Böse Leute

Dora Heldt

Böse Leute

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Dora Heldt

Dora Heldt, 1961 auf Sylt geboren, ist gelernte Buchhändlerin und lebt heute in Hamburg. Mit ihren Romanen führt sie seit Jahren die Bestsellerlisten an, die Bücher werden regelmäßig verfilmt.

 

Weitere Informationen unter www.dora-heldt.de

Über das Buch

Sylt wird von einer mysteriösen Einbruchserie erschüttert: Nicht die millionenschweren Luxusvillen der Touristen werden überfallen, sondern die Häuser ganz normaler Inselbewohner. Die Polizei ist ratlos. »Ungehörig« findet das der frisch verrentete Ex-Hauptkommissar Karl Sönnigsen und bietet sich an, den ehemaligen Kollegen im Revier unter die Arme zu greifen – was ihm prompt ein Hausverbot seines Nachfolgers einbringt. Gut, dann muss es eben anders gehen: Mit seinem Freund Onno, Chorschwester Inge und Strohwitwe Charlotte stellt Karl ein mit allen Wassern gewaschenes Ermittlerteam auf die Beine. Und schon bald verfolgt das findige Rentnerquartett eine erste heiße Spur ...

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2017

© 2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Diese Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung eines Bildes von Markus Roost

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42822-4(epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21677-7

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423428224

 

 

den Mann mit dem großen Herzen und den Nerven aus Drahtseilen.

Danke.

Die alte Dame schloss umständlich die Haustür ab und verstaute den Schlüssel in ihrer Handtasche. Eine Nachbarin, die gerade mit dem Hund vorbeigehen wollte, blieb stehen. Sie sprachen kurz miteinander, dann gingen sie gemeinsam weiter.

Er wartete, bis beide Frauen samt Hund aus seinem Sichtfeld verschwunden waren, dann stieg er über den niedrigen Zaun und umrundete das Haus, bis er vor der Terrassentür stand. Es war ein Leichtes, sie aufzuhebeln, für ihn ein Kinderspiel. Sekunden später stand er im Wohnzimmer. Es sah aus wie in den meisten Wohnzimmern dieser Generation. Eine überdimensionale Schrankwand, natürlich Mahagoni, mit integrierter Bar und Fernseher. Das gute Geschirr war hinter einer Glastür, die Tischdecken und Kerzen waren in den Schubladen verstaut, in den unteren Fächern bewahrte man Papiere und Fotoalben auf. Er riss alles raus und ließ es auf dem Boden liegen. Neben der Couchgarnitur lagen Zeitschriften, auch hier gab es keine Überraschungen, Klatsch und Tratsch aus den Königshäusern und Hochglanzmagazine vom Landleben. Wen interessierte das? Ihn nicht, achtlos ließ er den Stapel fallen.

Er schlenderte durchs Haus, zog hier und da weitere Schubladen und Schränke auf und fragte sich, wie man so spießig leben konnte. Überall standen Fotos,

Als sein Handy klingelte, zuckte er zusammen, wieso hatte er vergessen, es leise zu stellen? Er wurde nachlässig, drückte nach einem Blick aufs Display den Anruf weg und ging zurück ins Wohnzimmer. Er würde gleich zurückrufen, gleich, wenn er wieder draußen war. Hier bekam er vor lauter Spießigkeit kaum Luft. Die Sofakissen hatten eine Brokatbordüre, grauenhaft, er riss sie herunter und feuerte sie in eine Ecke. Er musste hier raus, ganz schnell, es reichte. Sein Blick fiel auf ein paar Geldscheine, die auf der Flurkommode lagen. Die steckte er ein, genauso wie eine teure Sonnenbrille und eine Visitenkarte, die daneben lag. Was wollte die alte Frau mit so einer Brille? Lächerlich. Die Scherben der Bilderrahmen knirschten unter seinen Schuhen, als er durchs Wohnzimmer ging, um das Haus durch die offene Terrassentür zu verlassen. Auf dem Weg durch den Garten zog er die Handschuhe aus. In aller Ruhe, niemand nahm von ihm Notiz.

Ein Freitagmittag Anfang Mai,
bei Sonnenschein

Onno Thiele griff nach einem Bierdeckel und schob ihn unter das Tischbein. Prüfend ruckelte er erneut an der Platte, sah zufrieden zu seinem Freund Karl ihm gegenüber und sagte: »Geht doch.«

»Man kann auch das Bein absägen«, war die Antwort. »Das ist doch Pfusch.«

»Wackelt aber nicht mehr.« Onno strich über die Tischplatte. »Du sitzt ja nicht unter dem Tisch und guckst den Bierdeckel an. Was gibt’s Neues?«

»Nichts. Gar nichts, um genau zu sein. Zumindest nicht, was diese drei Einbrüche angeht. Stell dir mal vor, drei Einbrüche in zwei Wochen, und es gibt immer noch keine Festnahme. Das hältst du doch nicht in der Birne aus. Ich weiß wirklich nicht, was die auf dem Revier machen. Kaffee trinken und Kuchen essen vermutlich, aber von Verbrechensaufklärung haben sie keine Ahnung.«

Onno hebelte den Kronkorken der Bierflasche auf und hielt sie Karl hin. »Haben die eigentlich viel geklaut? Weißt du da was?«

Karl hob die Schultern. »Nach dem, was ich gehört habe, ja, ein bisschen Geld. Wirklich, drei Einbrüche in Folge, und alle fanden tagsüber bei Insulanern statt. Anstatt mal die Fenster einer unbewohnten Ferienvilla aufzuhebeln, nein, da nehmen die Einbrecher sich ganz normale Häuser vor und gehen das Risiko ein, erwischt zu werden.«

»Doch, danke.« Tadelnd sah Karl über den Tisch. »Von wegen üben. Du solltest das ernst nehmen. Du hast auch ein Haus. Und wohnst allein. Und schläfst wie ein Bär. Du bekommst doch gar nicht mit, wenn sie hier einsteigen. Und auf die Polizei kannst du dich im Moment ja wohl auch nicht mehr verlassen.«

»Ach was, das würde ich garantiert mitbekommen«, entgegnete Onno. »Und ich denke, die kommen am Tag. Da schlafe ich gar nicht. Mach dir mal keine Sorgen, echte Wertgegenstände stehen hier auch nicht rum.«

»Na ja«, Karl sah sich nachdenklich um. Nach einer kleinen Pause sagte er. »Es ist gut, dass Maren kommt. Hier fehlt wirklich eine weibliche Hand. So richtig gemütlich ist deine Küche nicht.«

»Och«, unbekümmert folgte Onno den Blicken. »Gemütlich. Soll ich hier Blümchen hinstellen oder was? Hier wird gearbeitet, das ist eine Küche. Weibliche Hand, du spinnst.«

»Wann kommt das Kind denn jetzt?« Karl stützte sein Kinn auf die Hand und blickte Onno an. »Morgen, oder?«

Onno nickte knapp. »Du weißt es doch.«

»Und?« Karl beugte sich neugierig nach vorn. »Freust du dich?«

Onno zuckte nur kurz die Schultern. »Keine Ahnung. Mal gucken, was sie hier alles durcheinanderbringt. So viel Zeit habe ich auch nicht für sie.«

»Na, ich bin mal gespannt.« Lächelnd lehnte Karl sich zurück. »Auf jeden Fall hat sie sofort genug zu tun. Und wenn sie so arbeitet, wie ich es vermute, dann wird sich

Onno blickte ihn nachdenklich an. »Du redest wirklich Unsinn. Maren ist Polizistin und nicht Columbo. Und dein feiner Herr Nachfolger ist ihr Chef. Nur weil du in Pension bist, bricht doch die Polizei in Westerland nicht zusammen. Auch wenn du das gern hättest. Glaubst du eigentlich, dass sie dich wieder zurückholen werden? Und dich zum Ehrenrevierleiter machen? Oder warum stänkerst du immer gegen deinen Nachfolger? Du machst dich noch lächerlich.«

»Ich mache mich nicht lächerlich, ich bin besorgt um den Frieden und die Sicherheit auf dieser Insel. Und ich stänkere nicht gegen meinen Nachfolger, ich halte diesen aufgeblasenen Peter Runge nur für unfähig und eine Fehlbesetzung. So. Da holen die einen Auswärtigen. Von der Ostsee. Der hat doch überhaupt keine Ahnung.«

»Du regst dich schon wieder auf.« Langsam stand Onno auf und nahm die leeren Flaschen vom Tisch. »Denk an deinen Blutdruck. So, ich habe noch einiges zu tun, kann mich nicht den ganzen Tag mit dir unterhalten. Willst du hier sitzen bleiben? Ich muss in den Garten.«

Karl war sofort auf den Beinen. »Wirklich, Onno, du kriegst niemals die Medaille als Gastgeber des Jahres. Das Alleinleben macht dich schrullig und unhöflich. Ich wollte noch …«

»Ja, ja«, Onno war schon auf dem Weg zur Tür. »Bis morgen.«

An den Tisch gelehnt, beobachtete Karl, wie sein ältester Freund durch den Garten ging. Langsam wurde der wirklich komisch. Onno machte nur noch das, was er wollte, ging einfach, wenn es ihm in den Kopf kam,

 

Die Bäckerei mit den wenigen Stehtischen lag in der Nähe des Polizeireviers. Sie war ein beliebter Treffpunkt der Kollegen. Auch jetzt hatte Karl Glück, gleich am Eingang stand Benni, ein junger Polizist, der seit vier Jahren auf der Insel war und zu Karls liebsten Mitarbeitern gehört hatte.

»Benni, mein Junge«, erfreut schlug Karl ihm auf den Rücken und Benni verschluckte sich am Eibrötchen. »Zweites Frühstück?«

Benni brauchte eine ganze Weile, bis er zu seiner normalen Atmung zurückgefunden und sich die Eibrocken vom Ärmel gepult hatte.

»Kannst du nicht warten, bis ich den Mund leer habe?« Er rieb sich eine Träne weg. »Meine Güte, ich wäre fast gestorben.«

»Du musst nicht so schlingen. Das ist nicht gesund. Ich hole mir schnell eine Tasse Kaffee, möchtest du auch noch was? Ich gebe einen aus.«

Als Karl mit zwei Tassen zurückkehrte, musste Benni sich zwischendrin immer noch räuspern. Als er endlich wieder bei Stimme war, fragte er Karl: »Sag mal, fällt dir zu Hause die Decke auf den Kopf? Ist deine Frau noch zur Kur?«

Karl nickte. »Ja. Noch vier Wochen. So eine Hüfte

»Und du besuchst sie gar nicht?« Benni musterte ihn erstaunt. »Du bist Rentner, du hast jetzt Zeit. Fahr doch mal hin und mach dir ein paar schöne Tage.«

»Ach, weißt du«, Karl guckte gequält. »Ich fahre ja nicht so gern Zug, mir wird da schnell übel, und Gerda ist ja in einer Klinik, die liegt noch hinter Nürnberg, das ist von hier aus eine Ewigkeit. Wenn sie entlassen wird, fahre ich hin und hole sie ab. Bis Hamburg mit dem Zug, da treffe ich mich dann mit meinem Sohn, und der nimmt mich mit dem Auto mit. Meine Frau findet das in Ordnung. Sie hat gesagt, ich würde sie da nur stören.«

»Aha.« Benni sah ihn an. »Langweilst du dich?«

»Ich?« Karl lachte. »Also bitte. Ich und Langeweile, ich weiß nicht mal, wie man das schreibt. Ich mache dieses und jenes, vorhin war ich schon bei Onno Thiele, apropos, du weißt, dass seine Tochter bei euch anfängt, oder?«

Benni nickte. »Maren Thiele, das weiß ich, das hat Runge uns schon vor ein paar Wochen erzählt. Sie hat sich aus privaten Gründen hierher versetzen lassen. Und der Kollege Schneider wollte ja wegen seiner Freundin nach Münster. Die haben einfach die Dienststellen getauscht. Was sind denn ihre privaten Gründe? Kommt sie auch aus Liebe?«

»Nein«, Karl schüttelte den Kopf. »Oder im Gegenteil. Sie hat sich vor einem Jahr von ihrem Freund getrennt. Und danach hat sie wohl Heimweh bekommen. Sie ist ein Inselkind, hier geboren, hier aufgewachsen, hier zur Schule gegangen, und jetzt kommt sie zurück. Was will sie auch in Münster? Das ist ja so weit weg vom Meer.«

Schulterzuckend griff Benni zu seiner Tasse und trank

Bevor er gehen konnte, hielt Karl ihn am Ärmel fest. »Warte mal, Benni. Sag mal: Hier ist doch auch einiges los? Habt ihr schon eine Spur bei den Einbrüchen?«

»Karl«, beruhigend klopfte ihm Benni auf den Arm. »Du bist in Pension, wir kriegen das schon hin.«

»Du kannst doch mal was sagen.«

»Ich darf das gar nicht, Karl, du bist jetzt Zivilist und hast mit den Ermittlungen nichts mehr zu tun.«

»Benni!« Empört ging Karl einen Schritt zurück. »Du beißt gerade in die Hand, die dich gefüttert hat. Ich war dein Chef, und zwar einigermaßen erfolgreich, was hast du nicht alles von mir gelernt? Schon vergessen? Da kann man doch ein kleines bisschen Kooperation erwarten. Ich habe einfach immer noch den viel erfahreneren Blick.«

»Du hast es gerade gesagt: ›Die Hand, die dich gefüttert hat.‹ Wir sehen uns, Karl, ich muss jetzt wirklich los.« Mit einem aufmunternden Klaps auf die Schulter machte Benni sich auf den Weg.

Der Seehund aus Plüsch hatte nur noch drei Barthaare. Maren überlegte, bei welchen Gelegenheiten er seine anderen wohl verloren hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Behutsam legte sie ihn auf die in Seidenpapier eingeschlagenen Weingläser und verschloss den Umzugskarton. Hier war der Seehund sicher. Der Edding quietschte, als sie das Wort »Küche« auf die Pappe schrieb, dann legte sie den Stift zur Seite und schob den Karton aufatmend an die Wand. Geschafft. Bis auf wenige Kleidungsstücke, die Kaffeemaschine und ein bisschen Frühstücksgeschirr, das sie gleich noch für die Umzugsleute brauchte, hatte sie ihren gesamten Hausstand in Kartons verpackt. Zweiundvierzig Kartons, in denen ihr ganzes Leben steckte. Es sah gar nicht so viel aus.

Maren stopfte den Rest des Verpackungsmaterials in eine Tüte und warf einen Blick auf die Uhr. In fünfzehn Minuten würde der Umzugswagen ankommen, sie hatte mal wieder ein perfektes Timing hingelegt. Zufrieden ging sie durch die leere Wohnung, um noch einmal alles zu kontrollieren, dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer von Rike. »Musst du die Brötchen selbst backen, oder warum dauert es so lange?«

Rikes Antwort klang ein bisschen atemlos. »Beim Bäcker war es voll, lauter unentschlossene Leute, und dann bin ich aus Versehen an deiner Straße

Rike war Marens älteste Freundin. Sie kannten sich seit ihrer Einschulung, hatten die ganze Schulzeit hindurch nebeneinander gesessen, von der Konfirmation über die Tanzschule bis zum Abitur alles gemeinsam erledigt und ihre Zweisamkeit erst aufgeben müssen, als Maren nach Hamburg zur Polizeischule ging. Fast zwanzig Jahre lang hatten sie dann an unterschiedlichen Orten gewohnt, und sie hatten es trotzdem geschafft, eng befreundet zu bleiben. Jetzt gab es schon wieder einen Ortswechsel, Maren ging zurück auf die Insel, auf der Rike immer noch lebte. Richtig fassen konnte Maren es allerdings immer noch nicht.

Den Karton mit den Brötchen vor sich balancierend, stieg Rike langsam die Treppen hinauf, Maren wartete schon an der offenen Tür. »Der Umzugswagen muss jeden Moment kommen, wenn du dich beeilst, kannst du noch einen Kaffee im Stehen und in Ruhe trinken. Die Stühle sind schon übereinandergestellt.«

»Super«, ohne den Blick vom Brötchenkarton zu heben, lächelte Rike verkniffen. »Morgens, halb acht in Münster. Um diese Zeit fange ich gerade in der Praxis an. Und hier bin ich schon seit Stunden unterwegs. Hast du den letzten Karton zugeklebt?«

»Und beschriftet«, Maren ließ sie vorbeigehen und schloss hinter ihr die Tür. »Die Packer können kommen, wir sind fertig.« Sie hatte den Satz kaum beendet, als es klingelte. »Da sind sie.« Sie legte den Finger auf den Türöffner und sah Rike über die Schulter an. »Jetzt ist es zu spät für einen Rückzieher. Sag mir bitte, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Mit festem Blick sah ihre Freundin sie an. »Hast du. Und eigentlich gab es keine Alternative. Oder?«

 

Drei Stunden später saßen sie in Marens Auto und fuhren in Richtung Norden. Der Umzugswagen war vor ihnen losgefahren, Maren und Rike hatten die Wohnung abschließend geputzt, mit den Vermietern die Abnahme gemacht und den Wohnungsschlüssel abgegeben, sich unter weitschweifigen guten Wünschen verabschiedet, eine Träne unterdrückt und sich anschließend erleichtert ins Auto fallen lassen. »Lass mich fahren«, hatte Rike gesagt. »Du bist im Moment abschiedsschwer, und ich will nicht zwischen Münster und Osnabrück an der Leitplanke kleben.«

Maren hatte ihr den Schlüssel überlassen und sich erleichtert auf den Beifahrersitz gesetzt. Es war besser so, sie musste erst einmal ihre Gedanken sortieren.

 

Polizeiobermeisterin Maren Thiele zog nach zwanzig Jahren zurück zu Papa. Zurück auf die Insel Sylt, zurück ins Elternhaus, zurück zu ihrer alten Freundin Rike, zurück in den Ort, an dem sie Kind gewesen war. Und das mit achtunddreißig. Ohne Mann, ohne Kind, ohne Haustier, dafür mit einem anständigen Beruf, ordentlich angelegten, wenn auch kleinen Ersparnissen, sehr guten Vorsätzen und jeder Menge Bauchweh. Hätte ihr das jemand vor einem Jahr erzählt, sie hätte sich mit dem Finger an die Stirn getippt und gesagt, dass das nie im Leben möglich sei, aber dann hatten sich ihre bislang klaren Pläne und Vorstellungen innerhalb weniger Wochen verabschiedet. Zunächst in Form von Henry, ihrem Lebensgefährten und Kollegen, der mit Kollegin Sonja nicht nur Streife fuhr. Dabei waren sie auch noch dämlich genug, sich erwischen zu lassen,

»Ich will ja nichts sagen«, hatte er mit einer abwehrenden Handbewegung gesagt, »aber in letzter Zeit vergisst er ab und zu was. Und behauptet, ich hätte ihm das nie erzählt. Na ja, und dann zieht er sich, wie soll ich das sagen … nicht immer so modebewusst an. Aber das ist ganz normal bei Männern, die jahrelang Uniformen tragen mussten. Die haben das ja nie richtig gelernt. Und beim Segeln ist das ja auch egal, Hauptsache man wird nicht nass und kein Wind kommt durch.«

Als Maren zurückkam, saß Onno in einer braun karierten Anzughose und einem gelben Hemd in der Küche und las die Zeitung. »Ach Greta«, sagte er und lächelte. Greta war der Name ihrer Mutter.

Noch heute, über drei Jahre nach ihrem Tod, löste der Name in Maren eine schmerzhafte Sehnsucht aus. Greta war in ihrem ganzen Leben nie krank gewesen, Maren konnte sich an keine Erkältung, keine Kopfschmerzen, noch nicht einmal an ein Unwohlsein erinnern. Die große, blonde, fröhliche Greta war so lebendig, strahlte eine solche Ruhe aus und war immer schon der Inbegriff der guten Laune gewesen. Und dann war ein Rosendorn in ihrem

Und nun saß er also in der Küche und sagte »Greta« zu ihr. Auch wenn Onno anschließend gemeint hatte, er hätte sich nur versprochen, in diesem Moment hatte Maren den Entschluss gefasst, ein Versetzungsgesuch zu schreiben. Sie musste sich um ihren Vater kümmern. Und die Nordsee zwischen sich und dem dämlichen Henry haben. Und der noch dämlicheren Sonja. Und das alles hatte tatsächlich geklappt.

 

»Schläfst du?« Rikes Stimme drang durch die Bilder, Maren öffnete sofort die Augen. »Nein. Ich habe nur nachgedacht.«

Maren winkte ab. »Über alles Mögliche. Wie das mit meinem Vater läuft, wie wohl die neuen Kollegen sind, wie ich mich einlebe, ob das alles so richtig war, na ja, kleiner Abschiedsblues eben. Fahr doch mal an der nächsten Raststätte raus, ich brauche Schokolade. Und muss aufs Klo.«

»Es ist alles richtig.« Rike warf ihr einen kurzen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es sowieso zu spät, sich Gedanken zu machen. Es ist so, wie es ist, und alles ist gut.«

 

Die Sonne kam gerade aus den Wolken, als Maren und Rike vor der Autobahnraststätte ausstiegen. Sie holten sich Kaffee in Pappbechern und ein paar Schokoriegel und setzten sich damit auf eine Bank.

»Wenigstens wird das Wetter jetzt schön«, sagte Maren und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. »Das ist doch vielleicht ein gutes Zeichen dafür, dass ich mich richtig entschieden habe.«

»Ich werde dich jetzt nicht alle zehn Minuten bestätigen«, entgegnete Rike und klang, trotz eines kleinen Lächelns, ein bisschen schroff. »Und jetzt nerv mal nicht rum. Ich freue mich sehr, dass du auf die Insel zurückkommst, die Dienststelle ist vielleicht nicht so aufregend wie Münster, dafür aber Henry- und Sonja-frei. Deine Wohnung in Münster war zwar niedlich, aber im vierten Stock und ohne Balkon. Bei deinem Vater hast du eine schöne Einliegerwohnung und einen großen Garten. Dein Liebesleben war in Münster tot, das ist erst mal auf Sylt dasselbe, ich weiß also gar nicht, warum du dir so unsicher bist. Wärst du lieber nach Hamburg oder Köln gegangen? Wo du niemanden kennst? Oder hättest du in

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen sah Maren ihre Freundin an. »Entschuldige, du hast recht. Vielleicht ging das alles nur zu schnell für mein langsames Gehirn. Eine Versetzung klappt normalerweise nie in so kurzer Zeit, damit hatte ich einfach nicht gerechnet. Und ich war immer ein Feigling, das weißt du doch. Jetzt mache ich mir Gedanken, wie das Zusammenwohnen mit meinem Vater wird, welche Kollegen ich bekomme, ob sie mich wohl mögen werden, all solche Dinge.«

»Das ist der Unterschied zwischen uns«, entgegnete Rike. »Ich würde mir Gedanken machen, ob ich die neuen Kollegen mögen würde. Mach dich nicht immer so klein. Du bist eine gute Polizistin, und das schon seit einigen Jahren, dein Vater ist ein netter Mensch, du kennst dich auf der Insel aus, deine beste Freundin wohnt quasi um die Ecke, ich weiß nicht, was ich dir sonst noch sagen soll.«

Maren beugte sich vor und küsste Rike auf die Wange. »Danke«, sagte sie. »Hast ja recht. Ich reiße mich jetzt einfach zusammen und denke positiv.«

»Okay«, Rike stand auf und knüllte den Pappbecher zusammen. »Ich werde dich daran erinnern. Lass uns weiterfahren, wir haben noch einiges vor. Und heute Abend kommt Torben noch, um zu helfen.«

Überrascht sah Maren hoch. »Hast du ihn tatsächlich gefragt? Ich habe doch gesagt, dass das noch Zeit hat.«

»Er hat es angeboten.« Rike streckte ihre Hand aus, um Maren den leeren Becher abzunehmen. »Torben ist immer hilfsbereit, er hat darauf bestanden, dir beim Einzug zu helfen. Er kann alles, du wirst sehen, er arbeitet die Nacht durch, wenn es sein muss, und anschließend steht jeder

»Ich kenne ihn überhaupt nicht, ich weiß gar nicht, warum er das überhaupt machen will.«

»Weil er nett und gern wichtig ist.« Unbekümmert sah Rike sie an. »Und weil du meine Freundin bist. Und weil er eine furchtbar langweilige und verhuschte Frau hat, der er wohl gern entrinnt. Lass ihn doch. Er ist halt ein eingefleischter Insulaner und kümmert sich gern. Und er mochte mich immer schon, hat er mir sogar mal gesagt. Sei einfach froh, dass er Zeit hat. Er ist ziemlich gefragt auf der Insel. Weil er alles kann. Und nicht nur, wenn ich ihn brauche.«

Maren lachte. Rike war eiserner Single und dabei so attraktiv. Sie war groß und schlank, hatte schulterlange blonde Haare, die sie meistens lässig hochsteckte, hatte ein schönes Gesicht und hielt die Männer, die sich in sie verliebten, auf freundlicher Distanz. Vermutlich gehörte der hilfsbereite Torben einfach zu ihrer Fangemeinde.

Von hinten wie eine Zwanzigjährige«, dachte Inge Müller, die ihren Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarktes schob und dabei Jutta Holler am Kühlregal stehen sah. Altersgemäß war anders. Genau in diesem Moment drehte die Holler sich um und grüßte übertrieben laut. »Frau Müller, so trifft man sich. Wie geht’s?«

Jutta Holler musste um die sechzig sein. Sie trug eine hautenge Röhrenjeans, eine transparente Bluse, durch die ein hellblaues Spitzentop schimmerte, knallblaue Sneakers und eine knappe weiße Lederjacke. Die kurzen Haare glänzten durch blonde Strähnen, ihr Make-up war perfekt, dazu trug sie teuren Schmuck, trotzdem strahlte sie etwas Billiges aus. Inge schluckte, bevor sie ihr die Hand gab, die von Jutta aber ignoriert wurde. Vermutlich fand sie Händeschütteln uncool, aber Inge war ja ein paar Jahre älter. Sie ließ die Hand wieder auf den Einkaufswagen sinken und bemühte sich um ein mildes Lächeln: »Tag, Frau Holler, na, wird das auch ein Großeinkauf?« Sie ließ ihre Blicke über den Inhalt des Wagens wandern, vier Flaschen Champagner, mehrere Pakete mit Tiefkühlshrimps, ein paar Fertiggerichte, verschiedene Zeitschriften.

»Ja, meine Tochter kommt heute, sie muss mal ein bisschen ausspannen, sie hat ja in Hamburg so wahnsinnig viel zu tun. Das kommt davon, wenn man Karriere machen will«, Jutta Holler lachte gekünstelt und fuhr sich mit den

›Das hat ihm bestimmt auch nicht gefehlt‹, dachte Inge. Walter konnte ihre Nachbarin noch nie leiden, er fand sie affig und vermied jede Begegnung.

»Mein Mann ist mit meinem Bruder bei meiner Nichte. Sie baut gerade eine Wohnung um, die sie sich gekauft hat, da helfen die beiden ein bisschen. Und Christine muss arbeiten, da kümmern sich Heinz und Walter um die Handwerker. Und nebenbei besuchen sie noch ein Seminar, bei dem es um Vermögenssicherung im Alter geht.«

»Aha. Interessant«, Jutta Holler legte fettarme Milch in den Wagen. »Dann passen Sie bloß auf, dass bei Ihnen nicht eingebrochen wird. In der Zeitung stand heute, dass mehrere Einbrüche in Häuser älterer Frauen passiert sind.«

Inge hob erstaunt die Augenbrauen. »Wirklich? Haben Sie denn Angst?«

Wieder ein gekünsteltes Lachen. »Frau Müller, die Opfer sind ältere Frauen. Ich kann mich ja wehren.«

›Blöde Ziege‹, dachte Inge, während sie ihre Nachbarin anlächelte. »Ja, dann noch einen schönen Tag, Frau Holler, tschüss.« Sie widerstand der Versuchung, den Einkaufswagen beim Drehen über die knallblauen Sneakers zu schieben.

 

Im Auto sitzend, mit der Hand am Zündschlüssel, überlegte Inge einen Moment, dann beschloss sie, bei Charlotte

Sie musste dreimal klingeln, bis Charlotte ihr die Tür öffnete. »Hast du geschlafen?«, fragte Inge sie erstaunt, als sie endlich hereingelassen wurde.

»Nein«, entgegnete Charlotte. »Ich habe mit Christine telefoniert. Wollte hören, wie es den Männern geht.«

»Und?« Inge ging an ihr vorbei und nahm den direkten Weg in die Küche.

»Gut«, antwortete Charlotte, während sie die Tür schloss. »Heinz und Walter gehen morgens zu ihrem Seminar, kommen abends zu Christine, fragen anstandshalber, ob sie ihr noch helfen können, und laden sie stattdessen zum Essen ein. Wobei sie gestern Abend tatsächlich Christines Schlafzimmerspiegel angebracht haben. Den musste der Tischler heute Morgen dann wieder abnehmen und neu aufhängen, weil er so schief war. Na ja, das sehen die nicht so gut. Aber von dem Seminar sind sie begeistert, sagt Christine. Sie haben schon eine ganze Menge gelernt.«

»Fein.« Inge ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah sich suchend um. »Da bin ich ja gespannt, wie sie jetzt ihre Vermögen sichern wollen, wenn sie zurück sind. Hast du zufällig einen Tee fertig?«

»Ich kann zufällig einen machen.« Während Charlotte mit Wasserkocher und Teekanne hantierte, schlug Inge die Zeitung auf, die auf dem Tisch lag. Nach kurzem Durchblättern hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte. »Hör mal eben zu«, sagte sie, strich die Seite glatt und fing an vorzulesen:

Inge ließ die Zeitung sinken und schüttelte den Kopf. »Frühmorgens. Die werden auch immer dreister. Du hast auch mitbekommen, dass es in der Art schon mehrere Einbrüche gab, oder?«

Charlotte stellte Tassen auf den Tisch und die Teekanne auf ein Stövchen. »Ich hab’s gehört. Ich habe neulich Karl in der Sparkasse getroffen und ihm erzählt, dass Heinz und Walter bei Christine sind, und da hat er so einen Scherz gemacht, von wegen, dass wir unseren Schmuck mit zum Einkaufen nehmen sollen. Aber du weißt ja, wie er ist. Unser Polizeichef. Und den hättest du fast geheiratet.«

»Geheiratet?« Inge hielt ihrer Schwägerin die Tasse hin. »Ich hatte eine kleine Liebelei mit ihm, das ist hundert Jahre her, ich war gerade mal Anfang zwanzig. Und Karl ist jünger als ich, das wäre nie was geworden.«

»So viel jünger ist er auch nicht«, stellte Charlotte etwas uncharmant fest. »Er ist gerade erst in Pension gegangen, dann ist er fünfundsechzig, das sind drei Jahre. Das ist doch nichts.«

Zufrieden lächelte sie ihre Schwägerin an. Dann tippte sie wieder auf den Zeitungsartikel. »Was hat Karl denn noch erzählt? Über diese Einbrüche? Kennen wir jemanden von den Opfern? Ich wollte dich das neulich schon fragen, habe es aber immer vergessen. Und jetzt hat mir vorhin im Supermarkt die blöde Holler wieder davon erzählt.«

Charlotte hob die Schultern. »Karl hat nur gesagt, dass es sich um alleinstehende Frauen handelte, aber nicht, um wen. Vielleicht weiß er das auch gar nicht, er ist ja nicht mehr zuständig. Aber die Zeitung macht ja gleich alle verrückt. In großen Städten wird alle zehn Minuten eingebrochen, das ist zwar schlimm, aber eine Tatsache. Böse Leute gibt es überall, nicht nur auf dem Festland. Mach die Fenster zu, wenn du das Haus verlässt, und schließ die Tür ab. Und lass dich nicht nervös machen. Das hat Karl übrigens auch gesagt.«

»Gut.« Inge faltete die Zeitung zusammen und schob sie zur Seite. »Dann wollen wir das mal glauben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie billig diese Jutta Holler wieder aussah. Steht im Supermarkt in Klamotten, die unsere Töchter nicht mehr anziehen würden, weil die dafür zu alt sind. Von hinten sieht sie aus wie ein Teenager,

»Inge«, missbilligend schüttelte Charlotte den Kopf. »Jutta Holler kann einem auch ein bisschen leidtun. Sie hat Probleme mit dem Älterwerden, sie ist so früh Witwe geworden, ihre Tochter kommt auch nicht oft nach Hause, leicht hat sie es nicht.«

»Ich bitte dich, Charlotte. Arbeitest du an deiner Heiligsprechung? Jutta Holler ist eine der unangenehmsten Frauen auf der Insel. Sie ist so früh Witwe geworden, weil sie einen Mann geheiratet hat, der viel älter war als sie. Und den hat sie nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil er vermögend war. Und der arme Wilhelm hat mit Ende fünfzig einen Herzinfarkt bekommen, das hätte ich an seiner Stelle auch. Und ihre Tochter Sina ist schon genauso affig wie ihre Mutter. Der geht es doch auch nur ums Geldausgeben und darum, dass sie zeigen kann, was sie alles hat. Diese Angeberin.«

Charlotte sah ihre Schwägerin nur stumm an. Inge regte sich schon seit ein paar Jahren über ihre Nachbarin auf, Charlotte fand das übertrieben. Man konnte sich doch aus dem Weg gehen. Aber wenn Inge sich aufregen wollte, dann regte sie sich auf. Das war eben ihr Naturell. Jedes weitere Gespräch über Jutta Holler war sinnlos. Deshalb probierte sie nur ihr heiligstes Lächeln und fragte: »Noch eine Tasse Tee, Inge?«

»Ja«, Inge hielt ihr die Tasse hin, ohne Charlotte anzusehen. »Wattweg in Morsum? Wohnt da nicht Gisela Karlson? Die ist dreiundsiebzig. Nicht, dass sie bei ihr eingebrochen haben! Das wäre ja furchtbar.«

»Ruf sie doch an«, Charlotte stellte die Kanne zurück

»Vorausgesetzt, sie kommt.« Inge machte jetzt ein besorgtes Gesicht. »Und das tut sie sicher nur, wenn der Einbruch nicht bei ihr war. Ansonsten stünde sie ja noch unter Schock.«

»Falls sie das Opfer war«, sagte ihre Schwägerin. »Ich rufe sie jetzt mal an.«

 

Gisela Karlson hatte gerade die Haustür hinter dem jungen Mann von der Versicherung geschlossen, als das Telefon klingelte. Sie überlegte kurz, ob sie überhaupt rangehen sollte, aber es konnte auch die Polizei sein, die Neuigkeiten hatte. Es war nicht die Polizei.

»Gisela? Hallo, meine Liebe, hier ist Charlotte. Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung? Wir haben gerade in der Zeitung gelesen, dass in deiner Straße eingebrochen wurde, das war doch wohl nicht bei dir, oder?«

»Doch«, Gisela bekam schon wieder wackelige Beine und ließ sich mit dem Hörer am Ohr auf die Bank neben der Garderobe sinken. »Doch, Charlotte, das war bei mir. Es ist so furchtbar.« Ihr stiegen sofort wieder Tränen in die Augen. »Ich … ich …« Sie konnte nicht weitersprechen.

Alarmiert drehte Charlotte sich zu Inge um und nickte ihr zu. Dann sagte sie schnell: »Inge sitzt gerade bei mir, wir kommen schnell rüber. Brauchst du noch irgend etwas?«

Gisela räusperte sich und sagte dann: »Nein, danke. Aber es wäre schön, wenn ihr kämt. Es fühlt sich alles so komisch an.«

»Beruhige dich, Gisela, wir sind gleich da.«

Sina Holler blieb vor dem Haus stehen und sah sich um. Niemand war zu sehen, beide Autos, der Mini und der Porsche, standen im Carport. Alle Fenster waren geschlossen, so, wie es sich gehörte, wenn man für drei Wochen nach Korsika flog. Verächtlich schüttelte Sina den Kopf und kletterte über die niedrige Hecke. Sie wunderte sich sowieso, dass die Eigentümer keine Sicherheitsvorkehrungen trafen. Jeder Kleinkriminelle konnte sich Zugang zum Haus verschaffen, die niedrige Stelle in der Hecke fand man nach wenigen Minuten. Dr. Uwe Faust und seine liebende Ehefrau Manuela waren unvorsichtig. Oder einfach nur blöde. Sina schob die Hände in die Jackentasche und schlenderte erst mal über das Grundstück. Eine weiße Jugendstilvilla, umgeben von Hortensien und Rosen. Hier ein Türmchen, da eine Säule, dazu eine Terrasse, die nach Sommerfesten in lauen Nächten schrie. Und Manuela Faust mit ihrem faltigen Gesicht und dem hängenden Busen im Abendkleid mittendrin. Widerlich. Sina schüttelte das Bild ab, ging über die Terrasse und blieb an der Terrassentür stehen. Sie legte ihre Hände an die Scheibe und beugte sich vor, um ins Innere zu sehen. Es sah aus wie immer, nichts hatte sich verändert. Wenige Antiquitäten neben schlichtem Design. Sie war lange nicht hier gewesen, Uwe hatte sie nur selten mitgenommen, höchstens dann, wenn seine Frau mal mit einer Freundin

Wütend knallte Sina jetzt ihre flache Hand auf die Scheibe. Dieser Arsch mit seiner ätzenden Frau. Die saßen hier in Protz und Prunk, während Sina aus der Wohnung ausziehen musste und ohne sein Geld vor dem Nichts stand. Dabei hatte sie – nach sieben Jahren als Geliebte – ein gewisses Recht auf angemessenen Luxus. Aber der feige Sack hatte sie einfach aus seinem Leben geschmissen, weil er Angst bekommen hatte, dass seine Frau ihm auf die Spur kam. Jetzt plötzlich, nachdem sie, aus welchen Gründen auch immer, misstrauisch geworden war. Es war wirklich das Letzte.

Sie wandte sich ab und ging an den zahlreichen Kübeln zurück zum Carport. Bei jedem zweiten Topf riss sie die Pflanzen raus und ließ sie fallen. Scheiß Hortensien. Immerhin war Dr. Faust bislang feige genug gewesen, Sina den Zweitschlüssel vom Porsche abzunehmen. Das war Pech. Sein Pech. Für Sina konnte das nur bedeuten, dass der Wagen ihr noch zustand. Oder glaubte etwa irgend jemand, dass sie mit dem Zug nach Sylt fahren würde?

Der Porsche sprang sofort an, beim Ausparken gab sie sich Mühe, den knallroten Mini Cooper leicht zu touchieren. Nur ein kleiner, ärgerlicher Lackschaden, die dämliche Manuela würde glauben, dass Uwe schlecht geparkt hatte. Und der würde sich hüten, seinen Verdacht laut zu äußern. Und schon gäbe es wieder Streit. Sina grinste und stellte das Autoradio lauter. Mit Dr. Uwe Faust war sie noch lange nicht fertig.

 

Am nächsten Vormittag, kurz nach ihrer Ankunft auf Sylt, musste Sina plötzlich mit aller Kraft auf die Bremse treten.

»Senile alte Kuh«, fauchte sie und zeigte den beiden einen Vogel, völlig vergebens allerdings, weil keine in ihre Richtung sah. Man sollte wirklich nicht mehr jeden Rentner Auto fahren lassen. Sina hatte den Wagen bei diesem Bremsmanöver auch noch abgewürgt, und als ihr Hintermann hupte, startete sie den Porsche wieder und fuhr mit quietschenden Reifen los. Alles Idioten auf der Insel, dachte sie und merkte, dass ihre Hände zitterten. Von dem roten Kleinwagen war nichts mehr zu sehen.

Als Sina in die Straße einbog, in der ihr Elternhaus stand, spürte sie sofort wieder einen Anflug schlechter Laune. Das ging ihr immer so. Sie hasste diese Straße, dieses Haus, die Nachbarn. Sie konnte nur lachen, wenn sie an die Reaktion von Leuten dachte, denen sie gesagt hatte, dass sie von der Insel Sylt kam. Die Königin der Inseln, die Perle des Nordens, die Schönen und Reichen, sie sei ja so zu beneiden. Keiner von denen konnte sich vorstellen, wie eng und wie spießig die Insel an einigen Ecken war. Es war ein Dorf, aus dem sie kam, da nützte auch das ganze blöde Gerede nichts. Ein Dorf, in dem jeder jeden kannte und jeder über jeden tratschte. Natürlich gab es auch die Zweitwohnungsbesitzer, die frischen Wind reingebracht hatten, aber die waren nur ein paar Wochen im Jahr da und machten Ferien. Anschließend fuhren sie wieder in ihre schicken Stadtwohnungen und tauchten ins Großstadtleben ein. Und die Einheimischen blieben in den dunklen, regnerischen und

Sina verlangsamte das Tempo und betrachtete die Neuerungen in der Straße. Bergmann und Michaelsen hatten ihre Häuser verkauft, das hatte sie schon von ihrer Mutter gehört. Die neuen Besitzer hatten nicht lange gebraucht, um alles Alte zu entsorgen. Statt Jägerzaun ein Friesenwall, Wintergarten statt Wellblechgarage, Buchsbaum statt Blumen, die alten Fenster raus, die neuen Sprossenfenster rein, nach zwei Monaten erkannte man das Haus nicht wieder. Die alten Häuser der Insulaner wirkten dadurch nur noch schäbiger. Sina wandte ihren Blick ab und richtete ihn nach links. Da stand es. Ihr Elternhaus. Eingerahmt von einem wuchtigen Zaun, links und rechts neben der Auffahrt wachten zwei steinerne Löwen, vor denen sie schon als Kind Angst gehabt hatte. Ihre Mutter hatte sie in Italien gekauft und auf die Insel liefern lassen. In Venedig passten sie vielleicht ins Bild, hier sahen sie einfach nur protzig und lächerlich aus. Die Rosen im Vorgarten brauchten dringend Wasser, der Rasen war an einigen Stellen braun, einen grünen Daumen konnte man ihrer Mutter wirklich nicht andichten. Der Wagen ihrer Mutter stand nicht in der Auffahrt, wahrscheinlich war sie wieder shoppen, das lag Jutta mehr als irgendwelche banalen Haus- oder Gartenarbeiten. Mit einem leisen Seufzer lenkte Sina den Porsche auf die Auffahrt und stieg aus. Ihre Mutter könnte ihren Wagen an