Cover

Dirk Kurbjuweit

Angst

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Dirk Kurbjuweit

Dirk Kurbjuweit, geboren 1962, war Redakteur der «Zeit», seit 1999 arbeitet er für den «Spiegel». Er hat bislang sechs hochgelobte Romane geschrieben, drei davon wurden fürs Kino verfilmt, darunter «Die Einsamkeit der Krokodile» und «Zweier ohne»; zuletzt erschien «Kriegsbraut» (2011). Für seine Reportagen erhielt Dirk Kurbjuweit 1998 und 2002 den Egon-Erwin-Kisch-Preis sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen.

Über dieses Buch

Das saturierte Leben von Randolph Tiefenthaler scheint mit dem Kauf der schönen Berliner Altbauwohnung seine Erfüllung zu finden. Der Architekt und seine Familie ahnen nichts Böses, als der schrullige Herr Tiberius ihnen Kuchen vor die Tür stellt. Doch bald wird der Nachbar aus dem Souterrain unheimlich. Er beobachtet Tiefenthalers Frau, schreibt erst verliebte, dann verleumderische Briefe, erstattet sogar Anzeige. Die Ehe stürzt in eine Krise, das bloße Dasein des Nachbarn vergiftet den Alltag. Tiefenthaler vertraut lange auf den Rechtsstaat, der aber zeigt sich hilflos gegenüber dem Stalker. Die zerstörte Sicherheit erschüttert Tiefen­thaler im Innersten. Denn er kennt die Angst schon lange. Sein eigener Vater ist ein Waffennarr, als Kind musste Randolph schießen lernen und fürchtete stets das Schlimmste. Vater und Sohn sind sich seit Jahren fremd – doch nun bringt die unerträgliche Situation Randolph auf einen entsetz­lichen Gedanken ...

 

Dirk Kurbjuweit schildert mit beklemmender Spannung, wie Ohnmacht eine Familie zur Selbstjustiz treibt. «Angst» ist das Psychogramm einer Gewalttat, die Geschichte einer extremen, in ihrer Sprachlosigkeit berührenden Vater-Sohn-Beziehung – und ein erzählerisches Experiment, das die dünne Haut unserer bürgerlichen Zivilisation auf die Zerreißprobe stellt.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Das Gedicht «Nacht, Weg, Laterne, Apotheke ...» ist dem Band von Alexander Blok, «Gedichte», Seite 103f., erschienen 1990 im Suhrkamp Verlag, entnommen.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-87134-729-0 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-11341-1

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-11341-1

Für meine Kinder

Papa? Er hat mir nicht geantwortet, er redet nicht, redet kaum noch. Er ist nicht wirr, nicht dement, wie man jetzt sagt, er hat weder Alzheimer noch eine andere Krankheit, die sein Gedächtnis frisst. Seine Erinnerungen haben ihn nicht verlassen, das wissen wir, weil er manchmal doch redet, selten, aber dann sind seine Sätze klar und vernünftig, sie kommen aus einem Gehirn, das sich noch auskennt in dem Leben, das es gesteuert und gespeichert hat, ein langes Leben, achtundsiebzig ist der Papa. Er hat mich erkannt, als ich ihn heute Nachmittag besucht habe, er erkennt mich immer, wenn ich ihn besuche, ein Lächeln, klein, nicht groß, so ist es eben mit ihm, Distanz, Zurückhaltung, aber er erkennt seinen Sohn, seinen ältesten Sohn, und er freut sich, dass dieser Sohn zu ihm kommt. Das ist nicht wenig.

Herr Tiefenthaler? Herr Kottke hat so gefragt, nachdem mein Versuch ohne Antwort geblieben war. Manchmal reagiert mein Vater eher auf Herrn Kottke als auf mich. Bin ich deshalb eifersüchtig? Ein bisschen, das muss ich zugeben. Andererseits ist Herr Kottke der Mann, mit dem mein Vater nun seine Tage verbringt, und ich bin froh, muss froh sein, dass sie gut miteinander auskommen. Herr Kottke verehrt meinen Vater, das kann ich sicherlich so sagen. Ich weiß nicht, ob er mit allen Männern hier so behutsam und freundlich umgeht wie mit Papa, ich vermute, dass es nicht so ist, habe ihn aber nie mit den anderen Männern gesehen. Heute hat mein Vater nicht auf Herrn Kottke reagiert. Er saß stumm am Tisch, dämmerte vor sich hin. Seine Augen waren halb geschlossen, sein Rücken war gerade, seine Hände hingen an den Seiten herab. Manchmal kippte sein Oberkörper nach vorn, und ich erschrak, denn würde mein Vater mit dem Gesicht auf den Tisch schlagen, würde er sich sehr weh tun, sich womöglich verletzen, die Platte ist aus Metall. Aber mein Vater fällt nie nach vorn, er stoppt die Kippbewegung, sobald sein Oberkörper etwas geneigt ist, und richtet sich wieder auf. So auch heute. Aber ich kann mich nicht daran gewöhnen, erschrecke jedes Mal. Ich sah, wie sich Herr Kottke entspannte, auch er war bereit einzugreifen. Wir passen auf, wir passen gut auf, dass dem Papa nichts geschieht.

Ich besuche meinen Vater seit einem halben Jahr an diesem Ort, und es ist immer noch traurig, ihn so sitzen zu sehen, in seiner ausgeleierten Hose, die er ohne Gürtel trägt, in seinem verschlissenen Hemd. Wir haben ihm neue Sachen gekauft, damit er ordentlich aussieht, aber er besteht auf seiner vertrauten Kleidung, und warum nicht? Es sieht eigentümlich aus, wie er dort sitzt, weil sein Stuhl zu weit vom Tisch entfernt steht, so wie meiner auch, wir sitzen uns gegenüber, aber nicht wirklich an diesem Tisch, der uns daher nicht verbindet, nicht wirklich beisammensitzen lässt. Der Tisch trennt uns, gerade jetzt, da wir uns näher sind denn je. So sehe ich das jedenfalls. Leider ist es nicht möglich, die Stühle zu verrücken, weil sie am Boden festgeschraubt sind, und das gilt auch für den Tisch.

Mein Vater könnte reden, aber er will nicht mehr. Er ist müde, glaube ich, erschöpft von diesem langen Leben, das er schwierig fand. Wir verstanden ihn nicht, doch was zählt das schon? Er musste die Schwierigkeiten bewältigen, auch wenn er sie sich vielleicht nur eingebildet hat. Er führte sein Leben konsequent so, als habe es sie gegeben. Und wir wissen nicht alles von seinem Leben. Niemand weiß alles von anderen Leben. Wir sind nur bei unserem eigenen Leben immer dabei, und selbst das heißt nicht, dass wir alles von unserem Leben wissen, weil Dinge, die uns betreffen, passieren können, ohne dass wir dabei sind. Oft passieren schwerwiegende Dinge, die uns betreffen, ohne unser Wissen. Vielleicht sollten wir uns auf den Satz verständigen, dass niemand alles von irgendeinem Leben weiß, nicht einmal vom eigenen. Wir sollten deshalb vorsichtig sein mit Sätzen, die ganze Leben betreffen. Ich bin es.

Ich habe meiner Frau heute Morgen beim Abschied gesagt, dass ich meinen Vater besuche. Das sage ich immer so, und wenn sie dran ist, verwendet sie die gleiche Formel: Ich besuche nachher deinen Vater. Niemand sagt: Heute gehe ich ins Gefängnis zu Papa. Wir legen keinen Wert auf solche Genauigkeit, sie tut uns weh, immer noch. Ein halbes Jahr reicht nicht, um das Wort Gefängnis schmerzlos aussprechen zu können, nicht in einer Familie, in der nie einer im Gefängnis gesessen hat und die sich erst daran gewöhnen muss, dass ein solcher Ort Teil der Familienwelt geworden ist. Für uns gilt das nun, mein Vater, um es klar zu sagen, sitzt im Gefängnis. Mit siebenundsiebzig Jahren ist er dorthinein gekommen, einen Geburtstag hat er schon als Insasse erlebt, von feiern will ich nicht reden. Wir haben uns bemüht, ihm eine festliche Stunde zu bereiten, aber es war kein Erfolg. Es lag nicht so sehr an den angeschraubten Stühlen und dem metallenen Tisch, auch nicht am vergitterten Fenster, das ebenfalls allzu deutlich macht, dass dies kein heimeliger Ort ist, kein passender Ort, um die Tatsache des eigenen Lebens zu feiern. Es lag an mir.

Die erste halbe Stunde war uns ganz gut gelungen, wir hatten «Happy Birthday» angestimmt, ich, meine Frau Rebecca, unsere Kinder Paul und Fee, meine Mutter und Herr Kottke, der für diesen Tag einige Ausnahmen genehmigt hatte. Wir aßen den Bienenstich, den meine Mutter nahezu ein Leben lang für ihren Mann gebacken hat und den sie nach alter Gewohnheit als Ganzes auf einem Blech präsentieren wollte, weil ihr das Anschneiden vor aller Augen immer eine Freude ist, die Zeit der allgemeinen Freude auf den nahen Genuss. Aber so weit gingen die Ausnahmen nicht. Als wir an der Pforte durchsucht wurden, musste meine arme Mutter, meine fünfundsiebzigjährige Mutter zusehen, wie ein Justizvollzugsbeamter den Bienenstich in kleine Stücke schnitt. Aber ich habe nun wirklich keine Feile hineingebacken, sagte sie mit einer erzwungenen Munterkeit, die mich traurig machte. Wahrscheinlich hat man ihr geglaubt, aber es gibt halt Vorschriften. Ich hasse diesen Satz, ich hasse es, darauf hingewiesen zu werden, dass es Vorschriften gibt, die das Vernünftige unterbinden. Aber ich höre diesen Satz oft, seitdem mein Vater im Gefängnis sitzt.

Wir redeten über andere Geburtstage meines Vaters, Geburtstage in Freiheit, und dabei musste ich plötzlich schluchzen, ganz unvermutet, und ich dachte erst, dass ich das stoppen könne, ich kämpfte gegen das Schluchzen an, aber es wurde stärker, bis ich haltlos weinte. Ich habe genau mitbekommen, wie auf dieses Weinen in der Besucherzelle reagiert wurde. Meine Kinder starrten mich entsetzt an, so hatten sie ihren Vater noch nie gesehen, Herr Kottke, der Gute, schaute betreten weg, meine Mutter, die auf einem der festgeschraubten Stühle saß, stand auf und kam auf mich zu, aber meine Frau war als Erste bei mir und nahm mich in den Arm. Ich weinte an ihrer Schulter, und als ich die Augen öffnete, traf mein verschwommener Blick den Blick meines Vaters. Was ich sah, kann ich nur Interesse nennen. Er betrachtete seinen Sohn mit einem eigenartigen Interesse, für das mir die Deutung fehlt. Ich habe seither oft darüber nachgedacht, aber mir fällt nichts ein, womit ich diesen Blick erklären könnte. Nach fünf Minuten war der Anfall vorbei, meine Mutter reichte mir eine Papierserviette, ich entschuldigte mich, erinnerte rasch und viel zu munter an einen weiteren Geburtstag meines Vaters, aber jetzt war es nur noch ein Versuch, die Uhr zu beschleunigen. Ich wollte raus hier, alle wollten raus.

Ich sollte das so nicht schreiben, man kommt in Teufels Küche mit solchen Sätzen, wenn der eigene Vater im Gefängnis sitzt. Wenn einer rausmusste, dann mein Vater, aber er konnte nicht raus, während wir um kurz vor sechzehn Uhr den übriggebliebenen Bienenstich vom Kuchenblech auf zwei Pappteller hoben, einen für meinen Vater, einen für Herrn Kottke und seine Kollegen. Dann herzten wir den Vater, Schwiegervater, Opa, Ehemann und gingen, nicht ohne Herrn Kottke Dank zu sagen. Mein Vater blieb. Er hat acht Jahre bekommen. Das halbe Jahr Untersuchungshaft in Moabit wird angerechnet, ein halbes Jahr hat er in der Justizvollzugsanstalt Tegel abgesessen, bleiben sieben Jahre. Wenn er sich gut führt, wird er vielleicht in drei, vier Jahren entlassen. Wir rechnen fest damit, dass er sich gut führt, Herr Kottke hat uns wiederholt gesagt, dass es keinen braveren Häftling gibt als meinen Vater, das nährt unsere Hoffnung. Er kann dann noch ein paar gute Jahre in Freiheit haben, das sage ich so auch meiner Mutter. Wenn er nur nicht dort stirbt, sagt meine Mutter oft und wiederholt den Satz sofort: Wenn er nur nicht dort stirbt. Er ist gesund, er schafft das, sage ich dann.

Papa? Ich habe noch einmal gefragt, nachdem ich eine Weile mit Herrn Kottke geplaudert hatte. So verbringe ich hier meistens meine Zeit, Herr Kottke und ich reden, das heißt, fast immer redet er, man kann ihn durchaus redselig nennen, aber das ist gut so, es hilft mir. Die Stille eines Gefängnisses ist mir unerträglich, weil aus dieser Stille fremde, unheimliche Laute in die Besucherzelle dringen. Es sind metallische Geräusche, die ich nicht erklären kann, sie sind nicht metallisch hell, sondern dumpf, erst meinte ich Rhythmen zu hören, als würde geklopft oder gefeilt, aber mit der Zeit erkannte ich, dass ich Opfer meiner Erwartungen geworden war, als müssten in einem Gefängnis immerzu die Geräusche behinderter Kommunikation oder versuchter Fluchten erklingen. Es gab keine Rhythmen, es gab auch kein leises Seufzen, wie ich einmal zu hören gemeint hatte. Es gab nur ungewohnte, unerklärliche Geräusche aus der Tiefe dieses Gebäudes. Mir war lieb, wenn Herr Kottke mit seinem rauen Berliner Akzent diese Klänge überdeckte. Er blickt auf ein langes Schließerleben zurück, über vierzig Jahre im Dienst der Justiz, und kann eine Menge erzählen. In Wahrheit wollte ich so viel nie wissen über die Welt des Verbrechens und der Verbrecher, aber uninteressant ist es nicht, zumal diese Welt vor einiger Zeit in unser Leben eingedrungen ist.

Herr Kottke schaute bald auf die Uhr. Er hat ein untrügliches Gespür dafür, wann unsere gemeinsame Stunde abgelaufen ist. Wir müssen dann wieder, sagte er wie jedes Mal, und ich war ihm dankbar für diese Formulierung, die so klingt, als müssten sich die beiden von einer schönen Kaffeetafel verabschieden und nach Hause fahren. Für meinen Vater ist dieses Zuhause eine Zelle, das ist die Wahrheit, aber sie verschwindet in Herrn Kottkes gutgewählten Worten. Die Einfühlsamkeit eines Schließers, es gibt sie, wir haben Glück gehabt.

Während meines Besuchs lehnte Herr Kottke an der Wand, rechts neben dem Fenster. Kaum hatte er jenen Satz gesagt, machte er zwei Schritte durch die Zelle, stand nun neben meinem Vater und berührte ihn mit einer Hand am linken Oberarm. So macht er es immer, es gibt hier eine Menge Rituale, eine Menge Wiederholungen und Gleichförmigkeit. An diesem Ort wirkt die Geste polizeilich, wirkt wie ein Signal, dass ein Fluchtversuch der Mühen nicht wert sei, weil sich Herr Kottke bei aller Freundlichkeit nicht davon abbringen lässt, seine Pflicht zu tun und zuzupacken, falls es nötig wird. Aber ich glaube, dass er aus Fürsorge handelt, er will meinen Vater stützen, obwohl das nicht nötig ist, Papa kann ohne Probleme alleine aufstehen. Er stand auf, so wie ich, wir umarmten uns kurz, das können wir inzwischen, und dann ging er, Herr Kottke an seiner Seite. Mein Vater ist größer als sein Bewacher, knapp eins neunzig gegen gut eins siebzig, schlanke eins neunzig gegen füllige eins siebzig, mein Vater ist noch so schlank, wie ich ihn immer kannte, aber sein Haar hat er verloren, und seine Beine haben sich mit dem Alter stärker nach außen gebogen, das gibt ihm einen schaukelnden Gang, wie bei einem Mann von den Schiffen, aber der war er nie. Autoverkäufer war mein Vater, zunächst Mechaniker, dann Autoverkäufer.

Nachdem mein Vater die Zelle verlassen hatte, zeigte sich ein anderer Schließer, einer, dessen Namen ich nicht kenne, ebenfalls dick, viele hier sind dick, er schaute nicht freundlich, nur dienstfertig, wir wechselten kein Wort miteinander, als er mich zur Pforte geleitete. Die Straße, endlich, Autos, Vögel, Wind in Bäumen, Leben. Mein Audi blinkte freudig, als ich, noch zwanzig Schritte entfernt, auf den Schlüssel drückte.

 

Warum mein Vater im Gefängnis sitzt? Ich muss kein großes Geheimnis daraus machen. Die Justiz nennt ihn einen Totschläger, und dass sie ihn nur mit acht Jahren bestraft hat, liegt an seinem Geständnis und seinen Beweggründen, die dem Gericht nicht so scheußlich erschienen, wie das bei Mördern der Fall ist. Wir haben das Urteil akzeptiert, es ist hart für uns, aber wir können nicht sagen, dass der Gerechtigkeit Schande angetan wurde. Auch mein Vater sieht das so. Natürlich hat er auf ein mildes Urteil gehofft, aber ihm war klar, dass er wegen dieser Tat seine Freiheit einbüßen würde. Ihm war das vorher klar. Von einer spontanen Tat kann nicht die Rede sein, sie war gewollt, geplant, und sie wurde in aller Klarheit ausgeführt. Das Alter meines Vaters spielte im Prozess keine Rolle, er handelte nicht aus Verwirrung oder in senilem Wahn. Es wurde aber beim Strafmaß berücksichtigt, denke ich. Die Richter wollten ihm eine Perspektive geben, dass er seine allerletzten Tage in Freiheit verbringen kann, bei seiner Familie. Mit Hafterleichterungen ist nach ein, zwei Jahren zu rechnen, offener Vollzug ist ein Wort, an das wir uns klammern. Mein Vater würde die Tage bei uns verbringen, abends brächte ich ihn nach Tegel. Nach Tegel sagen wir auch gerne. Andere meinen damit den Flughafen, wir meinen das Gefängnis.

Ich muss bekennen, dass ich nicht unschuldig bin an diesem Totschlag, obwohl das kein gutes Licht auf mich wirft. Ich hätte die Tat verhindern können, aber ich wollte nicht. Als mein Vater uns am 25. September des vergangenen Jahres besuchte, wusste ich, was er vorhatte. Es war ein sonniger Tag, unsere Fenster standen offen. In unserer Straße im Südwesten Berlins, im Ortsteil Lichterfelde-West, hat das zur Folge, dass wir Autos schon hören, wenn sie noch weit entfernt sind. Hier liegt Kopfsteinpflaster, das Rumpeln der Autos quält mich manchmal, wenn ich zu Hause arbeite. Meine Frau findet, dass ich zu empfindlich bin. Ich habe ihr gesagt, dass Schopenhauer der Meinung war, Geräuschempfindlichkeit sei ein Zeichen von Intelligenz, je empfindlicher, desto intelligenter. Willst du damit sagen, dass, hob sie an. Nein, will ich nicht, gab ich zurück. Schon entwickelte sich eines dieser Gespräche, die eine Ehe unerfreulich machen können. Später habe ich mich entschuldigt. Es war wirklich kein sympathischer Satz, aber vielleicht doch ein wahrer.

Ich habe meinen Vater erwartet. Er hatte sich am Tag davor angekündigt, und kurz nach seiner Abfahrt aus dem Oderbruch rief meine Mutter an, um mir zu sagen, dass er in spätestens zwei Stunden eintreffen werde. Das war eine noch junge Gewohnheit. Meine Mutter fand, dass mein Vater kein sicherer Autofahrer mehr ist, und falls er nicht zur erwarteten Zeit eintreffen würde, sollte ich sofort Such- und Rettungsmaßnahmen einleiten. Mein Vater wusste nichts davon, es hätte ihn verletzt, es hätte ihn verärgert. Er konnte nicht aufhören, sich als souveränen Autofahrer zu denken. Seine Familie hatte eher den Eindruck, dass er ziemlich unsicher unterwegs war. Wir ließen unsere Kinder ungern bei ihm einsteigen.

Als ich auf meinen Vater wartete, fragte ich mich, ob jemand, der nicht mehr gut Auto fährt, ein sicherer Schütze sein kann. Allerdings war nicht zu erwarten, dass es ein schwieriger Schuss würde. Er würde das schaffen. Ich hoffte zwischendurch auch, dass ihm diese Autofahrt so schlecht geriet, dass er sich als Schütze nicht würde bewähren müssen, ein kleiner Unfall, der seine Ankunft verhinderte, und ein Mord wäre vereitelt. Damals nannte ich die bevorstehende Tat in meinem Kopf ausschließlich Mord, erst unser Anwalt wies mich nach der Tat darauf hin, dass es auch Totschlag sein könne, und Totschlag werde nicht so hart bestraft wie Mord.

Ich hoffte nicht wirklich auf einen Unfall, ich wollte diesen Mord, ich hatte lange genug darüber nachgedacht, es musste nun geschehen. Meine Frau war mit unseren Kindern zu ihrer Mutter nach Lindau gefahren, günstiger konnte die Lage nicht sein. Hoffentlich würde mein Vater gut durchkommen auf seiner vorerst letzten Fahrt. Staus gab es nicht, das hatte ich im Radio verfolgt.

Ein paar Autos rumpelten vorüber, schließlich sah ich den Ford meines Vaters vor unserem Haus parken. Es ist ein schönes Haus, ein Haus aus der Gründerzeit, Holzbalken zwischen dem roten Gemäuer, ein Türmchen, Erker, Gauben. Wir wohnen im Hochparterre und haben einen eigenen Zugang zum Garten. Über unserer Wohnung gibt es noch einen zweiten Stock, auch Dach und Souterrain sind bewohnt, vier Parteien leben insgesamt hier. Unsere Wohnung ist großzügig, hohe Decken, Stuck, sie macht etwas her, das Haus steht unter Denkmalschutz.

Als mein Vater in der Tür stand, fragte ich mich, wo er seine Waffe hatte. Meist trug er sie in einem Holster unter der linken Achsel, aber sie konnte auch in seiner Reisetasche sein. Früher hatte er oft ein Handtäschchen aus Leder bei sich, wie es Pfeifenraucher gerne benutzen, für ein kleines Sortiment von Pfeifen, Stopfern und Tabak. Bei ihm allerdings war eine Walther PPK darin, eine Glock oder ein Colt. Wir hatten ihm das Täschchen zu Weihnachten geschenkt, ich weiß nicht mehr genau, in welchem Jahr, meine Mutter, meine Schwester, mein kleiner Bruder und ich. Eine Weile trug er es, wohl mehr aus Rücksicht auf uns, damit wir das Gefühl haben konnten, ein willkommenes Geschenk gemacht zu haben, aber dann kehrte er zu seinem Holster zurück. Aus seiner Sicht war es sinnvoller, die Waffe unter der Achsel zu tragen, da er sie so schneller ziehen konnte. Bei dem Täschchen hätte er zunächst den Reißverschluss öffnen müssen, da wären Sekunden verflossen, die ihn das Leben hätten kosten können. Ich denke, dass er das so kalkuliert hat.

Mein Vater trug ein kariertes Sakko und eine graue Stoffhose, dazu bequeme Schuhe, Schuhe für einen sicheren, festen Stand. Ich glaube, dass er seriös aussehen wollte, wenn er verhaftet würde, nicht wie ein Strolch, dem gerade ein Verbrechen passiert ist, sondern wie ein reifer Mann, der etwas getan hat, was er sich genau überlegt hat, der überdies das Richtige getan hat, auch wenn es nicht allen möglich ist, dies so zu sehen, insbesondere nicht der Justiz, deren Zuständigkeit und Kompetenz ich damit aber nicht bestreiten will.

Wir waren uns, als wir einander begrüßten, einmal mehr nicht sicher, ob wir uns die Hand geben oder uns umarmen sollten. Mein Vater streckte mir die rechte Hand unentschlossen entgegen, und ich wollte sie schon nehmen, besann mich aber, wie gleichzeitig mein Vater auch, wir zogen die Hände zurück und umarmten uns auf eine fast körperlose Weise, ohne Drücken, ohne dass sich unsere Wangen berührten, schnelles Wegsehen danach. Mehr war uns damals nicht möglich. Er kam herein, ich machte ihm einen Espresso, während er Gläser mit selbstgemachter Marmelade aus seiner Tasche zog, Kirsche, Quitte. Ich wunderte mich, dass meine Mutter auch diese Gelegenheit nutzte, uns Marmeladen aus ihrer unermüdlichen Produktion mitbringen zu lassen, aber so ist sie eben. Dann saßen wir in der Küche, und ich erzählte von den Kindern, den neuesten Stand. Das war ein sicheres Thema zwischen uns, wir hatten nicht viele. Das heißt, es gab eine Menge Themen, vor denen ich Angst hatte, vor allem seine Erinnerungen an Ford Marschewski. Am Abend lief ein Pokalspiel, Bayern gegen Bremen, das wir uns anschauten. Wir tranken eine halbe Flasche Rotwein, dann gingen wir zu Bett. Herrn Tiberius haben wir nicht erwähnt.

Am nächsten Tag las er auf dem Sofa «auto motor und sport». Er hatte sich einen Stapel Zeitschriften mitgebracht, das machte er immer so, wenn er uns besuchte. Er konnte sich einen ganzen Tag lang damit beschäftigen, ich glaube, er liest jeden Artikel, weshalb ich, bevor ich ihn besuche, im Gefängnis besuche, um es hier einmal gegen unsere Gewohnheit auszusprechen, einen Presseladen halb leer kaufe, vor allem Auto- und Waffenzeitschriften, aber auch Politisches. Mein Vater interessiert sich sehr für Politik. Vielleicht sind das gar nicht so unglückliche Stunden für ihn, wenn er in seiner Zelle liest, wo ihn niemand stört und er kein schlechtes Gewissen haben muss, dass seine Lesestunden anderen die Zeit nehmen, die sie gerne mit ihm verbracht hätten, seiner Frau zum Beispiel, früher auch seinen Kindern.

An diesem zweiten Tag seines Besuchs passierte nichts. Herr Tiberius im Souterrain verhielt sich ruhig, ich hörte nichts von ihm außer hin und wieder die Toilettenspülung, er war also da. Er war eigentlich immer da. Beim Abendbrot erzählte mir mein Vater von einer neuen Zylinderkopftechnik, vielleicht auch Vergasertechnik, ich weiß es nicht mehr genau, danach von neuen israelischen Siedlungen im Westjordanland. Das führte ihn weit zurück in die Geschichte dieser Region, mein Vater liest gern historische Bücher. Dazu tranken wir den Rest des Rotweins. Als mein Vater gegen Mitternacht alles gesagt hatte, was er zu diesem Thema sagen wollte, gingen wir zu Bett. Ich wunderte mich. Worauf wartete er? Wir hatten nichts besprochen, aber es war vollkommen klar, weshalb er hier war. Darauf hatte sich unsere Familie ohne Worte verständigt. Da konnte ich mich doch nicht täuschen?

Am nächsten Morgen stand ich früh auf und ging in den Garten. Es hatte ein paar Tage lang nicht geregnet, und ich stellte den Rasensprenger auf und ließ Wasser über das Gras, die Beete und Sträucher regnen. Ich glaube, dass ich dabei gehofft habe, einen Schuss zu hören, damit es endlich vorbei wäre, aber ich hörte nur die Vögel und manchmal das Rumpeln auf dem Kopfsteinpflaster. Ich drehte eine Runde ums Haus und passierte dabei auch die Fenster des Souterrains. Es sind vier Fenster. Links hatte Herr Tiberius sein Schlafzimmer, in der Mitte war die Küche, rechts das Wohnzimmer mit zwei Fenstern, eines nach vorne, eines zur Seite, die Fenster sind klein und liegen tief, direkt über dem Boden. Herr Tiberius lebte in der Düsternis. Ich sah ihn bei meinem Rundgang nicht, hätte mich dafür bücken müssen, was ich natürlich nicht tat. Vielleicht hat er meine Füße gesehen, ich weiß es nicht. Er hatte da noch ungefähr zehn Minuten zu leben.

Als ich in unsere Wohnung zurückkehrte, saß mein Vater am Küchentisch. Vor ihm lag eine Pistole, eine Walther PPK, Kaliber 7,65 mm Browning, aber das habe ich erst später aus der Anklageschrift erfahren, genauso, dass PPK für Polizeipistole Kriminal steht. Der Staatsanwalt legte Wert darauf, Wissen zu zeigen, Wissen, das ich trotz dieses Vaters nicht hatte. Ich kannte mich mit Pistolen nicht aus, wollte mich nicht auskennen. Ich fragte meinen Vater, ob er einen Espresso haben wolle, er wollte. Ich hatte die Maschine, eine wunderschöne Domita aus Italien, kurz nach dem Aufstehen eingeschaltet, sodass sie sich aufheizen konnte. Ich drehte den Siebträger aus der Maschine und tauschte das Kaffeesieb aus, das kleine gegen das große, weil ich selbst auch einen Espresso trinken wollte. Dann drückte ich den Siebträger gegen die Mühle, die daraufhin unter Getöse zu mahlen begann. Das Pulver rieselte in das Sieb, bis es randvoll war. Ich nahm den Tamper, schweres Metall mit einem Griff aus Palisander, und presste das Pulver zusammen. Ich drehte den Siebträger in die Maschine, stellte zwei Tassen unter den Auslauf und drückte den Startknopf. Die Maschine brummte, braun ölte der Kaffee in die Tassen, immer wieder ein herrlicher Anblick. Du und deine Espressokultur, sagt meine Frau, manchmal in einem mokanten Tonfall. Leute wie ich müssen aus allem eine Kultur machen, das geht nicht nur anderen auf die Nerven, auch mir selbst. Wir nippten schweigend, die Pistole lag auf dem Tisch wie ein metallenes Fragezeichen. Sollten wir wirklich?

Für das, was dann passiert ist, ziehe ich am besten die Anklageschrift heran: Der Angeschuldigte, Hermann Tiefenthaler, mein Vater also, sei mit der sich in seinem rechtmäßigen Besitz befindlichen Walther PPK, exakt: Walther Polizeipistole Kriminal, gegen 8.40 Uhr aus der Wohnung seines Sohnes Randolph Tiefenthaler in das Souterrain hinabgestiegen, habe dort den Mieter Dieter Tiberius zum Öffnen seiner Wohnungstür bewogen, entweder durch Klopfen oder durch Klingeln, und habe den Tiberius daraufhin durch einen Nahschuss in den Kopf getötet. Der Tiberius sei sofort tot gewesen.

Ich habe dann die Polizei gerufen. Mein Vater hatte mich dazu aufgefordert, aber es war ohnehin klar, dass wir diesen Weg gehen würden, keine wilde Flucht im Ford, keine Vertuschung. Wir standen zu dieser Tat, wir stehen immer noch dazu, das kann ich ohne Einschränkung sagen. Der Polizist, der den Hörer abnahm, Polizeiobermeister Leidinger, begrüßte mich fast leutselig, er kannte mich gut, auch das Haus, er war oft hier gewesen in den letzten Monaten, manches hatte er komisch gefunden, aber er wurde sofort ernst, als er hörte, dass ich den Tod eines Menschen zu melden habe. Genau so habe ich es gesagt, ganz bewusst: Ich habe den Tod eines Menschen zu melden. Ihre Frau, fragte Polizeiobermeister Leidinger, und ich hörte seinen Schrecken, was, zugegeben, eine kleine Genugtuung war, nach all den Zweifeln der Behörden am Ernst unserer Situation. Nein, sagte ich, nicht meine Frau, zum Glück nicht, es geht um Herrn Tiberius. Schweigen, für ein paar Sekunden herrschte Schweigen, und ich wüsste gern, was Leidinger in dieser Zeit gedacht hat. Wir kommen, sagte er.

Mein Vater hat seine Tasche gepackt und sein kariertes Sakko angezogen. Dann setzte er sich wieder an den Küchentisch, vor ihm lag die Walther PPK. Ich machte ihm noch einen Espresso. Wir hatten manchmal hier so gesessen, bevor er nach Hause fuhr, dann war meistens meine Mutter dabei, er kam nie ohne sie, und jetzt sagten wir seltsamerweise einige der Sätze, die wir sonst auch sagten. Hast du alles? Wirklich nichts vergessen? Er ging noch einmal ins Bad, um nachzusehen, und tatsächlich fand er seinen Rasierschaum. Man kann nicht oft genug nachsehen, sagte ich. Wer weiß, wann ich welchen bekommen hätte, sagte er. Mir fiel noch ein, dass man sich als Häftling womöglich gar nicht nass rasieren kann wegen der Klingen, ich hatte keine Ahnung von den Gepflogenheiten in Gefängnissen, und dann klingelte es. Polizeiobermeister Leidinger und sein Kollege Rippschaft, mir ebenfalls gut bekannt, waren als Erste bei uns in der Wohnung, später kamen noch andere, Schutzpolizisten in Uniform, Kriminalpolizisten ohne Uniform, ein Arzt, Leute von der Spurensicherung, Leute aus der Pathologie.

Mein Vater sagte zu Polizeiobermeister Leidinger, dass er den Mieter des Souterrains erschossen habe, dann sagte er nichts mehr. Er war ruhig, die ganze Zeit. Sie legten ihm keine Handschellen an, vielleicht wegen seines Alters, dafür war ich dankbar. Zum Abschied haben wir uns umarmt, und diesmal ist es uns gelungen. Es war eine lange, liebevolle Umarmung, die erste unseres Lebens. Wir klammerten uns aneinander, und dabei hat er etwas gesagt, das vielleicht merkwürdig klingt für Außenstehende. Ich bin so stolz auf dich, hat er gesagt. Man kann das nur verstehen als Schlusssatz, als Bilanz einer Vater-Sohn-Beziehung, bevor der Vater in einer Haftanstalt verschwindet. Er hatte das noch nie gesagt, auch nichts Vergleichbares. Vielleicht wollte er das in dieser Situation sagen, um mir klarzumachen, dass mein Leben in seinen Augen bis zum Auftauchen von Herrn Tiberius gelungen war, absolut gelungen, und dass Herr Tiberius eine Episode in diesem Leben ist, nicht mehr, eine Episode, die jetzt dank eines gutplatzierten Schusses beendet war. Er wollte mir klarmachen, dass er dieses Gelingen mitbekommen hatte, trotz der langen Sprachlosigkeit zwischen uns, und er wollte mich auf meinem Weg bestärken. Deshalb hat er das gesagt, glaube ich.

 

Habe ich Tränen in den Augen? Ich denke nicht, es fühlte sich für einen Moment so an, als ich die letzten Sätze aufgeschrieben habe, aber es war ein Irrtum. Ein bisschen Feuchtigkeit vielleicht, ein feuchter Film über den Augen, normal, ganz normal. Ich sitze an meinem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer, es ist kurz nach elf Uhr abends, die Kinder sind natürlich längst im Bett, Rebecca war vor ein paar Minuten da und hat gute Nacht gesagt, ein Kuss dazu, ihre Hand auf meiner Wange. Schreib schön, hat sie in der Tür gesagt, eine für ihre Verhältnisse eher konventionelle Bemerkung. Vielleicht ist sie ein bisschen unsicher, weil sie nicht genau weiß, warum ich diesen Bericht verfasse und was drinstehen wird. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich mir das von der Seele schreiben muss. «Das» ist bei uns der Fall Tiberius. Ich habe meiner Frau damit die Wahrheit gesagt, aber vielleicht nicht die ganze Wahrheit. Ich habe ihr nicht gesagt, dass noch nicht alles gesagt ist zu diesem Fall, dass noch etwas fehlt. Wir haben selbstverständlich viel darüber geredet, sehr viel, und haben unsere Trauer, unsere Wut und unsere Ängste einander zugemutet. Unsere Ehe, die auch schwierige Zeiten gesehen hat, konnte sich da bewähren und hat sich bewährt. Trotzdem wollen mir manche Worte nicht über die Lippen. Ich war nie ein großer Redner, das Gegenteil zu behaupten, wäre nicht falsch, ich würde es jedenfalls keinem übelnehmen, wenn er es täte. Ich höre lange zu, bevor ich das Wort ergreife, und das Reden vor größeren Gruppen fällt mir nicht leicht, obwohl ich es kann. So schlimm ist es nicht. Ich bin nicht verstockt, ich will nur sagen, dass ich keiner bin, der plaudert, dem die Worte leicht über die Lippen kommen. Reden ist für mich keine Selbstverständlichkeit wie Gehen, sondern eine Anstrengung, die ich aber ohne merkliche Probleme auf mich nehme, manchmal auch gerne. Warum schreibe ich das überhaupt? Hat es damit zu tun, dass Rebecca noch ein paar Sätze fehlen von mir?

Es ist schön, hier zu sitzen. Es ist jetzt still in unserer Straße, nichts rumpelt über das Kopfsteinpflaster, die Autos meiner Nachbarn, wuchtige, teils gewaltige Autos, stehen an den Bordsteinen wie die kleineren Geschwister der Häuser. Warum sind die Autos so groß geworden in den vergangenen Jahren? Warum sind sie mannshoch oder lang wie Lastwagen oder beides? Wann wird man die Häuser verlassen, weil man in diesen SUVs wunderbar leben kann? Das sind die depressiven Gedanken eines Mannes, der davon lebt, dass Häuser gebaut werden. Ich bin Architekt. Vielleicht sind es auch schon trunkene Gedanken, wobei ich mir vorgenommen habe, dass ich nie mehr als eine halbe Flasche vom herrlichen Black Print trinke, wenn ich an diesem Bericht arbeite. Ein Gläschen ist erst weg, aber 14,5 Prozent Alkohol sind ein Wort.

Blödsinn, ich bin nicht betrunken, ich schaue aus dem Fenster auf die Laterne, eine Gaslaterne, ein grüner Mast, kerzengerade, leicht verschnörkelt, oben Glas, darüber ein kleines Dach aus Metall und warmes, sanftes Licht. Es gibt den Plan, uns diese Laternen zu nehmen, weil das Gaslicht der Umwelt mehr schade als elektrisches Licht, heißt es. Mag sein. Aber wir wehren uns dagegen. Wir haben keine Bürgerinitiative gegründet, so pathetisch sind wir nicht in dieser Straße, aber der Mann von gegenüber, ein Radiologe, hat Unterschriften gesammelt, und ich habe selbstverständlich für meine Gaslaterne unterschrieben, für meine und die anderen in dieser Straße. Für mich ist Licht nicht nur in der Welt, um Licht zu spenden, sondern auch, um Wärme zu geben. So war es doch von Anfang an, wenn ich das richtig sehe, seit dem ersten Feuerchen, an dem Menschen saßen. Es soll einem im Lichte heimelig werden und nicht kalt. Aber das elektrische Licht, zumal die neuen Glühbirnen, lassen einen schaudern vor Kälte.

Jetzt höre ich ein Ticken, das sind die Krallen unseres Rüden auf dem Parkett. Er kommt aus einem der Kinderbetten und geht in die Küche, um etwas zu trinken. Unser Benno, ein Rhodesian Ridgeback, groß, stark. Er ist nicht scharf, aber er hat uns das Gefühl von Sicherheit zurückgegeben. Selbst nach dem Tod von Herrn Tiberius blieben wir eine nervöse Familie. Jetzt sind wir das nicht mehr. Wir hätten ihn nicht, hätte es Herrn Tiberius nicht gegeben.

Ich verfasse also einen Bericht, weil ich hoffe, dass ich eher etwas schreiben kann als etwas sagen. Aber um die Sätze, die Rebecca fehlen, aufschreiben zu können, muss ich erst die Vorgeschichte loswerden, die ganze Geschichte. Ein Verbrechen ist geschehen, ein Verbrechen, das wir wollten, und wie bei jedem Verbrechen gibt es eine Entwicklung, die darauf zuführt. Ich will das Ganze erzählen, nicht nur das Fehlende, damit man das Fehlende versteht, einordnen kann. Es ist gut, dass ich dabei auf die Gaslaterne schaue, auf das warme Licht über den großen Autos, die vor Häusern stehen, die so friedlich wirken in der Nacht. Im Wohnzimmer des Radiologen flimmert grau das Licht eines Fernsehers.

Auch ich lese gerne historische Bücher, wie mein Vater, und ich kenne selbstverständlich die simpelste Falle der Geschichtsschreibung: Man schaut von einem Großereignis aus zurück, einem Weltkrieg zum Beispiel, und dann steht alles, was vorher geschah, unter diesem Eindruck, und es finden sich beinah zwangsläufig eine Menge Ereignisse, die zu diesem Krieg führen, die diesen Krieg unvermeidlich erscheinen lassen. Der Historiker sucht nach Linien und vernachlässigt die Macht des Zufalls. Ich, Randolph Tiefenthaler, fünfundvierzig Jahre alt, Architekt, verheiratet, Vater zweier Kinder, nunmehr entschlossen, zum Historiker meines eigenen Lebens zu werden, will in diese Falle nicht tappen, will mein Leben so nicht sehen. Andererseits kommt ein Großereignis nicht aus dem Nichts, es muss Ursachen haben, es muss eine Geschichte haben, und die beginnt oft Jahrzehnte davor. Es ist immer beides, denke ich, Zufall und Zwangsläufigkeit. Hätten wir Herrn Tiberius gesehen, bevor wir die Wohnung gekauft haben, hätten wir die Wohnung nicht gekauft, sicher nicht. Dass wir ihn nicht gesehen haben, ist ein Zufall. Dass er deshalb sterben musste, liegt wohl an der Geschichte meines Lebens, das kann ich nicht leugnen.

 

Ich traue mich kaum, es hinzuschreiben, weil es so entsetzlich banal wirkt, aber mein Leben begann mit der Angst vor einem Krieg, begann mit der Angst vor dem Einsatz von Waffen. Als meine Mutter hochschwanger war mit mir, im Oktober 1962, kaufte mein Vater viele Kisten mit Konserven und Mineralwasser und stapelte sie im Keller, weil meine Eltern für einen Nuklearkrieg gewappnet sein wollten. Sie hatten die kleine, fast rührende Hoffnung, einen Atomschlag in ihrem Keller überleben zu können, wollten ein paar Tage oder Wochen abwarten, bis die Feuer erloschen waren und die radioaktive Strahlung abgenommen hatte, um dann in einer verwüsteten Welt weiterzuleben, mit ihrer Tochter, meiner Schwester Cornelia, damals ein Jahr alt, und ihrem Sohn, der dann in diesem Keller geboren worden wäre. Es war der Keller eines Berliner Hochhauses, ein Verschlag hinter einer Brettertür, wo die Fahrräder meiner Eltern standen und die Dinge, die sie in ihrer Wohnung nicht unterbringen konnten, die aber zu wertvoll waren, weniger materiell als ideell, um sich von ihnen zu trennen, darunter eine krude Enzyklopädie, deren jeweils neuester Band Monat für Monat mit der Post geliefert wurde. Diese Enzyklopädie glänzte weniger durch verlässliches Wissen als durch einen aufwendigen Einband, der den hohen Preis rechtfertigen sollte. Meine Oma hatte sich dieses Abonnement an der Haustür aufschwatzen lassen und schenkte es ihrer Schwiegertochter, die aber, obwohl sie die Schule nur neun Jahre lang besuchen konnte, den dürftigen Geist der Enzyklopädie durchschaute und sie im Keller stapelte, um sie bei Nachfragen hervorziehen zu können. Kartoffeln lagerten auch in diesem Keller, glaube ich. Aber er wurde nicht der Ort, wo ich in die Welt fand, das wurde ein Krankenhaus. Als ich am 30. Oktober den Bauch meiner Mutter verließ, war die Krise vorüber. Chruschtschow hatte zwei Tage zuvor angekündigt, dass er die Raketen von Kuba abziehen würde. Kennedys Hartnäckigkeit hatte sich ausgezahlt.