Auf den Reisen, die Nir Baram 2014 und 2015 entlang der israelisch-palästinensischen Grenzen von 1967, der sogenannten Green Line, unternommen hat, ist er zu den Menschen an den Brennpunkten der besetzten Gebiete gefahren – bis hin zu dem winzigen jüdischen Außenposten »777« tief im Westjordanland. Er erlebte die undurchsichtige Verhaftung von zwei palästinensischen Jugendlichen, bei denen Messer gefunden wurden, verbrachte Stunden in den Schleusen der Checkpoints und geriet an der al-Aqsa Moschee zwischen die religiösen Lager. Seine Gespräche mit palästinensischen Anwälten, jüdischen Siedlern, Kibbuzbewohnern der ersten und jüngsten Generation, mit Politikern, Friedensaktivisten, trauernden Familien und verzweifelten Bauern führen tiefer und anschaulicher als jeder Medienbericht in die zerrissenen Lager eines Landes im ständigen Ausnahmezustand. Unparteiisch befragt Baram alle Seiten und erkennt, dass fast jede Geschichte mehrere Wahrheiten besitzt, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie erzählt. Aber er stellt auch fest, wie tief beide Lager trotz des Konflikts miteinander verbunden sind und wie wichtig für alle Beteiligten die Aussicht ist, dass es doch eine Aussöhnung zwischen den beiden Völkern geben kann.

 

Hanser E-Book

 

Nir Baram

 

IM LAND DER

VERZWEIFLUNG

 

Ein Israeli reist in die

besetzten Gebiete

 

Aus dem Hebräischen

von Markus Lemke

 

 

Carl Hanser Verlag

 

Die israelische Originalausgabe erscheint 2016 unter dem Titel Be’ertz Ha’yeusch bei Am Oved in Tel Aviv.

 

Das Zitat auf S. 99 wird zitiert aus Tristan Egolf, Monument für John Kaltenbrunner, aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000.

 

 

ISBN 978-3-446-25208-0

© Nir Baram 2015

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Karten: Peter Palm, Berlin
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: Moti Milrod, © Haaretz Daily Newspaper

Ltd. All Rights Reserved

Satz: Greiner & Reichel, Köln

 

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INHALT

 

 

Prolog

 

Zwei gefesselte junge Palästinenser auf der Straße – Flüchtlingslager Balata, Ende 2014

 

Die »Post-Zwei-Staaten-Ära« – Der Außenposten El Matan und die Siedlung Maale Shomron, Winter 2014

 

Der erste Jude in seinem Leben. Die ehemaligen Häftlinge der Fatah und der Hamas beginnen ein neues Leben – Ramallah, Sommer 2014

 

Stadtviertel im Nirgendwo – Das palästinensische Jerusalem jenseits der Trennmauer, Frühling 2014

 

»Aus dem Fenster sehe ich Gaza« – Kibbuz Nirim, Sommer 2014

 

Ein palästinensischer Junge wird ermordet und auf dem Tempelberg reden sie vom stillen Religionskrieg – Jerusalem innerhalb der Mauer, Sommer – Winter 2014

 

Große Träume: Wird die Siedlerpartei zu einer großen israelischen Partei? – Kedumim und Elon Moreh, Anfang 2015

 

Isaak und Ismael sind Brüder. Die Otni’el-Jeschiwa und das Feld – Otni’el, Gush Etzion, Winter 2015

 

Jede Friedensinitiative stößt am Ende auf die Mauer – Beit Dschala und Bethlehem, Winter 2014

 

Am Außenposten 777 sind Palästinenser bloß ein Gerücht – Die Ableger der Siedlung Itamar und das Dorf Kafr Yanun, Winter – Frühling 2015

 

In Barta’a reden sie über innerarabischen Handel, nicht über Frieden – Barta’a, Frühling 2015

 

Lärm – Jabal Mukaber und Ras al-Amud, Ostjerusalem, Oktober 2015

 

Epilog – Das Andauern der Dämonenzeit

 

 

Prolog

 

 

Ich habe mich auf diese Reise gemacht, um herauszufinden, wie das Land wirklich aussieht, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe und in dem ich (Stand heute) auch bis an mein Lebensende bleiben werde.

Von Kindheit an werden wir mit Bildern, Karten und Zeitungsartikeln über den israelisch-palästinensischen Konflikt bombardiert. Wir lernen etwas über Unrecht und Morden, über die Zustände in Jenin, am Checkpoint Kalandia oder in Ramallah – und sind zumeist erschüttert. Manchmal will mir scheinen, der größte Teil unseres politischen Lebens ist in Erschütterung vergangen. Doch in den letzten Jahren gewinnt man den Eindruck, als seien die Israelis dieser Erschütterung müde, die immer auch mit einem Gefühl der Ohnmacht einhergeht. Oder vielleicht sind sie gerade wegen dieser Ohnmacht der Erschütterung müde. Auf jeden Fall haben sie das Interesse an den Palästinensern verloren. Die meisten Israelis und vielleicht auch die meisten Menschen auf der Welt sind inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass keine Aussicht mehr auf eine Lösung des Konfliktes besteht.

In den letzten Jahren sind Erschütterung, Gleichgültigkeit und Resignation immer mehr zu abgedroschenen Phrasen in der öffentlichen Diskussion in Israel und im Ausland geworden. Es hat den Anschein, als sei alles bereits gesagt. Faszinierend aber ist, dass die überwiegende Mehrheit aller Israelis (und der Menschen auf der Welt) – die schon über den Konflikt reden, solange sie denken können –, keine Ahnung hat, wie das Leben auf der Westbank aussieht, dem Gebiet, das Kern der Auseinandersetzung ist. Die meisten sind noch niemals dort gewesen, andere kennen es aus der Zeit ihres Militärdienstes, der in aller Regel aber schon eine ganze Weile zurückliegt. Inzwischen könnte man meinen, wir reden über einen theoretischen, nebulösen Ort, der in unserer politischen Vorstellung nur vage existiert, so wie über die Bürgerkriegsschauplätze in Syrien oder Kongo.

In den letzten Jahren ist offensichtlich geworden, dass nur wenige von uns heute noch ein umfassendes und genaues Bild von der Westbank und dem Verlauf der Grünen Linie haben. Daher habe ich mich auf diese Reise gemacht. Um so unvoreingenommen wie möglich das Verhältnis zwischen meinen politischen Ansichten und der Realität auf der Westbank zu überprüfen. Ich war sie einfach leid die Diskussion in den Cafés, auf Universitätskongressen oder in Genf, wo über die Okkupation geredet wird, ohne dass jemand tatsächlich eine Antwort auf bestimmte Fragen weiß: Wo verläuft denn nun die Grüne Linie? Und wie sieht es heute in einem Flüchtlingslager aus? Das ganze Jahr über, das ich auf der Westbank zugebracht habe, bin ich immer nach Tel Aviv zurückgekehrt, und habe meinen Freunden hier und anderswo auf der Welt erzählt, was ich gesehen hatte. Die Reaktionen, die ich erntete, schwankten zwischen Erstaunen und Unglauben: Gibt es in Jerusalem wirklich Viertel wie Ras Khamis, mit israelischen Einwohnern, die auf der palästinensischen Seite der Mauer leben? Existieren tatsächlich alle diesen nebulösen, unscharfen Exklaven ohne klare regionale und nationale Kontrolle? Sind die Siedlungen ernsthaft schon über die gesamte Westbank verteilt und nicht nur auf die »Siedlungsblöcke« konzentriert? Palästinenser und Siedler fahren wirklich auf denselben Straßen und stehen in denselben Verkehrsstaus? So viele nichtreligiöse Siedler soll es geben? Nach und nach habe ich verstanden, dass zwischen dem Israel, das ich kenne, und der Westbank nicht nur Checkpoints und Übergänge liegen wie der in Kalandia – sondern vor allem eine Bewusstseinssperre, die zusehends wächst.

Ich bin im Israel der achtziger Jahre aufgewachsen. In jenen Jahren arbeiteten täglich Hunderttausende von Palästinensern von der Westbank in Israel und waren im Straßenbild von Jerusalem, Tel Aviv, Haifa und anderen Städten allgegenwärtig. Seit den Verträgen von Oslo, und verstärkt seit dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Bau der Mauer, ist die Trennung zwischen den Palästinensern auf der Westbank und den Israelis immer rigoroser und systematischer geworden. Die Palästinenser scheinen inzwischen von unseren Straßen verschwunden zu sein und die meisten Israelis haben noch nie die Grüne Linie überquert. So kommt es, dass junge, achtzehn Jahre alte Juden, mit denen ich gesprochen habe, in ihrem Leben noch nicht einen einzigen Palästinenser getroffen haben, und gleichaltrige Palästinenser mich fassungslos angeschaut haben, weil ich der erste Jude war, dem sie in ihrem Leben begegnet sind. Aber auch ältere Israelis, die früher Palästinenser von der Westbank gekannt haben, ja mitunter sogar mit ihnen zusammenlebten, haben die alten Bekannten inzwischen schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Im Grunde ist die Westbank in den letzten Jahren in den Augen der meisten Israelis zu einem Reich jenseits der hohen Berge geworden, dem Blick entzogen. Sie wissen, bestimmte Dinge geschehen dort, manchmal reden sie über die Besatzung und die Siedlungen, doch eine Vorstellung, wie die Westbank heute aussieht und wie die Menschen dort leben, haben sie nicht. Auch führen die meisten Israelis politische Diskussionen über die Okkupation, während sie eine Karte aus dem Jahre 1995 oder 2004 vor Augen haben, ohne echten Bezug zu der vor Ort inzwischen herrschenden Realität – mit dem unvermeidlichen Ergebnis, dass die öffentliche Diskussion in Israel von Zombie-Begriffen nur so strotzt. Begriffen, die in der politischen und medialen Diskussion allgegenwärtig sind, aber auf den Straßen der Westbank, in Siedlungen und Flüchtlingslagern oder an Checkpoints, wie man vor Ort schnell feststellt, keinerlei Gültigkeit haben. Und schwierig ist es eben, über eine Lösung zu reden, wenn man keine Ahnung hat, wie der Ort aussieht, über den man spricht.

Zweifelsohne ist die Frage des Territoriums ein schicksalsträchtiges Thema. Aber was ist mit den Menschen, die dort leben? Wir alle reden im Namen von Menschen, wissen, auch ohne die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu kennen, welche politischen Ziele die Palästinenser haben. Auch glauben wir, dass alle Siedler nur die Losungen radikaler Rabbiner nachbeten, weil wir diese im Fernsehen gesehen haben; und dass Menschen wie Abu Mazen oder die Hamasführer oder die Siedlervertreter – alles in allem vielleicht zwei, drei Dutzend Gesichter – tatsächlich die Millionen repräsentierten, die auf der Westbank leben. Zumeist zitieren wir Leute, die unsere Ansichten bestätigen, oder geben wieder, was dubiose Meinungsführer, denen wir nie persönlich begegnet sind, gesagt haben, und greifen uns eine stereotype Figur heraus, mit der wir uns leicht auseinanderzusetzen können.

Auf meiner Reise habe ich das ganze letzte Jahr über mit Hunderten von Menschen gesprochen, Juden und Araber aus allen Schichten und politischen Lagern. Ich habe ihnen zugehört, habe Fragen gestellt, habe sie gebeten, ihr Leben zu schildern, ihre Hoffnungen und Ziele für die Zukunft. Ich habe sie in ihrem Zuhause getroffen, am Arbeitsplatz, am Checkpoint, unterwegs auf der Straße, in ihrer natürlichen Umgebung, und habe mich bemüht, ihre Alltagsnöte kennenzulernen. Zuweilen habe ich Menschen zugehört, die ich immer als politische Feinde betrachtet hatte – Anhänger der Hamas etwa oder Bewohner illegaler Siedlungsaußenposten –, und dabei gelernt, die Geschichte, an die sie glauben, zu akzeptieren, auch ihre Ideen für die Zukunft. Nach und nach habe ich begriffen, dass die uns bekannte Unterteilung in Befürworter und Gegner eines Friedens simplifizierend und wenig nützlich ist. Und dass die komplexe Realität, die auf der Westbank entstanden ist, sich de facto nicht mehr nur durch eine Antwort auf die Frage »Zwei Staaten – ja oder nein?« verstehen lässt. Denn diese Realität setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Auffassungen von Zeit und Raum, einem divergierenden Verständnis der entscheidenden historischen Ereignisse, gegenläufigen religiösen Überzeugungen, Angst vor dem jeweils anderen, tagtäglichen Gewohnheiten, Nöten und ideologischen Grundsätzen. Menschen zuhören heißt, ein komplexeres Weltbild zu riskieren, das manchmal voller Widersprüche sein mag. Es ermöglicht aber auch, in weniger starrer Form über die Zukunft zu sprechen, unterschiedliche Ideen unvoreingenommen zu prüfen und vor allem den Bezug zu verstehen zwischen der eigenen politischen Auffassung und der sich auf der Erde formenden Realität. Zweifellos hatte ich mitunter das Gefühl, dass meine politischen Einstellungen ins Wanken geraten und dass ich nicht immun bin gegen starre Vorstellungen. »Sie müssen lernen, dem Land zu lauschen«, hat mir ein junger Palästinenser im Flüchtlingslager Balata gesagt. »Und ich meine wirklich lauschen.« Dem Land lauschen. Ich habe lange über seine Worte nachgedacht. In seinem spannenden Buch Palestinian Walks zitiert der Schriftsteller und Rechtsanwalt Raja Shehadeh aus den Reiseerinnerungen Aufzeichnungen von Cornhill nach Gross Cairo des großen englischen Romanciers William Makepeace Thackeray, der in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts unter anderem das Westjordanland besuchte: »Entsetzen und Blut, Verbrechen und Strafe füllen Blatt für Blatt in grauenhafter Aufeinanderfolge. Da ist auch nicht ein Plätzchen – wohin das Auge auch blicken mag –, wo nicht irgendeine Gewalttat verübt, ein Blutbad angerichtet, ein Unglücklicher gemordet, einem Idole unter blutigen und furchtbaren Gebräuchen gehuldigt worden wären.«

Es ist ganz wie Thackeray schreibt, ja trifft zweihundert Jahre später noch mehr zu: Auf der Westbank hüllt die Vergangenheit die Landschaft ein, gleißt von jedem Hügel, schleicht sich in jeden Satz, dirigiert alles Nachdenken und speist das Bewusstsein ständig von neuem mit Bildern (die man mitunter gar nicht versteht). Dabei ist es doch gerade die Zukunft, die mich auf diese Reise geführt hat. In Israel melden alle unentwegt Zweifel am Fortbestehen unserer Existenz an. Zynismus, rabulistische Fragen, biblische Klischees und Horrorszenarien bestimmen sowohl die öffentliche als auch jede private Diskussion über die Zukunft, und das nicht zufällig. Die Menschen, egal, ob sie nun politisch rechts oder links stehen, leben in Israel ohne klares Bild von der Zukunft, ja im Grunde sogar ohne auch nur eine vage Vorstellung davon. Und stets lauert die künftige Apokalypse irgendwo in den Tiefen ihres Bewusstseins, überstrahlt zuweilen alles und verbirgt sich dann wieder für einige Zeit. Und so hat man den Eindruck, als könne niemand hierzulande sich die Zukunft im Jahre 2040 oder 2060 vorstellen. Ja, die meisten Menschen haben nicht einmal eine Lösung auf die einfachste Frage überhaupt: Wie sehen die Grenzen des Staates aus, in dem sie dann leben, und was für ein Staat wird dies sein?

Doch die meisten meiner Freunde, die größten Skeptiker und Pessimisten mit eingeschlossen, sind in den letzten Jahren Eltern geworden. Die meisten haben ihre Kinder in einem Staat zur Welt gebracht, dessen künftige Existenz sie stark bezweifeln, zumal in seiner jetzigen Beschaffenheit. Und dennoch folgen so gut wie alle der Routine ihres Alltagslebens, als gäbe es diesen Zweifel hinsichtlich der Existenzfrage Israels nicht: Sie kaufen Wohnungen, verwirklichen Geschäftsideen, sparen jetzt schon für das Studium ihrer fünfjährigen Tochter. Man könnte meinen, es sei eine sonderbare Abkoppelung eingetreten zwischen der pessimistischen politischen Auffassung der meisten Israelis und dem Alltagsleben, das sie führen; als würde alles immer so bleiben, wie es jetzt ist, als würde diese Gegenwart bis in alle Ewigkeit andauern. »Und die Jahre waren platt gedrückt, zusammengepresst und flinker als wir«, hat der Dichter Israel Pinkas geschrieben. »Wir aber verhielten uns, als seien wir ›unsterblich‹ und als bliebe Zeit für alles.«

Diese Diskrepanz zwischen der düsteren politischen Zukunft und unserem Leben, das in ihrem Schatten zu verlaufen scheint, sich im Grunde aber von ihr losgesagt hat – diese Widersprüchlichkeit hat mich lange belastet. Immer wieder habe ich meine Freunde, meine politischen Mitstreiter und Gegner gefragt: Wie sieht unsere Zukunft aus? Welchen Staat wird es hier geben? Oder wie viele Staaten? Und wie werden sie aussehen? Welche Gesetze werden sie haben? Wollen wir uns vielleicht die Zukunft gemeinsam ausmalen, jetzt? Aber nach und nach habe ich begriffen, dass wir nicht über die politische Zukunft Israels reden wollen, dass wir uns mit allgemeinen Äußerungen oder mit vagen Prognosen begnügen, gespickt mit schwarzem Humor, ja, dass sich hier in den letzten Jahren eine handfeste kollektive Verdrängung in Bezug auf die Zukunft ausgebildet hat.

Auf meiner Reise bin ich natürlich nicht in die Zukunft gesprungen. Aber überall, wo ich war, habe ich nach ihr gefragt, habe Lösungen erbeten, Ideen, habe Menschen aufgefordert, ihren Plan zu präsentieren, Grenzen zu skizzieren, sich mit den Auswirkungen ihrer Vision auseinanderzusetzen. Hatten sie keine Vision, sollten sie ein bisschen über die Angelegenheit nachdenken, wir würden uns schon bald wieder sprechen. Ich habe nach Grenzen gefragt, nach Staatsbürgerschaft und Identität, habe nach 2040 und 2060 gefragt. Ich war fest entschlossen, den Juden und Arabern, die auf der Westbank leben, die Frage zu stellen, die mich seit mehreren Jahren umtreibt, die alles entscheidende Frage, vor der wir stehen: Wie wird die Zukunft hier aussehen?

Auf die alten Debatten und Geschichtsstunden habe ich keine Zeit vergeudet. Manches Mal habe ich meine Gesprächspartner bis an die äußerste Grenze der eigenen Logik führen wollen, wollte ihre politische Vision sich an den rauhen Steinen der Realität reiben lassen. Für mich war diese Reise eine Gelegenheit, diesem gestaltlosen Dämon ins Auge zu schauen, der in der Zukunft auf uns wartet. Wenn Schriftsteller sich Geflüster, Erinnerungen, Ängste und Träume aneignen, die sich in unserem Bewusstsein vermischen und »einen Geist zu einer Geschichte« machen, dann wollte ich auf dieser politischen Reise den Dämon zu einem möglichst klaren politischen Modell werden lassen, ja im Grunde zu verschiedenen Modellen, die sich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft stellen sollen. Denn das ist der kritische Punkt: Jedes politische Modell in Israel muss sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleichermaßen auseinandersetzen. Doch die meisten bekannten Modelle versuchen nicht, allen dreien gerecht zu werden, oder erschaffen zum Beispiel die Vergangenheit auf eine Weise neu, die die eigene Auffassung untermauert, alles habe mit der Eroberung der Westbank durch Israel im Jahre 1967 begonnen.

 

***

 

Am Ende meiner Reise bin ich gefragt worden, ob ich jetzt noch verzweifelter oder optimistischer bin. Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht genau. Vielleicht hätte ich mich ernüchterter fühlen sollen, und in gewissem Maße empfinde ich auch so, aber nicht immer. Ich habe auf dieser Reise vieles gesehen, was zu Verzweiflung Anlass gibt, habe gelernt, wie verzweigt und komplex der Besatzungsapparat ist – eine Art Labyrinth, in dessen Gängen man unweigerlich verloren gehen muss, und das uns zu einer Gesellschaft von Gefängniswärtern gemacht hat. Aber ich habe auch Menschen getroffen, die Hoffnung bei mir geweckt haben, ja sogar Inspiration, und ich habe neue Ideen zu hören bekommen. Letztendlich glaube ich, dass der Kampf um einen politischen Raum, in dem Juden und Araber gleichberechtigt leben, noch lange nicht entschieden ist. Denn wenn sich eines aus dem 20.Jahrhundert lernen lässt, dann dies: gewaltige Veränderungen, die niemand vorausgesehen hat, ereignen sich plötzlich, mitunter in einem Wimpernschlag. Ein ehernes Gebot, welches bestimmt, dass der Krieg hier kein Ende hat, gibt es nicht. Ich glaube noch immer, dass wir bislang nicht genug getan, nicht genug politischen Mut gezeigt haben, dass neue Ideen nicht ernsthaft erwogen wurden, und sich dies ändern kann. Und im Gegensatz zu der auf meiner Reise nicht eben wenig gehörten fatalistischen Haltung muss ich einfach daran glauben, dass das Schicksal der Menschen, die hier leben, noch immer von ihnen selbst abhängt. Und dass uns noch Zeit bleibt.