Kerstin Unseld

Man sieht auch mit den Ohren gut

Eine kleine Reise
in die Musik

Mit Bildern von
Leonard Erlbruch

DTV

Für Alma

Die Geschichte in diesem Buch ist frei erfunden, aber die großen Gestalten der Musikgeschichte, die darin vorkommen, sind es natürlich nicht. Wer noch ein bisschen mehr über sie wissen möchte, findet im Anhang kurze Texte über ihr Leben und ihre Musik. Und damit man nicht immer nur lesen muss, gibt es dort auch ein paar schöne Hörtipps.

Samstag

»Mir ist langweilig«, knurrte Muks.

Es war jedes Wochenende dasselbe: Wenn Mathis am Samstagvormittag das Radio anmachte, war der Tag gelaufen. Am Samstagvormittag gab es im Radio ein klassisches Konzert. Und während des Konzerts hatte Muks die Schnauze zu halten. Wenn es nach Mathis ging, sollte er sich nicht mal bewegen. Nur still neben ihm auf dem Sofa sitzen und zuhören. Und heute war es besonders schlimm, denn draußen schien die Sonne. Der erste warme Sommertag musste ausgerechnet auf einen Samstag fallen!

Muks sah eine Fliege über die Blümchentapete krabbeln und überlegte, ob er sie sich schnappen sollte. Aber wegen einer Fliege einen Rüffel von Mathis riskieren? Lieber nicht.

Als könnte sie Gedanken lesen, flog die Fliege haarscharf über Muks’ Kopf und landete auf dem Schirm der Stehlampe neben dem Sofa. Muks zuckte nur kurz mit einer Pfote, aber das reichte schon, dass Mathis aufmerksam wurde.

»Schscht!«, machte er und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Aber er war Muks nicht wirklich böse, das konnte man deutlich hören. Gleich darauf kraulte er ihn sogar zwischen den Ohren. Und wieder ein bisschen später flüsterte er: »Weich wie Samt!«

Muks überlegte, ob damit sein Fell gemeint war oder die Musik, und beschloss, dass es nur sein Fell sein konnte. Muks liebte Komplimente, und sein Fell war nun mal weich wie Samt. Langweilig war ihm allerdings immer noch.

»Hörst du das – toll, was?«

Natürlich hörte Muks das. Wie er sowieso besser hörte als Mathis, obwohl der ein feineres Gehör hatte als die meisten anderen Menschen. Mathis war blind, darum.

»Geht so«, knurrte Muks.

Wenigstens strömte die Musik schön langsam dahin und war nicht schrill und laut. Das konnte Musik nämlich auch sein, wie Muks wusste. Nur, toll war sie in den allermeisten Fällen nicht. Toll war zum Beispiel die Hundewiese im Stadtpark, auf der er manchmal herumtoben durfte. Oder der große Baum dort, auf dem die Krähen saßen, die man so schön verbellen konnte. Manchmal traf er auf der Wiese den braunen Zottigen aus der Querstraße. »Kenny« wurde der gerufen, und er war ein guter Kumpel.

S008

Wenn ihre Herrchen nicht aufpassten, spürten sie zusammen die Kaninchen auf, die hinter den Holunderbüschen in einem Erdloch hausten. Wenn man nur lange genug bellte, sprangen sie im Zickzack davon. – Es gab viele tolle Sachen, aber Musik zählte für Muks nicht dazu.

»Tabammtschum-hum-taao!«

Ein grässlich schmetterndes Geräusch riss Muks aus seinen Gedanken.

»Hilfe, was für ein Geschepper!«, winselte er.

»Banause!«, sagte Mathis und schüttelte den Kopf. »Das ist kein Geschepper, das sind die Blechbläser bei ihrem großen Einsatz im Gewitter!«

Muks schob vorsichtshalber den Kopf unter ein Sofakissen. Blechbläsereinsätze gehörten eindeutig zum Schlimmsten, was die Musik am Samstagmorgen zu bieten hatte.

»Sie spielen eine Sinfonie«, erklärte Mathis, was die Sache kein bisschen besser machte. Sinfonien waren zu allem Unglück auch noch ewig lang.

»Weißt du, eines Tages wirst du Musik auch toll finden, da bin ich mir ganz sicher«, sagte Mathis und tastete unter dem Kissen nach Muks’ Kopf.

Das mit dem Streicheln ging in Ordnung, aber was die Musik betraf, hatte Muks seine Zweifel. Jedenfalls heute, am sonnigsten Samstagmorgen seit Wochen. Wenn man den bei Scheppermusik auf dem Sofa verbringen musste, konnten einem als Hund noch ganz andere Zweifel kommen, zum Beispiel daran, ob man damals in der Blindenhundeschule nicht einen großen Fehler gemacht hatte. Muks war dort immer der Beste gewesen. Niemand konnte so haarscharf an Pfützen vorbeigehen wie er, und beim Straßenbahnfahren erwischte er immer die richtige Linie. Na ja, meistens. Und wenn im Park urplötzlich ein Eichhörnchen vorbeihopste, zuckte er nicht mal. Und warum das alles: weil die Lehrerin gesagt hatte, dass die besten Blindenhunde später bei Kindern wohnen dürften. Kinder – das bedeutete Abenteuer, tolle Dinge entdecken, Spiele spielen und, wenn’s unbedingt sein musste, auch lustige Lieder singen.

So hatte sich Muks das vorgestellt, und eines Tages war dann Mathis gekommen. Muks hatte ihn gleich gut riechen können, und Mathis hatte ihn zwischen den Ohren gekrault. So hatte es angefangen, und dann hatte sich auch noch herausgestellt, dass sie miteinander reden konnten. Zwar sprachen sie von Hause aus unterschiedliche Sprachen, aber sie hatten schnell voneinander gelernt. Wenn man sich mag, ist das bekanntlich kein Problem. Doch, Muks hatte es gut getroffen – nun ja, bis auf die Sache mit der Musik!

Wenigstens ließ jetzt gerade das Geschepper nach, und Muks wagte sich unter dem Kissen hervor.

»Kannst du dich an unseren Spaziergang vorgestern erinnern?«, fragte Mathis.

So eine dämliche Frage beschloss Muks erst gar nicht zu beantworten. Natürlich erinnerte er sich daran. Er erinnerte sich an alle Spaziergänge, die sie je gemacht hatten. Was Schöneres gab es nämlich nicht, wenn man vom Toben auf der Hundewiese mal absah.

Allerdings schien Mathis auch gar nicht auf eine Antwort zu warten, denn er redete einfach weiter: »Weißt du noch, vorgestern nach dem Gewitter? Als die Sonne wieder rauskam? Genauso klingt gerade die Sinfonie, stimmt’s?«

Ein Spaziergang wie eine Sinfonie? Heute war anscheinend der Tag der dämlichen Fragen.

»Na, was sagst du?«, fragte Mathis und zupfte ihn am Ohr.

Was sollte man dazu sagen? Am besten was, was Mathis hören wollte. Vielleicht ging’s dann gleich nach der ewig langen Sinfonie an die frische Luft. Kenny war garantiert schon draußen. Und vielleicht sogar Susi mit dem braun-weiß-schwarz gesprenkelten Fell. Die wollte er schon lange mal zum Herumtollen einladen.

Muks ließ ein vorsichtiges Knurren hören: »Doch, ja, das klingt wie …« Jetzt musste ihm blitzschnell was einfallen. Er holte tief Luft. »… äh, das riecht wie vorgestern, wie nach einem Sommerregen.«

»Genau! Spitze!« Mathis tätschelte ihm den Kopf. »Überall gab es Pfützen vom Gewitter, und der Himmel war blau und klar. So klar wie das hier, hörst du? – Hörst du, wie strahlend klar das Horn nach dem Gewitter spielt!«

Muks hielt ganz still, während eines der Blechblasinstrumente, die ihm nicht geheuer waren, eine jubelnde Melodie spielte. Zugegeben, es klang einladend, wie ein Lied zum Mitsummen, aber klang so ein blauer Himmel? Blaue Himmel rochen doch nicht mal, wie sollten sie da klingen …

Aber Mathis war kaum zu bremsen. »Oh, ich liebe das Horn! Und wie jetzt die Geigen seine Melodie übernehmen! Gänsehautmusik ist das. Und jetzt alle zusammen!«, rief er und fuchtelte wild mit den Händen. Er sah aus, als wollte er die Fliege von der Stehlampe und gleich noch einen ganzen Schwarm Fliegen dazu verscheuchen.

Muks schüttelte stumm den Kopf.

»Eine Sinfonie riecht nach nix, aus, Ende!«, grummelte er leise vor sich hin. Ein Sommermorgen roch, das ja, und noch vieles andere und manches, wovon die Menschen keine Ahnung hatten, auch Mathis nicht. Aber Musik  – ausgeschlossen!

Doch die Melodie war schön, das musste er zugeben. Gerade jetzt hörte man sie wieder. Und dann so ein Klopfen und Tropfen, ganz vorsichtig und leise, wie vorgestern die Regentropfen, die von den Büschen plitschten. Doch, genauso klang die Musik, die im Radio lief. Sie roch nicht nach Regen, aber sie klang danach.

Muks schaute unter das Beistelltischchen, auf dem das Radio stand. Alles trocken.

Dann klingelte es an der Tür. Mit einem Satz war Muks vom Sofa und bellte. Erst-mal-Ruhe-Bewahren war das einzige Fach, in dem er in der Blindenhundeschule keine Eins bekommen hatte.

»Muks!«

Trotzdem hätte Mathis ihn nicht gleich anzufauchen brauchen. Schließlich war es der Klingler, der mitten in die Sinfonie hineinplatzte.

Mathis stand auf und ging zur Wohnungstür. Nur ganz leicht berührte er mit den Händen den Türrahmen und die kleine Kommode im Flur. Wer ihn nicht kannte, hätte es wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Muks folgte ihm. Samstags um diese Uhrzeit waren Mathis’ Eltern nicht zu Hause, da machten sie Einkäufe.

»Tag, Mathis!«, sagte eine vertraute Stimme, als Mathis die Tür öffnete.

»Tag, Herr Krause!«

Natürlich, Herr Krause. Wer hätte sonst am Samstagmorgen klingeln sollen?

»Hat der letzte Satz schon angefangen? Die schöne Melodie, mit der Beethoven die Landschaft nach dem Gewitterregen malt, war die schon?«

Mathis nickte.

Wenn Muks die Hoffnung gehabt hätte, dass der Besuch ein bisschen Leben in die Bude brachte, wäre sie spätestens jetzt dahin gewesen. Herr Krause. Der genauso musikverrückt war wie Mathis. Und der genauso gern darüber redete. Und genauso unverständlich.

»Zwei Kästen sauren und einen süßen«, sagte er jetzt, und das verstand Muks ausnahmsweise: Herr Krause brachte jeden zweiten Samstag den Sprudel.

Heute hatte er es zum Glück eilig. Das merkte man daran, dass er gleich die drei Sprudelkästen von seiner Lieferkarre hob und in die kleine Nische neben der Wohnungstür stapelte.

»Ach, müssen Sie gleich weiter?«, fragte Mathis. Es klang enttäuscht, aber Muks konnte einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken. Samstage, an denen es auf Herrn Krauses Liefertour gemütlicher zuging, waren nämlich das Grässlichste überhaupt.

»Im Auto klingt das Konzert längst nicht so schön wie aus eurer feinen Stereoanlage«, sagte Herr Krause an solchen gemütlichen Samstagen, dann setzte er sich zu Mathis aufs Sofa, und Muks musste seinen Platz räumen, weil die beiden die ganze Zeit im Flüsterton miteinander reden wollten. Über die Musik, die sie gerade hörten. Als würde sie dadurch schöner. Dabei war sie meistens so schon schlimm genug, fand Muks. Zum Glück konnte er gut weghören. Dann vergaß er die Musik und die beiden für eine Weile und träumte von der schönen großen Wiese mit dem Krähenbaum und den Kaninchen hinter den Holunderbüschen.

Was Muks an Herrn Krause mochte, war, dass er ihm immer einen Keks mitbrachte, und an gemütlichen Samstagen sogar zwei, aber heute hatte er’s wohl vergessen.

»Schönen Tag noch!«, sagte er, schon wieder im Treppenhaus. Und dann passierte etwas Merkwürdiges: Er holte doch noch einen Keks aus der Hosentasche, und als Muks ihn sich schnappte, zwinkerte Herr Krause ihm zu. Das hatte er noch nie getan, und während Muks sich noch darüber wunderte, war er mit seiner leise quietschenden Karre beim Fahrstuhl, in dem er dann verschwand. Mathis schloss die Tür.

Montag

»Renn doch nicht so!«, beschwerte sich Mathis, als sie über den Schulhof in Richtung Straßenbahnhaltestelle hasteten. Muks lief voraus und zog Mathis an der Leine, die eigentlich ein großer Bügel am Hundehalfter war, hinterher. Die Straßenbahn kam schon näher.

»Bei Regen ist Rot noch röter«, moserte Muks, als sie an der Ampel vor der Haltestelle stehen bleiben mussten. Es schüttete wie aus Kübeln.

Endlich wurde es grün, und Muks zog Mathis über die Straße, dass er fast gestolpert wäre.

»Mann!«

»Willst du sie jetzt erwischen oder nicht?!«, knurrte Muks in einem Ton wie mindestens drei Tage Regenwetter. Er hatte eine Stinklaune, und Mathis wusste, es war immer noch wegen Samstag. Die große Runde durch den Park hatten sie nach dem Konzert im Radio nämlich nicht mehr geschafft. Und seit Sonntag goss es in Strömen. Das hatte zwar niemand ahnen können, aber Muks nahm es Mathis trotzdem übel.

Die Straßenbahn kam quietschend zum Stehen, und die Tür vor Muks und Mathis öffnete sich mit einem Schnaufen. Sie stiegen immer vorn ein, wo direkt hinter der Tür der Extraplatz für Mathis war. Er setzte sich und spürte, wie das Regenwasser von seinen Haaren auf die Regenjacke und von der Jacke auf die Jeans rann. Dann wurde auch seine rechte Wade unangenehm feucht  – Muks drückte sich mit seinem patschnassen Fell gegen ihn.

Mathis drehte den Kopf zum Fenster, als wollte er auf die Straße schauen. Er ging gern in die Schule, aber mit der Straßenbahn zu fahren war ein Graus. Und heute war es besonders schlimm, denn bei Regen fuhren mindestens doppelt so viele Schüler mit wie sonst, und alle redeten durcheinander. Zwei Jungs schienen sich sogar zu zoffen, und einer von ihnen stolperte gegen Mathis‘ Arm.

An der nächsten Haltestelle wurde es noch enger, und natürlich: Da klingelte auch schon das erste Handy, und eine Mädchenstimme schrie über den Lärm hinweg: »Ja, hallo?!«

Mathis hielt sich unauffällig die Ohren zu und hörte für den Rest der Fahrt alles nur noch gedämpft. Gerade dass er noch die Ansagen aus dem Lautsprecher verstehen konnte, obwohl er die gar nicht gebraucht hätte. Er kannte die Haltestellen auswendig.

»Parkallee – Umsteigemöglichkeit zur Linie fünf.«

Endlich. Muks war schon aufgesprungen und bahnte ihnen den Weg zur Tür. Mathis war erleichtert, als er wieder auf der Straße stand. Zum Glück regnete es auch nicht mehr.

»Das sieht echt beknackt aus«, knurrte Muks, während sie den Weg nach Hause einschlugen.

»Was?«

»Dass du dir in der Straßenbahn immer die Ohren zuhältst.«

»Wie das aussieht, ist mir egal. Ich kann einfach den Lärm nicht ab.«

»So? Und das Getöse aus dem Radio? So wie am Samstag wieder? Das ist doch mindestens genauso laut.«

Mathis seufzte. Er hatte gehofft, Muks würde ihn inzwischen ein bisschen besser verstehen. Ihn und die Musik.

»Das ist was anderes«, sagte er.

»Laut ist laut!«

»Eben nicht! Laute Musik ist was vollkommen anderes als Lärm.«

»Aha.«

»Weil sie nämlich eine Ordnung hat.«

»Hä?«

Mathis schwieg, weil er überlegen musste. Dann sagte er: »In der Straßenbahn reden und schreien alle durcheinander, so was tut mir in den Ohren weh. Es klingt nicht schön, weil es keine Ordnung hat, verstehst du?«

»Nö.«

»Musik kann auch laut sein, aber sie tut nicht weh, und das kommt von der Ordnung.«

In dem Punkt war Muks echt begriffsstutzig, aber so schnell gab Mathis nicht auf.

»Außerdem erzählt Musik unglaublich spannende Geschichten, und der Lärm in der Straßenbahn erzählt gar nichts – oder höchstens, dass es ihn gibt.«

Keine Antwort.

Also versuchte es Mathis mit noch einem Beispiel: »Musik kann Bilder und Landschaften in so bunten Farben malen, dass man sie direkt vor Augen hat, ohne sie zu sehen, nur durchs Hören. So wie die Gewittermusik vom Samstag, falls du dich erinnerst.«

»Du meinst das Geschepper, das uns den ganzen Tag verhagelt hat?« Muks war mal wieder eine echt harte Nuss.

»Übrigens war in der Musik vom Samstag auch deine Lieblingswiese drin. Erinnerst du dich an die Melodie von Horn und Geigen?«

Muks erinnerte sich offenbar nicht.

»Musik ist auch voller Gefühle. Freude, Glück, Verliebtsein, Trost – das ist alles in ihr drin. Sogar Gerangel und Hickhack und all so was.«

»So, so.«

Es sah gerade nicht danach aus, aber Mathis war sich sicher, dass Muks ihn eines Tages doch noch verstehen würde. Schließlich war er sein Freund und der beste und klügste Hund der Welt.

Während sie miteinander redeten, waren sie zu Hause angekommen und die drei Etagen nach oben gestiegen. Mathis nahm lieber die Treppe als den Fahrstuhl, und Muks war es recht. Irgendwas war ihm an Fahrstühlen nicht ganz geheuer. Mathis sperrte die Wohnungstür auf, zog seine nasse Regenjacke aus und hängte sie an die Garderobe.

Muks schüttelte sich so kräftig, dass man seine nassen Ohren schlackern hörte.

»Iii! Pass doch auf!«

Mathis hatte die volle Ladung abbekommen. Er wischte sich über die Jeans und ging an Muks vorbei zur Sprudelnische. Die drei Sprudelkisten standen noch dort, wo Herr Krause sie am Samstag hingestellt hatte.

»Ist der süße oben oder unten?«, rief Mathis über die Schulter. Er trank lieber süßen Sprudel und hatte Muks beigebracht, dass man den am gelben Schraubverschluss erkennen konnte.

»Oben.«

Perfekt. Mathis zog eine Flasche aus dem oberen Kasten und ging zum Sofa im Wohnzimmer. Muks tappte hinterher.

Als er saß, wollte Mathis die Flasche öffnen, aber dann kam ihm irgendetwas daran merkwürdig vor. Erst mal fühlte sie sich anders an als sonst, nicht rund, sondern mit – er drehte sie einmal in der Hand – genau acht Ecken.

»Haben die neue Flaschen?«, fragte er Muks.

»Zeig her!«

Mathis stellte die Flasche auf den Boden, Muks direkt vor die Nase.

»Komisch, die hat ja Ecken«, sagte Muks. »Und ein bisschen kleiner ist sie auch. Und gar nicht normal durchsichtig, mehr so milchig blau.«

»Milchig blau?«

»Ja. Und unten auf dem Boden liegt was drin. – Kannst du sie mal schütteln?«

Klar konnte Mathis das. Er schüttelte die Flasche und hielt sie Muks hin.

»Flitter«, sagte Muks. »In der Flasche schweben kleine flitterige Schnipsel von … Moment … von Papier, und irgendwas ist draufgedruckt, aber das kann man unmöglich lesen. Es gibt doch solche Kugeln, die man schütteln muss, damit es drin schneit – so sieht das aus.«

»Schneekugeln sagt man dazu«, sagte Mathis.

»Ein Etikett ist auch nicht drauf«, berichtete Muks. »Nur so was Selbstgeschriebenes steht auf einem kleinen drangeklebten Zettel.«

»Kannst du das wenigstens lesen?«, fragte Mathis, der wusste, dass Muks im Lesen nicht gerade eine Leuchte war. Trotzdem hatte er es ihm für genau solche Fälle beigebracht, mühsam, mit Buchstaben aus Holz und ein Wort nach dem anderen, und ein bisschen konnte er es inzwischen.

»Lllaaa…«, las Muks gedehnt.

»La – und weiter?«

»Danach kommt ein m  – wie bei Muks, nur klein. Laaammm …«

»Lahm – Quatsch! Wenn hier einer lahm ist, dann du. Jetzt streng dich mal an!«

»La mmmeeerrr – da steht ›la mer‹.«

»Ach so! La mer, das ist französisch. Das Meer.«

»Das Meer?«

Mathis hielt die Flasche jetzt hoch, und plötzlich meinte er, etwas rauschen zu hören. Er hielt sich die Flasche ans Ohr – tatsächlich!

»Das Meer! Ich höre das Meer …«, flüsterte er.

Muks glaubte kein Wort, aber ein bisschen unheimlich war ihm die Sache doch. »Mach die bloß nicht auf!«, sagte er.

»Sowieso nicht, wenn man’s wahrscheinlich gar nicht trinken kann«, sagte Mathis, die Flasche immer noch dicht am Ohr.

»Das Meer ist eine Sinfonie von Tönen, weißt du«, sagte er. »Es spricht zu uns!«

»Geht das schon wieder los?«, knurrte Muks.

Aber Mathis ließ sich nicht beirren. Jetzt sowieso nicht.

»Ganz unten, wo es die Steinchen und Muscheln vor sich herschwemmt, hat das Meer ein sandiges Kratzen in der Stimme. In der Mitte, wo die Wellen sind, klingt es wie ein Chor mit tausend Sängern, die alle gurren, brüllen oder gähnen. Und oben, wo es schäumt, klingt seine Stimme wie ein kunstvolles Sprudeln. Es ist, als würde man einem ganzen Orchester zuhören. Da, hörst du’s?«

Mathis hielt die Flasche so, dass Muks auch daran lauschen konnte.

»Ich finde, es klingt nach  … hm  … vielleicht doch nach süßem Sprudel«, sagte der. »Erst soll eine Sinfonie wie meine Lieblingswiese klingen, jetzt süßer Sprudel wie das Meer  – ich glaub kein Wort!«

Muks schüttelte so heftig den Kopf, dass Mathis wieder seine Ohren schlackern hörte. »Übrigens ist auf den Klebezettel eine rote Blume gemalt – von wegen Meer!«

»Eine rote Blume?« Mathis hielt Muks die Flasche immer noch hin. »Guck noch mal genauer. Steht sonst noch was drauf? Außer ›la mer‹?«

»Ich seh nix. Außerdem reicht’s mir.«

»Jetzt warte doch mal! … Da! … Auf dem Boden steht noch was.« Mathis hatte den Flaschenboden abgetastet.

»Ich seh nur Pünktchen«, knurrte Muks.

»Und was für Pünktchen, Herr Blindenhund?«

»Okay, Blindenschrift«, knurrte Muks. Dass er das übersehen hatte, war in der Tat ein bisschen peinlich.

Mathis fuhr mit den Fingern vorsichtig über den Flaschenboden.

»Und?«, fragte Muks.

»Pst!«

Mathis schüttelte den Kopf. Ganz so einfach war das, was dort stand, nicht zu entziffern. Der Flaschenboden war ein bisschen gekrümmt, darum. Aber Mathis ließ nicht locker. Ein paar Worte konnte er schon erkennen. Instrumente? Königin? Aha: »Königin der Instrumente«! Nach und nach ging es besser, und auf einmal hatte er es heraus. Feierlich las er vor:

»Wer mich findet, bringe mich der Königin der Instrumente zurück!«

Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Zimmer. Die seltsame Flaschenpost hatte beiden die Sprache verschlagen. Aber dann sprudelte es aus Muks heraus: »Wieso stellt denn die Königin der Instrumente ihre Flasche ausgerechnet in unseren Sprudelkasten? Und wieso will sie die Flasche dann wiederhaben?«

Mehr als ein Achselzucken brachte Mathis immer noch nicht zustande.

Dafür präsentierte Muks schon eine fertige Lösung nach seinem Geschmack: »Ich finde, wir leeren die komische Flasche einfach aus und geben sie Herrn Krause wieder mit. Er hat sie hergebracht, soll er sie auch selbst wieder zurückbringen!«

Muks war für klare Lösungen, und wo es sich um etwas handelte, was mit Musik zu tun hatte, sowieso.

Mathis war auch für klare Lösungen, aber für Muks’ Vorschlag hatte er überhaupt nichts übrig. Für ihn stand fest, dass die Flasche derjenige zurückbringen musste, der sie gefunden hatte – und gefunden hatte sie nun mal er. Nur: Wohin sollte er sie bringen?

»Steht wirklich nirgendwo ein Absender?« Mathis hielt Muks die Flasche noch mal hin.

»Ich weiß nicht … Oder doch: Da oben, fast am Hals, ist noch was. Noch ein Klebezettel, aber genauso blau wie die Flasche, darum sieht man ihn kaum. Mit Pünktchen, also auch in Blindenschrift.«

Diesmal war Mathis schneller, zumal er die ersten vier Worte schon kannte: »Die Königin der Instrumente … zahlt einen großzü… großzügigen Finderlohn.«

Muks horchte auf. »Finderlohn?! Aha!« Er wedelte mit dem Schwanz. »Das ist natürlich was anderes!«

»Auf einmal?«

»Na ja, wer weiß, was das für ein Finderlohn ist, vielleicht sogar ein leckerer Knochen!  – Ich schlage vor, wir gehen gleich los.«

»Witzbold«, sagte Mathis. »Weißt du denn überhaupt, wen wir suchen?«

»Klar, die Königin der Instrumente! Das steht da doch.«

»Und wer ist das deiner Meinung nach?«, fragte Mathis.

Das saß. Dazu hatte Muks nämlich gar keine Meinung. Woher auch? Aber Mathis wusste leider auch nicht, wer das sein sollte. Es gab große und kleine Instrumente, manche, die ihm besser, und manche, die ihm weniger gut gefielen. Es gab Streich-, Schlag-, Saiten-, Blas- und alle möglichen anderen Instrumente, aber welches davon die Königin sein sollte, war Mathis schleierhaft. Wieso überhaupt Königin und nicht König? Weil es die Geige war und nicht der Kontrabass oder das Klavier?

»Wenn dir nichts Gescheites einfällt, können wir uns den Knochen abschminken«, knurrte Muks.

Aber so schnell gab Mathis die Sache nicht verloren.

»Lass uns erst mal überlegen, was wir wissen und was nicht«, sagte er. »Wir wissen nicht, wer die Königin der Instrumente ist. Aber wir wissen, dass sie eine Flaschenpost mit einer geheimen Botschaft geschickt hat.  – Und wir wissen, wem sie die geheime Botschaft geschickt hat, nämlich mir«, bemerkte er nicht ohne Stolz.

»Und woher wissen wir das?«, fragte Muks.

»Hätte sie die Botschaft sonst ausgerechnet in Blindenschrift geschickt?«

»Kaum.«

»Da siehst du’s«, sagte Mathis. »Und weil das so ist, werden wir sie suchen.«

»Und wo?«

Das war die entscheidende Frage, das wusste Mathis auch.

»Wenn auf der Flasche nicht steht, wo wir sie finden können, müssen wir vielleicht doch der Sache mit den Schnipseln drinnen auf den Grund gehen«, sagte er und begann vorsichtig, den Schraubdeckel abzudrehen.

Es knirschte erst ein wenig, dann war ein Geräusch zu hören, als holte jemand tief Luft. Mathis drehte schneller, und die Flasche schien etwas auszuhauchen. – Wörter vielleicht? Mathis drehte weiter, und aus dem Hauchen wurde ein fester Atem, der Atem verwandelte sich in ein Sprechen, und die Stimme, die da sprach, war klar und deutlich zu verstehen.