Zsolnay E-Book

 

Qiu Xiaolong

 

Schwarz auf Rot

 

OBERINSPEKTOR CHENS

DRITTER FALL

 

Aus dem Amerikanischen von

Susanne Hornfec

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

Die Originalausgabe erschien erstmals 2004 unter dem Titel When Red Is Black bei Soho Press in New York.

 

 

ISBN 978-3-552-05790-6

© Qiu Xiaolong 2004

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2005/2016

Schutzumschlaggestaltung und Fotografie:Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

ZUM ANDENKEN

AN MEINE ELTERN RENFU UND YUEE,

DIE, WIE SO VIELE CHINESEN IN DIESEM BUCH,

UNTER DER KULTURREVOLUTION

ZU LEIDEN HATTEN, WEIL SIE POLITISCH

SCHWARZ WAREN.

 

 

 

 

1

 

Hauptwachtmeister Yu Guangming von der Shanghaier Polizei stand allein und noch ganz benommen von dem Schlag da. Erst allmählich setzte dessen Wirkung ein, doch nun traf sie ihn mit voller Wucht. Nach Monaten endloser Sitzungen und Verhandlungen war ihm die versprochene Wohnung in Tianling New Village nun doch wieder weggenommen worden. Es wäre ein Erstbezug gewesen, und man hatte sie ihm ganz offiziell zugesprochen, unter dem donnernden Applaus seiner Abteilungskollegen.

Im überbevölkerten Shanghai, wo mehr als dreizehn Millionen Menschen wohnten, gab es ein massives Wohnungsproblem. Die Zuweisung einer Dienstwohnung war ein bedeutsames Ereignis. Seit vielen Jahren schon oblag der Arbeitseinheit, im Fall von Yu der Shanghaier Polizei, die Entscheidung, welchem ihrer Angestellten ein Zimmer oder eine Wohnung aus dem alljährlich von der Regierung ausgewiesenen Kontingent zugesprochen werden sollte. Angesichts seiner hervorragenden Leistungen in mehr als zehn Dienstjahren, hatte man Yu nun endlich mit einer Dreizimmerwohnung – oder zumindest mit dem dazugehörigen Schlüssel – bedacht. Doch noch bevor er den Umzug planen konnte, war ihm die Wohnung völlig überraschend wieder entzogen worden.

Yu stand in dem kleinen, mit verstaubtem Gerümpel der Bewohner vollgestellten Hof seines traditionellen shikumen-Hauses, das nicht weniger als zwölf Familien beherbergte, die seine inbegriffen. Der alte Innenhof sah aus wie eine Müllkippe, und genauso fühlte sich sein Kopf an. Jetzt brauchte er erst mal eine Zigarette.

Als Begründung – oder Vorwand – für den Entzug der Wohnung hatte man ihm den Ausgleich von Verpflichtungen zwischen staatseigenen Betrieben genannt. Der Kreditgeber von einem der beteiligten Staatsbetriebe hatte sich einige der Wohnungen in dem von der Baufirma Goldener Drache errichteten Neubaukomplex Tianling New Village unter den Nagel gerissen, unter anderem jene, die Yu zugesprochen worden war. Diese Wendung des Schicksals schien völlig absurd; es war, als wäre eine gebratene Pekingente vom Servierteller in den Himmel aufgeflogen.

Als Parteisekretär Li vom Shanghaier Präsidium ihm vor ein paar Tagen die schlechte Nachricht mitteilte, hatte er seine nicht enden wollenden Ausführungen mit der üblichen positiven Note geschlossen: »Die Wirtschaftsreform bringt eben große Veränderungen mit sich. Noch vor zwei, drei Jahren wären sie undenkbar gewesen. Auch das System der Wohnungszuweisung ist davon betroffen. Bald werden die Chinesen nicht mehr von staatlich zugeteilten Dienstwohnungen abhängig sein. Mein Schwager zum Beispiel hat sich kürzlich ein neues Apartment im Stadtteil Luwan gekauft. Natürlich stehen Sie auch weiterhin ganz oben auf der Liste, und die Dienststelle wird Ihren Fall bevorzugt behandeln. Falls Sie künftig Wohneigentum erwerben sollten, könnten wir Sie unter Umständen mit einer Kompensationszahlung unterstützen.«

Welch ein Trost!

Nach mehr als vierzig Jahren staatlich gelenkter Wohnungsvergabe ermöglichte die Wirtschaftsreform den Bürgern nun den Erwerb von privatem Wohneigentum, doch man sagte nicht umsonst: Die Politik kann sich an einem Tag dreimal ändern. Niemand konnte die Zukunft der chinesischen Reformpolitik voraussagen. Parteisekretär Lis Schwager, der bereits mehrere teure Restaurants und Bars besaß, hatte natürlich keine Probleme, sich ein Apartment zum Quadratmeterpreis von zwölftausend Yuan zu kaufen. Hauptwachtmeister Yu jedoch, ein einfacher Polizeibeamter mit einem Monatsgehalt von etwa vierhundert Yuan, konnte von so einer Anschaffung nicht einmal träumen.

»Aber die Wohnung war mir doch bereits zugesprochen«, hatte Yu insistiert. »Es war eine offizielle Entscheidung der Dienststelle.«

»Ich verstehe, daß Sie sich ungerecht behandelt fühlen, Genosse Hauptwachtmeister Yu. Glauben Sie mir, wir haben uns nach Kräften für Sie eingesetzt. Wir sind uns alle bewußt, daß Sie ein großartiger Polizist sind. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan. Es tut uns wirklich leid.«

Lis begütigende Worte konnten die harte Realität nicht abmildern: Yu hatte die Wohnung verloren.

Außerdem war es ein enormer Gesichtsverlust. Seine Freunde und Verwandten hatten bereits von der Wohnung erfahren, alle hatten sie ihm gratuliert, und einige rüsteten schon für die Einweihungsparty. Was nun?

Was ihm jedoch viel größere Sorgen bereitete, war die Reaktion seiner Frau Peiqin. Während ihrer fünfzehnjährigen Ehe hatten sie ständig Händchen gehalten und geredet, geredet, geredet, wie es in einem modernen Schlager hieß. Sie waren sich während der Kulturrevolution als landverschickte Jugendliche in Yunnan nähergekommen und hatten diese Nähe auch als eines von Millionen gewöhnlicher Ehepaare in Shanghai nicht verloren. Doch in letzter Zeit wirkte sie verschlossen.

Er konnte das durchaus verstehen. In all den Jahren hatte er im Vergleich zu ihr wenig in den Haushalt eingebracht. Es war nicht zu leugnen – und manchmal schwer zu verschmerzen –, daß Peiqin als Buchhalterin in einem Restaurant mehr verdiente als er bei der Polizei. Und diese Kluft hatte sich in den letzten Jahren noch vergrößert, da Peiqin immer wieder Prämien erhielt, ganz zu schweigen von den kostenlosen Delikatessen, die sie aus dem Restaurant heimbrachte. Die Nachricht von der neuen Wohnung hatte ihn momentan etwas besser dastehen lassen. Sie war ganz aus dem Häuschen gewesen und hatte allen von der neuen Wohnung erzählt, die ihm wegen seiner »hervorragenden Leistungen« zugesprochen worden war.

Während die Zigarette zwischen seinen Fingern herunterbrannte, fiel ihm auf, daß sie seit Erhalt der schlechten Nachricht kaum etwas gesagt hatte. Für sie war es ein weiteres Zeichen dafür, daß es ein einfacher Polizist in der heutigen Gesellschaft kaum zu etwas bringen konnte.

Als sein Vater, der Alte Jäger, noch aktiv gewesen war, hatte man sich als Polizist wenigstens als Teil der »Diktatur des Proletariats« verstehen können und gewußt, daß man materiell allen anderen Mitgliedern dieser egalitären Gesellschaft gleichgestellt war. Doch in den neunziger Jahren war alles anders geworden: Man war nur so viel wert, wie man besaß. Nicht umsonst hatte Genosse Deng Xiaoping gesagt: »Laßt einige schneller reich werden als andere.« Und so geschah es. Wer in dieser sozialistischen Gesellschaft reich wurde, der erntete dafür zugleich Anerkennung. Für solche dagegen, die trotz harter Arbeit nicht reich wurden, hatte die Volkszeitung keinen Kommentar übrig.

Als pflichtbewußter Polizist verfügte Hauptwachtmeister Yu trotz seiner gut vierzig Jahre noch nicht über eigenen Wohnraum. Das einzige Zimmer, das er mit Peiqin und dem gemeinsamen Sohn Qinqin seit ihrer Rückkehr in die Stadt in den frühen achtziger Jahren bewohnte, war ursprünglich das Eßzimmer in jenem Flügel des Hauses gewesen, den man Anfang der Fünfziger dem Alten Jäger zugewiesen hatte.

Peiqin hatte sich nicht wirklich beklagt, doch ihr Schweigen nach dem Wohnungsfiasko sprach Bände. Einmal allerdings hatte sie seine Hingabe an die Polizeiarbeit doch in Frage gestellt, wenn auch nicht direkt. Jetzt, in Zeiten »wirtschaftlicher Reformen«, war es den Leuten möglich, eigene berufliche Entscheidungen zu treffen, auch wenn das mit Risiken verbunden war. Als Polizist hatte Yu seine »eiserne Reisschale«, was in Maos kommunistischem Utopia lebenslange Absicherung bedeutet hatte. Die eiserne und damit unzerbrechliche Reisschale stand für dauerhafte Anstellung, garantiertes Einkommen, medizinische Versorgung und Lebensmittelmarken. Doch mittlerweile schien eine solche eiserne Reisschale offenbar nicht mehr so erstrebenswert zu sein. Geng Xing, einer von Peiqins früheren Kollegen, hatte gekündigt, um ein eigenes Restaurant aufzumachen, und – so behauptete zumindest Peiqin – verdiente damit fünf- bis sechsmal soviel wie in einem staatlichen Restaurant. Yu erinnerte sich, daß Peiqin ihm Geng Xings Geschichte mit der offenkundigen Erwartung einer Erwiderung erzählt hatte.

Er steckte in der Krise, befand Yu, während er deprimiert den Zigarettenstummel in dem zementierten Gemeinschaftswaschbecken ausdrückte, bevor er in ihr Zimmer ging.

Peiqin badete sich gerade die Füße in einer grünen Plastikschüssel. Sie blickte nicht auf, sondern blieb vornübergebeugt in dem Bambussessel sitzen. Auf dem Boden hatten sich die unvermeidlichen Wasserpfützen gebildet. Die Schüssel war einfach zu klein. Sie konnte kaum die Zehen darin ausstrecken.

Während ihrer Zeit als »landverschickte Jugendliche«, die inzwischen fast wie ein anderes Leben anmutete, hatte Peiqin neben ihm gesessen und die Beine in den klaren, friedlichen Bergbach baumeln lassen, der hinter ihrer Bambushütte vorbeifloß. Damals hatte ihr einziger und größter Traum darin bestanden, nach Shanghai zurückzukehren, so als würde sich dort alles weitere von selbst entfalten wie ein Regenbogen am blauen Himmel. Die blauen Flügel eines Eichelhähers hatten schimmernd aufgeblitzt, eine Krabbe hatte an ihrem Zeh geknabbert, und sie hatte sich in ihrem Schreck an ihn geschmiegt.

In den frühen achtziger Jahren waren sie in die Stadt zurückgekommen, in ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer und in die Realität des Alltags. Abgesehen von der Geburt ihres Sohnes Qinqin, hatte sich kaum eine ihrer Hoffnungen erfüllt. Er war inzwischen zu einem großen Jungen herangewachsen, und für sie beide war der Regenbogen über dem fernen Bergbach längst verblaßt.

In der neuen Wohnung in Tianling hätte es ein kleines Badezimmer gegeben, in das er eine Dusche hatte einbauen wollen. Kopfschüttelnd ertappte sich Hauptwachtmeister Yu dabei, wie er wieder einmal verpaßten Gelegenheiten nachtrauerte.

Auf dem Tisch hinter Peiqin bemerkte er eine Tüte. Es waren mit gegrilltem Schweinefleisch gefüllte Dampfbrötchen, die, wie er vermutete, aus Gengs Restaurant stammten. Der Laden lief gut. Peiqin half Geng bei der Buchhaltung, und er entlohnte sie in Naturalien.

Wäre es auch für ihn möglich, einen Nebenjob zu finden?

Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedanken. Er nahm an, daß es seine Dienststelle war, und hatte recht.

Parteisekretär Li konnte zu dieser späten Stunde Oberinspektor Chen Cao, Yus Vorgesetzten in der Spezialabteilung der Mordkommission, nicht erreichen. Aber ein dringlicher Fall lag vor, und deshalb rief er jetzt Yu an.

»Yin Lige.« Yu wiederholte den Namen des Mordopfers, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Li hatte kaum etwas gesagt, nur so viel, daß die Lösung des Falls politische Bedeutsamkeit hatte. Yin mußte bekannt sein, denn sonst wäre der Mord an ihr gar nicht in seiner Abteilung gelandet, die sich nur mit politisch brisanten Fällen befaßte. Dennoch rief die Erwähnung ihres Namens keine Assoziationen wach. Yin war ein häufiger chinesischer Familienname, und falls sie tatsächlich berühmt gewesen war, hätte er eigentlich von ihr gehört haben sollen.

»Yin Lige!« wiederholte Peiqin und sprach ihn zum ersten Mal nach Tagen wieder an.

»Ja. Weißt du etwas über sie?«

»Die Autorin von Tod eines chinesischen Professors. Der Professor hieß Yang Bing«, fügte sie hinzu, während sie ihre Füße mit einem Handtuch abtrocknete. »Was ist mit ihr?«

»Sie wurde in ihrem Zimmer ermordet.«

»Hat die Regierung ihre Finger in der Sache?« fragte Peiqin mit zynischem Unterton.

Ihre Erwiderung verblüffte ihn. »Die Dienststelle ist angewiesen, den Fall so schnell wie möglich aufzuklären, hat Parteisekretär Li gesagt.«

»Für euren Parteisekretär ist doch alles politisch.«

Damit spielte sie offenbar auf die Art und Weise an, wie manche Ermittlungen unter Lis Leitung durchgeführt worden waren, aber sicher auch auf die widerrufene Wohnungszuweisung. Peiqin vermutete, daß Lis Geschichte von der Begleichung alter Schulden zwischen Staatsbetrieben nur ein Vorwand gewesen war, um die Zusage rückgängig zu machen. Yu verfügte über keinerlei politischen Einfluß in seiner Dienststelle.

Yu war dieser Gedanke auch schon gekommen, er wollte aber im Moment nicht darüber sprechen. »Wovon handelt ihr Buch?«

»Es beruht auf ihren persönlichen Erfahrungen und handelt von einem alten Professor, der sich während der Kulturrevolution verliebt. Die Presse hat dem Buch große Aufmerksamkeit geschenkt, und es geriet ziemlich unter Beschuß.« Peiqin stand auf und griff nach der Plastikschüssel. »Kurz nach der Veröffentlichung wurde es verboten.«

»Komm, ich helfe dir«, sagte Yu und brachte die Schüssel in den Hof. Sie folgte ihm in Schlappen nach draußen. »Über die Kulturrevolution gibt es viele Bücher. Was ist an ihrem so besonders?« fragte Yu.

»Die Leute fanden, daß manche ihrer Schilderungen zu realistisch sind, sie enthalten zu viele blutige Details, als daß die Partei das schlucken wollte«, erwiderte sie. »Der Roman hat auch im Ausland Aufsehen erregt. Daraufhin wurde sie von der offiziellen Kritik als Dissidentin bezeichnet.«

»Aha, eine Dissidentin. Aber das Buch handelt von der Kulturrevolution, von der Vergangenheit also. Wenn sie sich nicht in der aktuellen Bewegung für Freiheit und Demokratie engagiert, dann verstehe ich nicht, warum die Regierung sie loswerden müßte.«

»Du hast das Buch eben nicht gelesen.«

Vielleicht wollte Peiqin ja noch immer nicht reden, dachte er nach dieser knappen Antwort. Oder sie wollte nur nicht über Bücher mit ihm reden. Das war einer der Unterschiede zwischen ihnen: sie las und er nicht, normalerweise zumindest.

»Dann werde ich es lesen«, sagte er.

»Und was ist mit Oberinspektor Chen?«

»Keine Ahnung. Li konnte ihn nicht erreichen.«

»Dann wirst du also in diesem Fall ermitteln?«

»Sieht so aus.«

»Wenn du Fragen zu Yang – entschuldige, zu Yin – hast, dann kann ich dir vielleicht helfen«, sagte sie. »Wenn du mehr über das Buch wissen willst, meine ich; ich sollte es wohl noch mal lesen.«

Dieses Angebot überraschte ihn. In aller Regel diskutierte er seine Fälle nicht zu Hause, und sie zeigte auch kein allzu großes Interesse.

Nachdem sie tagelang praktisch nicht mit ihm gesprochen hatte, bot sie nun ihre Hilfe an. Das war doch immerhin schon etwas.

 

 

2

 

Ein Angebot, das er nicht ablehnen kann.

Oberinspektor Chen Cao von der Sonderkommission der Shanghaier Polizei hatte keine Ahnung, daß Hauptwachtmeister Yu soeben von Parteisekretär Li ein Fall übertragen worden war, als ihm diese Zeile aus Der Pate in den Sinn kam. Er saß in einer eleganten Bar Gu gegenüber, dem Geschäftsführer der Shanghai New World Group. Gu war ein Aufsteiger, der sowohl zu staatlichen Stellen wie zu den Triaden gute Kontakte pflegte. Der Oberinspektor trank einen Schluck von dem französischen Rotwein, der im Licht der Kristallüster funkelte, und dachte über die Ironie der Situation nach. Ihr Tisch am Fenster bot einen herrlichen Blick über den Bund, die Uferstraße, die südlich des Zollgebäudes am Hafen entlangführte. Ständig wechselnde Neonreklamen ließen die Wasseroberfläche des Flusses flirren. Am Nebentisch saß ein Europäer in Begleitung einer Chinesin; sie unterhielten sich in einer ihm unbekannten Sprache. Und Gu machte Chen ein Angebot, das er kaum ablehnen konnte.

Doch damit endeten die Ähnlichkeiten auch schon, wie Chen sich eilends versicherte, während Gu ihm nachschenkte. Ihm war eine enorme Summe für eine Übersetzung angeboten worden, und Gu hatte betont, daß Chen damit ihm einen großen Gefallen erweisen würde, nicht umgekehrt.

»Sie müssen diesen Projektentwurf für mich übersetzen, Oberinspektor Chen. Und nicht nur für mich, sondern auch im Interesse der Stadt Shanghai. Mr. John Holt, mein amerikanischer Partner, sagte, er werde das in den USA übliche Honorar bezahlen. Fünfzig Cent pro Schriftzeichen, in amerikanischer Währung.«

»Das ist eine Menge Geld«, sagte Chen, der in seiner Freizeit bereits einige Krimis übersetzt hatte und sich mit Honoraren auskannte. Ein Verlag zahlte einem Übersetzer in der Regel ein einmaliges Entgelt von zehn Cent pro Schriftzeichen, allerdings in chinesischer Währung. Zehn chinesische Cent entsprachen ungefähr einem amerikanischen Cent.

»Bei dem Entwurf geht es um New World, das jüngste Projekt unseres Unternehmens. Ein riesiger Einkaufs-, Vergnügungs-, Büro- und Wohnkomplex, der im Stadtzentrum entstehen soll, und zwar in der architektonischen Pracht der dreißiger Jahre«, erklärte Gu. »Alle Gebäude sind im shikumen-Stil gehalten: graue Backsteinwände, schwarzlackierte Türen, Türrahmen aus braunem Stein, kleine Innenhöfe, mehrere Flügel und hölzerne Wendeltreppen. Der Komplex ist von kleinen Gäßchen durchzogen, genau wie früher in den ausländischen Konzessionen. Kurz gesagt, man wird mitten in die gute alte Zeit hineinspazieren, so als beträte man einen Traum.«

»Ich bin ganz verwirrt, Herr Gu. Ein Neubaukomplex im Herzen Shanghais bestehend aus altmodischen, antiquierten Gebäuden? Warum denn das?«

»Lassen Sie mich erklären. Im vergangenen Jahr war ich in Italien, genauer gesagt in Rom. Dort sah ich eine Reihe von international bekannten Markenfirmen, die ihre Läden in engen Seitenstraßen hatten, wie es sie auch bei uns gibt, kopfsteingepflastert und nicht breit genug für einen Lastwagen. Aber dennoch hatten sich die elegantesten Geschäfte in den alten Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert niedergelassen. In diesen moosbewachsenen, von Efeu umrankten Gebäuden wimmelte es von schicken, shoppenden Männern und Frauen; man saß in Straßencafés, und die Luft vibrierte von modernen und postmodernen Rhythmen. Ich war schlichtweg überwältigt; mir war, als hätte mir der Stock eines Zenmeisters den erleuchtenden Schlag verpaßt. Ich habe viel von der Welt gesehen, aber Einkaufen und Essen verlief überall recht ähnlich. Aber Rom hat mich wirklich überrascht. Es war eine einzigartige Erfahrung; Erinnerungen an die Vergangenheit, gepaart mit modernem Luxus.«

»Das klingt großartig, Herr Gu. Aber Shanghai ist nicht Rom.«

»Wir haben hier unsere shikumen-Häuser. Ich werde den ganzen Komplex in diesem Stil errichten lassen. Tatsächlich stehen auf dem Gelände noch viele solcher Häuser. Und Gäßchen wird es auch geben. Einige der Gebäude werden von Grund auf saniert und restauriert. Falls nötig, wird die alte Bausubstanz abgerissen und originalgetreu wieder aufgebaut, mit neuen Materialien, aber im alten Stil. Die Fassaden bleiben unverändert, aber innen wird es Klimaanlagen und Zentralheizung geben, alles, was der moderne Komfort verlangt.«

»Shikumen war einer der vorherrschenden Baustile für die Wohnhäuser der Konzessionsviertel«, erwiderte Chen.

»Er läßt sich aber auch für Läden, Bars, Restaurants und Nachtclubs adaptieren. Wir werden eine Attraktion für Touristen schaffen – exotisch, fremdartig, kolonial, postkolonial, alles, was es bei ihnen zu Hause nicht gibt. Aber auch die Shanghaier werden sich angezogen fühlen. Ich habe ein bißchen Marktforschung betrieben. Nostalgie ist angesagt. Wie wurde unsere Stadt damals genannt? ›Paris des Ostens‹, ›Perle des Orients‹. Bildbände über Shanghais goldene Zeiten finden reißenden Absatz. Und warum? Weil bei uns eine rasch wachsende Mittelschicht über Geld verfügt und sich jetzt nach einer Tradition, einer Geschichte sehnt, die sie für sich reklamieren kann.«

»Ein großartiges Projekt«, sagte Chen. »Hat die Stadtverwaltung schon zugestimmt?«

Chen wußte, daß Gu ein hartgesottener Geschäftsmann war. Man brauchte sich also über die Geschäftsstrategien der New World Group keine Sorgen zu machen. Dennoch stand das Honorar, das man ihm für die Übersetzung anbot, in keinem Verhältnis zum Arbeitsaufwand. Es war, als regnete es Mondkuchen vom Himmel; ein so gutes Angebot konnte nur Chens Mißtrauen erregen. Er mußte herausfinden, wo der Haken an der Sache war.

»Natürlich hat es die Stadtverwaltung abgesegnet. Wenn die New World erst einmal steht, dann ist das nicht nur eine Bereicherung für unsere großartige Stadt, sondern bringt auch enorme Steuereinnahmen.« Gu steckte sich eine Zigarette an, bevor er fortfuhr: »Ich werde Ihnen ein Geheimnis anvertrauen. Ich habe einen Antrag auf Schutz kulturellen Erbes gestellt. Schließlich ist der shikumen-Stil ein bedeutsamer Bestandteil der Shanghaier Stadtgeschichte. Ein oder zwei kleine Museen könnten ohne weiteres in das Konzept integriert werden. Ein Museum für alte Münzen wäre eine Möglichkeit; jemand ist bereits mit einer solchen Idee an mich herangetreten. Die Mehrzahl der modernen shikumen-Bauten soll jedoch kommerziell genutzt werden. Gewerbeflächen der Luxusklasse.«

»So wie in Rom?«

»Genau. In meinem Antrag an die Stadtverwaltung habe ich solche Details natürlich nicht weiter ausgeführt, sonst wären die Grundstückspreise ins Astronomische gestiegen. Aus anderer Perspektive betrachtet, dient dieses Projekt ja auch wirklich dem Schutz des historischen Erbes.«

»Wie wahr«, entgegnete Chen, »eine Sache hat immer mehrere Seiten, man kann sich den jeweiligen Blickwinkel aussuchen.«

»Die Stadtverwaltung hat den Plan genehmigt. Der nächste Schritt besteht nun darin, Kredite von ausländischen Banken zu erhalten. Substantielle Kredite. Zugegeben, es ist ein riskantes Spiel, aber ich glaube daran. Chinas Eintritt in die Welthandelsorganisation wird die Tür noch weiter aufstoßen. Niemand kann die Uhren zurückdrehen. Mehrere amerikanische Kapitalgesellschaften haben bereits Interesse an der New World bekundet, aber niemand dort hat eine Ahnung von Shanghaier Kultur. Deshalb möchte ich den Leuten einen detaillierten Projektentwurf vorlegen, etwa fünfzig Seiten auf englisch. Alles hängt von der Übersetzung ab. Sie allein sind zu so etwas in der Lage, Oberinspektor Chen.«

»Vielen Dank, Generalmanager Gu.« Das war in der Tat ein großes Kompliment. Chen hatte Englisch studiert, aber durch eine Reihe von Zufällen war ihm ein Arbeitsplatz bei der Shanghaier Polizei zugewiesen worden. In den vergangenen Jahren hatte er daher lediglich in seiner Freizeit übersetzt, Gus Ansinnen schmeichelte ihm.

»Aber es gibt doch so viele ausgezeichnete Übersetzer in Shanghai«, hielt Chen ihm entgegen. »Professoren von der Fudan und der Ostchinesischen Universität. Sie werden mich kaum benötigen, um Kontakt zu einem von ihnen herzustellen.«

»Aber die sind nicht wirklich qualifiziert für diese Aufgabe. Und nicht nur ich sehe das so. Ich habe bereits einen emeritierten Fudan-Professor um Hilfe gebeten und meinem amerikanischen Geschäftspartner ein paar Seiten der Probeübersetzung gefaxt. Er war gar nicht zufrieden. ›Zu betulich, zu wörtlich‹, lautete sein Urteil.«

»Bei solch betulichen Professoren habe ich studiert.«

»Wenn es damals die staatliche Stellenvermittlung nicht gegeben hätte, wären Sie heute längst ein anerkannter Professor. Natürlich hat sich die Sache für Sie bestens entwickelt. Ein aufstrebender Parteikader, ein mehrfach publizierter Dichter, ein anerkannter Übersetzer; diese Professoren können Sie heute nur beneiden. Außerdem sind Sie anders. Als Repräsentant einer staatlichen Behörde hatten Sie mehrfach Kontakt zu Besuchern aus Amerika. Ihre amerikanische Freundin – Catherine hieß sie, wenn ich mich recht erinnere – hat bestätigt, daß Ihr Englisch ausgezeichnet ist.«

»Amerikanische Übertreibungen. So etwas sollten Sie besser nicht glauben«, sagte Chen. »Abgesehen davon habe ich nur den Shanghaier Schriftstellerverband vertreten, und auch das sehr selten.«

»Genau, das ist ein weiterer Grund, warum ich Ihre Hilfe brauche. In diesem Entwurf ist von Kultur und Geschichte Shanghais die Rede, und zwar in poetischem Stil. Sie sind doch Dichter. Das ist nun wirklich keine Übertreibung. Ich kann mir einfach keinen besseren Übersetzer für diese Aufgabe denken.«

»Danke«, entgegnete Chen schlicht, während er Gu über den Rand seiner Brille hinweg beobachtete. Gu mußte sich sein Angebot lange überlegt haben. »Das Problem ist, daß ich im Präsidium mit Arbeit überhäuft werde.«

»Ich weiß, daß ich viel von Ihnen verlange. Nehmen Sie sich eine Woche Urlaub für mich. Expreß-Service. Wir zahlen das anderthalbfache Honorar für Expreß-Service: Das macht fünfundsiebzig Cent pro Schriftzeichen. Ich werde mit meinem amerikanischen Partner sprechen; ich bin sicher, daß er das auch so sieht.«

Chens rasche Kalkulation ergab ein kleines Vermögen. Bei einem Satz von fünfundsiebzig Cent pro Schriftzeichen und grob gerechnet tausend Schriftzeichen pro Seite machte das mehr als 30.000 Dollar, also 300.000 Yuan. Dafür würde er als Oberinspektor dreißig Jahre lang arbeiten müssen, einschließlich aller Prämien und Vergütungen.

Daß Chen bereits mit Mitte Dreißig zum Oberinspektor befördert worden war, galt allgemein als Erfolg; ein aufsteigender Parteikader mit vielversprechender Zukunft, dem ein Dienstwagen und ein Neubau-Apartment zur Verfügung standen, und dessen Photo immer wieder in der Lokalpresse zu sehen war. Doch trotz der Sicherheiten, die die eiserne Reisschale ihm bot, deckten die monatlichen fünfhundert Yuan nur knapp seine Ausgaben. Ohne die Honorare für gelegentliche Krimi- oder Fachübersetzungen und die Vergünstigungen, die die »Grauzonen« rund um seine Position ihm zuspielten, würde er kaum über die Runden kommen.

Außerdem hatte er als Parteikader den Grundsatz, sich an die ungeschriebenen Gesetze zu halten. Wenn er sich beispielsweise mit Leuten wie Gu traf, fühlte er sich verpflichtet, hin und wieder auch einmal nach der Rechnung zu greifen, obwohl der Geschäftsmann natürlich darauf bestand, ihn einzuladen.

In letzter Zeit waren auch noch die Kosten für die ärztliche Behandlung seiner Mutter hinzugekommen, deren früherer Arbeitgeber, eine staatseigene Fabrik, in finanziellen Schwierigkeiten steckte und die Arztrechnungen seiner Pensionisten nicht mehr bezahlen konnte. Sie hatte sich schon mehrmals vergeblich an den Fabrikdirektor gewandt. Die Firma stand vor dem Bankrott. Also hatte Chen die Arztkosten übernommen. Das Übersetzungshonorar von der New World Group käme wie ein warmer Regen inmitten der Trockenzeit.

»Sie müssen mir helfen«, bekniete ihn Gu. »Ich kann doch den amerikanischen Bankern keinen unlesbaren Projektentwurf vorlegen. Die Übersetzung muß einfach hervorragend sein.«

»Und ich kann Ihnen nichts versprechen. Das Übersetzen von fünfzig Seiten Text braucht seine Zeit. Ich bezweifle, daß sich das in einer oder auch zwei Wochen schaffen läßt, selbst wenn ich Urlaub dafür nehme.«

»Ach, das habe ich ja ganz vergessen. Bei einem so umfangreichen Projekt werden Sie natürlich Hilfe brauchen. Wie wäre es mit Weißer Wolke? Das Mädchen, mit dem Sie im Dynasty Karaoke Club getanzt haben, erinnern Sie sich? Sie ist Studentin. Intelligent, kompetent, einfühlsam. Sie wird Ihre kleine Sekretärin sein.«

Eine »kleine Sekretärin« – xiaomi –, auch so ein neumodisches Wort, das eigentlich »kleines Verhältnis« bedeutete. Die neureichen Geschäftsleute, die Herren Großkotz, wie auch Gu einer war, legten Wert auf die Begleitung einer »kleinen Sekretärin«, ein zwingendes Accessoire ihres sozialen Status und mehr. Chen hatte Weiße Wolke, eines der »K-Mädel«, in einem Séparée in Gus Karaoke-Club getroffen, als er dort in einem Fall ermittelte, in den auch Triaden verstrickt waren.

»Wie soll ich mir denn die Hilfe einer Sekretärin leisten können, Generalmanager Gu?«

»Es liegt im Interesse der New World, daß Sie solche Hilfe bekommen. Lassen Sie das nur meine Sorge sein.«

Der Duft aus ihren roten Ärmeln begleitet dein Schreiben bis tief in die Nacht … die Zeile aus einem Tang-Gedicht stieg aus den Tiefen seines Geistes auf, doch Chen rief sich wieder in die Gegenwart zurück. Eine kostenfreie kleine Sekretärin, das wäre die Flasche Maotai zu den vom Himmel fallenden Mondkuchen.

Bislang war er auf keinen Haken gestoßen, überlegte Chen. Ein gerissener Geschäftsmann wie Gu würde natürlich nicht sofort all seine Karten auf den Tisch legen, doch Oberinspektor Chen sah bislang noch keinen Grund zur Beunruhigung. Es schien, als machte man ihm ein seriöses Angebot, wenngleich es ungewöhnlich großzügig war. Falls er später irgendwelche Haken entdecken sollte, konnte er immer noch reagieren.

Es gibt Dinge, die ein Mann tun kann, und Dinge, die ein Mann nicht tun kann. Das war einer der Konfuzius-Sprüche, die sein Vater, ein neokonfuzianischer Gelehrter, ihm während der Kulturrevolution beigebracht hatte. Damals hatte der alte Herr sich geweigert, ein diktiertes »Geständnis« zu schreiben, das seine Kollegen denunziert hätte.

»Ich muß erst mit Parteisekretär Li sprechen«, sagte Chen. »Ich rufe Sie morgen zurück.«

»Er wird Ihnen das nicht abschlagen, das weiß ich. Sie sind sein aufsteigender Stern, ein Mann mit Zukunft. Hier ist ein Teil des Vorschusses.« Gu zog einen prallen Umschlag aus seiner Brieftasche. »Eintausend Yuan. Den Rest lasse ich Ihnen morgen bringen.«

Chen steckte den Umschlag ein und nahm sich vor, nicht weiter darüber nachzudenken. Es gab anderes, das ihn beschäftigte. Er würde seiner Mutter eine Schachtel roten Ginseng kaufen. Das war das mindeste, was er als einziger Sohn für sie tun konnte. Vielleicht sollte er auch eine stundenweise Haushaltshilfe engagieren, denn seine Mutter lebte trotz ihrer angeschlagenen Gesundheit allein im Dachgeschoß eines alten Hauses. Er leerte sein Glas und sagte: »Hier trinke ich mit dir nach Herzenslust, mein Pferd ist nah dem hohen Haus an einer Weide angeleint.«

»Ist das eine Anspielung? Klären Sie mich auf, mein poetischer Oberinspektor.«

»Nur ein Zitat von Wang Wei«, erwiderte Chen ohne weitere Erklärung. Die Zeilen bezogen sich auf ein Versprechen, das ein Edelmann der Tang-Dynastie gegeben hatte. Er und Gu dagegen hatten lediglich ein Geschäft abgeschlossen, man erwartete keine heroischen Taten von ihm. »Ich werde mein Bestes tun.«

 

 

3

 

Der Bus, voll wie eine Sardinenbüchse, steckte im morgendlichen Verkehrsstau fest. Als Polizist mit niedrigem Dienstgrad stand Hauptwachtmeister Yu nicht wie Oberinspektor Chen ein Dienstwagen zur Verfügung. Aber an diesem Morgen durfte Yu sich glücklich schätzen, daß er in dem überfüllten Bus gleich nach dem Einsteigen einen Sitzplatz ergattert hatte. Er knöpfte die Uniformjacke auf und hatte genügend Zeit, um über den neuen Mordfall nachzudenken.

Parteisekretär Li hatte schon in aller Früh angerufen, um ihm zu sagen, daß Oberinspektor Chen Urlaub genommen hatte und er, Yu, den Fall Yin übernehmen solle. Kurz darauf hatte Chen sich gemeldet und erklärt, er sei zu Hause mit der Übersetzung eines Projektentwurfs beschäftigt und könne nicht zum Dienst kommen. Yu würde also im Fall Yin allein ermitteln.

Über Yin Lige waren bereits Informationen gesammelt worden. Man hatte ihm eine umfangreiche Akte aus dem Shanghaier Informationsbüro und anderen Quellen in die Hand gedrückt. Dieser Beweis bürokratischer Effizienz überraschte Yu nicht. Als Schriftstellerin und Dissidentin war Yin sicher seit langem das Objekt geheimpolizeilicher Überwachung gewesen.

Die Akte enthielt ein Photo von Yin: eine bambusdürre, großgewachsene Frau Mitte Fünfzig mit hoher Stirn und ovalen, tiefliegenden, traurigen Augen, die ihn durch eine silberumrandete Brille ansahen. Sie trug eine schwarze Mao-Jacke und passende schwarze Hosen.

Yin hatte ihren Universitätsabschluß 1964 in Shanghai gemacht. Aufgrund ihrer politischen Aktivitäten während des Studiums war sie in die Partei aufgenommen worden und hatte eine Stelle als politische Instrukteurin an der Universität erhalten. Statt zu unterrichten, hielt sie politische Vorträge und gab Schulungen. Das galt damals als vielversprechender Start; sie konnte als Parteikader rasch aufsteigen und mit Intellektuellen arbeiten, die ja beständig der politischen Indoktrination bedurften.

Als die Kulturrevolution ausbrach, schloß sie sich, wie so viele junge Leute, den Roten Garden an, um Maos Ruf nach der Abschaffung alles Rückständigen zu folgen. Mit Begeisterung kritisierte sie die konterrevolutionären revisionistischen »Monster« und gehörte bald zu den führenden Mitgliedern des Revolutionskomitees ihrer Universität. In dieser neuen Machtposition verpflichtete sie sich dazu, »die permanente Revolution unter der Diktatur des Proletariats« voranzutreiben. Damals kam ihr nicht in den Sinn, daß sie selbst bald unter die Räder dieser permanenten Revolution kommen würde.

Nachdem der Vorsitzende Mao Ende der sechziger Jahre schließlich seine ehemaligen politischen Widersacher aus dem Weg geräumt hatte, befand er, daß die Roten Garden der Konsolidierung seiner Macht im Weg standen. So gerieten sie selbst in die Schußlinie. Auch Yin wurde kritisiert und von ihrem Posten im Revolutionskomitee der Universität entfernt. Man schickte sie in eine Kaderschule aufs Land. Dies war eine neue, von Mao an einem Maimorgen ins Leben gerufene Institution. Die Kaderschulen des 7. Mai sprossen daraufhin in allen Landesteilen aus dem Boden, unter anderem zu dem Zweck, politisch unliebsame Elemente unter Kontrolle zu bringen oder aus dem Weg zu schaffen.

Die Kaderstudenten teilten sich in zwei Gruppen. Bei der ersten handelte es sich um ehemalige Parteikader. Ihre Positionen waren inzwischen von noch stärker links gerichteten Maoisten eingenommen worden, und man wußte nicht, wohin mit ihnen. Die andere bestand aus Intellektuellen wie Universitätsprofessoren, Schriftstellern und Künstlern, die ebenfalls in das Kadersystem integriert gewesen waren. Man erwartete von solchen Kaderstudenten, daß sie sich selbst durch harte Landarbeit und politische Schulungsgruppen umerzögen.

Yin paßte als Universitätsdozentin und Parteimitglied in beide Kategorien. In der Kaderschule wurde ihr die Leitung einer Gruppe zugewiesen. Dort trafen sich Yin und Yang zum ersten Mal.

Yang, der um einiges älter war als Yin, war Professor an der Ostchinesischen Universität gewesen. Er hatte einige Zeit in den Vereinigten Staaten verbracht und war in den frühen fünfziger Jahren zurückgekommen. Bald darauf wurde er auf die Liste der »nur unter Kontrolle Einsetzbaren« gesetzt, Mitte der Fünfziger wurde er dann zum Rechtsabweichler und in den Sechzigern zum »schwarzen Monster« deklariert.

Yin und Yang hatten sich trotz ihres Altersunterschieds, trotz der »revolutionären Zeiten« und entgegen allen Warnungen durch die Autoritäten der Kaderschule ineinander verliebt. Wegen ihrer unzeitgemäßen Liaison waren sie persönlicher Verfolgung ausgesetzt. Kurz darauf war Yang gestorben.

Nach der Kulturrevolution kehrte Yin an ihre Universität zurück und schrieb das Buch Tod eines chinesischen Professors, das im Shanghaier Literaturverlag erschien. Obgleich als Roman bezeichnet, war es ein weitgehend autobiographischer Text. Da man zunächst nichts wirklich Neues oder ungewöhnlich Tragisches an dem Buch fand, verkaufte es sich schlecht. In jenen Jahren waren so viele Menschen zu Tode gekommen, und einige meinten auch, es stünde Yin, als ehemaliger Rotgardistin, nicht zu, die Kulturrevolution zu kritisieren. Erst nachdem ein ausländischer Gastdozent der Universität es ins Englische übersetzt hatte, wurden Regierungskreise darauf aufmerksam.

Offiziell war nichts dagegen zu sagen, daß jemand die Kulturrevolution kritisierte. Auch die Volkszeitung tat das. Sie war, wie die Zeitung erklärte, eine Fehlentscheidung des Vorsitzenden Mao gewesen, der in bester Absicht gehandelt hatte. Die Grausamkeiten, die in diesem Zusammenhang begangen worden waren, glichen der nationalen Leiche im Keller.

Das Wissen um diese Leiche im eigenen Land war eine Sache, eine andere aber war es, wenn man sie vor den Augen des Westens aus dem Keller zerrte. Daher wurde Yin von ihren Kritikern in der Partei als »Dissidentin« gebrandmarkt, ein Wort mit geradezu magischer Wirkung. Der Roman galt daraufhin als gezielter Angriff auf die Parteispitze und wurde schließlich verboten. Um die Autorin in Mißkredit zu bringen, wurden ihre Aktivitäten als Rotgardistin in Rezensionen und Rückblicken »entlarvt«. Es war ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte, und sie verfiel in Schweigen.

All dies lag nun Jahre zurück, und ihr Roman enthielt zu viele spezifische Details, als daß er im Ausland das Interesse eines größeren Publikums hätte erregen können. Sie hatte auch nichts weiter veröffentlicht, abgesehen von einer Sammlung mit Yangs Gedichten, die sie mit herausgab. Dann wurde sie in den Chinesischen Schriftstellerverband aufgenommen, was als Zeichen des Einlenkens von seiten der Regierung gedeutet wurde. Im vergangenen Jahr schließlich war ihr ein Aufenthalt als Gastschriftstellerin in Hongkong gewährt worden. Dort hatte sie sich, wie der Akte zu entnehmen war, in keiner Weise auffällig benommen.

Yu klappte den Ordner zu. Er sah nicht, inwiefern die Regierung mit dem Mord in Verbindung gebracht werden konnte. Gleichwohl leuchtete ihm ein, daß die Parteispitze den Fall so schnell wie möglich geklärt haben wollte. Alles, was mit regimekritischen Schriftstellern zu tun hatte, erregte Aufsehen – unliebsames Aufsehen, in China wie im Ausland.

Als der Bus endlich die entsprechende Haltestelle erreicht hatte, stellte Yu fest, daß die Schatzgartengasse, in der Yin gewohnt hatte, nur einen halben Block entfernt lag. Es war eine altmodische Gasse, die man durch ein schmiedeeisernes Gitter betrat, offenbar ein Relikt aus den Jahren der französischen Konzession. Die Wohngegend war wenig attraktiv und in den letzten Jahren ziemlich heruntergekommen. In der Umgebung waren neue Gebäude entstanden, und die Gasse wirkte schon fast wie ein Schandfleck.

Yu beschloß, zunächst einmal einen Spaziergang durch das Viertel zu machen. Er würde mit einem Nachbarschaftspolizisten, dem Alten Liang, zusammenarbeiten, der seit vielen Jahren dieses Revier betreute. Sie wollten sich um halb zehn im Büro des Nachbarschaftskomitees treffen, das am Hintereingang der Gasse lag. Bis dahin hatte er noch eine Viertelstunde Zeit.

Nach vorne ging die Gasse auf die Jinling Lu hinaus. An der Kreuzung Jinling und Fujian Lu, zwei bis drei Blocks entfernt, konnte er das Zhonghui Mansion sehen, ein Hochhaus, das einst dem großen Bruder Du von der Blauen Triade gehört hatte. Der rückwärtige Ausgang der Gasse führte auf einen großen Obst- und Gemüsemarkt. Außerdem gab es zwei Zugänge zur Fujian Lu, die von kleinen Läden und Ständen flankiert waren, weitere Abzweigungen führten in ein Gewirr kleiner Gäßchen. Die meisten Häuser hier waren, wie sein eigenes Heim, im shikumen-Stil gebaut, also für Shanghai typische zweistöckige Gebäude mit steinernen Türeinfassungen und kleinen Innenhöfen.

Als er vom Vordereingang aus in die Gasse blickte, bemerkte Yu eine ältere Frau, die mit einer Hand die schwarzlackierte Tür eines shikumen-Hauses aufstieß, in der anderen hielt sie einen Nachttopf. Es war ein unangenehm vertrauter Anblick, er fühlte sich in seine eigene Gasse versetzt, nur daß die Schatzgartengasse mit ihren verzweigten Nebengäßchen noch um einiges schäbiger war. Und außerdem geräuschvoller. Nahe dem Vordereingang bot ein fliegender Händler lautstark seine Lauchpfannkuchen an, indem er mit einer metallenen Backschaufel gegen den großen flachen Wok schlug. Ein kleines Mädchen stand mutterseelenallein und bitterlich weinend inmitten der Gasse; den Grund ihrer Verzweiflung würde Yu nie erfahren. Es würde nicht einfach werden, hier zu ermitteln, dachte er. In dem ständigen Menschenfluß und bei den vielfältigen Aktivitäten in der Gasse konnte ein Verbrecher unbemerkt auftauchen und wieder verschwinden.

Yu wandte sich dem Büro des Nachbarschaftskomitees zu und sah einen kleinen, weißhaarigen Mann aus der Tür treten, der ihm energisch zuwinkte.

»Genosse Hauptwachtmeister Yu?«

»Genosse Liang?«

»Der bin ich. Man nennt mich Alter Liang«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Ich bin bloß der Nachbarschaftspolizist. Wir verlassen uns bei den Ermittlungen ganz auf Sie, Genosse Hauptwachtmeister Yu.«

»Sagen Sie das nicht, Alter Liang«, entgegnete Yu. »Sie haben hier so viele Jahre lang gearbeitet; ich bin es, der Ihre Hilfe benötigt.«

Alter Liang hatte sich um die An- und Abmeldungen in seinem Quartier zu kümmern. Bei Bedarf fungierte er als Verbindungsmann zwischen der lokalen Polizeidienststelle und dem Nachbarschaftskomitee. In dieser Eigenschaft war er nun Hauptwachtmeister Yu zugeteilt worden.

»Ach, wissen Sie, es ist nicht mehr wie früher, als man die Registrierung noch ernst nahm.« Während er sprach, führte ihn Alter Liang in ein kleines Büro, das aussah, als sei es von der ursprünglichen Eingangshalle abgetrennt worden, und bot ihm Tee an.

Alter Liang hatte bessere Tage gesehen. In den Sechzigern und Siebzigern, als in der Stadt noch strikte Lebensmittelrationierung geherrscht hatte, war die Registrierung eine Frage des Überlebens gewesen. Man brauchte Lebensmittelkarten für Grundnahrungsmittel wie Reis, Fleisch, Fisch, Speiseöl und für Kohlen, ja sogar für Zigaretten. Außerdem war die Klassenkampftheorie des Großen Vorsitzenden auf alle Lebensbereiche ausgedehnt worden. Laut Mao würde der Klassenfeind auch während der langen Phase des realen Sozialismus weiterhin massiv versuchen, die Diktatur des Proletariats zu destabilisieren. Daher hatte ein Nachbarschaftspolizist immer wachsam zu sein. Jeder im Viertel galt als potentieller Klassenfeind und mußte observiert werden. Wer am Morgen in die Gasse einzog und sich nicht umgehend bei der entsprechenden Stelle anmeldete, bei dem klopfte der Nachbarschaftspolizist spätestens am Abend an die Tür.

Aber während der achtziger Jahre begannen sich die Dinge allmählich zu ändern, und in den Neunzigern setzte ein dramatischer Wandel ein. Da die Lebensmittelrationierung weitgehend abgeschafft worden war, war die Meldebescheinigung nicht mehr so wichtig. Auch das Meldegesetz wurde ziemlich locker gehandhabt, seitdem Tausende von Arbeitern aus der Provinz nach Shanghai strömten. Die Stadtverwaltung war sich des Problems zwar bewußt, aber Bau- und Servicebetriebe benötigten dringend billige Arbeitskräfte.

Dennoch schien Alter Liang seinen Aufgaben gewissenhaft nachzukommen. Einige der Informationen, die Yu während der Busfahrt zur Kenntnis genommen hatte, stammten zweifellos von diesem altgedienten Nachbarschaftspolizisten.

»Ich werde Ihnen einiges über Yin und das Viertel hier erzählen, Hauptwachtmeister«, erbot sich der Alte.

»Das wäre sehr nett.«

»Yin ist Mitte der achtziger Jahre von einem Zimmer im Studentenwohnheim hierher umgezogen. Die genauen Gründe für diesen Entschluß kenne ich nicht. Manche sagten, sie hätte sich mit ihren Zimmergenossinnen nicht vertragen. Andere meinten, wegen der Popularität ihres Buches hätte die Universität ihren Wohnstandard verbessern wollen. Allerdings stellte ein tingzijian, dieses winzige Kämmerchen auf dem Absatz zwischen den Stockwerken, nicht wirklich eine Verbesserung dar. Aber zumindest hatte sie einen Raum für sich, in dem sie ungestört schreiben und lesen konnte. Sie schien damit zufrieden zu sein.«

»Hat jemand von der lokalen Polizeidienststelle Sie nach Yins Einzug kontaktiert?«

»Man hat mich zwar über ihren politischen Hintergrund informiert, mir aber keine speziellen Instruktionen erteilt. Der Umgang mit Dissidenten ist eine heikle Sache. Als Nachbarschaftspolizist konnte ich lediglich wachsam sein und mich an die Informationen halten, die ich von den anderen Hausbewohnern bekam. Das Nachbarschaftskomitee hat weiter nichts unternommen. Was mit politischen Dissidenten zu tun hat, ist eine Nummer zu groß für uns. Wir haben sie wie jeden anderen Anwohner behandelt.«

»Wie war Yins Verhältnis zu ihren Nachbarn?«

»Nicht besonders gut. Zunächst fiel den Leute nichts Ungewöhnliches an ihr auf, außer daß sie an der Universität unterrichtete und ein Buch über die Kulturrevolution geschrieben hatte. Jeder hat ja seine eigenen Erfahrungen mit diesem nationalen Desaster gemacht, und keiner redet gern darüber. Erst als Genaueres über ihr Buch bekannt wurde, interessierten sich einige für sie. Es war eine herzzerreißende Geschichte, und sie war ja all die Jahre danach ledig geblieben. Einige Nachbarn bekundeten ihr Mitgefühl, doch sie reagierte nicht gerade freundlich darauf. Sie schien entschlossen, sich in ihrem tingzijian einzuigeln und ihre Wunden im geheimen zu lecken.«

»Das ist doch eigentlich verständlich. Ihr Kummer war privater Natur, und vermutlich war es schmerzlich für sie, mit anderen darüber zu reden.«

»Aber in einem shikumen-Haus ist täglicher, ja stündlicher Kontakt mit den Mitbewohnern unvermeidlich«, gab Alter Liang zu bedenken und nippte an seinem Tee. »Manche behaupten, die Shanghaier seien geborene Geschäftsleute und Mauschler. Das ist zwar nicht wahr, aber die Leute haben hier immer schon in solchen Kleingruppen gelebt und dabei gelernt, Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen. Wie schon das Sprichwort sagt: Unmittelbare Nachbarn sind wichtiger als entfernte Verwandte. Aber Yin scheint sich ganz bewußt von ihren Nachbarn abgegrenzt zu haben. Das führte dazu, daß man sie nicht mochte und wie eine Außenseiterin behandelte. Lanlan, eine ihrer Nachbarinnen, hat es folgendermaßen zusammengefaßt: ›Das hier war nicht ihre Welt.‹«

»Vielleicht war sie zu sehr mit dem Schreiben beschäftigt, um Kontakte zu knüpfen?« sagte Yu und warf heimlich einen Blick auf seine Uhr. Alter Liang glich in mancher Hinsicht seinem Vater, dem Alten Jäger: Beide redeten ohne Punkt und Komma und neigten zu Abschweifungen. »Hatten Sie direkten Kontakt mit ihr?«

»Ja, als sie sich hier angemeldet hat. Da wirkte sie ziemlich unfreundlich, geradezu abweisend, so als wäre ich einer von denen, die seinerzeit Yang verprügelt haben.«

»Sie haben ihr Buch gelesen?«

»Nicht das ganze, bewahre, bloß die Passagen, die in Zeitungen und Illustrierten abgedruckt waren. Wissen Sie was?« Alter Liang fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Einige waren echt sauer über das, was sie über ihre revolutionäre Begeisterung als Rotgardistin und manche ihrer ›im Übereifer der Revolution begangenen Irrtümer‹ geschrieben hat.«

»Haben ihre Nachbarn auch so reagiert?«

»Nein, nein. Ich glaube, daß kaum jemand hier ihr Buch gelesen hat. Sie haben allenfalls davon gehört. Was ich darüber weiß, habe ich im Rahmen meiner Nachforschungen erfahren.«

»Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, Alter Liang«, sagte Yu. »Und jetzt schauen wir uns am besten mal ihr Zimmer an.«