Cover

Drogen & Sucht

Helmut Kuntz ist Familientherapeut und erfahrener Suchtexperte. Seit dreißig Jahren führt er an Schulen Kurse zur Suchtprophylaxe durch und arbeitet zusammen mit Jugendlichen wie Erwachsenen, mit Einzelnen wie Gruppen im Rahmen von präventiven und therapeutischen Maßnahmen. Im Beltz Verlag erschienen auch seine Bücher »Der rote Faden in der Sucht« (4. Auflage 2009), »Haschisch« (1. Auflage 2012) und »Verstehen was uns süchtig macht (1. Auflage 2015).

Fast jeder ist in der heutigen Gesellschaft in irgendeiner Weise vom Thema »Sucht« berührt. Zigaretten, Alkohol, Partydrogen, aber auch Essstörungen oder Internet- und Computerspielsucht sind gesellschaftlich so weit verbreitet, dass wir alle direkt oder indirekt damit zu tun haben. In seinem Buch beschreibt Helmut Kuntz die Sucht als eine Beziehungskrankheit und setzt sich kritisch mit einer Gesellschaft auseinander, die vielfach selbst süchtig agiert. Ein genauer Wegweiser durch die Welt der Drogen gibt einen Überblick über alle gängigen Substanzen und ihr Risikopotenzial sowie über stoffungebundene Verhaltensabhängigkeiten. Tipps für Eltern und ein Kapitel, wie die Betroffenen selbst mit ihrer Sucht umgehen und sie überwinden können, runden dieses außergewöhnliche Buch ab.

Impressum

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-86401-7

Das Buch erschien erstmals 2005 unter dem Titel »Das SuchtBuch – Was Familien über Drogen und Suchtverhalten wissen müssen«.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.

www.beltz.de

5., aktualisierte und erweiterte Auflage

© 2016 Beltz Verlag, Werderstr. 10, Weinheim

Umschlaggestaltung: www.stefanielevers.de (Gestaltung),
www.stephanengelke.de (Beratung)

Satz: Lelia Rehm

ISBN 978-3-407-22572-6

Für Karl-Hans

Inhalt

Vorwort zur aktualisierten und erweiterten Ausgabe 2016

Vorwort

1
»Meine Position zu Drogen und Sucht« – Eine Einstiegsübung

2
Die süchtig agierende Gesellschaft

3
Der rote Faden in der Sucht

4
Sucht als Beziehungskrankheit

5
Davon ist die Rede: »Konsum«, »Sucht«, »Abhängigkeit«, »Süchtige Abhängigkeit«

6
Das Wesen und die Dynamik der süchtigen Beziehungsstruktur

Die unbestimmte Vieldeutigkeit der Beziehungsinformation – »Hat er oder hat er nicht?«

Untergründige Spannung und Ambivalenz im Chaos widerstreitender Gefühle – »Ich liebe dich, ich hasse dich«

Die Einengung der Welt – »Die Maus in der Falle«

Der Verlust der Lebendigkeit – »Ich bin so zu«

Der Verlust von Werterfahrung – »Das ist mir doch egal«

Das Herstellen von Hilflosigkeit – »Ich kann das nicht« oder »Du kannst mir ja doch nicht helfen«

Die chronische Grenzverletzung – »Bist du bescheuert, oder was?«

Die Entwertung der Beziehungsangebote – »Lass mich bloß in Ruhe«

Machtvorbehalt und Machtspielchen – »Du kannst mir gar nichts«

Die Spaltung – »Dann zersplittert alles in mir«

Die Ausbreitung des süchtigen Virus – »Wenn du anders bist, bist du keiner von uns«

Selbst- und Fremdzerstörung – »Macht kaputt, was euch kaputtmacht!«

7
Coabhängigkeit als Kehrseite der süchtigen Medaille

8
Die Suche nach dem »Suchtgen« oder: Die nicht existente Stecknadel im Heuhaufen

9
Wegweiser durch die Welt der Rauschdrogen

Was ist was? Das ABC der Begrifflichkeiten

Basisinformationen zur Orientierung auf dem Markt der Möglichkeiten: Die Drogenkarten

Legale Einstiegsdrogen

Erste Grenzüberschreitung

Illegale Rauschmittel

Zweite Grenzüberschreitung

Dritte (und ultimative) Grenzüberschreitung

Kurzsteckbriefe zu weiteren Rauschdrogen

Vom Scheuen klarer Worte – Zwischen Repression, Tolerierung, Akzeptanz und Legalisierung

10
Stoffungebundene Verhaltenssüchte

Macht-, Herrsch- und Kontrollsucht

Arbeitssucht

Glücksspielsucht

Kaufsucht

Smartphone-, Computer- und Internetsucht

Internet-Pornografie und -Sexsucht

Magersucht und andere Ess-Störungen

Selbstverletzendes Verhalten

11
Suchtmittelgebrauch und Abhängigkeit bei Eltern

Wenn Eltern rauchen

Wenn Eltern trinken

Hilfestellungen für Kinder und Jugendliche in Familien mit Alkoholproblemen

12
Suchtmittelgebrauch bei Kindern und Jugendlichen

Irrungen und Wirrungen im Gehirn – »Da hat es einfach bei mir ausgesetzt«

Blauer Dunst im Kinderzimmer – Was tun?!

Ohne Alkohol läuft nichts

Die Macht der illegalen Alltagsdrogen

Weltmacht Cannabis

Ecstasy – Wohin soll die Reise gehen?

Eine Gemeinsamkeit: Die blockierte Reifung – Von den Schwierigkeiten und dem Widerwillen, erwachsen zu werden

Crystal Meth – Die Zeitgeistdroge

13
Handreichungen für Eltern

Was Kinder brauchen – Ein Kapitel zum Mitarbeiten

Was Eltern dringend brauchen

Wenn die Seele SOS sendet – Hinweise und Kennzeichen für Suchtgefährdung und Drogengebrauch

Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist – Verhaltensmöglichkeiten im Ernstfall

Gruppen für Mütter und Väter Drogen gebrauchender Kinder

14
Das Handlungskapitel für (Nicht-)Konsumenten

Was ist das Gemeinsame zwischen einem jugendlichen Gehirn und einem PC?

Vom »Ja« oder »Nein« oder »Weiß nicht recht« zu Suchtmitteln

Shisha oder nicht Shisha? – Das ist hier die Frage

Wie du der Zigarettenindustrie ein Schnippchen schlägst

15
Unterhaltsames mit Hintersinn

Wie Sie es erfolgreich vermeiden, sich selbst am geschicktesten auszutricksen!

Fragenkatalog zu Suchtmittelgebrauch, Suchtverhalten und Abhängigkeit:

Wider den tierischen Ernst – Ein Familienversuch

Ein Schluss, der kein Ende ist

Vorwort zur aktualisierten und erweiterten Ausgabe 2016

Bald dreißig Jahre Arbeit in der Drogen- und Suchtprävention, in Beratung und Therapie – und noch kein bisschen müde, mutlos oder gar ausgebrannt. Drei Jahrzehnte in diesem schwierigen Arbeitsfeld, das bedeutet Begegnungen mit Tausenden von Menschen beiderlei Geschlechts, aller Altersstufen, jeder sozialen Herkunft und Schicht, jeglichen Bildungsstandes und aus allen beruflichen Bereichen und vielerlei Nationen. Tausende Menschen, das sind Tausende von Gesichtern, die mir über Sprache, Blicke, Mimik, Gestik und körperlichen Ausdruck ihre ganz persönliche Lebensgeschichte erzählen. Da kein Mensch eine Insel ist, und fühle er sich innerlich noch so einsam und isoliert, beinhalten Lebensgeschichten immer auch Familien- und Beziehungsgeschichten sowie Aussagen zum Zustand der Gesellschaft, in der wir alle leben.

Täglich neuen Menschen in der Drogen- und Suchtarbeit zu begegnen, bringt einen täglichen Zuwachs an Erfahrungen mit sich: menschlich wie fachlich bereichernde; heitere, humorvolle und leichte ebenso wie schwere, tief ernste, leidvolle und traurige; hoffnungsvolle wie enttäuschte; friedvolle wie aggressiv aufgeladene. In Zeiten, in denen wir als Drogenberater oder Suchttherapeut Erfolge beobachten dürfen, weil Klienten einen schädlichen Substanzgebrauch aufgeben oder sich von einer süchtigen Abhängigkeit zu befreien vermögen, geht uns die Arbeit leichten Herzens von der Hand. Erleben wir indes, dass wir Klienten trotz allem menschlichen wie fachlichen Bemühen an Drogen und Sucht verlieren, braucht es eine innere Haltung, die von Mitgefühl, Achtsamkeit und Selbstfürsorge getragen ist, um zwar mitzufühlen, aber niemals mitzuleiden.

In der Drogen- und Suchtarbeit bleibt keine Gefühlsqualität, keine Intensität, Tönung und Farbe des menschlichen Gefühlsspektrums ausgespart. Insofern ist jeder, der in diesem Bereich erfolgreich arbeiten möchte, gehalten, außergewöhnlich gut für sich selbst und seine eigene feste Positionierung zu sorgen. Der achtsame, selbstfürsorgliche Umgang mit der eigenen »Psychohygiene« ist eine unverzichtbare Voraussetzung in helfenden Berufen, insbesondere in der Drogen- und Suchtarbeit, bei der wir uns mit einem schwierigen Gegner anlegen. Da ich persönlich von Beginn an nicht nur Prävention »gemacht«, sondern immer bereits ein Stück private Prävention »gelebt« habe, sind mir die Lektionen von Achtsamkeit und Selbstfürsorglichkeit in Fleisch und Blut übergegangen. Ein Grund mehr, dass die Freude an meiner Arbeit ungebrochen weiter lebt.

Die »Sucht« als schwierigen Gegner zu bezeichnen, ohne sie freilich zu dämonisieren, hat einen sehr realen Hintergrund. Potenzielle Suchtmittel vermögen höchst eigenmächtige Wirkungen nach sich zu ziehen, wodurch ihren Nutzern die Kontrolle über das jeweilige Konsumverhalten entgleiten kann. Bei bestimmten Genuss- und Rauschmitteln können Konsumenten zeitweise durchaus das Gefühl haben, dass sie wie ein guter Freund oder angenehmer Gefährte ihr Leben begleiten, ohne dass sie dadurch in Schwierigkeiten gerieten. Bei Unbedacht werden aus guten Freunden oder Gefährten allerdings unversehens erbitterte Gegner. Die Eigenmächtigkeit potenzieller Suchtstoffe zu unterschätzen, ist in jedem Falle ein Fehler, welcher manchmal teuer bezahlt werden muss. Sucht kann überaus mächtig werden und zahlreiche individuelle, familiäre sowie soziale Dramen produzieren.

Unsere Zeit ist eine schnelllebige – übrigens auch ein suchtartiges Symptom. Mit ihrer Schnelllebigkeit ändert sich auch die Drogen- und Suchtarbeit. Es ist nicht möglich, sich als »erfahrener, alter Hase« bequem zurückzulehnen und in der Arbeit unbeseelte Routine walten zu lassen. Klienten ändern sich, Drogen und Suchtmittel ändern sich, theoretische Konzepte werden weiterentwickelt, praktische Arbeitsmethoden und Therapieansätze wachsen und reifen mit der Veränderung der eigenen Persönlichkeit, welche sich im Fluss der Zeit gleichfalls entwickelt. Persönlich arbeite ich heutzutage in vielen Belangen deutlich anders als zu Beginn meiner Tätigkeit im Drogen- und Suchtbereich. Trotz eines bewährten Fundus an sucht-, psycho- und körpertherapeutischen sowie familiendynamischen Methoden probiere ich zum Nutzen meiner Klienten immer wieder Neues aus, sei es, weil ich durch anregende Lektüre, eigene Fort- und Weiterbildung oder durch Supervision Inspiration erfahren habe, oder weil neue Methoden sich aus der eigenen Intuition herauskristallisieren. Seit einigen Jahren setze ich sowohl in der Einzel- wie in der Gruppenarbeit verstärkt die verändernden Kräfte von Imaginationen ein, denn Vorstellungskraft ist Zauberkraft. Die durch eine wachsende Zahl von Klienten bestätigten Erfolge bekräftigen die Sinnhaftigkeit der Methode auch in der Suchtarbeit.

Nichts hat mich persönlich wie meine Arbeit in den letzten Jahren allerdings so spürbar verändert wie mein Mich-Üben in der menschlichen Tugend des Mitgefühls. »Mitgefühl« ist eine ganz besondere Herzensqualität. Leben und Arbeiten aus dem Geisteszustand des Mitgefühls heraus sind mir zur »Herzensangelegenheit« geworden. Da hat sich eine regelrechte »Transformation« vollzogen. Ein ganz direkter praktischer Nutzen besteht unter anderem darin, mir einen neuen Zugangsweg zu eröffnen zu einer gänzlich neuen Klientel im Suchthilfesystem wie in der Psychotherapie generell: Wir treffen auf immer mehr junge wie erwachsene Menschen mit verlorenen Identitäten und verlorenen Seelen. Sie leben in ihrer Verlorenheit ein Leben »an den Rändern der Welt« und sind mit herkömmlichen therapeutischen Methoden kaum mehr zu erreichen. Sie danken mir meinen eigenen Wandlungsprozess durch Resonanz, denn sie lassen sich erreichen. Habe ich in früheren Zeiten noch traditionell in den in psychosozialen Arbeitsfeldern und psychotherapeutischen Ausbildungen weit verbreiteten Schlagwörtern »Abgrenzung« und »professionelle Distanz« gedacht, lebe ich heute in wohl verstandener »Verbundenheit« den menschlichen wie professionellen Gegenentwurf zu beiden. »Abgrenzung« wie »professionelle Distanz« samt ihrer konzeptionell-theoretischen Ummantelungen haben wachsendes Unbehagen in mir ausgelöst. Heute kann ich darin nur noch Denk- bzw. »Fühl«-Fehler erkennen. An ihre Stelle getreten ist ein mir weit menschlicher erscheinendes Verständnis von mitfühlender Verbundenheit. Rücke das bitte niemand aufgrund eines falschen Verständnisses in die Nähe von Distanzlosigkeit. »Verbundenheit« meint und ist Verbundenheit. Mit dieser inneren Haltung, getragen von Mitgefühl wie Achtsamkeit und Güte, geht das Leben und Arbeiten viel leichter, freudvoller und erfolgreicher von der Hand. In der Begegnung mit »verlorenen Menschen« lassen sich gemeinsame Wege in das Dunkel von Verlorenheit bahnen. Gelingt es durch entsprechende Haltung wie Methodik auch noch Licht in das Dunkel zu bringen, kann dort zwar noch Schatten sein, aber nicht länger das Dunkel abgründiger Verlorenheit.

Wer als Leser oder Leserin vielleicht ein eigenes »Schattenreich« aufhellen möchte, findet Orientierung wie Anregungen dazu in zwei neueren Büchern. Eine Einladung, in Ihrem eigenen Leben durch das Sich-Üben in Mitgefühl für sich selbst, die Mitmenschen und die gesamte Schöpfung zu mehr innerem Frieden, Freude und Gelassenheit zu finden, stellt mein Buch: »Zeit für Mitgefühl. Die wichtigste Übung im Leben« (Theseus-Verlag 2012) dar. Da Mitgefühl im rauen Alltag unserer Gesellschaft jedoch keine »Konjunktur« hat, befürchte ich, dass der Verlag in Kürze bereits die Geduld mit dem Buch verlieren wird. Dann wird es entweder im modernen Antiquariat landen oder als Neubearbeitung in einem anderen Verlag zu finden sein. Eine Fülle von Beispielen, wie sich meine innere Haltung von mitfühlender Verbundenheit in konkreter Methodik bei der Arbeit mit Suchtklienten zeigt, lassen die »Heilungskapitel« in »Verstehen, was uns süchtig macht« (Beltz-Verlag 2015) erkennen.

Vollziehen sich manche Veränderungen eher still und leise, brechen andere über uns herein. In jedem Falle sind sie das einzig Beständige. Veränderungen, neue Moden und Trends gebiert nahezu täglich auch die der Drogen- und Sucht(un)kultur innewohnende Getriebenheit:

Manche Moden wechseln schnell, andere halten sich: So das unter Jugendlichen grassierende Shisha-Rauchen, also das Rauchen von aromatisiertem Tabak in der Wasserpfeife. Eine der aktuell am häufigsten gestellten Fragen von Jungen und Mädchen lautet folglich: »Was ist schädlicher, Shisha-Rauchen oder Zigaretten?«. Deren Wunsch ist aber weniger zu hören, dass beides Risiken birgt, sondern ihren fälschlichen Glauben daran gestärkt zu bekommen, dass Wasserpfeife-Rauchen unschädlich sei, um damit ein Argument für das eigene Handeln an die Hand zu bekommen. Als Drogenberater muss ich bei der Erklärung dieser Frage daher Sorgfalt walten lassen und überprüfen, was von meinen Antworten bei den Jugendlichen tatsächlich ankommt. Es gilt zu vermeiden, dass sie nur das heraushören, was sie hören möchten. Zur »normalen« Shisha dazu gesellt hat sich die E-Shisha. Es fällt jungen Leuten ungemein schwer einzusehen, dass irgendetwas Problematisches daran sein könnte, nikotinfreie aromatisierte Liquids zu verdampfen.

Seit etlichen Jahren wird in schöner Regelmäßigkeit auf das verbreitete »Kampf«- und »Koma-Trinken« unter Jugendlichen verwiesen, welches sich durch alle Altersstufen, soziale Gruppierungen und Schichten hindurchzieht. Am Trend an sich hat sich wenig verändert, doch die geschlechtsspezifische Komponente erfährt eine sichtbare Veränderung. War exzessives Alkohol-Trinken bis vor einigen Jahren eher eine Domäne von männlichen Jugendlichen, so stehen die Mädchen oder jungen Frauen ihren männlichen Altersgenossen heutzutage kaum noch nach, überholen sie gar. Wer offene Augen hat zu sehen, sieht sie fast allerorten und nahezu zu jeder Tages- und Nachtzeit: Jungen und Mädchen mit Flaschen, Tragetaschen und Kästen in der Hand. Mit welchen Mengen an Bier, alkoholischen Mixgetränken, Wodka, Apfelschnaps und sonstigem Hochprozentigem sich bestimmte Cliquen verproviantieren, beweist einmal mehr, dass Alkohol mit Abstand die Droge Nummer Eins in unserer Gesellschaft ist. Nicht selten gleichzeitig konsumiert mit Cannabis, der am weitesten verbreiteten illegalisierten Substanz.

Cannabisprodukte werden auf hohem Niveau gebraucht. Auf Grund veränderter Parameter und Bedingungen rund um den Cannabisgebrauch junger Menschen verhärten sich allerdings auch dessen negative Folgeerscheinungen. Außerdem ist gegenüber früheren Generationen von Cannabisgebrauchern die Bereitschaft gewachsen, frühzeitig auf härtere Stoffe in der Drogenhierarchie zuzugreifen, vorzugsweise Ecstasy und Amphetamine sowie ähnlich wirkende Neue psychoaktive Substanzen.

Täglich Neue Psychoaktive Substanzen stellen uns vor ständig neue menschliche wie fachliche Herausforderungen. Am drängendsten stellt sich derzeit die Frage, wie wir mit der Ausbreitung von Crystal Meth umgehen. Da dieses Methamphetamin auf einem Marsch durch die Republik ist, habe ich ihm neben Alkohol, Cannabis und Ecstasy ein neues eigenes Kapitel im Buch gewidmet. Außerdem habe ich, vorwiegend durch Crystal Meth begründet, bei den Drogenkarten eine »No-Go-Zone« kartiert.

Ein Zug, der fährt und nicht mehr zu bremsen ist, führt immer mehr junge wie erwachsene Menschen in eine suchtartige Abhängigkeit von digitalen Medien, seien es das Smartphone, das Internet oder der Computer. Insbesondere die Zahl junger Männer, die in exzessiver, süchtig abhängiger Art und Weise Computerspiele praktizieren, wächst rasant an. Deren unbeschränkten Zugang zu Spielekonsolen, PC und Internet zu begrenzen, ist in zahlreichen Familien mittlerweile ein größerer Zankapfel als der Konsum von Alkohol oder Cannabis.

Besorgnis erregend ist auch das um sich greifende selbstverletzende Verhalten vorwiegend von Mädchen und jungen Frauen. Ihr Ritzen und Schneiden ruft bei Angehörigen wie Dritten nicht selten Panik und Hilflosigkeit hervor. Chronifiziert ist es eine schwer zu behandelnde Form suchtartigen Verhaltens.

Da offenkundige Verhaltenssüchte wie scheinbar neue Normalitäten unseren Alltag immer stärker prägen, nimmt das Kapitel über die Verhaltensabhängigkeiten im Buch nun einen größeren Raum ein. Doch war gleichzeitig Kompromissbildung gefragt, denn kein Buch kann alles gleichermaßen enthalten. Deutlich mehr zu offenen wie versteckten oder bemäntelten Verhaltenssüchten finden Sie als Leser und Leserin in »Verstehen, was uns süchtig macht. Hilfe zur Selbstheilung«.

Kompromissbildung war auch an einem zweiten Punkt gefragt: Sobald ein Buch durch Überarbeitung länger wird, muss es gleichzeitig kürzer werden. Geopfert habe ich in dieser Ausgabe daher ein Kapitel »Frühe Einmischung tut Not« über wirksame Suchtprävention im Lebens- und Arbeitsfeld Schule. Doch leider ist das nur konsequent, denn ich folge der Logik des Zeitgeistes mit eher unheilvollen Veränderungen. Still und leise, von der Öffentlichkeit bislang nicht wahrgenommen, werden quer durch die gesamte Republik von Seiten der Politik die Gelder für die Drogen- und Suchtprävention, Schulsozialarbeit und weitere soziale Bereiche zusammengestrichen. Schulische Suchtprävention, wie ich und meine direkten Kollegen bzw. Kolleginnen sie derzeit noch praktizieren, wird es in wenigen Jahren nicht mehr geben. Sie stirbt aus. Tritt überhaupt noch etwas an ihre Stelle, sind es immer mehr standardisierte Präventionsprogramme, weit ab von jeglicher Beziehungsarbeit. Ähnliche Entwicklungen vollziehen sich auch in den Bereichen von Drogenberatung und Suchttherapie. Da wird noch vieles an gesellschaftlichem Rückschritt auf uns zukommen, der Zug nimmt gerade Fahrt auf. Die Schuldenbremse, die als Alibi benutzt wird, wird so zum Totengräber jeden sozialen Gedankens.

Mittelkürzungen kommen von außen. Veränderungen im Sinne von Gesundung oder gar Heilung kommen von innen oder von einem heilsamen Zusammenwirken von Innen und Außen. Um den wachsenden Verlockungen psychoaktiver Stoffe und dem Gegner Sucht etwas positiv Veränderndes entgegensetzen zu können, sind durchdachte und stimmige Strategien vonnöten. Ebenso braucht es Materialien, auf welche professionelle Helfer, Lehrer, Eltern und Angehörige von Drogen gebrauchenden oder süchtig abhängigen Menschen sowie schließlich die Konsumenten selbst mit Gewinn zugreifen können. Mit der vorliegenden überarbeiteten und veränderten Auflage von »Drogen & Sucht« halten Sie gerade eine solche Materialie in der Hand. Ich freue mich als Mensch wie Autor außerordentlich, dass mein Buch so vielen Nutzern hilfreich war und ist. Weitere potenziell hilfreiche »Lesestoffe« lege ich Ihnen als Buchtipps zum Weiterlesen kapitelweise ans Herz.

Um Bücher ständig aktuell zu halten, braucht es die Bereitschaft des Autors zur Überarbeitung und es braucht den Verlag, der die Folgeauflagen immer wieder herausbringt. So bin ich dem Beltz-Verlag, insbesondere Carmen Kölz und Katrin Meisel, sehr dankbar, dass das Handbuch »Drogen & Sucht« in seiner schönen und leserfreundlichen Aufmachung bereits zum wiederholten Male aktualisiert wird. Das ist längst nicht mehr selbstverständlich auf dem Büchermarkt.

Saarbrücken, im August 2015

Vorwort

Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN.

Kurt Tucholsky

Ob es uns gefällt oder nicht, Fakt ist, dass es in unserer Gesellschaft praktisch keine einzige Familie mehr gibt, die nicht in irgendeiner Weise direkt oder indirekt vom Thema »Sucht« berührt ist. Zwar fühlen sich immer noch erstaunlich viele Menschen in keiner Weise persönlich angesprochen, wenn es um Drogen oder Sucht geht. Doch wer der festen Meinung ist, er habe in dieser Gesellschaft eine Chance, dem Thema zu entgehen, gibt sich einer trügerischen Verkennung hin und wiegt sich in falscher Sicherheit.

Rauchen, Alkohol, Cannabis, Partydrogen oder die vielen Ausprägungen nichtstofflichen Suchtverhaltens sind in einem derart hohen Maße Allgemeingut, dass wir alle direkt oder auf Umwegen damit zu tun haben. Und selbst dort, wo eine Familie als lebendiges Miteinander völlig frei von jedwedem eigenen Genuss- oder Rauschmittelgebrauch ist, drängt ihr die Konsumgesellschaft mit aller Macht ihre nach suchtartigen Gesetzmäßigkeiten organisierten Strukturen auf.

Dies voraus geschickt, ist das vorliegende »SuchtBuch« tatsächlich als familientaugliches Handbuch mit einem Angebot für alle gedacht: für Mütter und Väter, Söhne und Töchter, Frauen und Männer, Jungen und Mädchen, für Erwachsene gleichermaßen wie für heranwachsende Menschen in ihrer jeweiligen alterstypischen Betroffenheit, für Gebraucher und Konsumenten potenzieller Suchtmittel wie für Nichtkonsumenten, für Selbstbetroffene wie Mitbetroffene, für Gefährdete, Abhängige und Coabhängige.

Jede und jeder findet in diesem praktischen Handbuch das, was er an seinem Platz in der Familie oder in seinem sozialen Umfeld braucht, um bestimmungsgemäß mit Genussmitteln oder Drogen bzw. sachgerecht mit dem Thema »Sucht« umgehen zu lernen. Jeder Leser kann das Buch wahlweise als nützliche Informationsquelle oder als praxisorientierte Handlungsanleitung für alltägliche Situationen nutzen, je nach eigener Interessen- und Bedürfnislage sowie innerer Bereitschaft, sich auf die Inhalte und Botschaften des Textes einzulassen.

Lesern gleich welcher Altersstufe, welche selbst Genuss- oder Rauschmittel benutzen, werde ich nahe treten, unabhängig davon, ob es sich um den Gebrauch legaler oder illegalisierter Stoffe handelt. Ich gedenke das in einer Art und Weise zu tun, die es den Gebrauchern potenzieller Suchtmittel innerlich ermöglicht, mein Ihnen-nahe-Treten zuzulassen, ohne auf Abwehr zu schalten. Ich werde an keiner Stelle des Buches mit erhobenem Zeigefinger oder moralisierendem Absolutheitsanspruch daherkommen. Ich werde klare Positionen beziehen, aber Raum lassen für andere Sichtweisen der Dinge. Ich werde jederzeit eine deutliche Sprache sprechen, aber mich niemals abwertend oder verurteilend zeigen.

An zahlreichen Stellen beziehe ich den Leser über drei Wege direkt in das Buch mit ein. Erstens, indem ich Sie als erwachsenen Leser oder dich als jugendlichen Benutzer des Buches persönlich anspreche. Zweitens, indem ich zu Denkpausen sowie zu interaktiven Übungen bzw. Handlungsproben anrege, und drittens, indem ich mich dafür einsetze, unmittelbare Veränderungsschritte auch wirklich anzugehen. Von daher weist das Buch neben der Sachebene eine Beziehungsebene auf sowie eine Ebene, welche einiges an Unterhaltungswert zu bieten hat.

Ich lege in allen Kapiteln Wert auf leichtes Verständnis und flüssige Lesbarkeit. Mein Buch über Drogen, Suchtverhalten und Vorbeugung »für die ganze Familie« soll von Jugendlichen ebenso verstanden werden wie von Erwachsenen. Theoretisches Fachchinesisch ist genauso wenig meine Sache wie überdrehter oder sich gar anbiedernder Szenejargon.

Wenn uns als sozialen Wesen der Humor vergeht, sterben die innere Lebendigkeit und Glücksfähigkeit mit ab. Daher hat Lachen einen eigenen menschlichen wie therapeutischen Wert. Wiederholt sind Textpassagen deshalb mit einem humoristischen Augenzwinkern geschrieben. Die Melodie der Sprache nimmt ihnen dennoch nichts von ihrem thematischen Ernst. Sie verdeutlicht jedoch, dass es auch einen »leichten Umgang« mit einem »schweren Thema« geben kann, der ohne unangemessene Verniedlichung in der Sache das Recht auf gesunden, heilsamen Frohsinn bejaht.

Inhaltlich schlage ich in meinem Buch den Bogen von der theoretischen Seite der Sucht zur alltäglich gelebten Praxis im Umgang mit Genuss- und Rauschmitteln sowie zur menschlichen Begegnung mit den Nutzern von Substanzen aller Art. Ich lege die Strukturen der nach suchtartigen Mustern funktionierenden Gesellschaft offen und beschreibe das Wesen sowie die Dynamik der süchtigen Beziehungsstruktur. Das geschieht weniger theoretisch-abstrakt, sondern anhand zahlreicher aus dem Leben gegriffener Beispiele, die Jugendlichen wie Erwachsenen an etlichen Stellen vertrauter vorkommen dürften, als ihnen jeweils lieb sein mag. Nur bringen sie es bisher vermutlich nicht in Verbindung mit den typischen Gesichtern der süchtigen Beziehungsstruktur. Dieses Kapitel liegt mir deshalb am Herzen, weil es unmittelbar geeignet ist, die Handlungsfähigkeit des Lesers gegenüber dem Thema »Sucht« zu erhöhen. Es ermöglicht nicht bloß, die »Grammatik« der süchtigen Abhängigkeit vom Kopf her besser zu verstehen, sondern bereitet darüber hinaus den Boden, sie auf einer tieferen Ebene gefühlsmäßig zu erfassen. Das mindert private wie professionelle Gefühle von Rat- und Hilflosigkeit im Umgang mit Rauschmittel gebrauchenden Menschen. Insofern ist das entsprechende Kapitel gedacht als eine Maßnahme gegen die Ohnmacht.

Man kann natürlich auch direkt zum Thema kommen, indem man das Buch wie ein Nachschlagewerk oder als Ratgeber zur konkreten Hilfestellung benutzt. Die entsprechenden Seiten haben einen grauen Randbalken. Danach sollte man sich aber in jedem Fall den eher allgemeinen Mechanismen von Sucht und Suchtverhalten zuwenden, wie sie in den ersten Kapiteln beschrieben werden. Denn ohne eine Kenntnis der »Suchtgrammatik« bleiben nicht nur Erklärungsversuche, sondern auch konkrete Schritte zur Unterstützung und Hilfe von Süchtigen auf halbem Wege stehen, und auch viele der Schwierigkeiten und Enttäuschungen, mit denen man sich unweigerlich konfrontiert sieht, bleiben ohne Erklärung.

Die Basisinformationen zu legalen wie illegalen bzw. illegalisierten Genuss- und Suchtmitteln liefern alle wesentlichen Informationen zum schnellen Nachschlagen. Das Eingehen auf nichtstoffliche Verhaltenssüchte zeigt auch einige weniger vertraute Gesichter der Sucht auf, die in unserer Gesellschaft maßlos verkannt werden.

Der Umgang mit den verbreitetsten Genuss- und Rauschmitteln sowie die damit einhergehenden psychosozialen Probleme werden aus Sicht von Kindern und Jugendlichen wie aus dem Blickwinkel Erwachsener behandelt. Alle Alters- und Zielgruppen, selbst betroffene Konsumenten psychoaktiver Stoffe sowie mittelbar berührte Familienangehörige oder anderweitig coabhängig verstrickte Menschen erhalten konkrete Hilfestellungen, welche geeignet sind, erstarrte Beziehungsstrukturen wieder in Bewegung zu bringen. Hinweise auf Kennzeichen und Warnsignale für Drogengebrauch beantworten häufig gestellte Fragen von Müttern und Vätern, Lehrern, Sozialarbeitern oder sonstigen Angehörigen helfender Berufsgruppen. Die ausführlichen Handreichungen in gesonderten »Servicekapiteln« für jugendliche wie erwachsene Nutzer des Buches sind ebenso konkret und handfest wie praxistauglich verfasst. Sie bleiben nicht im Unverbindlichen, sondern geben detaillierte Hinweise zum angemessenen Vorgehen in kritischen Alltagssituationen.

»Unterhaltsames mit Hintersinn« eröffnet als Blick nach vorne Wege zur Selbsterkenntnis sowie zu individueller, familiärer oder auch zu professionell motivierter Veränderung.

Für die »Vermännlichung« der deutschen Sprache habe ich leider keine Lösung parat, welche die Leserinnen meines Buches wirklich zufrieden stellen könnte. Es widerstrebt mir, Satzungeheuer zu bilden, welche in schöner Regelmäßigkeit die männliche wie weibliche Schreibweise wiederholen. Ebenso wenig befriedigend finde ich andere, in der Schriftsprache notdürftig verbreitete Halbheiten, um dem Dilemma der Gleichberechtigung von weiblicher wie männlicher Form im Sprachgebrauch zu entgehen. Insofern benutze ich der Lesbarkeit wegen meist durchgängig die männliche Schreibweise im Text. Nur wo es der Inhalt nahe legt, werden Frauen und Männer, Mädchen und Jungen, Mütter und Väter oder Töchter und Söhne jeweils für sich angesprochen. Bei allen Leserinnen des Buches kann ich für diese pragmatische Vorgehensweise nur um Verständnis werben. Lassen Sie den Inhalt des Buches für sich sprechen.

Aufgrund der Aufmachung des Buches komme ich im Text völlig ohne Anmerkungen aus, so dass auch auf ein Literaturverzeichnis am Ende verzichtet werden kann. Den Leser wird es freuen, da der Lesefluss nicht beeinträchtigt wird. Wo ich auf Gedanken anderer Autoren zurückgreife, finden sich die entsprechenden Hinweise in den »Büchertipps zum Weiterlesen«, welche direkt an die entsprechenden Kapitel anschließen. Die Buchhinweise sind von kommentierenden Buchstaben begleitet: A verweist auf allgemeinverständliche Bücher, während F eher ausgesprochene Fachbücher bezeichnet. Mit einem J versehene Bücher sind in ihrer Schreibweise auch für Jugendliche verständlich. Ein E markiert dagegen die Lesehinweise, welche sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richten.

Einen herzlichen Dank richte ich an meine direkten Teamkollegen der »Fachstelle für Suchtprävention« der »Aktionsgemeinschaft Drogenberatung e. V.« in Saarbrücken: Stefanie Mohra, Karin Berty und Fernando Espinoza. Wir sind in unveränderter personeller Zusammensetzung seit über 25 Jahren gemeinsam durch private Höhen und Tiefen wie durch die konzeptionellen Weiterentwicklungen unserer Arbeit gegangen. Das verbindet menschlich und ist für die Qualität der fachlichen Arbeit im Suchtbereich ein seltener Glücksfall. Auch bei den übrigen Mitarbeitern der »Aktionsgemeinschaft Drogenberatung« bedanke ich mich für manchen fachlichen wie privaten Austausch. (Mittlerweile hat sich die »Politik« in unsere Arbeit wie in unsere Strukturen eingemischt. Das hat u. a. zu einer neuen Namensgebung geführt. Die »Fachstelle für Suchtprävention« und die »Aktionsgemeinschaft Drogenberatung e. V.« sind als »Abteilung Psychosoziale Beratung« jetzt ein Teil der »Drogenhilfe Saarbrücken gGmbH«.)

Großen Dank und Respekt bringe ich meinen Klientinnen und Klienten entgegen, die nicht nur ein hohes Maß an Vertrauen in unsere gemeinsame Arbeit setzen, sondern mir zum Teil auch sehr private Anregungen, Kommentare und Lebensgeschichten zur vertrauensvollen Verwendung in diesem Buch zur Verfügung gestellt haben. Die Fülle an lebensechten Fallberichten im Text macht das Buch daher zu einem richtigen »Lesebuch«. Von heftigen Gefühlen bewegte Klienten drücken sich allerdings nicht immer gewählt aus. Manche Originalzitate klingen für zarter besaitete Gemüter in Form und Inhalt daher vielleicht etwas drastisch. Sie stehen jedoch trefflich für manche Abbilder unserer gesellschaftlichen Realitäten. Hätte ich derlei Statements an irgendeiner Stelle entschärft oder geschönt, würde ich das Vertrauen meiner Klienten missbrauchen und sie um ihr Recht betrügen, die Dinge so beim Namen zu nennen, wie sie sie empfinden. Einige Berichte, die nicht von eigenen Klienten stammen, sondern die ich mir aus dem Internet geliehen habe, sind allgemein zugänglich.

Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle noch an meinen Lektor Dr. Claus Koch vom Beltz Verlag, der mir beim Schreiben des Buches wiederum die größtmöglichen Freiheiten ließ. Die bereits langjährige Zusammenarbeit mit ihm trägt immer aufs Neue lesbare Früchte. (Obgleich in der Zwischenzeit im verdienten Ruhestand, gebührt ihm unverändert dieser Dank.)

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»Meine Position zu Drogen und Sucht« – Eine Einstiegsübung

Bevor Sie sich in das Lesen des Buches vertiefen, nehmen Sie sich bitte einige Minuten Zeit für eine kleine Einstiegsübung. Sie vermag mehr zu verdeutlichen als viele Worte.

Lesen sie zunächst in Ruhe die Schritte 1–3 zur Anleitung der Übung. Führen Sie die Übung anschließend durch. Erst danach widmen Sie sich den Hinweisen zum Sinn und Zweck des Ganzen.

Nehmen Sie das SuchtBuch und legen Sie es in der Mitte des Raumes, in welchem Sie sich gerade befinden, auf den Fußboden. Betrachten Sie es als Symbol für das Thema »Sucht und Drogen«.
Überlegen Sie: Wie nahe dran am Thema »Sucht und Drogen« fühlen Sie sich, wie stark rückt es Ihnen auf die Pelle? Oder wie weit glauben Sie vom Thema entfernt zu sein? Sie dürfen nach privaten, beruflichen oder nach beiden Kriterien entscheiden. Drücken Sie Ihre Nähe oder Distanz zum Thema aus, indem Sie sich in den Grenzen des Raumes eine Stelle suchen, welche Ihrer Nähe oder Distanz zum Thema entspricht. Ihr räumlicher Bezugspunkt ist das »Suchtbuch« in der Raummitte. Probieren Sie so lange aus, bis Sie das zuverlässige Gefühl haben, am richtigen Platz zu stehen.
Nachdem Sie Ihre Nähe oder Distanz zum Thema reguliert haben, wenden Sie sich bitte Ihrer inneren Haltung zum Thema zu. Sie haben eine Fülle von Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen in Bezug auf Sucht und Drogen. Ihre inneren Bilder schlagen sich nieder in einer ganz persönlichen Haltung gegenüber dem Thema. Drücken Sie Ihre Haltung aus, indem Sie eine Körperhaltung einnehmen, welche Ihrer inneren Haltung zum Thema entspricht. Lassen Sie sich von Ihrer Körpersprache führen. Wenn Sie ein wenig ausprobieren, wird Ihr Körper die Übersetzungsarbeit zielstrebig für Sie ausführen. Sobald sich das Gefühl einstellt, dass Ihre Haltung stimmig ist, frieren Sie Ihre Position ein und verharren einen Moment. Nehmen Sie ganz bewusst wahr, was Ihre Körperhaltung ausdrückt und machen Sie zum Schluss ein inneres Selfie von sich selbst. Speichern Sie das Bild detailgetreu im Gedächtnis ab.

Sie haben die Einstiegsübung gerade zu Ende gebracht. Lesen Sie jetzt den Sinn und Zweck der Übung: Wir alle haben eine mehr oder minder feste Position gegenüber dem Thema »Sucht und Drogen«. Oft bleibt unsere Position allerdings gänzlich unreflektiert. Die eingenommene Körperhaltung während der Übung verdeutlicht die persönliche innere Haltung daher oft besser als tausend Worte.

Wie haben Sie Nähe und Distanz reguliert? Hatten Sie Abstand zum Thema oder waren Sie ganz dicht dran? Haben Sie sich vielleicht sogar auf das »Suchtbuch« gesetzt, weil Sie vom Thema besetzt sind? Welche Haltung hat Ihr Körper eingenommen? Hatten Sie einen festen, sicheren Stand? Oder standen Sie eher in den Kniebeugen eingeknickt? Möglicherweise sind Sie gleich ganz vor dem Thema in die Knie gegangen? Signalisierte Ihr Körper angespannte Unentschiedenheit, weil Sie wie auf dem Sprung standen? Waren Sie dem Thema voll zugewandt und hatten es fest im Blick? Oder haben Sie ihm den Rücken gekehrt? Hatten Sie die Hände frei, die Handflächen geöffnet, oder waren sie zu Fäusten geballt? Steckten die Hände, Halt suchend, fest in den Hosentaschen versenkt? Waren vielleicht die Arme ganz hinter dem Rücken verschränkt, so dass Sie jederzeit schutzlos von vorne angreifbar gewesen wären? Oder umgekehrt: Waren Ihre Arme wie eine schützende Barriere vor der Brust verschränkt? Wollten Ihre Hände überraschenderweise sogar auf verlockende Rauschmittel zugreifen? Ihr Körper spricht in jedem Falle seine eigene, klare und deutliche Sprache.

Seine eigene feste Position zum Thema zu finden vermittelt Handlungssicherheit. Es versetzt in die Lage, die der süchtigen Dynamik innewohnenden Beziehungsfallen rechtzeitig wahrzunehmen und somit gar nicht erst hineinzutappen. Es ist ein fundamentaler Kunstfehler, seine innere Haltung gegenüber Sucht und Drogen nicht ebenso frühzeitig wie sicher durch Selbstreflexion zu klären.

Nachdem Sie eine erste Übung zu diesem Zweck durchgeführt haben, können Sie nunmehr in die weitere Lektüre des Buches einsteigen. Im Verlauf der Lektüre werden Sie immer wieder auf gezielte Anregungen zur Selbstreflexion stoßen. Neben dem Informationsgehalt des Buches werden insbesondere diese kommunikativen Ermunterungen, welche Sie als Leser unmittelbar zur Interaktion einladen, dabei unterstützen, Ihre Position gegenüber Sucht und Drogen weiter zu festigen. Es ist meine erklärte Absicht, dass Sie nach der Verinnerlichung der Buchinhalte an drogen- und suchtspezifischer Handlungskompetenz gewonnen haben.

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Die süchtig agierende Gesellschaft

Wer oder was macht Jungen oder Mädchen, Männer oder Frauen süchtig abhängig? Sucht fällt nicht vom Himmel und sie ist auch kein zwangsläufiges Lebensschicksal. Aber nichtsdestotrotz werden weltweit immer mehr Menschen vom Virus der Sucht befallen.

Um süchtig abhängig zu werden, müssen Menschen in der Regel zunächst selbst aktiv tätig werden. Bisweilen kostet es geradezu Anstrengung, sich in den Zustand der süchtigen Abhängigkeit vorzuarbeiten und sich ihm auszuliefern. Wer als Kind oder Jugendlicher anfängt zu rauchen, muss willentlich die naturgegebenen Schutzmechanismen seines Körpers übergehen. Er muss den anfänglich als schlecht empfundenen Geschmack der Zigaretten bewusst ausblenden und die durch die Wirkungen des Nikotins hervorgerufenen Schwindelgefühle unter Kontrolle bringen. Um irgendwann im Brustton der Überzeugung behaupten zu können: »Ich rauche gerne«, muss ein Raucher sich erst geschmacklich umerziehen. Auch gegenüber Alkohol verfügen Kinder und Jugendliche zu Beginn noch über natürliche Schutz- und Abwehrreaktionen. Bier ist ihnen in aller Regel zu bitter, Wein zu schwer oder zu »muffig« und härtere Alkoholika sind zu scharf. Die um ihr eigenes Wohl besorgte Alkoholindustrie kommt Kindern und Jugendlichen allerdings nur allzu bereitwillig entgegen mit einem breit gefächerten Angebot von alkoholhaltigen Mischgetränken, die solche Schutzmechanismen unterlaufen und Jugendliche an den Gebrauch von Alkohol gewöhnen. Haben sie erst die Wirkungen dieses »sozialen Schmiermittels« schätzen gelernt, gibt es vielfach kein Halten mehr. Katergefühle und selbst Alkoholvergiftungen werden in Kauf genommen und ignoriert oder umgedeutet nach dem Leitspruch: »Wer nicht kotzt trinkt nicht am Limit«. Rausch- und sogar »Kampftrinken« ist unter Jugendlichen weiter verbreitet, als uns lieb sein kann.

Tabak oder Alkohol weniger als Rauschmittel denn als kontrolliert eingesetzte Genussmittel benutzen zu können bedingt einen geschmacklichen, persönlichen und sozialen Lernprozess, welchen es erst einmal zu bewältigen gilt.

Wer die Grenzen zum Gebrauch illegaler Drogen überschreitet, mag durch die Vielfalt möglicher Drogenwirkungen schnelle und vor allem mühelose Belohnungen erfahren. Konsumenten, welche die »faszinierenden« Wirkungen mächtiger psychoaktiver Rauschdrogen suchen und finden, denken ungern an ihr persönliches Risiko. Die Eigenmächtigkeit und das Suchtpotenzial vieler Stoffe werden regelmäßig unterschätzt.

Der Verstand tut sich schwer damit, zu begreifen, dass Menschen Suchtstoffe zu sich nehmen, welche sie körperlich wie seelisch in schwerste Abhängigkeit zu führen vermögen, oder dass sie sich an ein süchtiges Verhalten ausliefern, das ihre gesamte Existenz nicht bloß gefährden, sondern in der Tat vernichten kann. Der Verstand tut sich möglicherweise auch deshalb schwer, das Phänomen »Sucht« in all seinen Dimensionen zu begreifen, weil es in seiner heutigen Ausprägung immer noch relativ unvertraut ist. Menschheitsgeschichtlich ist die süchtige Abhängigkeit des modernen Menschen etwas Neues.

Zwar existieren seit Jahrtausenden in allen Erdteilen unseres Globus die vielfältigsten Rauschmittel. Doch unsere heutigen Probleme mit Rauschgiften sind eindeutig hausgemachte der Neuzeit. Erst die unersättliche Profitgier und eine weit verbreitete, zwanghafte Überheblichkeit haben uns veranlasst, aus den verhältnismäßig verträglichen Rauschdrogen der Natur mit Hilfe der schier unerschöpflichen Möglichkeiten der modernen Labortechnik die Rauschgifte zu synthetisieren, welche in ihrer hochgradigen Konzentration zu einer Geißel der Moderne geworden sind. Und was die Natur noch nicht geliefert hat, erschafft die Kreativität findiger Drogendesigner. Rauschgifte und Designerdrogen neueren Datums sind Produkte der Marktwirtschaft.

Über Jahrtausende hinweg hatte sich die Wirkmächtigkeit existierender Rauschdrogen in Grenzen gehalten, weil die Menschen sie bestimmungsgemäß zu beherrschen wussten. Entweder hatten Medizinmänner, Schamanen, Priester, Druiden, weise Frauen oder andere hochrangige Persönlichkeiten das Monopol auf ihre gezielte Anwendung. Oder der kollektive Gebrauch der magischen Stoffe war sozial verbindlich geregelt durch kulturelle Gebräuche und sakrale Riten. Die archaischen Drogenriten dienten dem Wohle der Gemeinschaft und weniger dem individuellen Vergnügen. Den ausufernden Drogengebrauch in den vorwiegend materialistisch orientierten Gesellschaften könnten unsere Vorfahren nur mit verständnislosem Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen. Probleme mit süchtiger Abhängigkeit, wie sie in der Moderne an der Tagesordnung sind, waren ihnen fremd.

Der sich modern verstehende Mensch schaut nur noch mit zivilisatorischer Überheblichkeit auf die »Primitivität« der weisen Drogenrituale seiner Vorfahren. Von bestimmungsgemäßen Drogenritualen hat er sich gänzlich entfremdet. Der ordnende Zusammenhang zwischen Drogengebrauch und sozialer Kultur existiert nicht mehr. Heutzutage ist die Indienstnahme von Rauschmitteln profan und alltäglich geworden, von jedweder weisen Zeremonie losgelöst. Die Motive der Berauschung sind der Beliebigkeit anheimgefallen: Lustgewinn, Realitätsflucht, Schaffung von Gegenwelten, Schmerzvermeidung, Langeweile, Orientierungslosigkeit oder pathologische »Störungen« lassen Menschen je nach seelischer Befindlichkeit mit den allseits verfügbaren Substanzen in die Steuerung ihrer Gefühlswelt eingreifen.