Karolien Notebaert, Peter Creutzfeldt

Wie das Gehirn
Spitzenleistung bringt

Mehr Erfolg durch Achtsamkeit –
Methoden und Beispiele für den Berufsalltag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Karolien Notebaert, Peter Creutzfeldt

Wie das Gehirn Spitzenleistung bringt

Mehr Erfolg durch Achtsamkeit –

Methoden und Beispiele für den Berufsalltag

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71  81

60327 Frankfurt am Main

Geschäftsführung: Oliver Rohloff

2. Auflage

Frankfurt am Main 2016

ISBN 978-3-95601-124-5

Copyright

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71  81

60327 Frankfurt am Main

Umschlag

Anja Desch, Frankfurt Business Media GmbH – Der F.A.Z.-Fachverlag, 60327 Frankfurt am Main

Satz

Uwe Adam, Freigericht, www.adam-grafik.de

Titelbild

© leedsn/​Thinkstock/​Getty Images (Artwork Anja Desch, FBM)

Foto

Karolien Notebaert: Gregor Albrecht & Alexander Zintler

Alle Rechte vorbehalten.

E-Book-Herstellung
Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorrede der Autoren

Vorwort

Teil I: Warum ich tue, was ich tue – Die zwei Seiten der Medaille

1. Bottom-up-Prozesse: Emotionen, Gedanken, Impulse

Emotionen regieren unsere Welt

An den Nerven arbeiten: Emotionen im Gehirn

Die Amygdala: Das notwendige Übel

Was ist mit positiven Emotionen?

Digitale Revolution: Legt sie unsere Schaltzentrale lahm?

In Kürze

2. Belohnung oder Bestrafung: Wer bin ich?

BIS und BAS

Ihr Gehirn im Ruhezustand: Ein Fenster zu Ihrer Persönlichkeit?

BIS und BAS unterhalten sich: Lost in translation

Ich kenne meine Persönlichkeit, und was jetzt?

In Kürze

3. Die Neuro-Regeln von Spitzenleistung und Entscheidungsfindung

Spitzenleistung: Was braucht es?

Selbstregulation im Gehirn

Selbstregulation: Eine Frage begrenzter Ressourcen

Die Kapazität des Präfrontalkortex erhalten

Mindfulness: Selbstregulation im Gehirn

In Kürze

4. The Mindful Brain – Wie funktioniert das?

Mindfulness: Der Schlüssel zu Spitzenleistungen

Was Mindfulness für mein Gehirn tun kann

Die Neurowissenschaft der Mindfulness

Die positive Auswirkung von Mindfulness auf unser Verhalten und unsere Kognitionen – eine Übersicht

In Kürze

Teil II: Mindfulness: Eine qualitativ andere Lebenseinstellung

1. Was ist Mindfulness? Einführung in Definition und Praxis

Wann ist es wichtig, achtsam zu sein?

Akzeptanz, „Sein-Modus” und Integration in Ihren Alltag

Abgrenzung: Der Unterschied zu anderen Methoden

In welchen Situationen fällt uns Mindfulness leicht oder schwer?

Die Praxis: so einfach wie herausfordernd

Mindfulness und Gedankenwanderung: paradoxe Symbiose

In Kürze

2. Nützliche Prinzipien, Mythen und Tipps

Von „Om“ und Räucherstäbchen zum wachsamen Zeitgenossen

Mantras, Motivation und nochmals die wache Entspannung

„Vorbehaltlose Achtsamkeit” und Autonomie

In Kürze

3. Mindfulness-Meditation: Techniken

Regelmäßigkeit als Schlüssel

Meditations-Techniken: Der Körper

Mindfulness mit Fokus auf die einzelnen Sinne

Mindfulness-Techniken: Die Gedanken

Mindfulness-Techniken: Die Emotionen

Aktive Meditation

Meditation für Eltern und Kinder

In Kürze

4. Mindfulness im Alltag: Die „informale“ Übung

Momente der Achtsamkeit im Alltag: „Downtime“ als Chance

Mit Anderen präsent sein

„Arbeit als Meditation“

Mit Emotionen achtsam umgehen

Den Schmerz unangenehmer Gefühle ertragen oder versuchen, sich dagegen zu wehren?

Ansätze, die ganz auf Meditation verzichten oder deren „formale“ Praxis grundverschieden ist

In Kürze

5. Zehn Herausforderungen von innen, auf die Sie sich einstellen wollen

Herausforderung 1: Wie messe ich den Fortschritt?

Herausforderung 2: Umgang mit hartnäckigen alten Impulsen

Herausforderung 3: „Ich habe keine Zeit“ oder „Mein Umfeld lässt das nicht zu“

Herausforderung 4: „Das kriege ich nie hin“, „ich bin zu unruhig dafür“ oder auch „es reicht jetzt“

Herausforderung 5: Das Problem mit dem Alleinsein

Herausforderung 6: „Störende” Impulse während der Meditation

Herausforderung 7: Die innere Haltung zu angenehmen und unangenehmen Erfahrungen

Herausforderung 8: Doch wieder auf das Denken zurückzugreifen

Herausforderung 9: Die Tendenz zum Multitasking

Herausforderung 10: Die Haltung gegenüber „nicht Eingeweihten“

In Kürze

6. Mindfulness in Organisationen – bei der Arbeit

Ein „achtsames Unternehmen“? Was ist das?

Grundsätzlich ein hoher Anspruch

„Achtsame Organisationen“ in konkreten Situationen

Eine „Mindful High Performance Culture“ (Achtsame Hochleistungskultur)

In Kürze

7. Mindfulness außerhalb der Arbeit: Bildung, Gesundheit, Hobby, Sport und Spiel

Wie alt muss jemand sein, um von Mindfulness zu profitieren?

Eine lebensbejahende Haltung

Gesundheit

Balance

Stress

Sport

Musik und Hobbys

In Kürze

Epilog – abschließende Gedanken

Anmerkungen

Glossar

Literatur

Die Autoren

Vorrede der Autoren

Karolien Notebaert

Meine Phase der „Warum-Fragen“ endete nie wirklich, seitdem ich fünf Jahre alt war. Um ehrlich zu sein, wurde es nur schlimmer, und das brachte mich schließlich zur Wissenschaft, die es mir erlaubte, ständig meine Wie- und Warum-Fragen zu stellen. Jede Antwort ging mit mindestens zehn neuen Fragen einher – eine fesselnde, nie endende Geschichte, mein persönlicher Spielplatz. Ironischerweise hätte ich nie gedacht, einmal ein Buch darüber zu schreiben, welche Qualität sich dahinter verbirgt, eben diese Wie- und Warum-Fragen nicht zu stellen. Ein Buch über Achtsamkeit (englisch Mindfulness), über das bloße Sein. Ein Buch darüber, es einfach gut sein zu lassen. Oder mit den Worten der Beatles, die mit einem ihrer Klassiker voll ins Schwarze treffen: Let it be.

An welcher Stelle kommt nun die Wissenschaft ins Spiel? Ich habe Achtsamkeit durch die Neurowissenschaften als Strategie kennengelernt, Emotionen, Gedanken und Gefühle äußerst effektiv, aber gleichzeitig ohne Anstrengung zu regulieren. Je mehr ich über dieses Phänomen gelesen und in Erfahrung gebracht habe, desto faszinierter wurde ich von der Eleganz dieser einfachen und doch in höchstem Maße wirkungsvollen Technik. Zu verstehen, warum Achtsamkeit zu diesen enormen positiven Effekten führt, stärkte meinen Glauben weiter. Für mich als Wissenschaftlerin war das der nötige Schritt, um es nun selbst auszuprobieren. Mein Verständnis dafür, wie sich Mindfulness auf unser Gehirn auswirkt, half mir, es in meinen Alltag einzubinden.

Ich hoffe daher, dass die im ersten Teil des Buches beschriebenen (neuro)wissenschaftlichen Zusammenhängen für Sie die gleiche Bedeutung haben werden wie für mich. Wie Sie jedoch im zweiten Teil sehen werden, gibt es darüber hinaus etwas, das sich „die Wissenschaft des Inneren“ nennt, was im Grunde das lehrreichste und reinste Verständnis von Achtsamkeit ist: wenn wir sie für uns selbst erfahren.

Ich habe dieses Buch zusammen mit Peter Creutzfeldt, meinem lieben Freund und Kollegen, geschrieben. Zusätzlich dazu, dass Peter einen Großteil des Buches geschrieben hat, war er für mich eine große Inspiration und motivierte mich während der Arbeit an diesem Buch. Obwohl wir Mindfulness aus zwei unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichem Hintergrund entdeckt haben, finde ich es nach wie vor absolut faszinierend, wie wir immer wieder dieselbe Sprache zu sprechen scheinen. Unsere endlosen Diskussionen waren Nahrung für mein Gehirn und entscheidend für mein Verständnis. Peter, ich fühle mich geehrt, dieses Buch mit Dir geschrieben zu haben. Danke!

Da ich Deutsch nicht als Muttersprache beherrsche, schrieb ich meinen Teil des Buches in Englisch und habe diesen übersetzen lassen. Da das Thema sehr speziell ist, habe ich nach einem deutschsprachigen Wissenschaftler mit exzellenten Kenntnissen über das Gehirn gesucht, der darüber hinaus im Besitz einer spitzen Feder ist. Nils Winter ist sein Name. Nils, ich weiß, dass diese Übersetzung nicht immer eine einfache Aufgabe war. Nichtsdestotrotz hast Du eine ausgezeichnete Arbeit geleistet! Dieses Buch würde sich nicht so flüssig und verständlich lesen lassen, wäre nicht so unterhaltsam, wenn Du nicht wärst. Danke!

Außerdem möchte ich Gregor Albrecht und Alexander Zintler (www. gregoralbrecht.com) für die Produktion der Videos danken. Ihr zwei habt unsere Erwartungen übertroffen, und wir sind stolz, dass wir mit so kreativen Köpfen zusammenarbeiten durften. Ein besonderes Dankeschön geht an Lars Richter, der viele der Abbildungen in diesem Buch zeichnete. Ihr drei seid aufsteigende Talente in Eurem jeweiligen Gebiet, Respekt! Dankeschön!

Danke an alle, die das Buch während der Entstehung Korrektur gelesen haben. Ihr alle habt viel zur Qualität dieses Buches beigetragen. Vielen Dank an Martin Schubert, Sascha Schwarz und Delphine Watteyne!

Zuletzt möchte ich meinem geliebten Freund und Partner in Crime Enrico Rück für seine ständige Zuwendung und endlose Liebe danken, die er mir während der Arbeit an diesem Buch geschenkt hat. Enrico, neben Deiner täglichen Unterstützung habe ich dank Deiner interessanten Fragen und unserer höchst faszinierenden Diskussionen über Neurowissenschaft und Mindfulness neue Einsichten erlangt, die sicherlich zur Qualität des Buches beigetragen haben. Zudem habe ich durch unsere gemeinsamen Meditationssitzungen und täglichen Interaktionen Mindfulness auf einer höheren Ebene erfahren können. Du bist für mich eine große Inspiration. Danke, meine große Liebe.

Peter Creutzfeldt

Als ich nach dem Abitur ein Jahr „Auszeit“ nahm und herumreiste, entdeckte und lernte ich in Indien „Meditation“. Damals hatte ich romantische Assoziationen mit Herrmann Hesses „Siddhartha“. Meine Bekannten und Familie assoziierten nach meiner Rückkehr allerdings eher „Sekte“. So seltsam war es, wenn man sich 1980 auf den Boden setzte, die Augen schloss und den Atem beobachtete. „Jetzt erst recht“, war meine innere Antwort, und so wurde Meditation – und später die Idee, dass die Qualität, die während der Meditation kultiviert wird, nämlich Mindfulness, in das tägliche Leben integriert werden kann – die wichtigste Entdeckung meines Lebens. Deshalb wollte ich Mindfulness zwanzig Jahre später, als ich mich im Bereich der Führungskräfteentwicklung selbständig machte, zum Zentrum meiner Arbeit machen. Denn ich hatte selbst erkannt, wie zentral diese Qualität für mich persönlich in meiner Zeit als Führungskraft gewesen war. Aber auch im Jahr 2000 war in Europa „Mindfulness“ oder „Achtsamkeit“ noch etwas für Spinner und Esoteriker, auch wenn Jon Kabat-Zinn in den USA schon tausende von Patienten erfolgreich durch sein „Mindfulness Based Stress Reduction“-Programm geführt und Richard Davidson in Michigan bereits die ersten tibetischen Mönche im Hirnscanner untersucht und dramatische Unterschiede zu Menschen, die nicht meditieren, gefunden hatte. Wenige Jahre später begann ich davon zu träumen, dass in Europa ein Hirnforscher daran interessiert sein könnte, den praktischen Nutzen von Meditation/​Mindfulness durch seine Arbeit zu bestätigen. Dass ich jetzt dieses Buch mit einer so jungen wie brillanten Hirnforscherin wie Karolien Notebaert schreiben durfte und ein Verlag wie Frankfurter Allgemeine Buch dieses Thema so seinen Lesern zugänglich macht, ist ein in Erfüllung gegangener Traum und eine Ehre.

„Fruchtbar“ wäre eine Untertreibung für meine Zusammenarbeit mit Dir, Karolien! Einerseits das Gefühl zu haben, dass wir auf unseren unterschiedlichen Lebenswegen schon unabhängig voneinander zu einem identischen Verständnis gekommen sind, und andererseits durch den Austausch das Privileg zu haben, mein wissenschaftliches Halbwissen prüfen und verwerfen und immer wieder von Dir lernen zu können, dafür ein herzliches Danke!

Mehr als ich je zu träumen gewagt hatte, ist das Buch durch zwei Aspekte aufgewertet worden, bei denen ich von einer Reihe von Menschen unterstützt worden bin: das „Probelesen“ mit wertvollem Feedback und die Interviews mit Meditierenden, die sich bereit erklärt hatten und durch deren persönliche Berichte das Thema den Lesern zugänglich wird! Dafür danke ich sehr herzlich Raj Bissessur, Fong Chen Chiu, Cord Dismer, Marion und Dr. Sören Fischer, Jutta Häuser, Ursula Leitzmann, Nicole Pindinello, Dr. Holger Rohde, Enrico Rück, Saskia Schomerus und Tania Seehase.

Hier können Sie uns besser kennenlernen:

www.notebaert-consulting.com/​book

www.workinginthezone.com/​de/​buch

Vorwort

Wenn Ihnen etwas wirklich bei Ihren Herausforderungen im Leben helfen könnte, was würden Sie sich dann erhoffen? Hier einige Stimmen aus unserem Umfeld:

„In den wichtigsten Momenten meines Lebens Entscheidungen zu treffen, die ich nie bereut habe; dramatisch erhöhte Lebensqualität- und Intensität; Leidenschaftlich und humorvoll unterwegs zu sein; und auf Distanz zu meinen auf brausenden Emotionen gehen zu können.“

„Zu innerer Ruhe kommen, in Frieden mit mir selbst zu sein; ich fühle mich mehr ‚zu Hause‘. Ich war früher jemand, der immer irgendetwas hinterher gelaufen ist, auf der Suche nach Glück, irgendwelche eigene oder fremde Erwartungen zu erfüllen oder Bestätigung von anderen Menschen zu bekommen – jetzt weiß ich, dass es darum geht, mich selbst wertzuschätzen, statt mich beweisen zu müssen.“

„Eine breite Perspektive in der Zusammenarbeit mit anderen und dadurch bessere Entscheidungen; entspanntere Zusammenarbeit und dadurch eine erhöhte Vitalität und weniger Erschöpfung.“

„Die Fähigkeit, meine Emotionen von dem, was passiert, zu trennen und dann objektiver zuzuhören, bessere Entscheidungen zu treffen, breitere Visionen und Perspektiven sowie Wertschätzung der Beiträge aller Beteiligten zu haben.“

„Einfach eine höhere Stress-Toleranz“

Dabei fassen die befragten Personen1 nicht einfach ihre Wünsche zusammen, sondern sprechen von ihren tatsächlichen positiven Erfahrungen. Sie haben kein geheimes Selbstmanagement-Seminar gemacht. Sie sind nicht der Welt entflohen, auch waren alle bei unserem Gespräch nüchtern! Aber allen ist gemeinsam, dass sie irgendwann in ihrem Leben (manche in den vergangenen Monaten, andere vor 35 Jahren) etwas kennengelernt haben, das im heutigen Sprachgebrauch als „Achtsamkeit“ und im englischsprachigen Raum als „Mindfulness“ bezeichnet wird und das sie seither begleitet. Unsere Frage an diese Menschen, deren Antworten Sie eben gelesen haben, war: „Was war für Sie in Ihrem Leben der größte Nutzen, den Ihnen Mindfulness gebracht hat?“

Achtsamkeit bzw. Mindfulness ist einer der meist beforschten Bereiche der vergangenen Jahre, weil sich scheinbar endlose positive Nebenwirkungen dieser so einfachen Methode gezeigt haben. Wissenschaftler begannen mit einer Serie von Studien, in denen zwei Gruppen verglichen wurden: Eine Gruppe von Menschen, die keine Erfahrung mit dieser Methodik hatten und die aber offen dafür waren, es auszuprobieren; und eine andere Gruppe, deren Mitglieder diese nicht praktizierten, die sogenannte Kontrollgruppe. Im Vergleich stellte sich eine Reihe positiver Auswirkungen im Bereich körperlicher und mentaler Fitness heraus. Aspekte dieser Auswirkungen waren u. a. Leistung, Entscheidungsfähigkeit, Glück, Immunfunktion, Kooperation und Kommunikation. Weitere komplementäre Hirnforschungsstudien zeigten, dass sich nicht nur die Funktion des Gehirns verbesserte – man fand sogar sichtbare strukturelle Veränderungen in den Gehirnen der Probanden! Und hier fängt die Wissenschaft von Mindfulness erst an.

Und hier beginnt gleichzeitig unsere Geschichte, denn die Menschen, die sich für diese Studien zur Verfügung gestellt hatten, waren Menschen wie Sie und wir, die die Herausforderungen der modernen Welt mehr oder weniger gut managen konnten, deren Lebensgeschichte vielleicht eher irgendwann einmal so aussah:

Es ist 7:00 Uhr und der Wecker klingelt. Moment mal – das war, bevor Sie Kinder hatten! Also, von vorne: Sie sind seit 5:30 Uhr auf. Nach einer kurzen Nacht und einer morgendlichen Demonstration Ihrer Rolle als Prokurist im Konfliktmanagement in der Kinderabteilung mussten Sie sich auf den Weg zur Arbeit machen. Ausnahmsweise sind Sie dankbar für die rote Ampel – damit Sie mit einem kurzen Blick auf die E-Mail ausloten können, ob sich noch jemand zu Ihrem Projektvorschlag von gestern Nacht gemeldet hat. Ihr Tag ist voll gebucht mit Meetings – kaum Zeit, das Team ins Lot zu bringen. Ein wichtiges Mittagessen mit Thomas, der, so viel Sie wissen, das Projekt an sich reißen will. Der Hai! Eine Million Gedanken schießen Ihnen durch den Kopf. Wenn Sie nur die Ressourcen hätten, dann ginge das schon (…). Am späten Nachmittag dann das Meeting mit den Haifisch-Gesellschaftern der Firma (…). Die laden Sie auch noch zum Abendessen ein. Also rufen Sie zu Hause an und nehmen später Ihr Smartphone mit ans Bett, um noch die Mails zu lesen, die Ihnen morgen früh wieder Stress bedeuten würden. Sie schlafen nach ein oder zwei Glas Wein schnell ein und sind um 3:30 Uhr hellwach. Die Präsentation für den nächsten Tag fällt Ihnen ein. Schaffen Sie es noch, den Mitarbeiter, der sie erstellt hat, rechtzeitig zu treffen? Sie haben die finale Version nicht gesehen. Sie versuchen, Ihre Gedanken zu bezwingen. Je mehr Sie es versuchen, desto unruhiger werden Sie. Die Chefetage hat die Ziele noch etwas erhöht. Da müssen Sie noch mal ganz gut pushen, um da mitzugehen (…).

STOPP!

Eigentlich wissen wir doch alle, wie diese Geschichte weitergehen wird! Nur vom Lesen wird man ja schon erschöpft! Und dennoch begegnet uns in unserer Arbeit mit erfolgreichen leistungsorientierten Menschen immer wieder das Denkmuster, Leistung könne ständig noch weiter gesteigert werden, indem man sich selbst und andere unter mehr und mehr Druck setzt und Ziele noch ambitionierter ansetzt. Wenn es ein Jahr keine Produktivitätssteigerung gibt, dann stimmt irgendwas nicht. Aber wie lange kann das gutgehen? Denn im Allgemeinen verlieren wir auf diese Art nachhaltig die Fähigkeit, überhaupt eine Produktivitätssteigerung leisten zu können: die inneren Ressourcen, die wir dafür bräuchten, sind auf dem Weg einfach verbraucht. Mit Hilfe von Mindfulness gehen wir auf eine qualitativ völlig andere Weise an das Thema Leistungsfähigkeit und Bewältigung der modernen Herausforderungen wie Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, 24-Stunden-Erreichbarkeit, scheinbare Notwendigkeit des ständigen Multitasking usw. heran.

Die wissenschaftliche Forschung hat bewiesen, dass Mindfulness eine äußerst wirkungsvolle Methode im Umgang mit dieser Komplexität ist, ein Weg aus dem Erleben als Opfer der Digitalen Revolution heraus. Die durch regelmäßige Praxis von Mindfulness entstehenden strukturellen Veränderungen im Gehirn haben einen positiven Einfluss auf Resilienz und Umgang mit Stress, auf unsere körperliche und geistige Gesundheit sowie auf unsere Beziehungen.

Dieses Buch wird Sie durch die verschiedenen Schritte leiten, die die Basis dafür bilden, was wir im Englischen eine „Mindful High Performance“ („achtsame Hochleistung”) nennen. Wir bieten Ihnen dazu Einsichten in die entscheidenden Funktionen des Gehirns, denn das Gehirn ist der Regisseur unseres Verhaltens und unserer Entscheidungen. Dieses neue Verständnis erlaubt Ihnen, die Emotionen, die sowohl im positiven wie auch im negativen Sinn die Hauptrolle in Ihrem Verhalten spielen, sowie die Muster zu enthüllen, die sich durch diese Emotionen entwickelt haben. Und Sie werden lernen, wie Sie sich von Verhaltensmustern, die Ihr eigenes Wohlergehen untergraben, ein Stück befreien können.

Mindfulness kann auf zwei Arten angewandt werden: Die meisten von uns kennen Mindfulness als Meditationspraxis. Neben der Meditationspraxis lohnt sich vor allem die Integration von Mindfulness in unser tägliches Leben. Auf diese Weise gelingt es uns, unmittelbar und unverzüglich einen Zustand innerer Balance zu erreichen, besser zu fokussieren, kreativer zu sein und das Beste aus uns selbst herauszuholen, indem wir Zugang zu unseren Potentialen bekommen. Diese vielfältigen Nutzen haben auch bekannte Hochleistungsorganisationen wie z. B. die Universitäten von Oxford, Harvard, Frankfurt und Berlin sowie Unternehmen wie Google, Apple, die Deutsche Bank, BMW und Rewe erkannt und nutzen deshalb Mindfulness für sich und ihre Mitarbeiter, um ihr Leistungsvermögen zu verstärken oder um Unternehmenskulturen zu entwickeln.2

Wir werden Ihnen nicht vorschlagen, Ihre Umwelt völlig neu zu gestalten. Das wäre wahrscheinlich das stressigste Projekt, dem Sie sich je gewidmet haben! Wir sind aber davon überzeugt, dass es immer neue Möglichkeiten gibt, sich auf Situationen und Menschen, die einem im Leben begegnen, zu beziehen. Mindfulness eröffnet erstaunliche Perspektiven und hilft nachweislich der Fokussierung auf Wesentliches und dem Loslassen von Trivialem.

Mit diesem Buch tragen wir zum Einläuten einer neuen Ära bei, in der Mindfulness als entscheidende Lebensqualität in Ihr alltägliches Leben integriert werden kann. Sie begeben sich damit auf eine Reise, auf der Sie herausgefordert werden, das interessanteste Geschöpf in Ihrem Leben zu entdecken, zu entdecken und zu akzeptieren: Sie selbst! Und Sie sind der Schlüssel zur Mindful High Performance.

Doch zunächst einige Hinweise zu diesem Buch sowie klärende Gedanken zur Begrifflichkeit Achtsamkeit bzw. Mindfulness. Sie werden beim Lesen des Vorworts bereits festgestellt haben, dass wir oft den englischen Begriff für Achtsamkeit verwenden.3 Dies hat folgende Gründe: In unserer Sprache weckt der Begriff „Achtsamkeit“ Assoziationen von Entspannung, „Entschleunigung“, ja sogar Rückzug aus dem Alltag. Mit Sicherheit entspannt Meditation. Der Begriff greift aber für die Vermittlung von Lebensqualität, einer entscheidenden Variable für Leistungsfähigkeit, zu kurz. Um uns hier abzugrenzen, verwenden wir im Folgenden meist den in der Wissenschaftssprache gebräuchlichen englischen Begriff. Wir versuchen damit, eine Assoziation zu prägen, die von Klarheit, Präsenz, von „Im-Leben-Stehen“ geprägt ist und keineswegs „gegen“ den Alltag wirken oder „Alltagsentzug“ suggerieren soll. Mindfulness soll uns nicht weg vom Alltag bringen, sondern wir möchten Mindfulness in unseren Alltag hinein bringen! Um sprachlich sauber zu bleiben, nutzen wir schließlich als Adjektiv wieder den deutschen Begriff „achtsam“. Daher bitten wir Sie, bei der folgenden Lektüre diese Erklärungen im Hinterkopf zu behalten.

Wir empfehlen Ihnen sehr, das Buch in chronologischer Reihenfolge zu lesen, damit Sie in Ihrem Verständnis von Mindfulness von den ausführlichen, praktischen Hintergründen zu Ihrem Gehirn (also zu Ihnen selbst) profitieren können. Im ersten Teil des Buchs werden Sie lernen, wie das Gehirn Entscheidungen trifft. Dadurch wird Mindfulness vor einem fundierten wissenschaftlichen Hintergrund verständlich. Erst im zweiten Teil des Buchs beschreiben wir dann die Mindfulness-Praxis mit vielen Beispielen, Techniken und Berichten aus dem Leben. Wir empfehlen insbesondere, die Übungen im Verlauf des Buchs immer auszuprobieren, selbst wenn Sie sich heute noch nicht sicher sind, ob Mindfulness „etwas für Sie ist“. Darüber zu lesen und sich dann zu fragen, ob man daran interessiert sein könnte, ist so, als wäre man nie geschwommen, hätte dann alles über das Wasser gelesen und anschließend entschieden, ob man das Schwimmen „etwas für einen ist“: ohne Erfahrung ist es nicht beurteilbar. Und für die Erfahrung benötigen Sie unsere Übungen.

Im Anhang finden Sie eine Reihe von Anmerkungen, die besonders interessierten Lesern weiterführende Informationen bieten, ein Glossar mit Begriffen, die vielleicht schon mal irgendwo im Buch erklärt wurden, aber schwer zu merken sind, sowie eine nach Kapiteln sortierte Liste mit Quellenangaben. Im Text haben wir einige wenige Links eingebracht, wo Sie kurze kostenfreie Videos sehen können, die einige der elementarsten Übungen oder Themen noch einmal kurz illustrieren oder demonstrieren.

Zu guter Letzt noch ein Hinweis auf die Art, für die wir uns entschieden haben, um mit dem Thema Geschlechter sprachlich umzugehen. Wir haben im Interesse der Lesbarkeit darauf verzichtet, jedes Mal die weibliche und männliche Form einer Begrifflichkeit zu verwenden, auch wenn wir mit der größtmöglichen Wertschätzung uns immer stellvertretend auf beide Geschlechter gleichbedeutend beziehen möchten. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Viel Spaß beim Lesen!

Teil I: Warum ich tue, was ich tue – Die zwei Seiten der Medaille

Er sieht Sie verdächtig an und zögert einige Momente, bevor er zu reden beginnt. Ist er nervös? Ihr Job hängt davon ab. Natürlich. Ihr Kunde. Ein potentielles zwei Millionen-Euro-Projekt. Den Bonus nicht zu vergessen, den Sie beim Erfolg des Projekts erhalten. Endlich fängt er an zu reden. Er lässt Sie wissen, dass er sich entschieden hat, ein anderes Unternehmen mit dem Job zu beauftragen. Weniger Leute, geringeres Budget und kleinerer Zeitrahmen. Verdammt! Gedanken schießen Ihnen in den Kopf, Ihre Hände schwitzen und Sie bezweifeln ernsthaft, ob Sie die gute Miene noch länger halten können. Sie sind eingenommen von einer negativen Emotion und fühlen, dass all dies die Folge eines Missverständnisses ist. Sie können ebenso gut mit einem geringeren Budget und weniger Leuten auskommen. Was auch immer verlangt wird. Sie sind gefangen in Ihren Gedanken, erneut unterbrechen Sie Ihren Klienten und versuchen, ihn zu überzeugen – finden aber einfach nicht die richtigen Worte. Sie können das retten! Wenn Sie doch bloß Zugang zu Ihrem selbstsicheren und vor allem kreativen Ich hätten. Ihren Klienten hören Sie schon gar nicht mehr, nur noch sich selbst. Sie gehen. Ohne das Projekt. Machen sich auf den Weg zurück zu Ihrem Team und Ihrem Chef, um Bericht zu erstatten. Danach verlangt Letzterer auch noch von Ihnen, eine Präsentation vorzubereiten. Sie tun es, obwohl Sie sich fühlen, als bräuchten Sie dringend den restlichen Tag frei, um sich von den Ereignissen zu erholen.

Fällt es Ihnen manchmal schwer, Nein zu sagen? Stehen Sie sich mit Ihren negativen Emotionen oder Gefühlen von Stress manchmal selbst im Weg? Schaffen Sie es manchmal nicht, Ihr volles Potential auszuschöpfen? Fällt es Ihnen schwer, Ihr Gegenüber nicht zu unterbrechen, nachdem Sie ein schlechtes Feedback erhalten haben? Uns allen ergeht es so. Und doch ist das nichts, womit wir nicht umgehen können. Nur äußerst selten nehmen wir uns die Zeit, die unterschiedlichen Prozesse zu betrachten, die unser Verhalten tatsächlich bestimmen. Der größte Teil resultiert aus zwei grundlegenden Prozessen. Den ersten können wir nicht vermeiden. Er läuft automatisch ab und beeinflusst unser Verhalten ganz entscheidend. Diesen Prozess bezeichnen wir als „bottom-up“ – also von unten nach oben – gesteuert. Diese bottomup-gesteuerten Prozesse sind Emotionen, Impulse, unser Verlangen und schließlich unsere Gedanken. Doch können Sie negative Emotionen vermeiden, wenn Sie negatives Feedback erhalten? Können Sie den Impuls vermeiden, Ihr Gegenüber zu unterbrechen, wenn Sie sich von ihm nicht richtig verstanden fühlen – unabhängig davon, ob Sie ihm tatsächlich ins Wort fallen? Können Sie die Gedanken vermeiden, die Ihnen praktisch den ganzen Tag durch den Kopf gehen? Sind Sie sich überhaupt dieser bottom-up-gesteuerten Prozesse bewusst?

Der zweite Prozess, der für unser Verhalten eine bedeutende Rolle spielt, benötigt Energie und Anstrengung, um aktiviert zu werden, und wird als „top-down“ – also von oben nach unten ablaufend – bezeichnet. Wir können es nicht vermeiden, nach einem schlechten Feedback ein negatives Gefühl zu bekommen (bottom-up-gesteuert), aber wir können verhindern (top-down-gesteuert), dass wir unseren Klienten anschreien, da wir unsere Professionalität wahren wollen. Wir können den Impuls nicht unterdrücken, unser Gegenüber unterbrechen zu wollen, wenn wir das Gefühl haben, dass dieser unsere Intentionen falsch verstanden hat, aber wir halten uns zurück, da wir gelernt haben, dass dies die höflichere Art ist. Wir können den Gedanken an eine verpasste Aufstiegsmöglichkeit nicht verhindern, wenn wir einen Projektdeal nicht abschließen, aber nichtsdestotrotz versuchen wir verzweifelt, uns auf das Gespräch zu konzentrieren, da sich vielleicht doch noch „eine weitere Möglichkeit bieten wird“. Wie Sie anhand der Beispiele erkennen können, befinden sich Ihre bottom-up- und top-down-gesteuerten Prozesse oft im Konflikt miteinander, und das Verhalten, das wir schlussendlich zeigen, ist das Ergebnis unseres Umgangs mit diesen Konflikten, bewusst oder unbewusst. Sie verspüren den Impuls, Ihr Gegenüber unterbrechen zu wollen (bottom-upgesteuert), halten sich aber zurück (top-down-gesteuert), um weiterhin höflich zu bleiben. Diese bottom-up- und top-down-gesteuerten Prozesse werden von unterschiedlichen Hirnsystemen gesteuert, und jedes arbeitet auf seine Weise im Einklang mit verschiedenen neuronalen Prinzipien. Der erste Teil dieses Buches wird Ihnen ein detaillierteres Verständnis dieser zwei Prozesse, der beteiligten Hirnsysteme und der neuronalen Regeln vermitteln, die unser Verhalten bestimmen.

Abbildung 1: Entscheidungsmodell
Es zeigt, wie sowohl Bottom-up- als auch Top-down-Prozesse unser Verhalten bestimmen (Heatherton & Wagner, 2011)

Quelle: One Step Ahead – Notebaert Consulting (Design von Lars Richter)

Teil I. 1: Bottom-up-Prozesse: Emotionen, Gedanken, Impulse

Der größte Teil unseres Verhaltens gründet auf der Kombination von zwei Prozessen: den bottom-up- und top-down-gesteuerten Prozessen. Erstere sind automatisch, benötigen keine Anstrengung und bestimmen häufig unbewusst unser Verhalten. Die bekanntesten darunter sind Emotionen – wie Wut, Trauer oder Frustration –, Impulse, die uns dazu verleiten wollen, uns in ungewünschter Weise zu verhalten, und Gedanken, die unsere Aufmerksamkeit stören oder verhindern, dass wir eine gute Leistung bringen oder ungestört unser Leben genießen.

Emotionen regieren unsere Welt

Heute präsentieren Sie und Ihr Kollege dem Vorstand ein riskantes Projekt. Wenn der Vorstand das Projekt akzeptiert, steigen Ihre Chancen auf eine Beförderung dramatisch. Die Sekretärin teilt Ihnen mit, dass Ihr Kollege sich heute Morgen krank gemeldet hat. Schon wieder! Jetzt liegt es an Ihnen, die Präsentation zu meistern und den Vorstand zu überzeugen. Da Sie sich die Arbeit geteilt hatten, bleiben Ihnen jetzt lediglich vier Stunden, um sich mit dem Teil Ihres Kollegen ausreichend vertraut zu machen. Und da dies eine mehr oder weniger unmögliche Aufgabe für Sie darstellt, versuchen Sie verzweifelt, Ihren Kollegen telefonisch zu erreichen, damit dieser Sie mit den entscheidenden Informationen ausstatten kann. Kein Glück. Ihr Kollege geht nicht ans Telefon. Seit dem leicht panischen Gefühl heute Morgen, als Sie die Nachricht erfahren haben, haben Sie eine ganze Reihe Emotionen durchlebt: die Frustration darüber, dass sich Ihr Kollege schon wieder krank gemeldet hat und Sie nun einem Berg an Zusatzarbeit gegenüberstehen, Enttäuschung und das Gefühl, schlecht behandelt worden zu sein, da er der Sekretärin und nicht Ihnen die Nachricht hinterlassen hat, und wahrscheinlich empfanden Sie Ärger, als Ihr Kollege nicht ans Telefon gegangen ist. Die Flut negativer Emotionen hat Ihren Körper und Ihren Verstand völlig eingenommen und es Ihnen schlicht unmöglich gemacht, dem Vorstand mit einem klaren Kopf gegenüberzutreten.

Während der Präsentation werden Sie das Gefühl nicht los, total gestresst zu sein, und spüren zunehmend, wie Sie immer wütender auf Ihren Kollegen werden. In diesem Zustand sind Sie nicht mehr fähig, sich von Ihrer besten Seite zu zeigen. Eigentlich sind Sie hervorragend in diesen Präsentationen, doch jetzt drängen kontinuierlich negative Emotionen in Ihr Bewusstsein.

Was würde mit Ihnen passieren, wenn an diesem Abend die folgenden alternativen Ereignisse stattgefunden hätten?

An diesen Beispielen wird deutlich, dass Emotionen nicht nur Veränderungen in unserem Körper und Gehirn sind, die uns aufgezwungen werden. Ganz im Gegenteil: Wir bestimmen und konstruieren unsere Emotionen selbst. In vielen Fällen sind es unsere eigenen Erwartungen der Konsequenzen eines bestimmten Ereignisses, die sowohl die Wertigkeit der Emotion (d. h., ob wir sie als positiv oder negativ wahrnehmen) als auch die Intensität beeinflussen. Wenn Sie gewusst hätten, dass das Kind Ihres Kollegen im Krankenhaus liegt, wären Sie vermutlich trotzdem frustriert gewesen, aber bestimmt nicht wütend oder enttäuscht. Es ist nicht Ihr Kollege, der Sie wütend oder traurig macht. Tatsächlich war er überhaupt nicht anwesend. Also was hat Sie nun wütend, traurig oder enttäuscht gestimmt? In dem oben beschriebenen Beispiel ist Folgendes passiert: Sie haben von Ihrer Sekretärin erfahren, dass sich Ihr Kollege krankgemeldet hat, und bevor Sie es bewusst wahrgenommen haben, waren Sie bereits von einer Flut negativer Emotionen eingenommen. Zwischen der Nachricht Ihrer Sekretärin und den negativen Emotionen fand etwas statt, für das Sie selbst verantwortlich waren: Sie spannen sich eine Geschichte zurecht. Ihr Kollege hat sich „schon wieder“ krankgemeldet, er ist „absolut unzuverlässig“ und Sie Ärmster müssen sich dem Vorstand ganz alleine stellen und eine Präsentation halten, für die Sie nicht ausreichend vorbereitet sind. Und schließlich hängt mit Sicherheit Ihre Beförderung davon ab. Ihr Kollege ist jetzt wirklich der Mistkerl. Dass er Ihnen das nur antun kann! Im dritten Beispiel ändern Sie die Geschichte. Als Sie die gute Nachricht erfahren, ist Ihr Kollege nicht der Böse, tatsächlich sind Sie ein gutes Team. Beachten Sie, dass sich Ihr Kollege in allen drei Szenarien exakt gleich verhalten hat – wie bereits beschrieben, er war nicht einmal anwesend. Sie und nur Sie allein erzeugen Ihre Emotionen.

Übung: Emotionale Bewusstheit

Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit und schreiben Sie die Gefühle auf, die Sie heute oder gestern erlebt haben. Beginnen Sie ab dem Zeitpunkt, an dem Sie aufgewacht sind. Falls Sie das Gefühl haben, wenig Erfahrung mit der Beschreibung von Emotionen zu haben, denken Sie zunächst an die sechs Basisemotionen: Freude, Ärger, Angst, Trauer, Ekel und Überraschung. Zudem gibt es einige sekundäre Emotionen, die man als soziale Emotionen betrachtet: Scham, Eifersucht, Schuld oder Stolz. Bitte fühlen Sie sich jedoch nicht eingeschränkt durch die eben genannte Auswahl.

Wie lief diese Übung? War es einfach, sich an Ihre Emotionen zu erinnern? Hatten Sie mehr negative oder mehr positive Emotionen? Hätten Sie dieselben Emotionen aufgeschrieben, wenn wir die Basis- und Sekundäremotionen nicht aufgelistet hätten? Haben Sie sich den physischen Zustand vor Augen geführt, in dem Sie waren, als Sie die Emotionen erlebt haben? Genauer gesagt, haben Sie sich erinnert, ob Ihr Herz schneller geschlagen hatte, ob Ihre Hände geschwitzt haben oder vielleicht wie sich Ihr Gesichtsausdruck verändert hat? Wahrscheinlich nicht. Vermutlich waren Ihnen diese Veränderungen völlig unbewusst. Wie Sie sich an diese Emotionen erinnerten, hing wahrscheinlich stark von der Situation ab, in der Sie sie empfanden. Ihr Partner sagte Ihnen, wie gut Sie aussähen. In diesem Moment ging es Ihnen gut. Ihr Chef nahm sich nicht die Zeit, Ihnen auf Ihre E-Mail zu antworten. Darauf hin waren Sie verärgert oder enttäuscht. Auch könnte es sein, dass Sie Ihre Emotionen aufgrund Ihrer eigenen Interpretationen erinnerten. Vielleicht waren Sie wütend, weil Ihr Kollege Ihnen „schon wieder während eines Meetings die Show stahl“, was Sie so wahrnahmen, da er Sie ständig unterbrochen hat. Ein typisches Beispiel ist, wenn Ihnen wieder einmal jemand ein schlechtes Gewissen macht. Gibt wirklich er Ihnen das Gefühl, oder sind es doch Sie selbst?

Diese Übung hat Ihnen vielleicht zeigen können, wie leicht wir Emotionen in uns wahrnehmen können und wie schwer es sein kann, diese Emotionen zu beschreiben. Die Fähigkeit, emotionale Zustände bei Ihnen und anderen erkennen und beschreiben zu können, nennen wir emotionale Bewusstheit. Emotionale Bewusstheit ist eine wichtige Komponente der Emotionalen Intelligenz, die die Fähigkeit beschreibt, Gefühle und Emotionen von sich selbst und anderen beobachten, zwischen diesen unterscheiden und diese Informationen nutzen zu können, um das eigene Denken und Handeln zu bestimmen. Diese Kompetenz kommt dem Konzept der Mindfulness sehr nahe.

Emotionen haben sowohl eine biologische als auch eine psychologische Komponente. Sind wir uns einer potentiellen Gefahr bewusst, spielen die physiologischen Änderungen in unserem Körper (erhöhter Herzschlag, schneller Atmung, Schwitzen, Anspannen der Muskeln) eine entscheidende Rolle in der darauffolgenden Interpretation und Bewertung dieser Erregung als emotionalen Zustand. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf dem Heimweg. Es ist längst dunkel und bereits spät in der Nacht. Sie denken, Sie sind die einzige Person auf der Straße, bis Sie hinter sich näher kommende Schritte hören können. Innerhalb weniger als einer Sekunde beschleunigen sich Herzschlag und Atmung, die Pupillen erweitern sich, die Nieren setzen Adrenalin frei und schließlich spüren Sie eine stark ausgeprägte Angst. Dieser Zustand der Angst führt dazu, dass Sie sich in Ihrem Kopf die schlimmsten Szenarien ausmalen, was die physiologische Reaktion weiter verstärkt, die dann Ihre ursprüngliche Angst zusätzlich steigert. Als Sie eine Hand auf Ihrer Schulter spüren und sich angsterfüllt umdrehen, steht Ihnen Ihr Partner gegenüber, der sich auch gerade auf dem Heimweg befindet. Und jetzt vermutlich herzhaft mit Ihnen lacht, angesichts des Schreckens, den er Ihnen eingejagt hat. Die Rückmeldung, die Sie erhalten, als Sie Ihren Partner sehen, lässt die physiologischen Veränderungen in Ihrem Körper wieder zu einem normalen Zustand zurückkehren.

Eine Studie zum Thema Stress konnte kürzlich zeigen, welchen Einfluss unsere eigene Interpretation der physiologischen Veränderungen, die den Emotionen vorausgehen, haben können. Es ist eine gut erforschte Tatsache, dass anhaltender Stress zu einem erhöhten Risiko für zahlreiche Erkrankungen führt, von der einfachen Grippe bis hin zu Herzkreislauferkrankungen. In einer Studie, die im Jahr 2012 veröffentlicht wurde, wurden 186 Millionen US-Bürger befragt, in welchem Ausmaß sie Stress empfinden und wie stark sie daran glauben, dass Stress einen negativen Einfluss auf ihre Gesundheit hat. Acht Jahre später zeigte die Analyse der Krankenakten, dass Personen, die hohem Stress ausgesetzt waren, mit einer um 43 Prozent erhöhten Wahrscheinlichkeit einen frühzeitigen Tod erlitten – aber nur dann, wenn sie daran glaubten, dass Stress einen schädigenden Einfluss auf ihre Gesundheit hat. Das machte den Glauben an die negativen gesundheitlichen Folgen von Stress zu einer der wichtigsten Todesursachen in den USA im Jahr 2012 mit mehr als 20.000 Toten pro Jahr.

Wie Sie Stress interpretieren und bewerten, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Ihr Körper auf Stress reagiert. Dies wurde in einer aktuellen Studie von 2012 der Harvard Universität deutlich. Versuchspersonen wurden gebeten, zwei Aufgaben zu erledigen. In der ersten Aufgabe sollten sie vor einer Jury eine Präsentation über ihre eigenen Schwächen halten. Die Personen in der Jury waren von der Forschergruppe instruiert und darauf trainiert worden, während der Präsentation den Versuchspersonen demotivierendes nonverbales Feedback zu geben (z. B. verdrehten sie die Augen oder zogen ungläubig die Augenbrauen nach oben). Anschließend bekamen die Versuchspersonen die Anweisung, eine schwierige Rechenaufgabe vor einem Interviewer durchzuführen, in der sie in 7er-Schritten von 996 rückwärts zählen mussten. Der Interviewer hatte dabei die Anweisung, die Versuchspersonen immer wieder zu unterbrechen. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass diese Situation die Versuchspersonen stresste.

Eine Gruppe der Teilnehmer erhielt nun die Instruktion, alle stressrelevanten Veränderungen in ihrem Körper nicht als problematisch zu betrachten, sondern vielmehr so zu interpretieren, als bereite sich ihr Körper auf die bevorstehende Aufgabe vor. Erhöht sich der Herzschlag, reagiert der Körper auf die Situation und macht sie handlungsbereit. Steigert sich die Atemfrequenz, ist das kein Problem, der Körper pumpt lediglich mehr Sauerstoff in das Gehirn. Kurz gesagt, diese Versuchspersonen lernten, die durch den Stress hervorgerufenen körperlichen Veränderungen als hilfreich anzusehen. Im Vergleich mit der Gruppe, die diese Instruktion nicht erhalten hatte, waren sie weniger gestresst, weniger ängstlich und hatten mehr Selbstvertrauen. Erstaunlicherweise verengten sich die Blutgefäße dieser Personen nicht, was normalerweise unter dem Einfluss von Stress geschieht und schließlich zu Herzkreislauferkrankungen führen kann, wenn man ständigem Stress ausgesetzt ist. Tatsächlich ähnelten die physiologischen Veränderungen eher denen von Freude oder Mut. Während die Blutgefäße dieser Gruppe entspannt blieben, zeigten die Blutgefäße der anderen Gruppe die typische, stressbedingte Verengung. Wenn Sie sich also gestresst fühlen, hilft Ihnen eigentlich Ihr Körper, die Herausforderung zu bewältigen.

Emotionen sind essentiell für unser Überleben. Angst dient beispielsweise als Anstoß, vor Raubtieren zu fliehen, und Aggression brauchen wir im Kampf gegen unseren Feind. Außerdem sind Emotionen entscheidend, wenn wir schnelle Entscheidungen treffen oder uns selbst verstehen wollen: Wenn wir uns schlecht fühlen, nachdem wir auf der Arbeit schlechtes Feedback erhalten haben, zeigt dies uns, dass uns unser Beruf wichtig ist. Sind wir frustriert, wenn unser Partner spät nach Hause kommt, zeigt dies möglicherweise, dass wir uns wünschen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Sind wir nervös, wenn wir unsere zukünftigen Schwiegereltern das erste Mal treffen, deutet das vermutlich darauf hin, dass es für uns wichtig ist, dass das Treffen gut läuft, da wir unseren Partner lieben. Emotionen bieten eine wichtige Orientierungshilfe in unserem Leben. Sie sind eine bedeutende Quelle an Informationen und geben uns Rückmeldungen, die wir nutzen, um unser Verhalten und unsere sozialen Beziehungen zu steuern. Sie sind unsere sogenannte Intuition.

Bevor Sie weiterlesen, versuchen Sie, ohne dabei lange zu überlegen, an drei Ereignisse aus Ihrem privaten oder beruflichen Leben zu denken, die im letzten Jahr stattfanden. Das können bedeutende Erlebnisse oder auch kleine Begebenheiten aus Ihrem Leben sein.

Die meisten unter Ihnen werden sich an drei Ereignisse erinnert haben, die für sie einen hohen emotionalen Wert hatten. Der Grund dafür ist, dass Emotionen unser Gedächtnis verbessern, indem sie dabei helfen, Informationen abzuspeichern und zu festigen. Emotionen bereichern unser tägliches Erleben enorm.

Übung: Emotionen in Beziehungen

Denken Sie an eine Situation aus Ihrem privaten oder beruflichen Leben, in der Sie enttäuscht oder wütend waren oder in der Sie ein schlechtes Gewissen hatten. Erinnern Sie sich an die Details? Wer war beteiligt? Was war der Grund? Nun versuchen Sie, sich zu erinnern, wie Sie Ihre Emotionen der anderen Person kommuniziert haben.

In einer Situation, in der Sie zum Beispiel wütend waren, weil Ihr Kollege Sie wieder einmal unterbrochen hat, haben Sie vielleicht etwas gesagt wie „Du machst mich ständig wütend!“. Wenn Ihr Partner sich beschwert, als Sie spät nach Hause kamen, haben Sie vielleicht etwas gesagt wie „Oh, immer machst Du mir ein schlechtes Gewissen!“. Indem Sie Ihre Emotionen so ausdrücken, machen Sie nicht nur die andere Person für Ihre Gefühle verantwortlich, sondern schaffen häufig eine Sackgasse in Konversationen. Das Wissen darüber, dass Sie selbst verantwortlich sind für Ihre Emotionen, wird auch die Art und Weise beeinflussen, wie Sie Ihren Gefühlen Ausdruck verleihen; zum Beispiel „Ich bin wütend geworden, als Du mich im letzten Meeting unterbrochen hast“. Formulierungen wie diese eröffnen damit die Möglichkeiten für ein Gespräch.

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge so, wie wir sind.

An den Nerven arbeiten: Emotionen im Gehirn

Also wie entstehen Emotionen im Gehirn und wie werden sie dort verarbeitet? Die emotionsrelevanten Strukturen des Limbischen Systems spielen hierbei eine wichtige Rolle. Das Limbische System besteht aus mehreren Hirnstrukturen direkt unterhalb des Kortex, der die äußere Hülle des Gehirns bildet. Es ist hauptsächlich für unser emotionales Erleben und die Speicherung neuer Gedächtnisinhalte verantwortlich. Obwohl sich das Limbische System aus weiteren Strukturen zusammensetzt, werden wir hier nur die im Kontext der Emotionen wichtigsten beschreiben. Die erste bedeutende Struktur ist der Thalamus, der das „Tor zu unserem Bewusstsein“ bildet. Alle unsere Sinne, z. B. Sehen, Hören, Schmecken und Fühlen, senden ihre Sinnesinformationen zum Thalamus. Wenn der Thalamus diese Informationen für relevant hält, werden die Informationen an verschiedene Teile des Gehirns weitergeleitet. Unsere Sinne spielen eine wichtige Rolle in unserem emotionalen Erleben: Die weiche Oberfläche einer Decke erinnert Sie vielleicht an Ihr Kind, das immer mit einer Kuscheldecke schläft, und lässt bei Ihnen ein gutes Gefühl entstehen. Wenn Sie ein bestimmtes Lied hören, löst das bei Ihnen vielleicht ein Gefühl von Freude aus. Sehen Sie einen bestimmten Kollegen, beginnen Sie möglicherweise, sich frustriert zu fühlen. Wenn Sie allein nur die Betreffzeile einer E-Mail lesen, löst das bei Ihnen unter Umständen schon ein Gefühl von Ärger aus.

Der Geruchssinn stellt eine Ausnahme dar, da seine Informationen nicht zwingend durch den Thalamus geleitet werden, sondern direkt in anderen Hirnarealen enden können. Dies ist der Grund, weshalb Gerüche unmittelbar Erinnerungen und dazugehörige Emotionen auslösen können, wie zum Beispiel der Geruch der Wohnung Ihrer Großeltern oder der Duft einer geliebten Person. Ein weiterer Teil des Limbischen Systems ist der Hypothalamus, der sich genau unterhalb des Thalamus befindet. Obwohl dieses Areal weniger als ein Prozent unseres gesamten Gehirns ausmacht, spielt es eine bedeutende Rolle bei der Regulierung vieler Körperfunktionen. Im Kontext der Emotionen reguliert es vor allem das autonome Nervensystem. Dieses ist – wie der Name schon sagt – verantwortlich für autonome Reaktionen in unserem Körper, indem es das endokrine System kontrolliert. Durch die Ausschüttung von Hormonen reguliert der Hypothalamus die sogenannten vier „F“s (im Englischen: Fight, Flight, Feeding und Reproductive Behavior [Fucking]).