunterricht ist vermutlich noch das Stetigste an den Jahren in Glogau. Die Revolution und die Abdankung des Kaisers im November 1918 erschüttern das Weltbild Georg Kleppers und Erich Fromms und des gesamten Bürgertums, mit Preußens Glanz und Gloria ist es vorbei. Das Kriegsende bringt die Demobilisierung von Millionen Soldaten, und das krempelt eine Garnisonsstadt wie Glogau natürlich kräftig um. Das Preußische Kultusministerium hebt am 27. November die geistliche Schulaufsicht auf, damit wird auch das katholische und das evangelische Gymnasium der staatlichen Aufsicht unterstellt. Die am 11. November gegründete Republik Polen erhebt Anspruch auf Teile Ober- und Niederschlesiens, es formieren sich polnische Milizen ebenso wie deutsche »Bürgerwehren«. Anfang 1919 organisieren die Kommunisten im oberschlesischen Kohlerevier flächendeckende Streiks. Anfang Februar, noch bevor die eben gewählte Weimarer Nationalversammlung zusammentritt, kommt es zu ersten bewaffneten Zusammenstößen zwischen polnischen Aufständischen und Einheiten des »Freiwilligenkorps Schlesien«. Streiks und Demonstrationen mal für, mal gegen den Anschluss an Polen beherrschen die Schlagzeilen bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni. Der Vertrag erklärt 80 Prozent Oberschlesiens zum Abstimmungsgebiet. Bis der Oberste Rat der Siegermächte die Modalitäten der Volksabstimmung festlegt, werden weitere eineinhalb Jahre vergehen – eine Zeit voller politischer Agitation. Schlesien erlebt in dieser Zeit drei blutige Aufstände und massive Gegengewalt. Am Mittellauf der Oder, also auch auf der Höhe von Glogau und Beuthen, rückt die Grenze zur Republik Polen bis auf 20 Kilometer heran. Ein Großteil der preußischen Provinz Posen ist verloren; Fraustadt, östliche Nachbarstadt von Glogau, verbleibt nur aufgrund seiner deutschen Bevölkerungsmehrheit beim Deutschen Reich. Die Bahnstrecke von Glogau über Lissa nach Posen ist nach knapp 70 Jahren Betrieb gekappt.

Die Welt des Jochen Klepper bekommt also auf einmal einen östlichen Rand, markiert durch Grenzzäune und Schlagbäume. Stabilität in der neu gegründeten Republik garantieren neuerdings die Sozialdemokraten, die der »eiserne Kanzler« Bismarck eine Generation zuvor noch massiv bekämpft hat und die bis zum Krieg von den rechtsnationalen Parteien und Vereinen als »vaterlandslose Gesellen« geschmäht worden sind.

Wie geht der Heranwachsende mit diesen Veränderungen um? Nun, auf der einen Seite nimmt er durchaus Notiz, beobachtet sorgfältig, sammelt Zeitungsausschnitte, ohne großartig zu reflektieren, was er da liest. Die Auswirkungen des Krieges auf die Versorgungslage, der Umgang mit den Kriegsheimkehrern, das beschäftigt ihn schon. Andererseits erschließt er sich just zu dieser Zeit eine andere Welt, die Welt der Dichtung. Er schwärmt für die Romantiker; unter den Dichtern der Gegenwart ist Rilke sein Leitstern. Seine ersten poetischen Versuche mit 16 sind noch sehr idyllisch, da kommt die in Scherben gefallene wirkliche Welt nicht vor. Da verbluten nur die Sonnenstrahlen, die »schweren schwarzen Wolken« ziehen nur dahin, entladen sich nicht. Und deshalb lächelt der Dichter am Ende. Einzelne, spontan verfasste Gedichte gibt er im Kreis der Familie zum Besten, manchmal kommt auch ein Gast in den Genuss. So berichtet der zwei Jahre jüngere Kurt Müller-Osten später von einem Ferienaufenthalt in Beuthen und einer nachmittäglichen Kaffeestunde, bei der Hedwig Klepper sichtlich stolz ein Naturgedicht Jochens vorträgt – »anscheinend gerade bei einer Zigarette entstanden, der Rauch lag noch in der Luft, das hat mir mächtig imponiert.«9 Die ernsthafteren Versuche zeigt er nicht jedem. Aber der 20-jährigen Arztfrau Brigitte Hacker. Die einzigen erhaltenen Gedichte aus dieser Anfangsphase seines literarischen Schaffens (»Lieder der Nacht«) finden sich später bei ihr.

Seinem Quartiergeber und vereinnahmenden väterlichen Freund, dem Oberlehrer Erich Fromm, ist indessen nicht nach Lyrik zumute. Er kann sich mit den neuen Verhältnissen nicht anfreunden, vermutet eine jüdisch-linke Verschwörung und sympathisiert offen mit den rechtsnationalen Putschisten, die im März 1920 die Reichsregierung stürzen wollen. Fromm überspannt den Bogen, als er seine Schüler eine Würdigung der Militärdiktatur schreiben lässt. Die Dienstaufsicht ermittelt, am Ende wird Erich Fromm strafversetzt, aber er weigert sich, die Stadt zu verlassen. Und so bleibt Jochen Klepper unter Fromms Obhut, bis er sein Abitur gemacht hat. Das Reifezeugnis vom 9. März 1922 attestiert ihm ein »Gut« in Religion und Deutsch, »Völlig genügend« in Französisch und Geschichte, »Genügend« in Latein und Griechisch. In Mathe und Physik war er eine Niete. »Vom Turnen war er befreit.«

Jochen Kleppers Verhältnis zu seinem Vater ist am Ende der Schulzeit garantiert nicht mehr ohne Schrammen, nicht mehr so innig und selbstverständlich wie in der Kindheit. Aber auch nicht gebrochen. Zum Bruch wird es erst Jahre später kommen. Sein erster ernsthafter Berufswunsch: Er will Pfarrer werden wie der Vater. Und das Theologiestudium nimmt er vielleicht nicht dem Vater zuliebe auf, jedenfalls nicht nur. Aber auch nicht dem Vater zum Trotz. Georg Klepper und seine Frau fördern ihre Kinder durchaus nach ihren Neigungen, drängen sie nicht mit Gewalt in eine bestimmte Richtung. Auch Jochen nicht. Es ist ihm Ernst mit dem Theologiestudium. Noch viele Jahre später wird er bedauern, »dass ich nicht Pastor geworden bin; denn das wird ja doch meine heimliche Sehnsucht bleiben«. Predigen können wie der Vater – auch das motiviert ihn. »Das Pfarramt und das Pfarrhaus«10 wird er später regelrecht verklären und idealisieren: »Der Höhepunkt meiner Familiengeschichte war das Pfarrhaus gewesen.«11 Und wer hat das Pfarrhaus zu einem solchen gemacht? Natürlich Georg Klepper, sein Vater. An dem er vieles bewundert, von dem er bei aller Andersartigkeit auch manches geerbt hat, nur die Statur nicht.

2. Von der Mutter die Natur

Im Mai 1922 schreibt sich Jochen Klepper an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen ein. Die theologische Fakultät dort ist streng lutherisch ausgerichtet, und deshalb kann seine Wahl schon ein wenig verwundern. Der Vater ist ja Pfarrer der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, von der Frömmigkeit Herrnhuter Prägung beeinflusst und steht damit eindeutig in einer unierten Tradition.

Aber vielleicht hat bei der Entscheidung für den Studienort ja auch die Nähe zur Verwandtschaft mütterlicherseits den Ausschlag gegeben. Im benachbarten Nürnberg wohnen die in der Kindheit geradezu vergötterte Großmutter und Mamas Geschwister: Tante Louise »Liesel« Weidlich, die Schauspielerin – und Onkel Konrad »Kunz« Weidlich, ein erfolgreicher Kunstmaler und Tausendsassa. Er betätigt sich auch als Designer und Erfinder, hält das Patent an einem Handrührmixer und einem Fleischwolf und hat den kopfschüttelnden Teddybären der Nürnberger Spielwarenfirma »Gebr. Bing« gezeichnet.

Zu der Zeit, als Jochen Klepper in Erlangen Quartier bezieht, entwickelt Onkel Konrad zusammen mit seinem Sohn und Malerkollegen Hermann gerade die Tischeisenbahn mit Spurweite Ho, die sich später weltweit durchsetzen wird. Sehr viel bekommt Jochen Klepper davon nicht mit. Er nimmt das Studium überaus ernst, packt sich die ersten beiden Semester neben den Pflichtfächern mit allen möglichen fachfremden Vorlesungen voll, darunter »Geschichte der sozialen Theorien und Bewegungen seit der französischen Revolution« und »Gerichtliche Psychiatrie«, »Theorie der Musik« und »Geschichte der deutschen Kunst bis Dürer«. Ein Jahr lang wohnt er bei der Schriftstellerin Olga-Maria »Olly« Budjuhn zur Untermiete. Die Dame ist Mitte Vierzig und mittlerweile von ihrem Ehemann, einem Arzt, geschieden. Sie ist abseits der Hörsäle und universitären Einrichtungen Jochen Kleppers einzige Gesprächspartnerin. Vielleicht nicht der adäquate Umgang für einen Neunzehnjährigen. Aber das wird er erst viel später einsehen. Das Hebraicum, die Sprachprüfung in Biblischem Hebräisch, absolviert er erfolgreich am 24. Februar 1923. Zwei Monate später bricht er die Zelte in Erlangen ab.

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Jochen Klepper (zweite Reihe, rechts) in einer Vorlesung von Erich Seeberg, Universität Breslau

Zum Sommersemester immatrikuliert sich Jochen Klepper an der Theologischen Fakultät der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau, wo auch schon sein Vater studiert hat. Und anders als in Erlangen sucht er diesmal die Gesellschaft anderer Studenten. Er kommt im so genannten »Spittel« unter (eigentlich Johanneum), einem evangelischen Konvikt für Theologiestudenten, das der ehemalige katholische Fürstbischof Leopold Sedlnitzky gestiftet hatte, wohl der prominenteste deutsche Konvertit im 19. Jahrhundert. Das Spittel ist ein Kasten in der Breslauer Sternstraße, unweit der Oderinsel rechts des Flusses. Eine spartanische Unterkunft, die auch 1923 noch kein elektrisches Licht hat und im Winter nur jeden zweiten Tag beheizt wird. Werktags werden die Studenten von einer Glocke aus dem Schlaf gerissen. Vor dem Frühstück gibt’s erst mal eine Andacht, nach dem Frühstück Übersetzungsübungen in Hebräisch und Griechisch.

Wie passt Jochen Klepper in diese Umgebung? Nun, er schickt sich. Ein Mitstudent wird ihm später bescheinigen: »Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass Klepper sich von uns zurückzog [...] Er war kein Spielverderber und von einer unwahrscheinlichen Gutmütigkeit«. Wenn einer der Studenten eine Flasche Zwetschgenschnaps ins Konvikt einschleust und die Zahnputzgläser kreisen – Klepper zecht mit. Gesellige Fachschaftsabende – er ist dabei, bringt sich ein, wird rasch der Mann fürs »Kulturelle«. Fragt man den Hausvater im Johanneum, dann erzählt der: »Wenn man den Klepper in einen Sack steckt, ihn dreimal unter Wasser taucht und dann wieder herausholt, er sagt bestimmt nur: ›Dankeschön!‹ «12

Andererseits fällt er schon etwas aus dem Rahmen. Das fängt bei seiner äußeren Erscheinung an. »Theologiestudent mit großen Augen, schmalem Kopf, leidendem Gesichtsausdruck und einem sehr gepflegten Äußeren.«13 – »Feingliedrig ... melodische, warme Stimme, gute braune, vielleicht ein wenig ängstliche Augen.«14 Die deutsche Studentenschaft hat sich inzwischen außer einigen Idealen der Jugendbewegung auch deren Kleiderordnung zu eigen gemacht. Anstelle des steifen »Vatermörders« trägt man jetzt den offenen Schillerkragen – nur Jochen Klepper kleidet sich weiter klassisch. »Anzug mit Schlips, Kragen und Ziertüchlein in der Brusttasche.« – »Immer sorgfältig angezogen und gescheitelt, mit viel Sinn für leise, höfliche Form und Stil.«15 Er ist eben ein Ästhet, und das verdankt er seiner Mutter. Das künstlerische Naturell, die Sensibilität, den Geschmack, den Sinn für Eleganz, den hat er von ihr.

Muttergene

Hedwig Louise Betty Klepper geborene Weidlich entstammte einer streng katholischen Familie und war im Kloster erzogen worden. Den evangelischen Glauben hatte sie erst angenommen, nachdem Pfarrer Georg Klepper um ihre Hand angehalten hatte. Mit der protestantischen Frömmigkeit kam sie nicht von Anfang an klar. Angeblich soll sie in ihrem Kirchenstuhl sogar Patiencen gelegt haben, während ihr Mann auf der Kanzel stand und predigte – nur eine Anekdote, gewiss, aber dem Vernehmen nach von Jochen Klepper selbst kolportiert, und eine, die für eine gewisse Unabhängigkeit spricht. Frau Oberpfarrer Hedwig Klepper lässt sich jedenfalls nicht problemlos in das gängige Bild von der evangelischen Pfarrfrau einordnen. Die Sage von der adligen französischen Abstammung tut ein Übriges. Im bodenständigen Beuthen hat sie von Anfang an ein Hauch von Exotik umweht, und wenn der junge Jochen Klepper von ihr erzählt, dann relativiert er diese Züge nicht, sondern zelebriert sie eher noch. Er spricht mit inniger Zuneigung, Hochachtung und Stolz von der Mutter. Der Weg von Breslau nach Beuthen ist nicht allzu weit (auch wenn der Bummelzug an jeder Milchkanne hält und für die 120 Bahnkilometer volle drei Stunden braucht). Und so bekommen im Lauf der Zeit auch einige Kommilitonen Gelegenheit, sich persönlich einen Eindruck zu verschaffen. Sie berichten vom engen Einverständnis zwischen Mutter und Sohn und begreifen nach solchen Besuchen auch, wo Jochen Klepper seinen Sinn für alles Schöne her hat, sein Stilempfinden, seine Aufmerksamkeit auch für Äußerlichkeiten.

Wer die Familie nicht kennt, der wundert sich dann doch eher, zum Beispiel über den edlen Wappenring am Zeigefinger des Theologiestudenten, über Schminkdöschen und Puderbüchse auf dem Waschtisch seines Zimmers im Konvikt, bemerkt »kostbare Porzellandöschen und feine Deckchen, wie bei einem jungen Mädchen.«16 Einzelne kommen nicht klar mit solchen Beobachtungen; die meisten spüren, dass alles irgendwie ins Gesamtbild passt, verbuchen es als liebenswerte Absonderlichkeiten und nehmen es ihrem Mitstudenten jedenfalls nicht krumm.

Lehrer und Mentoren

In Breslau gerät Jochen Klepper an die beiden Lehrer, die sein Denken wie auch sein späteres Schaffen prägen werden: Rudolf Hermann und Ernst Lohmeyer. Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer ist bereits seit 1920 in Breslau, er hat den Lehrstuhl von Rudolf Bultmann übernommen. Für einen Professor ist er mit 33 Jahren noch recht jung. In ihm findet Jochen Klepper einen, der mindestens so sehr an Dichtkunst interessiert ist wie er selbst, aber eben schon wesentlich weiter in seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem dichterischen Schaffen als der Student. Ernst Lohmeyer ist beeinflusst von dem mystisch-pessimistischen Dichter Stefan George und dem so genannten »George-Kreis«. Das Besondere an seinem theologischen Zugang zu den Evangelien ist Lohmeyers Überzeugung, dass man die Worte und Gleichnisse Jesu als »Sprachereignisse« ernst nehmen muss. Dasselbe schreibt er auch den Hymnen und Bekenntnisformeln der ersten Christen zu. Ihre sprachliche Gestalt und Kraft hält er nicht für nebensächlich, sondern für wesentlich und theologisch bedeutsam. Lohmeyers Seminare sind ihrerseits »Sprachereignisse«. Für Jochen Klepper mit seiner dichterischen Ader dürfte das äußerst reizvoll gewesen sein. Der Professor versucht sich auch schon mal an einer Übertragung biblischer Texte ins Deutsche nach antiken (althebräischen, altgriechischen) poetischen Regeln. Die in dieser Hinsicht kreativsten Vorlesungsreihen Lohmeyers werden erst drei, vier Jahre später kommen. Aber zu der Zeit, als Jochen Klepper nach Breslau kommt, beschäftigt sich Ernst Lohmeyer in seiner Freizeit gerade mit ganz grundlegenden Überlegungen zur Dichtkunst. Sie fließen 1924 in eine programmatische Abhandlung über »Dichtung und Weltanschauung« für die schlesische Kultur- und Theaterzeitschrift Der Ostwart ein. Und bis dahin ist Jochen Klepper längst regelmäßig zu Gast bei dem Professor und seiner Frau Melie. Schwer vorstellbar, dass Ernst Lohmeyer mit dem literarisch ambitionierten Studenten bei diesen Gelegenheiten nicht auch darüber ins Gespräch kommt.

Der Theologe und Religionsphilosoph Rudolf Hermann ist zeitgleich mit Jochen Klepper nach Breslau gekommen und hat dort seine erste Professur angetreten. Außerdem wird er Inspektor des Konviktes, und schon deshalb hat er viel mit den Studierenden zu tun. Hermann ist mit seinen 36 Jahren ebenfalls noch recht nah dran an der Generation seiner Studenten und neuerdings auch Studentinnen. Die Evangelisch-theologische Fakultät hat sich als einer der letzten Fachbereiche der Breslauer Universität für Frauen geöffnet; noch haben die angehenden Theologinnen aber in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union keine Aussicht auf Anstellung als Pfarrerinnen. Sie können nur »Gemeindebeamtinnen« werden. Insofern hält sich der Andrang in Grenzen.

Die Begegnung mit Rudolf Hermann ist für Jochen Klepper eine Offenbarung. Inwiefern? Nun, es ist die Art und Weise, wie er predigt. Und das ist schon erstaunlich angesichts der Tatsache, dass Hermann nie ein Gemeindepfarramt inne hatte, dass er folglich auch keine Routine im Predigen hat. Das Ausarbeiten der Andachten und Predigten geht ihm nicht leicht von der Hand. Und trotzdem: Er macht auf den geübten Predigthörer Jochen Klepper einen überwältigenden Eindruck. Seine gedankliche Wucht ist selbst mit über achtzig Jahren Abstand aus den (nicht völlig ausformulierten) Predigtmanuskripten17 heraus zu ahnen. Wie viel mehr muss sie Jochen Klepper gepackt haben. Dessen Vorbild in Sachen Predigt war bis dahin eindeutig Georg Klepper, der Vater. Nun löst ihn Rudolf Hermann in dieser Rolle ab. Zehn Jahre später wird Jochen Klepper in seinem Tagebuch notieren: »Seit ich Professor Hermann in den Andachten im Johanneum hörte, war keine Predigt mehr.«18

Das allein kann es freilich nicht gewesen sein. Jochen Klepper hört in Breslau Vorlesungen bei sechzehn verschiedenen Dozenten und Professoren, aber bei keinem belegt er so viele Seminare wie bei Rudolf Hermann. »Grundfragen der Religionspsychologie«, »Ethik«, »Anselm: Cur deus homo«, »Schleiermachers Theologie«, »Religionsphilosophie der Gegenwart« – das beschäftigt ihn jeweils ein Semester lang. Und besonders nachhaltig wirkt Hermanns Seminar »Gedanken aus Luthers Schriftauslegung für Theologie und Leben« auf ihn und viele seiner Kommilitonen. Hermann vermittelt ihnen Luthers bleibendes Vermächtnis, Luthers reformatorische Prinzipien und Errungenschaften. Jochen Kleppers Studienfreund Harald Poelchau attestiert Hermann ein »strenges Ethos« und »leidenschaftlichen Ernst, der keine Phrase duldete ... Zugleich ging er mit liebevollem Interesse auf jeden einzelnen ein.«19

Von vielen Professoren hat Jochen Klepper in Breslau profitiert, aber wenn er später im Leben »mein Lehrer« sagt, dann bezieht sich das in aller Regel auf Rudolf Hermann. An dessen Meinung liegt ihm viel, ihn informiert er, seinen Rat sucht und bekommt er auch nach der Studienzeit durch einen regelmäßigen Briefwechsel.

Jochen Kleppers Fächerkanon in Breslau ist recht umfassend; neben den theologischen Pflichtseminaren interessiert er sich wie schon in Erlangen für Kriminalpsychologie und -psychiatrie, für Psychologie ganz allgemein und für Philosophie. Er belegt aber auch Vorlesungen über Anthropologie (»Die Stammesgeschichte des Menschen«) und Rhetorik (»Übungen in deutscher Aussprache und Vortrag«). Ein beachtliches Pensum hat er sich da auferlegt. Und das hat vermutlich auch wirtschaftliche Gründe.

Inflation

Die Einschreibegebühren haben sich vom ersten zum zweiten Semester mehr als vervierfacht, zum Sommersemester 1923 musste Jochen Klepper noch einmal 16 mal mehr bezahlen, und die Gebühr fürs vierte Semester wird auf dem Höhepunkt der Hyperinflation fällig – schwindelerregende 264 Milliarden Mark. Erst am 20. November 1923 ist der Spuk vorbei, als nämlich die Rentenmark eingeführt wird – zum Kurs von einer Rentenmark für eine Billion Papiermark.

Die Familie Klepper ist unmittelbar betroffen. Die Inflation hat das väterliche Vermögen zum größten Teil aufgefressen. Oberpfarrer Georg Klepper ist damit zwar noch kein armer Mann – preußische Pfarrer sind seit 1909 per Pfarrerbesoldungsgesetz den Richtern gleich gestellt und werden entsprechend gut bezahlt. Aber gegenüber den sorglosen Zeiten vor der Inflation muss man sich nun deutlich einschränken. Und das beschäftigt die Familie doch sehr. Haushalten und sparsam wirtschaften ist bis dahin ja kein Thema gewesen. Haben die Kleppers bisher frag- und klaglos den Studenten unterstützt, so berichtet Jochen Klepper jetzt öfter von finanziellen Zwängen zu Hause. Er sorgt sich um die Familie, die Geschwister – vor allem um seinen jüngsten Bruder, das Kriegskind Wilhelm (*1915) alias »Billum«. Zu den Träumen, zu den Zielen des Zwanzigjährigen gesellt sich schon bald der innere Eindruck: Er will nicht nur, er muss auch bald auf eigene Beine kommen. Er hat nie vorgehabt, das Studium zu verbummeln, aber jetzt gerät er (oder er setzt sich) unwillkürlich unter Druck. Das fällt anfangs noch nicht so auf, den meisten Kommilitonen geht es ja nicht anders.

Dennoch, selbst in den wirtschaftlich engsten Zeiten heißt Studieren nicht nur Pauken. Die Studien- und Lebensgemeinschaft im Konvent und die theologische Fachschaft versteht auch zu feiern. Und dabei offenbart der sonst eher ernste, verbindliche Jochen Klepper Qualitäten, die ihm nicht jeder zutraut, und Züge, die nicht ins übliche Bild passen wollen: Theatralik etwa. Das ist der erste Eindruck, den zum Beispiel Ernst Lohmeyers Ehefrau Melie von ihm gewonnen hat. Anlass war eine Art Laienspiel bei einem Begegnungsabend der Fachschaft: »Eine Reihe langer Gasthaustische wurde als Szenarium aneinander gestellt, worauf sich die Saaltür öffnete und die Spieler sich feierlich hereinbewegten ... Alle hatten sich faltenreich in weiße Betttücher gehüllt. Die erste dieser verwunderlichen Gestalten war ein überaus schlanker Jüngling, sehr bleich, der in ekstatischer Weise und Lautstärke Worte in den Saal rief ... Es war etwas Prophetisches oder doch von religiösem Pathos Erfülltes. Ich konnte mich eines kleinen Gefühls der Belustigung nicht erwehren. So fragte ich leise: ›Um Gottes willen, wer ist denn der erste, der da so schreit?‹ und hörte: ›Das ist Jochen Klepper.‹«20

Melie Lohmeyer hat später reichlich Gelegenheit, diesen ersten Eindruck zu revidieren. Die Theologische Fakultät vermittelt finanziell klammen Studenten regelmäßig ein Mittagessen bei einer der Professorenfamilien, und im Fall von Jochen Klepper sind Ernst und Melie Lohmeyer die Gastgeber. Wie erlebt sie ihn dort: »Von einem kindlichen Zutrauen, feinsinnig, bescheiden, offen, sehr bewegt, in jeder Weise angenehm und von Ideen voll bis zum Rand.«21

Mit der Zeit wird die Professorengattin zur mütterlichen Freundin des Studenten. Ihr, nicht dem poetisch beschlagenen Ernst Lohmeyer, erzählt er von seinen literarischen Versuchen. Ihr erklärt er, wie seine Geschichten entstehen: »Er erzählte mir, er schreibe alle Gespräche des Tages am Abend ganz genau auf, einerlei mit wem er sie geführt habe, ob in einem Laden, ob mit einem Straßenbahnschaffner oder über einen Zaun, ob in der Universität mit Kameraden oder mit einem Professor oder mit einer Portiersfrau ...«. Beobachten und Eindrücke sammeln, Motive ergründen, irgendwann neu kombinieren. Melie Lohmeyer bekommt von Jochen Klepper zu ihrer eigenen Überraschung auch mal einen ganzen Stapel von Gedichten zur Begutachtung anvertraut. Sie studiert sie, findet sie aber »alle so unreif und unoriginell«, dass sie diese Jugendwerke im Papierkorb versenkt. Um später staunend von ihm zu erfahren, dass er die Gedichte, die er selbst für gelungen hält, an »etwa sechzig Zeitungen« schickt – »mitunter würde auch mal eines genommen. So müsse man anfangen«. Sie ist beeindruckt von der Energie, mit der er diesen Weg verfolgt. Zugleich bleibt ihr nicht verborgen, wie sehr Jochen Klepper an seiner Familie, speziell an seiner Mutter hängt. Sie erinnert sich an eine bezeichnende Episode: »Jochen war irgendwie und unvorhergesehen zu etwas Geld gekommen. Ich sehe ihn noch, wie er die Münzen in der Hand hielt und dann zärtlich und nachdenklich meinte: ›Vielleicht kann ich meiner Mutter dafür mal wieder etwas Puder und Schminke kaufen.‹«22

Es ist wohl kein Zufall, dass Jochen Klepper die Nähe und das Vertrauen von Melie Lohmeyer gesucht hat. (Auch Rudolf Hermanns Ehefrau Millie nimmt an seinem Werdegang Anteil, aber zu ihr hat er nie einen derart engen Kontakt.) Melie Lohmeyer geb. Seyberth, 1923 Mutter zweier kleiner Kinder (ein weiteres Kind war kurz nach der Geburt gestorben), ist eine selbstbewusste Frau mit eigenständiger, starker Persönlichkeit und darin auf Augenhöhe mit ihrem Mann. Sie führt eine »intensive, wenn auch immer hochkomplizierte Ehe«, so wird es ihre Tochter Gudrun später einschätzen.23 Damit hat sie manches gemeinsam mit Hedwig Klepper, das hat auch schon Brigitte Hacker ausgezeichnet, die Arztfrau aus Glogauer Zeiten, und auf ihre Weise passte auch Jochen Kleppers eigenwillige Erlanger Quartiergeberin Olly Budjuhn in dieses Raster. Der junge Mann sucht den Austausch mit Frauen, die ihm geistig mindestens ebenbürtig (und altersmäßig zumeist ein paar Jahre voraus) sind – und auch seiner Mutter das Wasser reichen können.

Die Metropole

Beuthen ist ein Nest, verglichen mit Glogau in den Zwanziger Jahren. Glogau und das ähnlich große Erlangen sind ihrerseits Kleinstädte, verglichen mit der brausenden Metropole Breslau. 550 000 Einwohner zählt die Hauptstadt der 1919 neu geformten Provinz Niederschlesien. Eine über tausendjährige Stadtgeschichte, seit Urzeiten Handelsplatz, Bischofssitz seit dem Jahr 1000, im Spätbarock »Hauptstadt der deutschen Dichtung«, seit dem 18. Jahrhundert zunehmend auch Industriezentrum. Die Innenstadt bietet eine imposante Kulisse: Ein gutes Dutzend Kirchtürme, das mächtige gotische Rathaus, Patrizierhäuser aus der Renaissancezeit mit prachtvollen Schaugiebeln. Der lang gestreckte Bau der Universität am Oderufer mutet eher wie ein Schloss an. In den Jahren vor dem Weltkrieg hat sich die Stadt zu einer Perle des Jugendstils entwickelt; das Hotel Monopol, das Kaufhaus Barrasch, die Markthalle, zahlreiche Cafés und Geschäfte in den Straßen der Altstadt huldigen mit ihrer Ornamentik diesem künstlerischen Aufbruch. Südlich der Altstadt, jenseits des Schweidnitzer Stadtgrabens, ragt die 60 Meter hohe Neue Synagoge mit ihrer byzantinisch anmutenden Kuppel auf, der zweitgrößte jüdische Sakralbau in Deutschland.

Das kulturelle Leben in der Stadt ist vielfältig. Das Stadttheater ist eine Opernbühne von europäischem Rang, das Schauspielhaus eines der führenden deutschen Operettentheater, das Thaliatheater in der Nikolaivorstadt eine preiswerte Volksbühne für die kleinen Leute. Die gute Stube ist das Lobetheater in der Lessingstraße; urgemütlich, nur unter Brandschutzgesichtspunkten ein Albtraum. Es gibt einige Konzertsäle und mindestens fünfzehn Lichtspielhäuser, einige davon hochmodern, die meisten in der Schweidnitzer Vorstadt südlich der Altstadt gelegen. Und dann ist da natürlich das Liebich-Theater, die Varietébühne mit angeschlossenem Tanzpalast in der Gartenstraße, westlich des Hauptbahnhofes. Hier treten die großen Unterhaltungskünstler der Zeit auf: der Clown Charly Rivel, der Zauberkünstler Alois Kassner, der Jongleur Enrico Rastelli, der Sänger und Spaßvogel Otto Reuter. Hierhin zieht es auch Jochen Klepper regelmäßig. Er bewegt sich gern im Kleinkunst- und Theatermilieu. So unaufdringlich und höflich er ist, so beharrlich ist er auch – fragt sich durch, knüpft Kontakte, dringt zur Sensation seiner Kommilitonen selbst zu der dänischen Schauspielerin Asta Nielsen vor, dem unumstrittenen Stummfilmstar der Zwanziger Jahre, und weiß sich auch in solcher Umgebung zu bewegen. Was ihn an dieser Szene reizt: Er fühlt sich den Künstlern wesensverwandt. Er trifft auf Menschen, die anscheinend ihre Lebensaufgabe mit Hingabe und Leidenschaft verfolgen (Betonung mitunter auf Leiden). Indem er sie genau beobachtet, findet Jochen Klepper jede Menge Anregungen für Geschichten und ganze Romane. Zum Teil erst Jahre später wird er die Ideen abrufen, werden die Künstler und Artisten Geschichten aus seiner Feder bevölkern. Die meisten Projekte verwirklicht er nie. Aber das ist weniger Zeichen einer Schreibhemmung, eher Ausweis seiner unerschöpflichen Phantasie und der sprudelnden Inspirationsquellen. Er ist schon in diesen ersten Breslauer Jahren sehr produktiv, wird stilsicher und souveräner.

Noch in einer weiteren Hinsicht erweist sich Breslau als ein gutes und für Jochen Klepper schicksalhaftes Pflaster: Hier lernt er die Welt des gebildeten, modernen Judentums kennen. Im heimischen Beuthen gibt es nur eine Handvoll jüdische Familien. In Breslau leben mehr als 23 000 Juden – gut 4 Prozent der städtischen Bevölkerung. Heimat der liberalen jüdischen Gemeinde ist die prächtige Neue Synagoge; orthodoxe Juden besuchen die (ältere) Storch-Synagoge in der Wallstraße. Und seit 1854 beherbergt die Stadt das Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckelscher Stiftung, das erste moderne Rabbinerseminar in Europa. Die »Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums« erscheint in Breslau. Seit dem preußischen Judenedikt von 1812 spielen jüdische Ärzte, Anwälte, Künstler, Kaufleute eine prominente Rolle in der Stadt. Streng religiös sind die wenigsten; die meisten Breslauer Juden sind assimiliert.