Per Olov Enquist

 

Großvater und die Wölfe

 

Aus dem Schwedischen von

Wolfgang Butt

 

Mit Illustrationen von

Leonard Erlbruch

 

 

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel

De Tre Grottornas Berg

beim Verlag Rabén & Sjögren, Stockholm

 

ISBN 978-3-446-24251-7

© Per Olov Enquist 2003

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2003

Umschlag: Leonard Erlbruch

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

Für

Cecilia Enquist, Marcus Enquist,

Mina Gilbertsson und Moa Gilbertsson,

die dabei waren und durchhielten,

und für das Landeskrankenhaus in Karlstad,

Värmlands Rettungsdienst

und die Polizei in Arvika

mit Dank für einen großartigen

Einsatz unter schwierigen

Verhältnissen.

P.O.E.

Eine schreckliche Nacht

 

 

1.   Also es war so.

Obwohl Mina sich nachher fast nicht mehr daran erinnerte, wie es angefangen hatte. Sie sagte, dass sie damals noch so klein gewesen sei und Angst bekommen habe. Danach hatte sie fast nie mehr solche Angst gehabt. Wie das zugegangen war, wusste sie nicht richtig. Großvater erinnerte sie manchmal daran. Dann sagte sie nur:

»Ja, aber das war doch im früher. Da war ich doch noch so klein.«

Obwohl »im früher« nur drei Wochen her war. Komisch, dass man in drei Wochen groß werden kann. Man kann es auch nicht.

Aber so fing es an.

 

Mina war sechs Jahre alt, sie hatte blonde Haare und grüne Augen und ein paar Jungen in der Vorschule fanden sie sehr süß, aber daraus machte sie sich nichts. Man muss alles ertragen, sogar Liebe, hatte ihre Mama, die Jenny hieß, gesagt. Aber eines Nachts, als Mina gerade eingeschlafen war, wurde sie von einem Krokodil in den Po gebissen.

Es war das erste Mal, dass Mina von einem Krokodil gebissen wurde, denn sie war erst sechs Jahre alt. Sie erwachte und spürte, dass es wehtat. Zuerst lag sie nur da und fühlte nach, wie weh es tat, ob es riesig wehtat oder nur ein biss chen weh oder ob es nötig war, zu brüllen wie verrückt, damit Papa oder Mama kamen. Sie konnte sich beinah nicht entscheiden, doch da fiel ihr wieder ein, wie furchtbar es gewesen war, als das grüne Krokodil sie angegriffen und an ihrem Po geknabbert hatte – also entschied sie sich dafür, dass es furchtbar war, und fing an zu weinen.

Da kam ihr Papa, der Anders hieß, ins Zimmer und sah aus, als hätte man einen Teller Spaghetti über ihn ausgekippt, und sagte mürrisch:

»Was’n jetzt los? Ich will schlafen.«

Da schluchzte Mina noch eine Weile, als läge sie im Sterben oder als hätte sie eine schlimme Krankheit, die Papa sofort heilen müsste, zum Beispiel mit einem Eis am Stiel oder mit einem Würstchen mit Ketchup; aber nachdem sie eine Weile geschluchzt hatte, wurde sie müde und hörte fast auf, sie wimmerte nur noch untröstlich. Ungefähr so, als wäre sie allein und verlassen im Wald. Und dann noch ein tiefer Seufzer, denn Papa setzte sich nur bei ihr aufs Bett und guckte und war überhaupt nicht entsetzt.

Am besten fand Mina es immer, wenn Papa und Mama so entsetzt waren, dass sie fast ohnmächtig wurden und dann zur Kühltruhe hinuntergingen, um ein Eis zu holen. Einmal, als sie vier Jahre alt war, hatte sie gebrüllt, weil sie gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte, so fühlte es sich jedenfalls an, fast ganz sicher, und Mama war schließlich zum Telefon gegangen und hatte gesagt, jetzt rufe sie verflixt noch mal den Krankenwagen an. Und da war Mina so froh geworden, dass sie schwuppdiwupp aufhörte zu brüllen und sagte, sie wolle aber vorn im Krankenwagen neben dem Fahrer sitzen. Und da war Mama mit ganz finsteren Augen vom Telefon zurückgekommen und hatte gesagt: »Verdammt, ich wusste doch, dass es nichts war. Was für ein Glück, dass ich nicht angerufen habe!« Aber da war Mina auch böse geworden und hatte gesagt, wenn Mama so fluche, müsse sie sich die Zunge mit Seife waschen, unten und oben, also auch die Unterseite der Zunge, und vielleicht auch noch den Hals.

Da hatte Mama nur gefragt, was denn jetzt sei mit dem gebrochenen Bein?

Und Mina hatte vergessen, welches Bein es war, und auf das falsche gezeigt. Und da hatte ihre Mutter, die Jenny hieß, angefangen zu lachen und ein Eis geholt.

Man musste sich eben etwas einfallen lassen, wenn man ein Eis wollte.

Tatsache war, dass Mina in der Nacht von einem Krokodil angegriffen worden war. Sie erinnerte sich noch ganz genau daran, dass sie am Strand des schrecklichen Kongoflusses gewesen war, wo die Menschenfresser badeten und sich sonnten und am Strand in der Sonne einschliefen, nachdem sie sich aneinander satt gegessen hatten. Sie aßen einander die Beine auf, und es gab keinen, der sich anstellte oder es komisch fand, dass man sich gegenseitig aufaß. Allerdings aßen sie nur von den Beinen. Alle waren nett. Keiner schrie oder fluchte oder wusch die Zunge mit Seife. Und von einem dicken Onkel aßen sie am meisten. Der war nett und strich sich Ketchup auf die Beine, wenn die kleinen Menschenfresserkinder kamen und Hunger auf seine Beine hatten.

Sie aßen seine Beine mit Ketchup, aber ohne Senf und Brot. Doch dann, erinnerte sich Mina, war sie hinunter gegangen, um im Wasser des Kongoflusses zu baden, denn sie hatte keine Lust auf Bein mit Ketchup, und da war das Krokodil gekommen.

Es war klein und grün und sie kannte es, denn Papa hatte ein Zeichen auf seinem Pulli, das genau dieses Krokodil darstellte. Mina erkannte natürlich das Krokodil von Papas Pulli, obwohl es jetzt größer war, also kein Bild, sondern ein echtes, und es bewegte sich. Mina sagte zu ihm, und zwar ziemlich streng:

»Bist du von Papas Pulli abgehauen? Was soll das denn, schwimm zurück, sonst wird Papa stocksauer!«

Aber das Krokodil war nur blöd herumgeschwommen und hatte Mina sauer angeglotzt und gesagt, es begreife nicht, was sie meine. Es sagte, es sei ein gefährliches Krokodil, das im Kongofluss schwimme, und damit basta und sie solle sich bloß in Acht nehmen.

»Nimm dich selbst in Acht!«, hatte Mina gesagt. »Und schwimm sofort zurück auf Papas Pulli!«

»Fass dir an deinen eigenen Keks«, hatte das Krokodil da reichlich sauer gesagt. Und dann war es hochgesprungen und hatte Mina in den Keks gebissen, also in den Po.

So war es gewesen. Und da war Mina aufgewacht, und die Stelle, an der das Krokodil sie gebissen hatte, tat weh. Und nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, beschloss sie, loszubrüllen wie am Spieß. Ich muss einen Notruf loslassen!, dachte sie. Es lohnt sich doch nicht, hier zu liegen und nur still zu leiden.

Also hatte sie losgebrüllt. Und da war Papa gekommen, ganz verknittert im Gesicht, als wäre er nicht ausgeschlafen.

»Ein Krokodil hat mich gebissen«, hatte Mina gesagt.

»Wo denn?«, hatte Papa gefragt.

»Am Keks!«, hatte Mina geschluchzt und hingezeigt.

Und tatsächlich. Da war eine riesige große Stelle. So groß wie ein Zehncentstück.

»Das ist ein Mückenstich«, sagte Papa und versuchte die Falten in seinem Gesicht zu glätten. »Es ist ein Mückenstich. Kein Grund, sich zu ängstigen. Schlaf jetzt, mein Kleines.«

»Es war ein Krokodil«, heulte Mina noch schlimmer als vorher. »Ich hab’s doch gesehen, es war grün, eine Mücke ist doch wohl nicht grün und so groß wie ein Krokodil!!!«

»Schlaf jetzt, mein Liebes, versuch doch zu verstehen, ich muss schlafen, es ist Sonntag, Liebes«, sagte Papa und stand auf und wollte die Tür zumachen.

»Ich bin aber gebissen worden!«

»Du hast geträumt«, sagte Papa. »Schlaf jetzt, es ist nichts.«

»Ich weiß, wann ich träume!«, schrie Mina. »Und das hier hab ich nicht geträumt!«

»Du fantasierst nur«, sagte Papa. »Hör auf damit, sonst wirst du noch wie Großvater.«

»Ich will werden wie Großvater«, sagte Mina sauer. »Er hätte mich gegen das Krokodil verteidigt.«

»Zweifelsohne«, sagte Papa. Er hieß Anders und war aus Dänemark und da sagten sie »zweifelsohne«. »Aber du weckst Moa!« Und dann ging er in sein Schlafzimmer und rollte sich im Bett zusammen und schlief bestimmt sofort ein.

Moa saß aufrecht im Bett und glotzte Mina an.

»KROKODIL!«, sagte Moa und schien hellwach zu sein. »Moa will auch ein Krokodil, das beißt.«

Sie konnte wirklich nerven.

»Fass dir doch an den Keks«, sagte Mina. »Immer willst du alles haben.«

Mina wusste genau, dass es kein Traum gewesen war. Papa war immer verschlafen. Mama schlief. Und Moa wollte bestimmt gleich spielen. Mina wollte absolut nicht spielen.

Also Krise. Keiner nahm sie ernst. Und Mina dachte, wie fein es wäre, einen Beschützer zu haben, der sie rettete, wenn sie in Not war. Man musste einen Wohltäter haben, wie Großvater immer sagte. Das war einer, der immer zur Stelle war, zum Beispiel, wenn die Großen »Versuch doch zu verstehen!« sagten und schlafen wollten. Oder im Fernsehen Golf guckten.

Und Mina dachte, dass guter Rat teuer war, wie Urgroß mutter Vega immer sagte. Und selbst hatte Mina ja kein Geld.

Sie musste sich mit Großvater beraten. Unbedingt. Er war der Einzige, der den vollen Ernst der Situation verstand.

Eigentlich fing damit alles an.

Zuerst war es die schreckliche Nacht mit dem Krokodil. Dann kam das andere, was passierte, und am Schluss die beinah lebensgefährliche Expedition zum Dreihöhlenberg und das, was mit dem Wolfsjungen geschah.