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DRAGON ON TOP

Eine Novelle aus der Welt der Dragons

KAPITEL 1

Ghleanna die Dezimiererin nahm noch einen Schluck aus ihrem angeschlagenen Bierkrug und suhlte sich, auf recht umwerfende Art, wenn sie das selbst so sagen durfte, in ihrem Elend. Es war lächerlich, das wusste sie, wegen alledem immer noch so am Boden zerstört zu sein. Schon ein halbes Jahr war es her, und doch kam sie nicht darüber hinweg. Stattdessen saß sie da und trank und suhlte sich und versuchte zu vergessen. Das tat sie nun schon ziemlich lange. Zu lange, würde ihre Sippe sagen.

Doch es war alles ihre eigene Schuld. Sie hatte vertraut, wo sie es nicht hätte tun sollen, hatte Lügen geglaubt, obwohl sie es verdammt noch mal wirklich besser gewusst hatte, und vor allem hatte sie das eine vergessen, das niemand sonst je vergaß – dass ihr Vater Ailean der Verruchte war. Auch bekannt als Ailean die Hure, die berühmte Schlampe der Drachen- und der Menschenwelt.

Und durch einen einzigen Anfall von Dummheit war aus Ghleanna die Dezimiererin Ghleanna die Idiotin geworden.

Ghleanna die Närrin.

Ghleanna die Versagerin.

Wobei »Versagerin« vielleicht ein zu hartes Wort war. Sie hatte sich vorher nie als Versagerin gesehen. In ihren Jahren auf dem Schlachtfeld hatte sie sich immer wieder bewiesen. Aber jetzt fühlte sie sich wie eine Versagerin. Wie eine Versagerin und Närrin, die niemandem die Schuld geben konnte außer sich selbst. Also war Ghleanna in krankhafter Scham und Selbstmitleid und ohne Kriege oder Schlachten, die interessant genug gewesen wären, um ihren Geist oder Schwertarm zu beschäftigen, in die Sicherheit der alten Mauern ihrer Höhle zurückgekehrt, um sich leidzutun und – wenn sie ehrlich war – um sich zu verstecken. Nur für Essen und Bier wagte sie sich nach draußen.

Auch wenn sie in den letzten Tagen hauptsächlich für noch mehr Bier hinausgegangen war.

Sie hatte keine Ahnung, wie ihre langfristigen Pläne aussahen, andererseits: Brauchten Versager langfristige Pläne? Da sich Ghleanna nicht sicher war, trank sie mehr Bier, bis sich süße Dunkelheit über sie legte und sie nicht mehr über ihre angeborene Dummheit und das Elend nachdenken musste, das sie verursacht hatte.

Ghleanna hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, aber sosehr sie auch wollte, sie konnte die Schläge nicht mehr ignorieren, die ihr Kopf gerade abbekam. Sie zwang die Augen auf und sah das stumpfe Ende eines Speers wieder auf ihre Stirn zukommen. Sie rollte sich weg, aber das Ende eines weiteren Speers traf sie seitlich am Kiefer.

»Wach auf, du faule Sau. Wach auf!«

»Lasst mich in Ruhe, ihr irren Schlampen!«

»Spricht man so mit seinen lieben, süßen Tanten?«

»Ihr seid nicht meine Tanten!«, gab sie zurück.

»Aber fast. Es ist besser als Großcousinen, oder? Das macht uns so alt, findest du nicht, Kennis?«

»Das stimmt, Kyna. Und jetzt steh auf, bevor wir dir die Schuppen von den Knochen schälen.«

Angepisst, dass ihre Verwandtschaft nicht den Anstand besaß, sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich in ihrem Bier und Sabber suhlen konnte, setzte sich Ghleanna auf und knurrte: »Was ist denn, ihr alten Hexen? Was wollt ihr von mir?«

»Also, zuerst einmal kannst du mit dem Selbstmitleid aufhören. Stimmt’s, Kyna?«

»Das stimmt, Kennis. Nichts ist schlimmer als eine mächtige Drachin, die in einer dunklen, feuchtkalten Höhle herumsitzt und wegen irgendeines blöden Fehlers von einem Drachen heult.«

»Ich tue nichts dergleichen«, log sie.

»Schau mal, wie sie uns anlügt, Kennis!«

»Ich sehe es, Kyna. Lügt uns an und glaubt, wir wüssten es nicht. Es ist ein Jammer.« Kennis zuckte die Achseln. »Ich sage, wir schlagen sie noch mal. Aus Prinzip.«

»Einverstanden.«

Ghleanna hob eilig die Klauen, um ihren Kopf zu schützen. »Geht weg! Lasst mich in Ruhe!«

»Damit du hier herumsitzen und dir weiter selbst leidtun kannst? Wegen ihm? Ich würde dich lieber hier und jetzt umlegen, stimmt’s, Kyna?«

»Aye. Wie ein armes, verletztes Pferd.«

»Ich hasse euch.« Ghleanna seufzte tief und fuhr sich mit den Krallen durch die zu langen schwarzen Haare. Sie hatte sie seit Monaten nicht geschnitten, und das sah man. Sie wusste, sie sah wahrscheinlich aus wie kalte Kacke, aber sie würde ihrer Sippe nicht die Genugtuung verschaffen, es zuzugeben.

»Uns hassen? Obwohl wir so besorgt um deine nutzlose Haut sind?«, fragte Kyna.

»Deine ganzen Brüder und Schwestern jammern rum wegen dir. Ach! Das macht uns noch verrückt. Wir mussten etwas tun, nicht wahr, Kyna?«

»Aye, Kennis. Das mussten wir. Oder sie alle umbringen, nur damit sie aufhören. Aber das kam uns nicht richtig vor, stimmt’s, Kyna?«

»Nein. Überhaupt nicht.«

»Also kommt ihr hierher, um … was genau zu tun?«, wollte Ghleanna wissen. »Abgesehen davon, mir tierisch auf den Sack zu gehen?«

»Du hast Glück, dass wir dich holen kommen, du Göre. Bin mir nicht sicher, ob dein Erwachen so nett ausgefallen wäre, wenn stattdessen deine Mutter gekommen wäre. Stimmt’s, Kyna?«

»Oje! Die hätte deine Schuppen in eine andere Farbe geprügelt, das hätte sie. Sie ist halb tot vor Sorge um dich, und dann findet sie dich in dieser Höhle, wie du deinen Kummer in billigem Bier ertränkst.«

»Tja, hätte ich es wirklich alles beenden wollen, hätte ich einfach euer Bier genommen«, erwiderte Ghleanna schnippisch.

Das Hinterteil des Speers zielte wieder auf sie, aber diesmal fing Ghleanna es ab und hielt es fest. »Hör auf, mich mit dem blöden Ding zu schlagen!«

»Wenigstens sind ihre Reflexe noch gut. Jetzt müssen wir sie nur nüchtern bekommen …«

»Und baden. Sie riecht!«

»… und wir können sie an den Hof unserer Königin bringen, solange noch Vormittag ist.«

»Königshof? Was soll ich an Rhiannons Hof?«

»Oooh. Hast du das gehört, Kennis?«

»Aye, Kyna. Rhiannon nennt sie sie. Als wären sie alte Freundinnen.«

»Beste Kumpels!«

Die Drachenzwillinge kicherten, und Ghleanna verspürte das Bedürfnis, etwas kaputtzuschlagen.

»Sie wird pissig, Kyna.«

»Das stimmt, Kennis.«

»Also sollten wir mal besser dafür sorgen, dass sie aufsteht und sich fertig macht, damit wir weiterkommen.«

Ghleanna hatte langsam wirklich die Schnauze voll und brüllte beinahe: »Ich will Rhiannon nicht sehen! Also verpisst euch endlich aus meiner Höhle!«

Kyna kauerte sich nieder, damit sie Ghleanna in die Augen schauen konnte, eine Seite ihrer Schnauze hochgezogen, sodass man Reihe um Reihe der tödlichen Reißzähne sah, von denen einige erst mit dem Alter gewachsen waren.

»Jetzt hör mir mal zu, kleines Mädchen. Du kannst mit deinem Vater und mit deinen Brüdern sprechen, wie du willst – aber mit uns sprichst du nicht so. Und wenn die Königin dir einen Befehl gibt …«

»… dann kriegst du deinen Arsch hoch und befolgst ihn. Oder wir werden bei den Göttern …«

»… dafür sorgen, dass du wünschtest, du hättest es getan.«

Ghleanna verstand jetzt, warum man die Cadwaladr-Zwillinge geschickt hatte, um sie zu holen. Wenn auch viele ihrer Geschwister sich ordentlich wehren konnten, hatten nur ihre Brüder Bercelak und Addolgar eine echte Chance, sie zu schnappen. Aber keiner von ihnen würde es tun, denn sie war ihre Schwester. Dasselbe galt für ihren Vater. Und ihre Mutter war eine Friedensstifterin, keine Kämpferin. Also hatte ihre Sippe die gefürchtetsten Drachenkriegerinnen des Landes geschickt, die Cadwaladr-Zwillinge. Sie mochten alte Drachinnen sein, aber das machte sie nur noch gefährlicher – und labiler.

»Kommst du, Mädchen?«

»Ja«, fauchte Ghleanna und stemmte sich mit den Vorderklauen hoch. Sie brauchte einen Moment, bis die Höhle aufhörte, sich zu drehen, und noch einen, bis die Übelkeit verging. Doch als es so weit war, konnte sie sich immerhin vorstellen, nach draußen in den See zu gehen und zu baden.

»Was will Rhiannon überhaupt von mir?«, fragte sie auf dem Weg nach draußen mit den Zwillingen im Schlepptau, während sie gleichzeitig überlegte, ob sie davonlaufen sollte.

»Im Gegensatz zu dir, Göre, stellen wir keinen Haufen Fragen.«

»Unsere Königin bittet uns, etwas zu tun, also tun wir es. Das ist unsere Aufgabe.«

»Das ist auch deine Aufgabe«, bemerkte Kennis.

»Haben wir sie nicht gut genug ausgebildet?«

»Ich hoffe, das ist nicht der Fall, Kyna. Ich würde sie ungern noch mal durchs Training schicken müssen.«

Ghleanna verzog das Gesicht, denn sie hörte die Drohung in diesen Worten laut und deutlich. »Wird nicht nötig sein«, murmelte sie.

»Gut. Du warst immer einer unserer Lieblinge, Ghleanna. Wir würden dich wirklich nicht gern halb totschlagen müssen, weil du vergessen hast, woher du kommst.«

Kyna packte Ghleanna am Unterarm und zwang sie, sich zu ihr umzudrehen. »Und das ist kein Grund, sich zu schämen, Mädchen. Es ist keine Schande, wer du bist, wer deine Sippe ist und wer du sein willst.«

»Und lass dir von niemandem etwas anderes erzählen«, endete Kennis. »Du bist etwas Besonderes, Ghleanna. Und manche Typen – die können einfach nicht damit umgehen. Während andere …«

»Während andere was?«

»Während andere dafür geboren sind, die Scheide für dein Schwert zu sein – du musst den einen nur finden, Mädchen. Wie wir.«

»Wie dein Vater. Aber das kann sie nicht, wenn sie nach Bier und Elend stinkt, Kennis.«

»Es sei denn, sie will so einen erbärmlichen Bastard wie sich selbst, Kyna. Und ihr Götter! Wer würde das wollen?«

Ghleanna erkannte die Wahrheit darin und steuerte auf den See zu, um sich darauf vorzubereiten, ihre Königin zu treffen.

Bitte nicht umarmen. Bitte nicht umarmen.

Doch sie tat es. Sie umarmte ihn. Direkt vor ihrem ganzen Hofstaat und – noch wichtiger – vor ihrem Gemahl. Dem unangenehmsten aller Drachen, Bercelak dem Großen selbst.

Und Bram der Gnädige, königlicher Gesandter der Königin Rhiannon aus dem Hause Gwalchmai fab Gwyar, wusste, seine Königin tat das mit Absicht. Er wusste, sie tat es, weil sie es genoss, ihren Gefährten zu quälen, aber sie merkte oft nicht, dass sie dabei auch den armen Bram quälte. Oder vielleicht merkte sie es, und es war ihr schlicht egal.

»Oh Bram! Du siehst so gut aus! Sieht er nicht gut aus, Bercelak?«

Bram hörte ein missbilligendes Knurren von der anderen Seite der Kammer der Königin.

»Bercelak findet auch, dass du gut aussiehst«, log die Königin. Sie tätschelte Bram die Schulter und trat zurück. »Also, mein liebster Bram, bist du bereit für deine wichtigste Reise?«

»Das bin ich, meine Königin. Ich glaube, daraus kann nur Gutes erwachsen, und ich freue mich …«

»Ja, ja.« Sie setzte sich auf ihren Thron, ein Stück Fels, das aus der Höhlenwand ragte. Es sah für Bram nie besonders bequem aus, aber der Königin schien es nichts auszumachen. »Aber ich habe mir Gedanken über deine Sicherheit gemacht.«

»Meine Sicherheit? Ich werde schon zurechtkommen, Eure Majestät.«

»Ich habe Gerüchte gehört. Es gibt Stimmen, die diese Allianz verhindern wollen. Sie werden versuchen, dich aufzuhalten.«

»Warum? Ich gehe schließlich nicht zu den Blitzdrachen. Die Drachen der Wüstenländer waren nie unsere Feinde.« Er würde einfach sicherstellen, dass sie sich nicht mit ihren Feinden verbündeten.

»Wie logisch er doch immer denkt, mein alter Freund. Logisch und aufmerksam und klug. Aber dennoch … In der Welt der Drachenpolitik ist nichts je einfach, und gerade du unter allen Drachen solltest das wissen.«

»Verstanden, meine Königin. Und ich verspreche dir, dass ich vorsichtig …«

»Also habe ich Vorkehrungen für deinen Schutz getroffen.«

O-oh.

»Eure Majestät, mein Kontakt in den Wüstenländern erwartet nur mich. Keine Entourage.«

»Eine Entourage klingt so groß und einschüchternd, und es ist nichts dergleichen. Nur ein paar meiner zuverlässigsten Drachenkrieger, um dafür zu sorgen, dass du sicher an deinem Ziel ankommst und wieder zurück.«

»Drachenkrieger?« O ihr Götter, tötet mich jetzt!

Welch albtraumhafte Drachenkrieger hatte dieses Weib aus den Tiefen der Hölle ausgegraben, um sie mit ihm zu schicken? Wahrscheinlich Bercelaks Brüder. Oder noch schlimmer: Bercelak selbst. Der schwarze Drache hatte Bram nie gemocht aufgrund dessen offenkundiger Krankheit, »zu viel zu denken und nach meiner Schwester zu gieren«. Und Bercelak hatte natürlich recht. Was das Denken anging – und das Gieren.

Ghleanna die Schwarze, jetzt die Dezimiererin, war schon als junger Drache mit kaum sechzig Wintern Brams unerreichbarer Traum gewesen. Sie hatte ihm das Herz mit einem einzigen finsteren Blick gestohlen, als sie Bercelaks Kopf gegen die Wand knallte und ihm befahl, »den Königlichen wegzuschicken!«, womit sie Bram meinte. Ghleanna war vor Kurzem von einer Schlacht heimgekehrt – einer ihrer ersten –, und sie hatte ihre erste Narbe erhalten. Ein Ding von sechs Zoll, das sich über ihr Schlüsselbein zog. Bram hatte diese Narbe gesehen, und ihm war der Mund trocken geworden, die Knie weich, und dann hatte er die Worte vergessen. Keine bestimmten Worte, sondern alle. Sie hatte ihn vorübergehend zum Verstummen gebracht.

Aber im Gegensatz zu Bercelak hatte Ghleanna ihn danach kaum bemerkt, ihn kaum zur Kenntnis genommen, sich kaum an seinen Namen erinnert. Er war der Königliche, der manchmal ihre Mutter oder ihre Schwester Maelona besuchte. Die »Denkerinnen« des Cadwaladr-Clans.

»Und welche Krieger wären das, meine Königin? Jemand, den ich kenne?«

Die Königin lächelte – was Bram nicht entspannter machte –, und er hörte eine Stimme, die er sehr gut kannte, hinter sich sagen: »Ich glaube es nicht, dass du diese Wahnsinnigen nach mir geschickt hast, Bercelak. Bedeute ich dir denn gar nichts?«

Bram schloss kurz die Augen, bevor er den Blick auf die Frau richtete, die jetzt neben ihm stand. Sie beäugten einander lange, bis Ghleanna die Dezimiererin höhnisch schnaubend von ihrem Bruder wissen wollte: »Babysitting? Du hast mich den ganzen Weg hierher schleppen lassen, um den Babysitter für diesen willensschwachen Königlichen zu spielen?«

»Danke, Ghleanna«, murmelte Bram. »Das war sehr nett.«

»Ist nichts Persönliches«, murmelte sie als Antwort und tätschelte ihm mit der Klaue die Schulter. »War eine lange Nacht.«

Eine lange Nacht? Es sah eher aus wie ein langes Jahrhundert. Auch wenn er wusste, was eine der höchstdekorierten und gefürchtetsten Hauptmänner der letzten Jahrhunderte aussehen ließ, als hätte sie seit Jahren nicht geschlafen. Ihre Haare, sonst immer kurz und gut gepflegt, reichten ihr nun bis zu den Schultern, mit ungleichen Enden. Ihre Rüstung, immer mit Spucke poliert und für den Kampf bereit, war jetzt voller Schmutz und Dellen, und, wenn sich Bram nicht irrte, Hirnmasse von irgendeinem armen Kerl. Sogar ihre Streitäxte, ihre bevorzugten Waffen, solange Bram denken konnte, sahen aus, als wären sie seit Monaten nicht geputzt worden. Die Kanten waren immer noch mit Blut und Knochensplittern verkrustet. Nein, dies war nicht die Ghleanna, die er all die Jahre gekannt hatte. Die Ghleanna, die er anbetete. Wie dumm von ihm.

»Ach?«, fragte Rhiannon Ghleanna. »Bist du im Moment furchtbar beschäftigt?«

»Jedenfalls zu beschäftigt für diesen Zentaurenmi…«

»Ehrlich, meine Königin«, unterbrach sie Bram, »es besteht kein Anlass, Hauptmann Ghleanna hineinzuziehen. Mir ist es ganz recht, wenn ich allein reise.« Um genau zu sein, war es ihm sogar lieber. Diese Reise war zu wichtig für ihn, um sich von der einen Frau ablenken zu lassen, die ihn in manchen Nächten wach hielt. Schwitzend.

»Unsinn, Bram. Ich will nichts davon hören.«

»Tja, sucht euch jemand anderen«, erklärte Ghleanna ihnen allen. »Ich habe nicht ein halbes Jahrhundert Ausbildung und noch mehr Schlachten hinter mir, um als Babysitter für Bram den Gnädigen zu enden.«

Beleidigt blaffte Bram: »Hättest du gern ein echtes Messer, um es in meinen Eingeweiden umzudrehen, Ghleanna?«

»Es ist nichts Persönliches«, sagte sie noch einmal.

»Na klar. Nichts Persönliches.«

»Was ich amüsant finde«, warf Rhiannon ein, ohne auf die beiden zu achten, »ist, dass du glaubst, ich würde dich darum bitten, Ghleanna vom Cadwaladr-Clan. Nach all der Zeit als Hauptmann des Zehnten Bataillons möchte man meinen, du könntest einen Befehl von einer Bitte unterscheiden.«

Ghleanna machte ein Geräusch mit den Nüstern, das klang wie ein wütender Bulle kurz vor dem Angriff. »Und man könnte meinen, eine Königin würde nicht das Talent ihrer Drachenkrieger mit Zentaurenmist-Aufgaben wie Babysitting verschwenden!«

»Erheb ja nicht die Stimme gegen mich, Cadwaladr! Ich bin nicht einer deiner Soldaten!«

»Das merke ich, denn die würden meine scheiß Zeit nicht verschwenden!«

»Es reicht!«, brüllte Bercelak der Große und brachte die beiden Frauen damit zum Schweigen. Schwarze Augen, denen seiner Schwester so ähnlich, richteten sich auf den wütenden Hauptmann. »Entschuldige dich, Ghleanna.«

»Von wegen ent…«

»Entschuldige dich!«, dröhnte die Stimme des königlichen Gemahls durch die Höhle, dass sämtliche Höflinge neben Bram sich hastig in Richtung der Ausgänge bewegten. Augenblicklich senkte Ghleanna den Blick.

»Es tut mir leid, wenn ich dich verärgert habe, meine Königin.«

Rhiannon grinste. »Na, na, Schwester. Wir sind doch alle Freunde hier.« Sind wir? »Und ich weiß, du wirst mir diesen Gefallen tun.« Die Königin stand auf, ging zu Bram und tätschelte ihm zu seinem Entsetzen die Schulter. »Bram bedeutet mir und diesem Hof so viel. Wir sind zusammen aufgewachsen – und seine Sicherheit ist von größter Wichtigkeit. Glaubst du, ich würde das einfach irgendwem anvertrauen?« Sie lehnte den Kopf an Brams Schulter, und Bram ballte die Klauen zu Fäusten. Er wollte nur noch weg von dieser Verrückten. »Ist Bram nicht einfach wunderbar? Wie er so wichtige Bündnisse und Waffenstillstände für mich verhandelt? Findest du ihn nicht einfach genauso anbetungswürdig wie ich?«

Der Gemahl der Königin stand jetzt vor Bram, ragte über ihm auf wie die meisten männlichen Mitglieder des Cadwaladr-Clans, und starrte Bram mit solchem Hass an, dass der nur noch ausrufen wollte: »Das geht nicht von mir aus! Ich schwöre es, das geht nicht von mir aus!«

Doch bevor der furchterregende Mistkerl Teile von Bram entfernen konnte, die auf jeden Fall vermisst würden, zog Ghleanna ihren Bruder mit einem lauten Seufzen am Unterarm.

»Komm, Bruder. Erzähl mir, was das für eine hochwichtige Aufgabe ist und warum ausgerechnet ich unter allen Drachenkriegern sie ausführen muss.«

Sie schleppte Bercelak aus der Höhle und Bram schaute seine alte Freundin und jetzt Regentin aller Südlanddrachen an. Und mit aller Offenheit fragte er: »Warum, Rhiannon? Warum hasst du mich so?«

»Was ist hier los?«, wollte Ghleanna von ihrem Bruder wissen, sobald sie einen ruhigen Alkoven für sie gefunden hatte.

»Woher soll ich das wissen? Ich meine, was könnte Rhiannon in diesem zu viel denkenden Mistkerl sehen? Er tut den ganzen Tag nichts anderes als lesen und Papier beschriften. Es kommt einem vor, als wäre er mit seinen Gedanken die ganze Zeit tausend Meilen weit weg. Das ist ein Schwätzer, kein Macher.«

»Das meine ich nicht, du Schwachkopf. Ich meine: Was ist los, dass du glaubst, es wäre nötig, dass ich den Friedensstifter irgendwohin begleite? Und ich rate dir, einen guten Grund zu haben, Bruder. Sonst werde ich höchstwahrscheinlich unwirsch.«

Bercelak holte tief Luft und versuchte, den Drang zu verscheuchen, dem armen Bram die Flügel auszureißen. Ihr Götter, sie beide würden niemals Freunde werden. »Der Königliche reist in die Wüstenländer, um uns ein Bündnis mit den Sandfressern zu verschaffen.« Das war der Spitzname ihrer Sippe für die Sanddrachen der Wüstenländer.

»Warum? Wir hatten doch nie Probleme mit ihnen.«

»Und dieser Königliche« – Bercelak schnaubte ein bisschen – »will, dass es auch so bleibt. Aber ich verstehe nicht, warum du ein Problem mit Babysitting hast – ich dachte, du magst ihn.«

»Das tue ich auch. Bram ist lieb.« Lieber als jeder andere Drache, den sie kannte, was ihn auch zum merkwürdigsten Drachen machte, den Ghleanna kannte. »War’s das also? Rhiannon braucht mich nur, um sicherzugehen, dass Bram dorthin und wieder zurückkommt?«

»Genau genommen war es meine Idee, dass du ihn hinbringst.«

Ungläubig fragte Ghleanna: »Wozu, bei allen verfluchten Höllen?« Wenn irgendeiner wusste, wie schlecht Ghleanna im Babysitten war, dann war es ihr Bruder. Selbst ihre eigene Mutter hatte Ghleanna irgendwann nicht mehr erlaubt, Bercelak zu hüten, nachdem sie ihn über einem aktiven Vulkan hatte baumeln lassen und gedroht hatte, ihn hineinzuwerfen. Und dann war da noch das eine Mal gewesen, als sie Bercelak allein auf einer Bergspitze zurückgelassen hatte, als er noch nicht fliegen konnte, aber nicht, ohne ihm vorher zu sagen: »Es ist nicht so, dass Mum und Dad dich nicht lieben – sie wollen dich nur nicht mehr. Aber ich bin mir sicher, irgendwann kommt jemand vorbei, der dich haben will.«

Grausam vielleicht, aber er war schon damals so ein arroganter kleiner Scheißer gewesen, dass sie einfach nicht anders gekonnt hatte. Und ihre Eltern hatten ihn am Ende heulend dort gefunden und nach Hause gebracht.

»Weil ich jemanden brauche, auf den ich zählen kann«, erwiderte ihr Bruder. »Bis vor Kurzem warst du die Verlässlichste von uns allen. Ich hoffe ehrlich, das hat sich nicht dauerhaft geändert.«

»Fang nicht damit an, Bruder.«

»Wegen eines Typen, der dich nicht verdient hat.«

Er fing damit an!

»Ich werde nicht darüber sprechen«, knurrte sie und ging. Doch ihr Bruder schlang ihr den Schwanz um den Hals und riss sie zurück. »Ack!«

»Meine Schwester«, sagte er und zog die Schlinge um ihren Hals fester, bis sie Mühe hatte zu atmen, »wäre nicht so dumm, wegen eines Kerls alles zu verlieren, wofür sie so hart gearbeitet hat. Meine Schwester«, sprach er weiter, ohne auf Ghleannas Krallen zu achten, die nach ihm schlugen, »würde sich nie von irgendeinem idiotischen Drachen einreden lassen, dass sie aufgrund ihres beispielhaften Könnens auf dem Schlachtfeld weniger wert sein könnte als irgendein anderes Weib.« Bercelak begann, sie wiederholt auf den Höhlenboden zu schlagen wie früher, als er gewachsen und sich bewusst geworden war, dass seine Schwester ihn jahrelang absichtlich gequält hatte. »Und meine Schwester würde nie, niemals zulassen, dass irgendein Typ, der ihrer sowieso nie würdig war, sie davon abhält, direkte Befehle von ihrer Königin anzunehmen.«

Er knallte sie noch ein letztes Mal auf den Boden, dass die Höhlenwände bebten, bevor er seinen Schwanz wegnahm. »Das«, sagte er sanft, »würde meine Schwester niemals tun, richtig?«

»Du bist ein bösartiger Mistkerl!«

»Aber das wusstest du, Ghleanna. Du glaubst doch nicht, das würde sich ändern, nur weil ich eine Gefährtin gefunden habe, oder?«

Ghleanna stand auf und knetete mit den Krallen die schmerzende Kehle. »Nein. Eigentlich nicht.«

Ihr Bruder legte ihr die Klaue auf die Schulter, ohne darauf zu achten, wie sie zusammenzuckte. »Ich weiß, er hat dich verletzt, Ghleanna …«

»Nein.« Sie musste ihn zum Schweigen bringen. Sie konnte nicht mehr davon ertragen. »Er hat mich nicht verletzt, Bercelak. Er hat mich lächerlich gemacht. Vor meiner ganzen Sippe – vor meinen Soldaten.«

»Und das hat er getan, weil er eifersüchtig ist.«

Sie musste lachten. »Worauf?«

»Darauf, dass er dich in einem fairen Kampf nie besiegen könnte. Es zerfrisst ihn, dass du stärker bist als er, schneller, eindeutig klüger und dass du von deinen Soldaten verehrt wirst. Und statt dich zu behaupten, hast du dich vor diesem Zentaurenmist in deiner Höhle versteckt wie ein wertloser Mensch. Hast dich in blinden Stumpfsinn gesoffen und alle ignoriert, denen du wichtig bist. Wie Mum und diesen Bastard.«

»Du meinst Dad?«

»Nenn ihn, wie du willst.« Bercelaks ständig finsterer Blick wurde ein bisschen weicher. »Und ja, Schwester, er weiß sehr wohl, dass das zum Teil sein Werk ist.«

»Das ist es eigentlich gar nicht.« Ghleanna wischte sich die Tränen ab, die ihr die Schnauze hinunterrannen. »Meine eigene Dummheit hat mich dorthin gebracht.«

»Dann bring es in Ordnung, Schwester.« Er hatte jetzt beide Klauen auf ihren Schultern. »Führe ohne Fragen diese Aufgabe für deine Königin durch. Nimm ein paar von unserer Sippe mit. Ich habe gehört, die Lage entspannt sich auf den Feldern der Wiederkehr in den Südlichen Hügeln nahe der Heimat des Friedensstifters. Addolgar ist dort. Er wird für die Reise zu haben sein, glaube ich.«

Ghleanna schüttelte den Rest ihrer kläglichen Tränen ab und riss sich zusammen. »Addolgar auch? Du brauchst uns beide dafür? Warum?«

»Weil Rhiannon zu einer der stärksten Monarchinnen des letzten Jahrtausends in dieser Region wird, wenn dieses schwache Kätzchen von einem Drachen den König der Sanddrachen dazu bringt, dieses Bündnis zu schließen.«

»Oh … deshalb.«

»Es muss noch jemand anderen geben, Rhiannon. Irgendjemand anderen.«

»Bei niemandem wärst du so sicher wie bei Ghleanna.«

Bram seufzte und überlegte, wie er es seiner gefährlich labilen Königin vorsichtig erklären konnte, ohne sie oder ihre neu hinzugewonnene Sippe zu beleidigen. Wenigstens befanden sie sich jetzt in ihrem Privatgemach und weit weg von den neugierigen Augen und Ohren ihres Hofes.

»Das sind heikle Verhandlungen, Rhiannon. Der König der Sanddrachen muss mit Vorsicht behandelt werden. Mit unendlicher Vorsicht.«

»Ach! Diese launischen ausländischen Royals. Wie hältst du diese Launenhaftigkeit bloß aus, mein Freund?«

Hörte sie sich eigentlich manchmal selbst zu? Wahrscheinlich nicht.

»Mit Geduld«, antwortete er. »Und keiner der Cadwaladrs ist für seine Geduld bekannt.«

Rhiannon legte den Kopf schief und betrachtete ihn mit ihren blauen Augen. »Aber wir sprechen nicht von den Cadwaladrs, oder, alter Freund? Ich spüre, wenn wir von irgendjemand anderem aus Bercelaks Sippe sprechen würden, wäre das kein so großes Problem. Tun wir aber nicht. Wir sprechen von Ghleanna.«

Bram schluckte. »Und?«

Die Königin begann, Bram zu umkreisen; ihre Schwanzspitze zeichnete dabei kleine Zeichen in die festgestampfte Erde des Höhlenbodens. »Die hübsche, starke, aufsässige, schwierige und narbige Ghleanna.«

»Ich weiß, wer sie ist, Rhiannon. Ich verstehe nur nicht …«

»All die Narben von all diesen Kämpfen, die ihren Körper überziehen. Ihren langen, starken Körper. Sogar ihr Schwanz hat Narben – und eine besonders lange Spitze

»Hör auf.«

»Und wenn sie wütend wird, Bram … wenn sie sich direkt vor dich stellt und bedrohlich und böse und kalt wird und du in dieser Sekunde weißt, dass du niemals jemanden kennenlernen wirst, der so tödlich ist wie …«