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KAPITEL 1

Vor der Fernsehkamera

»Was sind Pferde, wie von Zauberhand bewegt?«

Auf dem Weg ins Fernsehstudio kam ich mir vor wie ein Straßenmusiker, der von Freunden zu einer Castingshow angemeldet wurde und dort in neunzig Sekunden zeigen soll, was er sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte erarbeitet hat. Wir waren nur zu zweit im Auto und trotzdem fühlte es sich für mich so an, als würde noch jemand, oder besser gesagt noch etwas, auf der Rückbank sitzen: Diese bleischwere Mischung aus Müdigkeit, Angst und Übelkeit, mit der ich von Kindesbeinen an so unangenehm vertraut bin.

Es war nicht einfach Lampenfieber vor meinem ersten Live-Interview, was da lauerte. Es war dieser übermächtige Wunsch, mich aus purer Versagensangst unsichtbar zu machen, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und mit mir und meinem Elend allein zu sein. Nur wer nichts macht, macht nichts verkehrt und kann sich nicht blamieren. Ich habe mit diesem Gefühl schon so unendlich oft gekämpft, habe versucht, es zu ignorieren, abzuschütteln, auszutricksen, es wie einen schlecht sitzenden Pullover in einen geistigen Altkleidercontainer zu stopfen … Aber die Angst vor einer Blamage hing an mir wie eine Klette. Egal, ob ich in der Schule ein Gedicht aufsagen, auf Turnieren ins Dressurviereck einreiten oder einen neuen Gast in unserer Pension begrüßen sollte.

Sie hing an mir wie eine Klette? Habe ich eben wirklich »hing« gedacht? Nicht »hängt«? Sollte ich dieses Gefühl genau jetzt plötzlich in die Vergangenheit verbannt, mich mit sechsundsiebzig Jahren von ihm befreit haben?

In den vergangenen Jahren, vielleicht ungefähr seit ich Anfang siebzig bin, hatte die Angst ganz langsam immer mal wieder Konkurrenz von anderen, von so viel besseren Gefühlen bekommen. Und genau im richtigen Moment, auf dem Weg ins Studio nahmen sie so viel Raum ein, dass es für meinen lebenslangen Begleiter richtig eng wurde: Meine Neugier und meine Vorfreude darauf, im Fernsehen über mein Lieblingsthema, über Pferde, wie von Zauberhand bewegt, sprechen zu dürfen, war in den Wochen zwischen der Einladung und dem Auftrittstermin immer weiter gewachsen.

Vor der Abfahrt hatte ich gesehen, wie mein jüngerer Sohn mit Gästen im Esszimmer unserer Pension einen Fernseher anschloss und Stühle davor aufstellte. Als ich im perfekt gebügelten hellblauen Hemd, die Wegbeschreibung zum Studio in Händen, von unserer Wohnung zum Auto ging, machte jeder, der mich unterwegs traf, das »Daumen hoch«-Zeichen, deutete an, mir drei Mal über die Schulter zu spucken oder rief mir Sätze wie »Und wenn du dich verhaspelst, stell dir einfach vor, dass wir alle klatschen« zu.

Es war eine liebevoll gemachte, von sehr zugewandten Moderatoren geleitete, kleine Sendung im Nachmittagsprogramm des Senders N3. Ohne Studiopublikum und ohne das Risiko, weltweite Beachtung zu finden. Jeden Tag saß dort irgendein Otto Normalo wie ich auf der Couch. Alles halb so wild und von außen betrachtet sicher kein Grund, sämtliche Räder anzuhalten. Aber auf unserem Hof stand an diesem Tag zwischen sechzehn und siebzehn Uhr keine einzige Reitstunde auf dem Unterrichtsplan. Niemand hatte etwas bestellt. Und das nicht, wie früher, weil meine Ideen zum Umgang mit Pferden so schrecklich waren, dass man sich darüber bei der Reiterlichen Vereinigung, der FN, beschweren musste, sondern weil unsere Gäste lieber meinen Fernsehauftritt verfolgen, mir zumindest mental Beistand leisten wollten. Davon getragen stieg ich ins Auto und wann immer die bleischwere Angst unterwegs drohte, mich von der Rückbank aus zu umarmen – meine Neugier auf das, was ich erleben durfte, schaffte es, sie beiseite zu boxen. Sollte ich sie wirklich besiegt haben? Das ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen. Ich genoss den Fernsehauftritt in vollen Zügen, aber ich beschloss, mich lieber nicht darauf zu verlassen, dass die Angst jetzt Geschichte ist. Lieber noch nicht.

1954 bekam ich als Fünfzehnjähriger den ersten Reitunterricht. Vorher hatte ich mit meiner Mutter beratschlagt, wie viele Stunden ich wohl brauchen würde, bis ich reiten könnte. Wir tippten auf ungefähr zehn. Im selben Jahr eröffneten wir zwanzig Kilometer nördlich von Lübeck, in Klingberg bei Scharbeutz an der Ostsee, eine Pension. Wir vermieteten Fremdenzimmer – und nach einem Jahr auch Pferde. Obwohl wir von beidem so gut wie keine Ahnung hatten. Mit zwanzig Jahren begann ich, unseren Gästen Reitunterricht zu geben.

Ich sprach in der NDR-Talksendung »Mein Nachmittag« also über rund sechzig Jahre Arbeit mit Pferden und über fünfundfünfzig Jahre mit Menschen und Pferden. Im Vergleich zu den Musikern in Castingshows und ihren neunzig Sekunden hatte ich dabei großes Glück: Mein Auftritt dauerte zwanzig Minuten.

 

Mit drei Jahren bekam ich zu Weihnachten ein Schaukelpferd – und eine mich mein Leben lang begleitende Geschichte: Ich hätte vorsichtig versucht, ein Bein über das wippende Pferdchen zu schwingen, es dann aber wieder weggezogen und mich mit den Worten »lieber nicht« von meinem Geschenk abgewandt. Eine Episode, an die ich mich zwar nicht erinnere, die meine Mutter und meine ältere Schwester aber so oft zum Besten gegeben haben, dass ich überzeugt davon bin, dass sie so stattgefunden haben muss.

Außerdem zieht sich dieses »lieber nicht« wie ein roter Faden durch mein Leben: Schon auf dem Schulweg machte ich lieber kilometerweite Umwege, als an jemandem vorbeigehen und ihm Guten Tag sagen zu müssen. Und das nicht, weil ich nicht grüßen wollte, sondern weil es mir peinlich war. Als junger Mann bin ich öfter aus dem Fenster unserer Wohnung geklettert, um »lieber nicht« durch die Diele gehen und dort Gäste mit meiner Anwesenheit belästigen zu müssen. Ich war mir sicher, sowieso nichts sagen zu können, was sie auch nur ansatzweise interessiert hätte. Aus lauter Sorge, ich könnte mich blamieren, machte ich meine ersten Springversuche »lieber nicht« im Gruppenunterricht des Timmendorfer Reitvereins, sondern in einem sehr schmerzhaften Alleingang und so weiter und so weiter. Lieber nicht, lieber nicht, lieber nicht …

Zum ersten Mal auf einem echten Pferd saß ich mit vier Jahren. Auf dem Kaltblüter Bobby, der den Leiterwagen einer Gärtnerei über die Sandwege unseres Dorfes zog. Ich weiß noch, dass ich zwar zwischen Geschirr und Fahrleinen eingeklemmt, aber irgendwie recht stolz da oben thronte. Bis ein Nachbar mir sehr ätzend, sehr ironisch, sehr abfällig mitteilte, wie krumm und schief ich auf dem »Gaul« gehockt hätte. Muss man das einem Vierjährigen sagen? Muss man so etwas überhaupt zu irgendjemand sagen? Meine Reitstunden sind voll mit Menschen, die aus solchen Erfahrungen gelernt haben, ihrem Selbstwertgefühl eigenhändig Ohrfeigen zu verpassen: »Ich lerne das nie!« oder »Dazu bin ich zu blöd!« sind die Redewendungen, die ich so oder so ähnlich immer wieder höre. Meistens gefolgt von einer Entschuldigung des eigenen Unvermögens. Und auch ich habe mir sicher nicht umsonst genau diesen Kommentar des Nachbarn zu Herzen genommen. Obwohl er vermutlich in den Jahren unseres Tür-an-Tür-Wohnens auch mal nette Sachen zu mir gesagt haben wird.

 

Zwei Verlobungen

Ich verdanke den Pferden viel Gutes. Das Beste aber ist, dass sie am 18. November 1967 Kari zu mir führten. Sie kam mit ihren Schwestern und einigen Freunden aus Hamburg für ein Reiterwochenende in unsere Pension. Eigentlich waren wir in der Winterpause und ich hatte am Telefon noch versucht, den ganzen Trupp abzuwimmeln: Meine Mutter besuchte meine Schwester im fernen Köln, konnte sich also weder um Unterbringung noch Verpflegung der Gäste kümmern und wir hatten damals gerade angefangen, unser Haus umzubauen: Die Terrasse wurde überdacht, das ganze Erdgeschoss war eine einzige Baustelle, sämtliche Heizkörper abmontiert, der Flur mit gestapelten Tischen und Stühlen vollgestellt …

Aber die ungefähr zehn jungen Leute ließen sich nicht abschrecken und als sie Freitagabend auf unseren Hof fuhren, begann ein Wochenende voller Herzklopfen: Gemeinsam holten wir zwei alte Petroleumöfen aus dem Keller, bauten dort, wo heute das Esszimmer für unsere Gäste ist, einen Tapeziertisch auf und zündeten ein paar Kerzen an, die den Bauschutt und die mit Plastikplane abgedeckten Schränke um uns herum in ein warmes, weiches Licht tauchten. Die Frau unseres damaligen Stallmeisters zauberte aus den Resten, die unsere Küche hergab, ein Abendessen und am nächsten Morgen, beim Start zu einem langen Ausritt, fühlte es sich so an, als würden wir alle uns schon seit Ewigkeiten kennen.

Als wir abends wieder im Kerzenschein an unserer improvisierten Tafel saßen, verkündete einer der Freunde von Karis Schwestern, dass sie sich noch ein bisschen mehr zu Hause fühlen würden, wenn eines der Mädchen den Hausherren, also mich, heiraten würde. Wir wissen beide nicht mehr genau, wie es zustande kam, aber Kari wurde für diese Aufgabe ausgeguckt und wir inszenierten zum Spaß eine Verlobungsfeier: Einer der Freunde hielt eine Rede, wir köpften einige Flaschen Sekt … und am Wochenende danach kam Kari allein zu Besuch. Ein Jahr später haben wir uns quasi zum zweiten Mal verlobt und im Frühjahr 1969 geheiratet. Seitdem führen wir unsere Reiterpension gemeinsam.

Als ich Ende der 1970er-Jahre anfing, meinen Umgang mit Pferden, mein Reiten und danach auch meinen Umgang mit Menschen zu überdenken, war ich davon so elektrisiert, dass ich glaubte, jeder meiner Schüler müsste meine Faszination verstehen, mehr noch, er müsste sie begeistert teilen. Das Gegenteil war der Fall: Meine Ideen klangen selbst für viele unserer Stammgäste so absurd, wie es heute absurd klänge, wenn ich urplötzlich die Rollkur als das allein Seligmachende propagieren würde. Schon wenn ich damals einen Schüler bat, sein Pferd am hingegebenen Zügel antraben zu lassen, standen sofort die Worte Lebensgefahr (»Ich kann ihn so ja gar nicht wieder anhalten«) und Tierquälerei (»Der Arme läuft ja auf der Vorhand«) im Raum.

Bei unseren Theoriestunden saß ich teilweise dreißig oder auch vierzig erfahrenen Reitern gegenüber, die, um meine Thesen zu widerlegen, rauf und runter aus Reitlehren zitierten – und sich für ihren nächsten Urlaub ein anderes Ziel suchten. Selbst die in unserer Pension angestellte Hauswirtschafterin musste sich damals anhören, was für bescheuerte Ideen ihr Chef produziere.

 

Wir werben mit dem Slogan »Pferde, wie von Zauberhand bewegt« und ich habe mehrere dicke Notizbücher voll mit Definitionen dazu: Pferde sind dann wie von Zauberhand bewegt, wenn sie mit einem zärtlichen Gefühl geführt werden. Es ist die Kunst, sich in ein Pferd zu verlieben oder das Glas immer als halb voll statt als halb leer anzusehen …

Als ich im Vorgespräch zu der Talk-Sendung einer NDR-Redakteurin erklären sollte, was mit dem Slogan gemeint ist, hatte ich das Gefühl, meine jahrzehntelangen Überlegungen mindestens unter Stroh vergraben zu haben: Pferde, wie von Zauberhand bewegt, sind … was? Ich weiß es doch auch nicht! Da dachte ich nochmal, dass ich lieber nicht in dieser Sendung auftreten sollte.

Zum Glück hatte die neue Konkurrenz meines »Lieber nicht«-Gefühls auf der Fahrt ins Studio aber so sehr Oberwasser bekommen, dass ich mich während des Auftritts selber wie von Zauberhand bewegt fühlte: Vor einer, für meine Verhältnisse riesengroßen Zuschauerzahl erklärte ich, dass meine Ideen zum Umgang mit Pferden mehr ein Gefühl als ein Zustand sind. Pferde, wie von Zauberhand bewegt, das ist eine Einstellung, keine Gebrauchsanweisung.

Es ist eine Einladung dazu, tief durchzuatmen und sich an Pferden zu freuen. Ungefähr so, wie sich Eltern an einem Baby freuen – einfach weil es da ist und nicht weil es irgendetwas Besonderes leistet. Es ist die Einladung, sich eine gute Zeit mit Pferden zu gönnen. Und, ob die dann auf der Vorhand bummeln oder meilenweit untertreten, spielt so lange keine Rolle, wie Mensch und Tier gemeinsam Freude haben.

KAPITEL 2

Mein erstes eigenes Pferd

»Ach Jungchen, der ist doch längst in der Wurst.«

Mal angenommen, eine Mutter käme mit ihrem Teenager-Sohn zu mir und würde dessen reiterlichen Werdegang folgendermaßen beschreiben: Er saß ab und an mal auf einem Kaltblüter und als er fünfzehn Jahre alt war, haben wir ihm ein eigenes Pferd gekauft. Das war allerdings so wild, dass er es gar nicht reiten konnte und zehn Unterrichtsstunden auf Schulpferden genommen hat. Nach der vierten Stunde konnte er immer noch nicht galoppieren, ging in der sechsten Stunde aber trotzdem auf seinen ersten Ausritt. Nach der zehnten Stunde wusste er noch nicht genau, wie das Satteln funktionierte, durfte aber allein ins Gelände reiten. Dabei ist ihm das Pferd zwar durchgegangen, aber er hat einfach weiter geübt … Ich kann jeden verstehen, der bei so einer Geschichte innerlich seufzt und etwas wie »Mehr Glück als Verstand« denkt. Aber genau so hat meine reiterliche Laufbahn begonnen.

Mein Vater fiel im Zweiten Weltkrieg. Acht Jahre nach Kriegsende, 1953, kaufte meine Mutter mithilfe von Tauschgeschäften, Schuldscheinen, die ständig hin und her gereicht wurden, und dem bisschen Geld, das sie vermutlich im Sparstrumpf versteckt hatte, unsere heutige Reiterpension in der Straße Uhlenflucht, schräg gegenüber des Pönitzer Sees. Damals ein ungefähr sechs Hektar großes, von kaputten Stacheldrahtzäunen, Gestrüpp, Schutt und Scherben übersätes Grundstück. Mittendrin: ein dreistöckiges rotes Backsteinhaus mit Efeubewuchs und weißen Sprossenfenstern. Vor dem Krieg war es der idyllische Sommersitz einer Berliner Unternehmerfamilie. In jedem Zimmer gab es ein Waschbecken und eine Klingel, mit der die Herrschaft früher vermutlich weiß beschürzte Dienstmädchen aus der Küche zu sich rauf rief.

Als wir Haus und Hof übernahmen, war die Klingelanlage längst kaputt. Aus jedem Fenster ragte ein Ofenrohr, in jedem Zimmer hauste eine Flüchtlingsfamilie. Unter ihnen Hamburger, die bei Fliegeralarm mit Kindern an der Hand und eilig vollgestopften Rucksäcken auf dem Rücken in Luftschutzbunker flohen und nach den Bombenangriffen vor den Schuttbergen standen, die ein paar Stunden zuvor noch ihr Zuhause waren. Andere hatten den Treck von Ostpreußen nach Schleswig-Holstein mitgemacht oder waren sonst wie in den Kriegswirren gestrandet.

Auf den Zimmerböden lagen Matratzen, der schmale Flur war mit dem an sich wenigen Hab und Gut vollgestellt, das die Menschen aus der alten Heimat mitnehmen konnten. Gekocht wurde anfangs auf einer kleinen Heizplatte in der Diele. So, dass sich der Duft nach Steckrübensuppe im ganzen Haus ausbreitete und mit dem Geruch nasser Wäsche, die über dem Treppengeländer trocknete, vermischte.

Vorher wohnten wir in einem kleineren Haus ein paar Straßen weiter und ich weiß noch, dass ich unsere Koffer und Kisten von dort mit der Schubkarre in die Uhlenflucht transportierte. Für die größeren Möbelstücke liehen wir den Leiterwagen der Gärtnerei aus. Dabei hatten wir in unserem neuen, eigentlich ja riesigen Haus überhaupt keinen Platz für sie. Die meisten Sachen stapelten wir in der Diele vor dem winzigen Zimmerchen, unserem heutigen Büro, in das meine Mutter, meine Schwester und ich damals einzogen.

Mit dem Grundstück übernahm meine Mutter die Herausforderung, die Flüchtlinge anderweitig unterzubringen. Schließlich wollte sie die Zimmer an Feriengäste vermieten, von den erhofften Einnahmen ihre Kinder ernähren. Eine Situation, in der der Gedanke »Oh ja, und jetzt schaffen wir auch noch ein Pferd an« zugegebenermaßen befremdlich klingt. Damals sagte man aber eher: »Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

Jeder versuchte aus dem, was Krieg und Währungsreform ihm gelassen hatten, etwas aufzubauen, sich und seiner Familie ein Stückchen Sicherheit, Normalität zu schaffen, um dann vielleicht lange zurückgestellte Träume zu verwirklichen. So wie Herr Blanck, einer der Flüchtlinge aus Ostpreußen: Er schlug meiner Mutter vor, auf unserem Grundstück einen Reitstall zu eröffnen und so die Attraktivität des Pensionsbetriebes zu erhöhen. Ich sehe ihn noch unterhalb des Hauses auf unserem völlig verwilderten Land stehen und mal nach rechts, mal nach links, mal in Richtung Wald deuten: »Da unten bauen wir einen Stall, am Waldrand legen wir den Reitplatz an. Dann können die Gäste während des Frühstücks von der Terrasse aus beim Unterricht zugucken. Und wir bieten Ausritte an, bis an den Strand …«

Meine Mutter stand damals neben ihm. Ihr Blick folgte seinen ausladenden Armbewegungen und sie nickte zu jedem seiner Sätze mit dem Kopf. Es war, als gingen sie gemeinsam auf eine gedankliche Reise: Sie träumten davon, wie schön es einmal sein könnte und meine Mutter war wahrscheinlich froh, jemanden zu kennen, der zumindest scheinbar wusste, in welche Richtung es ging. Sie war leicht zu beeindrucken und damit die ideale Zuhörerin für einen Fantasten wie Blanck, der lebhaft erzählen konnte, dabei nur leider immer mal wieder Wunsch und Wirklichkeit durcheinanderwarf.

Zwar eröffnete er seinen Stall doch nicht bei uns, sondern auf einem noch größeren Grundstück in der Nachbarschaft, das er mit Mitteln aus dem Lastenausgleich, der Entschädigung für sein in Ostpreußen verlorenes Land, bezahlte. Aber meine Mutter und er beschlossen, sich gegenseitig Gäste zu vermitteln: Er wollte seinen Schülern Übernachtungen in unserer Pension empfehlen, wir sagten zu, bei unseren Urlaubern Werbung für seinen Reitunterricht zu machen.

In froher Erwartung glänzender Geschäfte baute Blanck den vier oder fünf Trakehnern, die er wohl aus seiner alten Heimat mitgebracht hatte, einen Stall, stellte einen Reitlehrer ein und ging selbstverständlich davon aus, dass dabei auch noch genug Geld für den Unterhalt seiner Familie übrig bleiben würde. Und als sei das alles nicht schon tollkühn genug, produzierte er weitere Ideen. So wie die mit meinem ersten eigenen Pferd: Blanck hatte es irgendwo gesehen und meiner Mutter davon vorgeschwärmt. Er wollte es gern kaufen, konnte es sich aber nicht leisten. Kein Geld – das hatten meine Mutter und er gemeinsam.

Bis dahin war ich mit den anderen Jungs aus unserem Dorf immer wieder auf den bäuerlichen Arbeitspferden geritten. Die meisten meiner Freunde fanden es manchmal ganz lustig, während die Pferde vor dem Pflug gingen, auf ihren blanken Rücken zu sitzen. Ich fand es immer super! Auch wenn ich mich beim Pflügen ständig unter den Zweigen von Obstbäumen ducken musste oder wenn es regnete. Grund genug für meine Mutter, auf Blancks Schwärmerei einzusteigen. Entgegen allem, was vernünftig erscheint, kratzte sie unser eigentlich nicht vorhandenes Geld zusammen und kaufte mir das Pferd, von dem er erzählt hatte, ohne es vorher auch nur gesehen zu haben. Wobei selbst das nicht viel genützt hätte: Meine Mutter verstand von Pferden so viel wie vom Goldbarrenstapeln, einfach gar nichts. Aber sie tat alles, um mir eine Freude zu machen.

Heute ist es meine Passion, verunsicherten Pferden Halt, Orientierung und Ordnung zu geben. Damals hätte ich leider gar nicht gewusst, was das bedeutet. Mein angeblich so tolles Pferd entpuppte sich nämlich als so wild und unberechenbar, dass Blanck mich nicht mal in seine Nähe, geschweige denn auf seinen Rücken ließ. Also stand ich mindestens fünf Meter von dem dunklen Verschlag entfernt, in dem er den Braunen untergebracht hatte, und beobachtete ihn aus der Ferne. Ich träumte mich in seinen Sattel, stellte mir vor, wie ich mit ihm am Strand entlangritt und dass die Gäste, die dort spazieren gingen, uns bewundernd hinterhersahen.

In meinem Kopfkino funktionierte es natürlich alles bestens. Dass ich es tatsächlich nie ausprobiert habe, lag mehr daran, dass ich so obrigkeitsgläubig war, als daran, dass ich Angst gehabt hätte. Ich bin schlichtweg nicht auf die Idee gekommen, Blancks Aussage anzuzweifeln. Wenn er sagte, das Pferd sei für mich unreitbar, dann war es das auch. »Der trifft das Goldene Reitabzeichen auf dem Jackenkragen«, als so präzise hatte er die Verteidigungsmechanismen, das Ausschlagen meines Pferdes, beschrieben. Ich hatte dazu, ähnlich wie meine Mutter, wissend mit dem Kopf genickt. Als würde ich die Bedeutung seiner Worte erfassen. Dabei hatte ich keine Ahnung.

Also nahm ich die bereits erwähnten zehn Reitstunden – wir dachten ernsthaft, das würde reichen – auf Blancks Schulpferden und es dauerte eine Weile, bis ich selber erlebte, dass Pferde eben nicht immer das tun, was ihre Reiter sich gerade wünschen. Dass Tiere eigene Ideen und Fantasien haben oder den Menschen einfach nicht verstehen könnten, war mir vorher nie in den Sinn gekommen.

Selbst als meine Freunde und ich mit Bobby, dem Kaltblüter der Dorf-Gärtnerei, wilde Rennfahrten veranstalteten, dachte ich keine Sekunde an dessen Empfindungen. Tierquälerei?

Das waren unsere irrsinnigen Rasereien auf jeden Fall, aber wir kannten wahrscheinlich noch nicht mal dieses Wort. Man unterschied nützliche und schädliche Tiere, benutzte sie für die tägliche Feldarbeit und der Umgang mit ihnen war pragmatisch. Abschwitz-, Regen-, Stall- und Winterdecken, Medizin beim kleinsten Hüsterchen, zig verschiedene Sorten Mineralfutter … Vergleichbares gab es damals weder für Menschen noch für Tiere.

Freitag gibt es Fisch

 

Was es gab, waren klare Regeln. So klar, dass die Arbeitspferde auf großen Gütern bei Gewitter vorsichtshalber angeschirrt wurden. In der Reitlehrerausbildung erzählte man uns, dass sie einfach nicht daran gewöhnt seien, ihre Ständer ohne diese Arbeitskleidung zu verlassen und man fürchtete, sie deshalb bei einem Blitzeinschlag sonst nicht evakuieren zu können.

Leider wurden diese Regeln Pferden oft mit Brutalität eingebläut. Selbst mit Kindern ging man nicht viel feinfühliger um. Ich hatte einige Freunde, die ihre Gürtel schon gewohnheitsmäßig selber aus den Hosen zogen und ihren Vätern reichten, wenn sie schmutzig oder zu spät vom Spielen nach Hause kamen.

Meine Mutter war für Prügelstrafen zum Glück zu sanft. Ich kann mich an keine einzige Ohrfeige, allerdings auch kaum an irgendeine unumstößliche Regel erinnern. Letzteres war immer dann besonders unpraktisch, wenn meine Freunde zu Besuch waren und sich bei uns Dinge trauten, die wir Kinder in keinem anderen Elternhaus gewagt hätten: in dreckigen Schuhen durchs Zimmer laufen, über Tische und Bänke toben, in den Obstbäumen herumklettern und dabei Zweige abbrechen … Ich weiß noch, dass sie einfach an mir vorbei ins Haus stürmten, obwohl ich in der Tür stand und sie mit leiser Stimme bat, die Schuhe auszuziehen.

Meine Mutter ließ sie gewähren und putzte klaglos hinter ihnen her. Es hätte mir gefallen, wenn sie sich nur ein einziges Mal zur Wehr gesetzt und sie zur Ordnung gerufen hätte. Es hätte mich stärker gemacht. Aber genau das passierte nicht und ich dachte, dass meine Freunde lieber nicht mehr zu uns nach Hause kommen sollten.

Ich hätte damals nicht in Worte fassen können, was mir fehlte. Inzwischen kenne ich dafür eine sehr einfache Formulierung: »Heute ist Freitag und Freitag gibt es Fisch.« So eine Aussage und natürlich die entsprechende Handlung dazu, bieten Orientierung und geben dadurch Sicherheit. Selbst wenn man mit Fisch am Freitag nicht einverstanden ist, weiß man doch klar, woran man ist und kann entscheiden, ob man sich auf das Essen einlassen oder lieber eine Pizza bestellen will.

Klar sein geht vor beliebt sein – diese Haltung gilt auch unter Pferden: Wenn die Leitstute ihre Herde irgendwo hinführt, ist vorher geklärt, dass sie diese Führungsrolle inne hat, dass sich die anderen Pferde ihrer Führung anvertrauen. Hält sich ein einzelnes Pferd nicht daran und versucht beispielsweise, sie zu überholen, muss es mit den Konsequenzen leben: Es wird gnadenlos aus dem Weg gebissen. Diese Reaktion auf fehlenden Respekt lernen Pferde schon im Fohlenalter von ihren Müttern. Unerwünschtes, unpraktisches, die Sicherheit der Herde gefährdendes Verhalten hat Konsequenzen.

Und jetzt kommt der kritische Punkt: Weil Pferde miteinander nicht gerade zärtlich sind, heißt es oft, wir Menschen müssten sie nur mal ordentlich verprügeln, dann würden sie uns schon verstehen. Dabei ignorieren wir, welch feines Frühwarnsystem Pferde benutzen, wie berechenbar das Verhalten der Leithengste und -stuten für die Herde und wie komplex menschliches Verhalten für Tiere ist, die nur zwei Botschaften miteinander austauschen: »Komm zu mir/sei bei mir« und »Geh auf Abstand«. Angelegte Ohren heißen bei Pferden immer, immer, immer »Geh auf Abstand«. Wenn wir, weil wir mit unseren Ohren wenig Staat machen können, stattdessen beispielsweise die Gerte heben, kann das »Geh auf Abstand« heißen, oder dass wir jemandem am Rand des Reitplatzes winken, uns die Mütze zurechtrücken oder gedankenlos mit dem Werkzeug in unserer Hand herumspielen. Wir sind es nicht gewöhnt, so einfach zu denken wie Pferde, verwirren sie mit hundert Informationen gleichzeitig und machen ihnen damit oft unbeabsichtigt Angst. Diese Angst führt zu einer von drei unerwünschten Verhaltensweisen: Die Pferde meinen, sich vor uns schützen zu müssen, beißen und treten, sie suchen ihr Heil teilweise kopflos in der Flucht oder sie frieren ein, machen keinen Schritt mehr freiwillig und gelten deshalb als faul und stur.

Ich habe als Jugendlicher gelernt, bissigen Pferden eine kochend heiße Rübe hinzuhalten, damit sie sich daran das Maul verbrennen. Ein Patentrezept gegen das Beißen, hieß es damals. Heute würde ich sagen, ein Patentrezept zur Verstärkung von Angst, zur Einschüchterung und damit zur Zerstörung von Vertrauen. Von den körperlichen Schmerzen ganz abgesehen. Vordergründig scheint so etwas leider manchmal zu funktionieren, aber wenn Pferde dann schreckhaft bleiben, sich Hospitalismen wie Weben oder das Knirschen auf der Trense angewöhnen, stellt man es selten in einen Zusammenhang damit, dass man ihnen seinen Willen aufgezwungen hat. Diesen Zusammenhang kann es aber durchaus geben. Kann – nicht muss! Ich habe in meinem Leben leider oft auf Pferde draufgehauen, ohne ihnen vorher die Chance gegeben zu haben, zu verstehen, dass beispielsweise die gehobene Gerte »Geh auf Abstand« heißt.

Bei meinem ersten eigenen Pferd bin ich auf all das natürlich nicht mal ansatzweise gekommen. Blanck gab es an den Händler zurück, von dem er es mit dem Geld meiner Mutter gekauft hatte. So sagte er es uns zumindest. Als kurz darauf ein Gast in unserer Pension erzählte, er würde ein möglichst billiges Pferd kaufen wollen, bin ich sofort aufs Fahrrad gesprungen und mit Höchstgeschwindigkeit in den Stall geradelt. Ich habe meinen Drahtesel so sehr angetrieben, dass ich ganz aus der Puste dort ankam und meine Frage, wo der Gast unser Pferd angucken könne, nur stoßweise, zwischen den Worten nach Luft schnappend, vortragen konnte. Blanck guckte mild lächelnd auf mich herab, streichelte mir kurz übers Haar und sagte: »Ach Jungchen, der ist doch längst in der Wurst.«

Ich fühlte mich wie bei den aus dem Ruder gelaufenen Besuchen meiner Freunde: ohnmächtig, verzweifelt und wütend auf meine Mutter und auf mich selber. Hätte ich, hätte meine Mutter nicht besser auf unser Pferd aufpassen können? Es war ungefähr so wie nach meiner vierten Reitstunde. Da sollten wir Anfänger ernsthaft unseren ersten Galoppversuch machen: Der bei Blanck angestellte Reitlehrer, Herr Stöckel, hatte uns theoretisch beschrieben, wie eine Galopphilfe funktionierte. Praktisch drückte und quetschte ich mit den Beinen – und es passierte fast gar nichts. Mein Pferd machte zwei, drei schnellere Schritte im Schritt und schlurfte dann genauso weiter wie zuvor. Und weil ich die zweifelhafte Ehre hatte, an der Tete zu reiten, schlurften die anderen eben mit.

Nach der Stunde hörte ich, wie sich einer der anderen Anfänger über das entgangene Vergnügen beschwerte: »Wolfgang kriegt sein Pferd nicht in Gang und wir müssen alle auf den Galopp verzichten …« Da kauerte ich aber schon heulend neben der Futterkiste auf dem Stallboden. Weil ich in meiner vierten Reitstunde zu unfähig, zu blöd, zu ungeschickt zum Galoppieren war, schmiss ich mich der Verzweiflung in die Arme und dachte, ich lern’ das nie. Es war nicht mehr nur die Angst, dass ich versagen könnte. Es war vielmehr tatsächlich passiert: Ich hatte versagt! Und wie! Der Stolz, den ich zu Beginn der Stunde, als Stöckel mich an die Spitze der Abteilung setzte, empfunden hatte – verflogen.

Ähnlich mies und klein fühlte ich mich, als ich bei einem unserer heimlichen Wagenrennen mit dem Gärtnereipferd endlich mal die Zügel halten durfte und dann voll über einen Feldstein donnerte. Und als der Nachbar mir als Vierjährigem mitteilte, wie krumm und schief ich auf dem Pferd hockte. Eigentlich war da ja schon klar, dass ich zu ungeschickt zum Reiten war. Ich hätte es lieber gar nicht erst versuchen sollen.

Dabei hatte der Unterricht für mich so vielversprechend begonnen: In der ersten Stunde wechselte ich mich mit drei oder vier anderen Jugendlichen an der Longe ab. In der zweiten Stunde drehten wir erste Runden auf einem abgesteckten Viereck. Und obwohl wir eigentlich genug damit zu tun hatten, uns überhaupt im Sattel zu halten, haben wir uns da schon gegenseitig kritisch beäugt, unsere Leistungsfähigkeit verglichen und statt nach den Stunden darüber zu reden, ob Reiten Spaß macht oder nicht, ging es darum, wer von uns die beste Figur abgegeben hatte.

Damals mochte ich diese Gespräche, denn ich heimste Lob von allen Seiten ein, auch von unserem Reitlehrer. In der dritten Stunde zahlte es sich für mich so richtig aus, dass ich nahezu täglich in Blancks Stall radelte, dort beim Ausmisten und Pferdeputzen half und so oft es ging Mäuschen spielte: Wann immer vor allem erfahrenere Reiter Unterricht hatten, hockte ich am Rand des in einem Obstgarten abgesteckten Feldes und beobachtete sie.

Lob von allen Seiten

 

Anfangs hatte ich das Gefühl, sie säßen einfach bewegungslos im Sattel und ihre Pferde würden aus eigener Motivation so elegant über den improvisierten Reitplatz schweben. Dann aber fiel mir die Sache mit dem Leichttraben auf. Ganz anders als wir es heute unterrichten, lernte ich beim Traben als Erstes das Aussitzen und das war auch mit meinem guten Balancegefühl eine ziemlich wackelige Angelegenheit.

Im Unterricht der Fortgeschrittenen entdeckte ich, dass das Aufstehen und das angedeutete wieder Hinsetzen einem Takt folgte, den das Pferd vorgab. In meiner dritten Reitstunde probierte ich es aus und kann mich an diesen Rausch, das Hochgefühl, wenn etwas Schweres plötzlich leicht wird, bis heute erinnern. Bei den ersten Versuchen aufzustehen und beim nächsten Schritt des Pferdes in den Sattel zurückzugleiten, biss ich mir auf die Zunge, krampfte die Fäuste um den Zügel und bohrte mir meine Fingernägel in den Handballen, aber als ich den Takt gefunden hatte, schien die körperliche Anspannung wie ein schwerer Umhang von meinen Schultern zu rutschen. Ich konnte mich aufrichten und hatte plötzlich das Gefühl, ewig so unterwegs sein zu können: vorwärts, vorwärts, aufstehen, hinsetzen, aufstehen, hinsetzen, weiter, immer weiter …

Hatte ich in den ersten beiden Stunden beim Aussitzen das Gefühl, lieber schnell wieder in den Schritt wechseln zu wollen, konnten die Trabstrecken jetzt gar nicht mehr lang genug sein. Nach dieser Stunde wollten die anderen Anfänger Tipps von mir, um auch so elegant traben zu können und Stöckel lobte mich: »So schnell hat das bei mir noch keiner gelernt.« Bei ihm? Egal, ich war so beschwingt, dass ich über diese Formulierung hinwegsehen konnte. Ich hatte mir das Leichttraben selber beigebracht! Dann kam die vierte Stunde, der verpatzte Galoppversuch, und alles kehrte sich ins Gegenteil: Ich war halt doch zu blöd.

Meine sechste Stunde im Sattel verlieh mir dann wieder Flügel: In unserem Nachbardorf wurde ein großes Fest zum Saisonauftakt gefeiert und Blanck bat mich, mit seiner Frau, Stöckel und ihm dort hinzureiten, um Werbung für seinen Stall zu machen. Ein Ausritt! Ein richtiger Ausritt und ich durfte als einziger Schüler mit! Wobei – ich konnte ja noch nicht galoppieren. Ich weiß es nicht mehr genau, aber scheinbar erwartete ich, dass wir beim Ausreiten vom Start bis zum Ziel im wilden Galopp unterwegs sein würden und fürchtete, dabei wieder der Klotz am Bein der anderen zu sein. Sollte ich lieber nicht mitreiten? Ich habe nichts weiter gesagt, sondern mir von Blanck einen Platz in unserer kleinen Abteilung zuweisen lassen und einfach versucht, mit den anderen dreien mitzuhalten. Wir ritten nicht schneller als Trab, und weil ich mich dabei ja wunderbar sicher fühlte, fing ich unterwegs langsam an, auszuatmen und meinen ersten Ausritt richtig zu genießen: vorwärts, vorwärts, weiter, immer weiter …

Am Festplatz wurde es noch besser: Dort hielten ein paar Würdenträger Ansprachen und wir standen, auf unseren Pferden sitzend, fast neben ihnen. So, dass uns jeder sehen konnte. Ob das »Fußvolk« nur wegen des Höhenunterschiedes zu uns Reitern aufschaute oder nicht, ich fühlte mich wichtig, stolz und, ich glaube, das ist das passendste Wort, wahrgenommen. Ich muss nahezu im Kreis gegrinst haben. Am liebsten hätte ich meine Mütze geschwenkt und laut in die Menge gerufen: »Und das hier ist erst meine sechste Stunde im Sattel!« Ich schwebte gefühlt und ganz praktisch eineinhalb Meter über allen anderen.

Auf dem Rückweg schien mir das auch sofort ein bisschen zu Kopfe gestiegen zu sein: Als wir trabten, trieb ich mein Pferd stärker an, zog an den anderen vorbei und setzte mich, sehr stolz auf mein Leichttraben, an die Spitze der Abteilung. Stöckel sagte mir hinterher, ich hätte dabei so gestrahlt, dass er meinen kleinen Ausbruch verzeihlich fand. Blanck aber rief mich zur Ordnung: »Hey, auch im Gelände gelten Regeln. Und die oberste ist, dass alle an ihrem Platz bleiben!« Ohne Stöckels nette Worte, und vor allem ohne sein Lob (»Du hast das mit dem Traben wirklich gut raus«), hätte mir schon dieser kleine Anpfiff den ersten Ausritt meines Lebens verhagelt. Ich kann wirklich nicht behaupten, nicht schon früh erfahren zu haben, dass das Reiten ein ständiges Wechselbad der Gefühle ist. Zumindest solange es dabei mehr um die Leistung, als um den Spaß an der Freud geht. Aber bis ich das nicht nur erkannt, sondern auch halbwegs verinnerlicht hatte, sollte es noch ein paar Jahrzehnte dauern.

Drei Pferde als Einnahmequelle

Ob wir zumindest den Schlachtpreis, den mein erstes Pferd brachte, von Blanck zurückbekamen? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass wir ein Jahr nach Eröffnung seines Stalls und damit auch ein Jahr nach Eröffnung unserer Pension drei der Schulpferde von ihm übernahmen.

Blancks Rechnung war nicht aufgegangen, der Reitstall ernährte seine Familie nicht und so beschloss er, sein Glück anderswo zu suchen und nach Australien auszuwandern.

Siggi, Porta und Arabella blieben bei uns. Die drei Trakehner zogen in eine kleine Holzhütte unterhalb unseres an einem Berg gelegenen Gästehauses. Den arbeitslos gewordenen Reitlehrer Stöckel nahmen wir quasi gleich mit auf. Zumindest für ein halbes Jahr, in dem er uns in den Umgang mit Pferden einweisen sollte. Bei uns waren die Tiere Teil einer Mischkalkulation. Damit die aufging, bin ich, wenn unsere Gäste beim Abendessen saßen, von Tisch zu Tisch gegangen und habe versucht, sie zu kleinen Ausritten zu überreden. Fremde Leute anzusprechen gehörte für mich zwar auch in die Kategorie »lieber nicht«, aber wenn ich die Pferde behalten wollte, mussten sie Geld verdienen.

Um es den Gästen leichter zu machen, führten Stöckel und ich das Reiten mit Handpferd ein. Das heißt, wir nahmen die Pferde der Gäste an einen Strick und ritten so mit ihnen spazieren. Sie wurden also mehr transportiert, als dass sie selber etwas getan hätten, aber es gefiel ihnen, und das war die Hauptsache.

Heute würde ich sagen, dass diese Art des Reitens den Pferden zumindest keine Angst macht. Sie haben eine klare Führung, orientieren sich an dem Pferd und dem Reiter neben ihnen und der Mensch in ihrem Sattel stört dabei im Idealfall nicht weiter. Auch als wir später abteilungsweise mit Gästen ins Gelände ritten, bewährte es sich, den Pferden eine Ordnung beizubringen, an der keinesfalls gerüttelt werden durfte.

Chaos brach dabei meistens nur aus, wenn jemand sein Pferd dadurch verunsicherte, dass er den zugeteilten Platz verließ oder selber über das Tempo bestimmen wollte. Dazu kam, dass die Pferde im Sommer vier Stunden am Tag ins Gelände gingen und schon das Motto »Das Leben ist zu kurz, um es im Schritt zu vertrödeln« dafür sorgte, dass sie für eigene Wünsche wenig Kraft übrig hatten.

Im Galopp in Richtung Vogelfluglinie

 

Meinen ersten Ausritt allein machte ich rund um meine zehnte Reitstunde. Da war ich beim Satteln noch so unsicher, dass ich Blancks Familie beim Nachmittagskaffee stören und bitten musste, dass jemand überprüfen möge, ob ich Porta, einer sehr friedlichen Trakehnerstute, den Sattel richtig aufgelegt hatte. Ich ritt bestens gelaunt auf ein Stoppelfeld und da merkte ich zum ersten Mal, welche Kraft und Geschwindigkeit so ein Pferd entfalten kann – und wie wenig ich beides im Griff hatte. Beim Reiten in der Abteilung hatte ich mich ständig von meinem Vorreiter gegängelt gefühlt, dabei aber übersehen, wie hilfreich dessen Führung war.

Endlich alleine losgelassen, war es meine Idee, auf dem Feld bis zur Bundesstraße zu galoppieren und in einem eleganten Bogen auf der anderen Seite zurückzureiten. Ich begann noch ziemlich sicher, irgendwie bekam ich die Galopphilfe inzwischen hin, merkte dann aber, dass Porta mit meiner Vorstellung vom eleganten Bogen nicht viel am Hut hatte. Wahrscheinlich konnte sie mein immer verzweifelter werdendes Ziehen am linken Zügel einfach nicht verstehen. Ich muss ihr mit meinem ganzen Gewicht im Maul gehangen haben und sah uns trotzdem schon über die damals autobahnähnlich stark befahrene Bundestraße, die sogenannte Vogelfluglinie, galoppieren. Ein Albtraum!

Kurz bevor diese Katastrophe tatsächlich passierte, schlug Porta einen Haken und raste mit mir seitlich am Sattel hängend zurück gen Heimat. Ich weiß nicht mehr genau wie, aber ich habe mich, wahrscheinlich am Zügel, wieder nach oben gezogen. Dass sich ein Pferd nicht lenken lassen und dann auf eigene Faust einen Haken schlagen könnte – auf diese Idee wäre ich im Traum nicht gekommen. Auch wenn ich ganz knapp nicht auf dem feuchten Ackerboden gelandet war, hat es mich so sehr erschreckt – das Thema alleine ausreiten war erst mal erledigt. Da hatte ich mich darauf gefreut, ohne die Beschränkungen durch einen Vorreiter, endlich so unterwegs zu sein, wie ich es mir vorstellte, und dann konnte ich schon froh sein, mitmachen zu dürfen, was mein Pferd wollte.

KAPITEL 3

Als Komparse auf dem Treck

»Drei Pferde, tausend Mark und ein bisschen Todesangst.«

Es war ungefähr so, als würde mir heute jemand zehntausend Euro für eine Woche Arbeit mit Pferden anbieten: Mitte der 1950er-Jahre kam Heinz Galow, Reitstallbesitzer aus dem benachbarten Pansdorf, auf unseren Hof und winkte mit einem wichtig aussehenden Brief. Er marschierte in unsere Küche und fragte meine Mutter, die gerade in Kittelschürze und Kopftuch Kuchenteig ausrollte, ob wir Lust hätten, in ein paar Tagen tausend Mark zu verdienen. Tausend Mark, das sind heute fünfhundert Euro. Es war damals eine unvorstellbare Summe. Zu der Zeit kostete die Übernachtung in unserer Pension mit Vollverpflegung um die vierzehn Mark (sieben Euro) und eine Stunde Ausreiten fünf Mark, umgerechnet 2,50 Euro. Tausend Mark in einer Woche! Ich sehe meine Mutter noch mit großen Augen unter dem in die Stirn gezogenen Kopftuch hervorblinzeln. Eine seriöse Arbeit konnte das ja schon mal nicht sein. Oder doch? In den Filmstudios Bendestorf, südlich von Hamburg, wurden zwei- und vierbeinige Komparsen für den Spielfilm »Das Mädchen Marion« gesucht.

Es ging um ein krankes Fohlen, ein junges Mädchen, Irrungen, Wirrungen und um die große Liebe in Zeiten des Krieges. In den Hauptrollen spielten Winnie Markus, Carl Raddatz und Dietmar Schönherr. Von der eigentlichen Handlung bekamen wir allerdings gar nichts weiter mit. Denn was den Kinobesuchern im Herbst 1956 das Herz erwärmte, war für die Komparsen, und damit auch für mich, eine im wahrsten Sinne des Wortes eiskalte Angelegenheit. So kalt, dass ich mit Erfrierungen zweiten Grades und sich ablösenden Zehennägeln von den Dreharbeiten zurückkam.

Die Evakuierung des Gestüts Trakehnen

 

Das Abenteuer, für das ich ein paar Tage schulfrei bekam, begann schon auf der Fahrt: Es war im Januar oder Februar 1956. Ich war sechzehn Jahre alt, saß noch keine zwei Jahre im Sattel und marschierte nun, in etwas zu engen Gummistiefeln, mit einem Rucksack auf dem Rücken und drei Pferden an der Hand ins knapp drei Kilometer entfernte Scharbeutz. Es schneite ein bisschen. Am Bahnhof traf ich Galow und Fritz Grommelt, der ebenfalls einen Reitstall besaß, und wir verluden unsere insgesamt zwölf Pferde in einen Eisenbahnwaggon. Sechs auf jeder Seite, mit den Köpfen zum Mittelgang, wo wir auf einer Handvoll losem Stroh hockten.

Eigentlich kein Problem, hätte es nicht einen Kälteeinbruch mit Schneeverwehungen und zugefrorenen Gleisen gegeben. Ich meine, wir fuhren in Scharbeutz am späten Vormittag im leichten Schneegeriesel los und sollten nachmittags in Bendestorf sein. Tatsächlich ging schon nach zwanzig Kilometern, in Lübeck, nichts mehr. Schnee blockierte die Gleise, im Rangierbahnhof waren bei minus zwanzig Grad die Weichen eingefroren. Wir saßen zusammengekauert in unserem natürlich ungeheizten Güterwaggon buchstäblich auf einem Abstellgleis. Ich weiß noch, dass es sich so anfühlte, als würde mir das Mark in den Knochen einfrieren. Es war kaum auszuhalten. Abends machten Galow und ich uns auf die Suche nach einem Ort, an dem wir uns zumindest ein bisschen aufwärmen konnten. Grommelt blieb als Aufpasser bei den Pferden.

Wir entdeckten eine kleine Bahnwärterkantine und als wir dort nach vielleicht einer Stunde wegen Geschäftsschlusses hinausgefegt wurden, war das Gleis, auf dem unser Waggon gestanden hatte, leer. Er war weg, einfach verschwunden, als hätte er sich mit Mann und Maus in Luft aufgelöst. So weit das Auge in der spärlichen Beleuchtung reichte, sahen wir nur von Schneebergen eingerahmte Schienen. Und keine Menschenseele weit und breit, die wir hätten um Rat fragen können. Ich fühle jetzt noch, wie mir das Herz immer tiefer in die Hose rutschte: Die Pferde waren unser Kapital. Was tun, wenn ich statt mit den erhofften tausend Mark auch noch ohne Arabella, Siggi und Porta zurückkäme? Ich war den Tränen nahe. So leicht verdient sich Geld eben doch nicht! Ich hätte mich auf diese ganze Aktion lieber nicht einlassen sollen. Alles großer Mist!