Titelbild

Eula Biss

Immun

Über das Impfen –
von Zweifel, Angst und Verantwortung

Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann

Titel der Originalausgabe:

On Immunity. An Inoculation

Minneapolis, Graywolf Press 2014

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Copyright © 2014 by Eula Biss

Translated from the English: ON IMMUNITY: AN INOCULATION

First published in the United States by: Graywolf Press

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2016 Carl Hanser Verlag München

www.hanser-literaturverlage.de

Herstellung: Denise Jäkel

Umschlaggestaltung: Birgit Schweitzer

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

ISBN 978-3-446-44697-7

E-Book-ISBN 978-3-446-44705-9

Für andere Mütter,
der meinen in Dankbarkeit

Die erste Geschichte, die ich je über Immunität gehört habe, hat mir mein Vater, selbst Arzt, erzählt, als ich noch ganz klein war. Es war die Sage von Achills Mutter, die ihren Sohn unsterblich machen will. In einer Version dieser Geschichte versucht sie, Achills Sterblichkeit mit Feuer auszubrennen, wodurch er unverwundbar wird – unverwundbar bis auf die Ferse, wo ihn später ein vergifteter Pfeil trifft und tötet. In einer anderen Spielart der Geschichte taucht sie Achill als Säugling in den Styx, jenen Fluss, der die Grenze markiert zwischen Welt und Unterwelt. Die Mutter hält ihr Baby an der Ferse ins Wasser, und wieder behält es eine verhängnisvoll verletzliche Stelle zurück.

Als Rubens das Leben des Achill malte, fing er mit dem Styx an. Fledermäuse schwirren durch den Bildhimmel, und in einiger Entfernung setzen die Toten mit einer Fähre über. An einem dicken Beinchen baumelt Achill an der Hand seiner Mutter, Kopf und Schultern ganz unter Wasser. Hier wird eindeutig nicht nur normal gebadet. Am unteren Bildrand liegt zusammengerollt der dreiköpfige Hund, der die Unterwelt bewacht, und zwar genau an der Stelle, wo der Kindskörper auf den Fluss trifft, was wiederum aussieht, als ob das Baby in das Biest hineingetaucht wird. Jemandem Immunität zu verleihen, so die Bildaussage, ist eine riskante Angelegenheit.

Um uns Kinder auf die Fallstricke des Lebens vorzubereiten, hat uns meine Mutter jeden Abend beim Insbettbringen Grimms Märchen vorgelesen. Ich erinnere mich weniger an die berüchtigte Brutalität dieser Märchen als an ihren Zauber – an die goldenen Birnen, die im Schlossgarten wachsen, an den Jungen, der nicht größer als ein Daumen ist, und an die zwölf Brüder, die zu zwölf Schwänen werden. Aber als Kind entging mir nicht, dass Eltern in diesen Märchen die unerträgliche Angewohnheit haben, sich hinters Licht führen zu lassen und dabei leichtfertig mit dem Leben ihrer Kinder zu spielen.

In einer dieser Geschichten lässt sich ein Mann auf ein Tauschgeschäft mit dem Teufel ein: Der Teufel soll bekommen, was hinter seiner Mühle steht. Der Mann ist im Glauben, seinen Apfelbaum dreinzugeben, muss aber zu seinem Entsetzen feststellen, dass es seine Tochter ist, die sich hinter der Mühle befindet. In einer anderen Geschichte wird eine Frau, die schon lange einen Kinderwunsch hegt, schwanger und entwickelt ein heißes Verlangen nach Pflanzen namens Rapunzeln, die im Garten einer bösen Zauberin wachsen. Die Frau schickt ihren Mann los, um die Pflanzen für sie zu stehlen. Als er dabei erwischt wird, verspricht er der Zauberin das Kind. Diese sperrt das Mädchen dann in einen hohen Turm ohne Tür. Aber in Türmen eingesperrte Jungfrauen lassen eben ihr Haar herunter.

Ähnlich ging es zu in den griechischen Sagen, die meine Mutter mir später vorlas. Einem König wird eine dunkle Prophezeiung gemacht, und obwohl er seine Tochter in einen Turm sperrt, bleibt sie nicht kinderlos. Denn Zeus kommt zu ihr in Gestalt eines Goldregens, von dem sie mit einem Kind schwanger wird, das später den König tötet. Ödipus, als Kind in den Bergen zum Sterben ausgesetzt, wird von einem Hirten gerettet und entgeht nicht der Weissagung, er werde seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen. Und Achills Mutter Thetis kann die Sterblichkeit ihres Sohnes weder ausbrennen noch ertränken.

Man kann ein Kind nicht vor seinem Schicksal bewahren – was aber selbst die Götter nicht davon abhält, genau das zu versuchen. Achills Mutter, eine Göttin, die sich mit einem Sterblichen vermählt hatte, kam die Prophezeiung zu Gehör, ihr Sohn werde jung sterben. Nichts ließ sie unversucht, um dieser Weissagung ein Schnippchen zu schlagen – unter anderem steckte sie Achill während des Trojanischen Kriegs in Mädchenkleider. Nachdem er aber zum Schwert gegriffen hatte und so als Junge enttarnt worden war, bat seine Mutter den Gott des Feuers, ihm ein Schild zu schmieden. Dieser Schild war versehen mit Bildern von Sonne und Mond und von Erde und Meer, von Städten im Krieg und Städten im Frieden, von frisch gepflügten und abgeernteten Feldern – Achills Schild symbolisierte das Universum in seiner ganzen Zweipoligkeit.

Mein Vater hat mir gerade gesagt, es sei gar nicht die Sage von Achill gewesen, die er mir erzählt habe, als ich klein war, sondern eine andere uralte Geschichte. Als er mir die Handlung umreißt, wird mir klar, warum ich die beiden verwechselt habe. Der Held dieser anderen Geschichte ist vor Verletzung gefeit, weil er im Blut eines Drachen gebadet hat. Aber während er das Bad nimmt, klebt ein Blatt auf seinem Rücken und hinterlässt eine kleine, ungeschützte Stelle. Nach vielen siegreich geschlagenen Schlachten erliegt der Held einem Angriff auf exakt jene Stelle.

All diese Geschichten scheinen davon zu erzählen, dass Immunität ein Mythos ist und dass kein Sterblicher unverwundbar gemacht werden kann. Mit dieser Binsenweisheit konnte ich sehr viel leichter umgehen, als ich noch keine Mutter war. Die Geburt meines Sohnes brachte das überdeutliche Gefühl für meine Macht, aber auch meine Ohnmacht mit sich. Ich feilschte, so fiel mir auf, derart häufig mit dem Schicksal, dass mein Mann und ich schon ein Spiel daraus machten: Immer schön abwechselnd überlegten wir, welche Krankheit wir unserem Kind anhängen würden, um es im Gegenzug vor einer anderen zu bewahren – es war eine Parodie auf eben jene Entscheidungen, die Eltern nicht zur Verfügung stehen.

Als mein Sohn ein Säugling war, bekam ich sehr viele Variationen der Aussage »Nichts ist wichtiger, als dass er nicht in Gefahr gerät« zu hören. Ich fragte mich, ob es tatsächlich nichts Wichtigeres gab, und fast genauso häufig fragte ich mich, ob ich ihm diese Gefahrlosigkeit wirklich garantieren konnte. Ich war überzeugt, dass es nicht in meiner Macht stand, ihn vor seinem wie auch immer gearteten Schicksal zu bewahren. Aber trotzdem war ich wild entschlossen, einen großen Bogen um die üblen Tauschgeschäfte aus Grimms Märchen zu machen. Ich würde nicht zulassen, dass meine Unbedachtheit und meine Habgier Unglück über mein Kind brachten. Mir würde es nicht passieren, dass ich versehentlich zum Teufel sagte, Du darfst haben, was hinter der Mühle steht, nur um dann feststellen zu müssen, dass es mein eigenes Kind ist, das dort steht.

Der Tag vor der Geburt meines Sohnes war der erste warme Tag des Frühlings. Schon in den Wehen ging ich bis ans Ende des Piers, wo die Eisschollen auf dem Lake Michigan in der Morgensonne brachen. Mein Mann hatte eine Videokamera dabei und wollte, dass ich einen Toast auf die Zukunft ausbrachte, aber der Ton ging nicht, weswegen das, was ich dann sagte, unwiederbringlich verloren ist. Man sieht meinem Gesicht aber an, dass ich keine Angst hatte. Während der langen Geburt im Anschluss an diesen sonnenbeschienenen Moment stellte ich mir immer wieder vor, wie ich im See schwamm – erst war es ein See aus Finsternis, dann ein See aus Feuer und schließlich ein See ohne Horizont. Als mein Sohn spät am folgenden Tag geboren wurde, fiel ein kalter Regen, und ich hatte ein neues Reich betreten, in dem ich nicht länger angstfrei war.

In jenem Frühjahr breitete sich ein bislang unbekannter Stamm von Grippeviren von Mexiko aus über die Vereinigten Staaten auf den Rest der Welt aus. Die ersten Meldungen dazu entgingen mir, weil ich viel zu beschäftigt damit war, meinem Sohn nachts beim Atmen zuzuhören. Und tagsüber war ich vollkommen davon in Beschlag genommen, ob er trank oder nicht trank und wie viel er schlief bzw. nicht schlief. Die Einträge in meinem damaligen Notizbuch – lange Listen mit Uhrzeiten, manche der Einträge nur wenige Minuten voneinander entfernt –, kann ich schon heute nicht mehr entschlüsseln. Geheimnisvolle Kürzel neben Uhrzeiten stehen, vermute ich, für Wachsein, Schlafen, Trinken und Weinen. Ich war auf der Suche nach einem Muster, ich wollte einfach wissen, warum mein Baby so untröstlich weinte. Es weinte, erfuhr ich sehr viel später, weil es eine Kuhmilch-Intoleranz hatte. Unverträgliche Proteine aus der Milch, die ich zu mir nahm, landeten über meine Milch bei ihm – eine Möglichkeit, die mir so nicht in den Sinn gekommen war.

Im Spätsommer zeigten die Nachrichten Bilder von Menschen mit weißen Atemschutzmasken an Flughäfen. Zu diesem Zeitpunkt war das neuartige Influenzavirus schon ganz offiziell eine Pandemie. Die Kirchen verteilten geweihte Oblaten auf Zahnstochern, und die Fluggesellschaften entfernten Kissen und Decken aus den Flugzeugen. Heute überrascht es mich, wie unbedeutend mir all das damals vorkam. Es wurde einfach ein Teil der Landschaft einer jungen Mutter, in der so alltägliche Gegenstände wie Kissen oder Decken ohne Weiteres in der Lage sind, ein Neugeborenes umzubringen. An den Colleges wurden Tag für Tag alle »berührungsintensiven« Oberflächen sterilisiert, während ich Nacht für Nacht jeden Gegenstand abkochte, den sich mein Kind in den Mund steckte. Es war, als ob sich mir die ganze Nation in meiner Säuglingspflegeparanoia angeschlossen hätte. Wie viele andere Mütter auch hatte ich von einer Krankheit gehört, die Säuglinge befällt, keinerlei Warnzeichen gibt und keine anderen Symptome kennt als eben den plötzlichen Tod. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich trotz allem nicht daran erinnern kann, besondere Angst vor der Grippe gehabt zu haben – sie war einfach nur ein weiterer Grund zur Sorge. An meinen Wänden war Bleifarbe, so viel wusste ich, und in meinem Wasser sechswertiges Chrom, und in den Büchern, die ich las, stand, ich solle einen Ventilator laufen lassen, während mein Baby schlief, denn sogar stehende Luft könne zur Erstickung führen.

[13] Als ich nach Synonymen für das Wort schützen suche, schlägt mir mein Thesaurus nach Schutz bieten, absichern und abschirmen noch eine letzte Möglichkeit vor: schutzimpfen. Und genau diese Frage stellte sich mir, sobald mein Sohn geboren war: Sollte ich ihn impfen lassen, ihn sämtlichen empfohlenen Impfungen unterziehen? Bei dieser Frage ging es für mich damals nicht so sehr darum, ob ich ihn schützen wollte oder nicht, sondern, ob eine Impfung tatsächlich das Risiko wert ist, das man mit ihr eingeht. Würde ich mich nicht auf ein viel zu riskantes Lotteriespiel einlassen, ähnlich wie Thetis, die ihr Baby in den Styx taucht?

Lange bevor es überhaupt den entsprechenden Impfstoff gab, fingen die Mütter in meinem Bekanntenkreis schon an, darüber zu debattieren, ob wir die Kinder gegen das neuartige Grippevirus impfen lassen sollten oder nicht. Es hieß, dieser spezielle Virenstamm sei deswegen gefährlich, weil er beim Menschen neu auftrete, genau wie das Virus, das 1918 die Spanische Grippe ausgelöst hatte, eine Pandemie, der über 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Andererseits hörte man aber auch, der Impfstoff sei übereilt hergestellt und möglicherweise noch nicht ausreichend getestet worden.

Eine Mutter erzählte, sie habe eine Fehlgeburt erlitten, nachdem sie eine ganz normale Wintergrippe gehabt habe, weswegen sie sich jetzt aus lauter Vorsicht gegen einfach jede Grippe impfen lassen wolle. Eine andere berichtete, ihre Tochter habe nach der ersten Impfung eine ganze, fürchterliche Nacht durchgeschrien, weswegen sie keine weitere Impfung mehr riskieren würde. Jede Unterhaltung über den neuen Grippeimpfstoff weitete sich zu einer Diskussion über das Impfen im Allgemeinen aus, zu dieser schon so lange geführten Debatte, in der alles, was man über Krankheiten weiß, gegen alles aufgefahren wird, was man über Impfstoffe nicht weiß.

[14] Als sich das Virus ausbreitete, hörte ich von einer Bekannten aus Florida, dass sie und ihre gesamte Familie gerade die Schweinegrippe gehabt hätten, und das sei nicht schlimmer gewesen als eine starke Erkältung. Eine andere Mutter in Chicago erzählte mir, dass der gesunde neunzehnjährige Sohn ihrer Freundin einen Schlaganfall erlitten habe, nachdem er mit der Grippe im Krankenhaus gelandet war. Ich glaubte beide Geschichten, aber beide erzählten mir nichts anderes als das, was mir die Gesundheitsbehörden offenbar sowieso schon zu erzählen versuchten: In manchen Fällen verlief die Grippe harmlos, in anderen schwer. Unter den gegebenen Umständen schien die Impfung zunehmend vernünftig. Mein Baby war erst sechs Monate alt, und ich hatte gerade wieder begonnen zu arbeiten, an einer großen Universität, wo die Mehrheit meiner Studenten spätestens in der letzten Semesterwoche husten würde.

In jenem Herbst schrieb Michael Specter in einem Artikel im New Yorker, dass Grippe zu den zehn häufigsten Todesursachen in unserem Land gehört und sogar relativ schwach verlaufende Erkrankungswellen Millionen von Menschen getötet haben. »Und auch wenn dieses H1N1-Virus neuartig ist«, schrieb er, »lässt sich das so über den Impfstoff nicht sagen. Er ist hergestellt und getestet worden, wie Grippeimpfstoffe schon immer hergestellt und getestet worden sind.« Einigen meiner Bekannten und Mit-Müttern passte der Tonfall dieses Textes gar nicht. Sie fanden ihn aus genau dem Grund unverschämt, aus dem ich ihn beruhigend fand: weil er kein Argument für Skepsis der Impfung gegenüber gelten ließ.

Die Presse sei doch wirklich keine verlässliche Informationsquelle, das war genauso ein wiederkehrender Refrain in den Gesprächen mit anderen Eltern wie: Die Regierung sei unfähig, und die großen Pharmakonzerne stellten absichtlich schlechte Arzneimittel her. Ich konnte all diese Sorgen > nachvollziehen, war aber doch irritiert von der Weltanschauung, die sich darin offenbarte: Man kann einfach niemandem vertrauen.

Es war insgesamt keine gute Saison für das Vertrauen. Die Vereinigten Staaten führten zwei Kriege, von denen außer den Rüstungskonzernen niemand zu profitieren schien. Die Leute verloren ihre Häuser und ihre Jobs, während die Regierung den als »too big to fail« deklarierten Finanzinstituten aus der Patsche half und Banken mit Steuergeldern unterstützte. Es schien nicht komplett unwahrscheinlich, dass unserer Regierung Unternehmensinteressen wichtiger waren als das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger.

Während der ersten Nachbeben des Crashs war viel die Rede von »der Wiederherstellung öffentlichen Vertrauens«, obwohl auch hier die Betonung meist eher auf der Zurückgewinnung von positivem Konsumklima und Verbrauchervertrauen lag. Der Begriff Verbrauchervertrauen gefiel mir gar nicht, und jedes Mal, wenn ich dazu aufgefordert wurde, mir »als Mutter« zu vertrauen, sträubte sich etwas in mir. Vertrauen, egal ob als Verbraucherin oder sonst wie, hatte ich nicht allzu viel, neigte aber zu der Annahme, dass es sowieso weniger um Selbstvertrauen ging als um einen blinden Glauben an etwas, das das Selbst übersteigt. Sogar heute noch, Jahre nach der Geburt meines Sohnes, interessieren mich die Bedeutungsebenen des Begriffs trust (Erstbedeutung: Vertrauen; Anm. d. Übers.), vor allem die juristischen (Treuhand, Treuhandverhältnis; Anm. d. Übers.) und ökonomischen (Unternehmenszusammenschluss, Konzern, Fonds; Anm. d. Übers.). Ein Vermögenswert, der jemandem, dem er im Grunde gar nicht gehört, zu treuen Händen anvertraut wird, umreißt mehr oder weniger das, was es für mein Verständnis bedeutet, ein Kind zu haben.

Ende Oktober unterhielten sich die Eltern, die immer noch [16] über den Grippeimpfstoff sprachen, hauptsächlich über die Schwierigkeit, ihr Kind überhaupt geimpft zu bekommen. Mein Sohn hatte bei seinem Kinderarzt über einen Monat auf der Warteliste gestanden. Andere Eltern standen in langen Schlangen vor Schulen. Während wir noch warteten, erwähnte eine Mutter, die ihre Kinder nicht impfen ließ, sie habe gehört, dass im H1N1-Impfstoff ein Zusatzstoff namens Squalen sei. Nein, gab eine andere Mutter zurück, Squalen sei zwar in Europa in Grippeimpfstoffen enthalten, bei uns aber nicht. Die Mutter, die mit dem Squalen angefangen hatte, war sich da nicht so sicher und meinte, an anderer Stelle sei massiv angezweifelt worden, dass im US-Impfstoff kein Squalen sei. »Und wo genau ist an anderer Stelle?«, fragte eine meiner Freundinnen. Ich dagegen fragte mich: Was bitte ist Squalen?

Die Eltern, mit denen ich über die Vor- und Nachteile von Grippeimpfstoffen diskutierte, verfügten über ein Fachvokabular, das mir zum damaligen Zeitpunkt noch gänzlich unbekannt war. Sie benutzten Wörter wie Adjuvans und Konjugat, und sie wussten, welcher Impfstoff ein Lebendimpfstoff war und welcher azellulär. Viele von ihnen waren Autorinnen und Schriftstellerinnen – so wie ich. Weswegen es nicht besonders überrascht, dass ich anfing, den Fachjargon und die unter uns kursierenden Informationen als Metaphern zu deuten.

Squalen kommt in fast allen Lebewesen vor, den menschlichen Körper eingeschlossen, wo der Stoff in der Leber hergestellt wird. Er ist in unserem Blut und bleibt zurück, wenn wir einen Fingerabdruck hinterlassen. Manche europäischen Impfstoffe enthalten tatsächlich Squalen aus Haifischleberöl, aber in den USA zugelassenen Impfstoffen war Squalen war noch nie zugesetzt. Die Allgegenwärtigkeit von Squalen, die es nur seiner Absenz verdankt, ist vergleichbar mit dem Aufsehen, das der aus einer [17] Quecksilberverbindung gewonnene Konservierungsstoff Thiomersal erregte, der 2002 – außer aus Mehrwegimpfstoffen – aus jedem Kinderimpfstoff entfernt wurde. Ängste wegen Quecksilber in Impfstoffen halten sich aber über zehn Jahre später immer noch hartnäckig.

Ende November wurde mein Sohn endlich gegen die Grippe geimpft. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass das Schlimmste bereits vorüber war und die Schweinegrippe-Krankheitsfälle im Oktober den Zenit überschritten hatten. Ich erinnere mich, wie ich die Arzthelferin fragte, ob der Impfstoff, den mein Sohn bekam, Thiomersal enthalte, aber ich fragte eher aus angemessen empfundener Gewissenhaftigkeit als aus echter Sorge. Denn damals schwante mir bereits, dass das Problem mit den Impfstoffen – falls es denn überhaupt eines gibt – nichts mit Thiomersal oder Squalen zu tun hat.

[18]

Was ist das?«, war der erste Satz meines Sohnes – und blieb lange Zeit das Einzige, was er sagen konnte. Während mein Sohn sprechen lernte, benannte ich für ihn Teile von Dingen und erfuhr dabei, wie oft unsere Sprache unseren Körper spiegelt. »Ein Stuhl bekommt bei uns Arme, Beine und einen Rücken«, schreibt der Dichter Marvin Bell, »der Knoblauch hat Zehen / und die Flasche einen Hals.« Die Fähigkeit, solch einfache Metaphern zu bilden und zu verstehen, erlernt man mit der Sprache, und Sprache wiederum besteht ebenfalls aus Metaphern. Eine Tiefenbohrung in fast jedes Wort würde zutage fördern, was Emerson »versteinerte Dichtkunst« genannt hat: Metaphern, die unter der Oberfläche unserer heutigen Benutzung verschüttgegangen sind. Der Begriff to fathom, der eigentlich eine Methode beschreibt, um die Meerestiefe zu messen, ist heute ein Synonym für to understand (verstehen, begreifen), weil die konkrete Wortbedeutung – man maß die Wassertiefe in Faden, also der Menge an Armspannen, die die Lotleine anzeigte – früher als Metapher fürs Begreifen eines Gedankens benutzt wurde.

»Unsere Metaphern sind geprägt von unserem Körper«, schreibt James Geary in I Is an Other, seiner Abhandlung über das Metaphorische, »und unser Denken und Handeln sind geprägt von unseren Metaphern.« Wenn aber die Quelle unseres Verständnisses der Welt unser Körper ist, dann ist es wohl unabdingbar, dass dem Impfen ein so großer [19] symbolischer Wert zugewachsen ist: Da durchstößt eine Nadel die Haut – ein so grundstürzender Vorgang, dass manche schon bei seinem Anblick in Ohnmacht fallen –, und eine fremde Substanz wird direkt ins Fleisch gespritzt. Die Metaphern, die diesen Vorgang umschreiben, sind überwiegend angstvoll konnotiert, und fast immer schwingt in ihnen das Verletzende, Verfälschende und Verunreinigende mit.

Die Briten nennen eine Impfung umgangssprachlich »a jab« – ein Begriff aus der Welt des Boxens, wo der »jab« ein kurzer, gerader Faustschlag ist –, bei den US-Amerikanern mit ihrer Vorliebe für Schusswaffen heißt sie »a shot«. So oder so: Impfen ist etwas Gewalttätiges. Und wenn eine Impfung eine durch Geschlechtsverkehr übertragene Erkrankung verhindern soll, scheint sie fast selbst zu einem Sexualdelikt zu werden. Michele Bachmann, damals Präsidentschaftskandidatin der Republikaner, warnte 2011 vor den »verheerenden Auswirkungen« des Impfstoffs gegen humane Papillomaviren und vertrat die Ansicht, es sei »falsch, unschuldige kleine zwölfjährige Mädchen dazu zu zwingen, von der Regierung eine Injektion zu bekommen«. Ihr Gegenkandidat Rick Santorum pflichtete ihr bei – es sei nicht zweckdienlich, »kleine Mädchen gewaltsam und unter staatlichem Zwang impfen zu lassen«. Der Impfstoff, so hatten sich bereits einige Eltern beschwert, sei »für Mädchen in diesem zarten Alter nicht angemessen«, andere fürchteten, die Impfung würde der Promiskuität Tür und Tor öffnen.

Im 19. Jahrhundert behielt man von einer Impfung eine Narbe zurück. »Das Zeichen des Teufels«, befürchteten manche. In seiner Predigt sprach ein anglikanischer Bischof 1882 von der Impfung als einer Injektion der Sünde, einer »abscheulichen Gemengelage aus Verderbtheit, den übelsten menschlichen Lastern und dem Bodensatz lässlicher Versuchungen, die im späteren Leben auf den Geist abfärben, die Hölle im Inneren entstehen lassen und schlussendlich die Seele überwältigen«.

Obwohl von Impfungen heute in den allermeisten Fällen keine Narben mehr zurückbleiben, gibt es immer noch viele Ängste dahingehend, von einer Impfung nachhaltig gezeichnet zu sein. Wir befürchten, dass Impfungen Autismus oder andere Störungen des Immunsystems befördern, die derzeit in den industrialisierten Ländern grassieren – Diabetes, Asthma oder Allergien. Wir haben Angst, dass der Hepatitis-B-Impfstoff Multiple Sklerose auslöst – oder der Impfstoff gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten den plötzlichen Kindstod. Wir haben Angst, dass die kombinierte Gabe verschiedener Impfstoffe das Immunsystem an seine Grenzen bringt und dass die Gesamtmenge aller verabreichten Impfstoffe es schlichtweg überfordert. Wir haben Angst, dass der in manchen Impfstoffen enthaltene Formaldehyd Krebs verursacht und das anderen zugesetzte Aluminium unser Gehirn vergiftet.

In die Impfstoffe des 19. Jahrhunderts fantasierte man »das Gift von Vipern, das Blut, die Eingeweide und die Ausscheidungen von Ratten, Fledermäusen, Schildkröten und noch an der Mutterbrust gesäugten Welpen« hinein. Derartige organische Materie, den ganzen Schmutz und Dreck also, machte man zu jener Zeit noch verantwortlich für die meisten Krankheiten. Alles, was auch ein glaubhaftes Rezept für einen Hexentrank abgegeben hätte. Damals war eine Impfung tatsächlich einigermaßen gefährlich. Nicht, weil sie dazu führte, dass einem Kind Kuhhörner wuchsen, wie manche befürchteten, sondern weil sich durch das Impfen von Arm zu Arm Krankheiten wie die Syphilis verbreiten konnten, wie ebenfalls einige schon vermuteten. Bei dieser Art zu impfen entnahm man der Pustel, die auf dem Arm eines kürzlich geimpften Menschen entstand, den Eiter und impfte damit den nächsten. Auch, als Impfen nicht mehr [21] gleichbedeutend war mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten, blieb das Problem bakterieller Infektion bestehen. 1901 starben in Camden, New Jersey, neun Kinder an mit Tetanusbakterien verunreinigtem Impfstoff.

Heute sind unsere Impfstoffe – sofern alles mit rechten Dingen zugeht – steril. Manche enthalten Konservierungsmittel gegen Bakterienwachstum. Weswegen es nun eben – so formuliert es die Aktivistin Jenny McCarthy – »das verdammte Quecksilber, der Äther, das Aluminium und das Frostschutzmittel« sind, vor denen wir uns im Impfstoff fürchten. Unser Hexentrank ist ein chemischer. Es ist zwar in keinem Impfstoff wirklich Äther oder Frostschutzmittel enthalten, aber diese Substanzen sprechen eben die Ängste an, die unsere industrialisierte Welt betreffen. Sie erinnern uns an jene Chemikalien, denen wir heutzutage unseren schlechten Gesundheitszustand in die Schuhe schieben, sowie an die Schadstoffe, die unsere Umwelt beeinflussen.

1881 warnt ein Flugblatt mit dem Titel The Vaccination Vampire (»Der Impfvampir«) vor der »allumfassenden Verpestung«, die der Impfarzt dem »reinen Kindelein« beibringe. Bekannt dafür, sich vom Blut kleiner Babys zu ernähren, wurde der Vampir jener Zeit die Metapher für den Impfarzt, der ja auch Kleinkindern schreckliche Wunden beibrachte. Waren die alten volkstümlichen, blutsaugenden Monster schlichtweg entsetzlich, so konnte der Vampir des Viktorianischen Zeitalters auch verführerisch sein. Die makabre Sexualität des Vampirs dramatisierte die Angst, dass der Akt des Impfens auch etwas Sexuelles habe, eine Angst, die noch verstärkt wurde, als sich durch die Arm-zu-Arm-Impfung Geschlechtskrankheiten ausbreiteten. Viktorianische Vampire allerdings wurden – genauso wie viktorianische Ärzte – nicht nur mit verdorbenem Blut in Verbindung gebracht, sondern auch mit ökonomischer Verderbtheit. Indem sie einen bezahlten Beruf quasi erfunden hatten und fast ausschließlich den Reichen zur Verfügung standen, waren Ärzte der Arbeiterklasse suspekt.

Auch in Bram Stokers Dracula geht es um einen blutrünstigen Bourgeois: In seinem Schloss hortet er stapelweise eingestaubte Goldmünzen, und als er gepfählt wird, quellen Goldmünzen aus seinen Manteltaschen. Aber Dracula tatsächlich als Impfarzt zu interpretieren ist zu weit hergeholt. Von sämtlichen Metaphern, die auf den zahlreichen Seiten des Romans herangezogen werden, sind vielmehr diejenigen, die mit dem Thema »Krankheit« assoziiert sind, die treffendsten. Dracula erreicht England so, wie eine neue Krankheit das Land erreichen könnte – mit einem Schiff. Er befehligt ganze Horden von Ratten, und ausgehend von der ersten von ihm gebissenen Frau breitet sich über die Kinder, von denen sie sich nachts unwillentlich ernährt, sein infektiöses Unheil aus. Was Dracula so grauenerregend macht – weswegen es mit der Auflösung der Geschichte auch so lange dauert –, ist, dass er ein Monster ist, dessen Monstrosität ansteckend ist.

1897, dem Jahr, in dem Dracula erschien, war die Keim-Theorie weithin anerkannt – obwohl sie zu Beginn des Jahrhunderts noch ins Lächerliche gezogen worden war. Als Louis Pasteur mit seinen versiegelten und nicht versiegelten Flaschen voller steriler Brühe das Vorhandensein von Keimen in der Luft bewies, hielt sich die Vermutung, Mikroorganismen lösten Krankheiten aus, bereits so lange, dass die These schon fast wieder überkommen war. Unter den Vampirjägern, die Dracula auf den Fersen sind, befinden sich zwei Doktoren, die seine Särge »sterilisieren«, damit er in ihnen keine Zuflucht mehr nehmen kann. Anfänglich sind sie in ihrer Diagnose geteilter Meinung. Der jüngere der beiden bringt es trotz der erdrückenden Beweislage nicht über sich, an Vampire zu glauben, worauf der ältere ihm [23] einen leidenschaftlichen Vortrag über die Schnittstelle von Wissenschaft und Glauben hält.

»Denk daran, mein Freund«, sagt er, »dass man heute auf dem Gebiet der Elektrizität Experimente anstellt, die selbst von den Entdeckern der Elektrizität als unheilig verdammt worden wären, während man diese Entdecker wiederum vor nicht allzu langer Zeit als Hexenmeister verbrannt hätte.« Dann bezieht er sich auf Mark Twain: »Ich habe einmal einen Amerikaner den Glauben definieren hören als ›die Fähigkeit, Dinge für wirklich zu nehmen, die wir als unwirklich erkannt haben‹.« Und erläutert: »Er meinte, wir sollten uns einen aufgeschlossenen Verstand bewahren und nicht durch eine kleine Wahrheit den Lauf der großen Wahrheit behindern lassen, wie etwa ein kleiner Stein einen Eisenbahnwagen behindern kann.«

Um dieses Problem, also das Problem von Beweisbarkeit und Wahrheit, dreht sich Dracula ebenso sehr wie um Vampire. Indem der Roman behauptet, die eine Wahrheit könne die andere aufs Abstellgleis führen, ruft er eine alte Frage auf: Glauben wir tatsächlich, dass eine Impfung im Vergleich mit einer Krankheit die größere Monstrosität ist?

[24]

Zuinnerst in jedem Menschen wohnt doch die Angst, dass er in der Welt allein sein solle, vergessen von Gott, übersehen in dieser ungeheuren Haushaltung von Abermillionen«, schrieb Søren Kierkegaard 1847 in sein Tagebuch. In eben jenem Jahr vollendete er auch Die Taten der Liebe, ein Buch, das darauf beharrt, die Liebe könne nicht an ihren Worten, sondern nur »an ihren Früchten« erkannt werden.

Die ersten fünfzig Seiten von Die Taten der Liebe habe ich am College gelesen. Dann legte ich den Text erschöpft wieder weg. Auf diesen ersten Seiten analysiert Kierkegaard das Gebot »Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst«, indem er es quasi Wort für Wort aufschlüsselt: Zunächst spürt er dem Wesen der Liebe nach und fragt dann, was es mit dem »als dich selbst«, mit »deinem Nächsten« und schlussendlich mit »du sollst« auf sich hat. Völlig überfordert hörte ich mit der Lektüre auf, kurz nachdem Kierkegaard die Frage »Wer ist denn eines Menschen Nächster?« gestellt hat, die er in Teilen beantwortet mit: »Der Nächste ist das, was die Denker das Andere nennen würden, das, woran das Selbstische in der Selbstliebe geprüft werden soll.« An diesem Punkt hatte ich genug gelesen, um aufgewühlt zu sein von der Idee, man müsse seinen Glaubensvorstellungen entsprechend handeln, ja, sie vielleicht sogar verkörpern.

In einer meiner Kindheitserinnerungen erklärt mir mein Vater mit großem Enthusiasmus das Prinzip des Doppler-Effekts, nachdem ein Notarztwagen an unserem Auto vorbeigerast war. Und während wir dem Sonnenuntergang über dem Fluss zusahen, an dem wir wohnten, erläuterte er die Rayleigh-Streuung, diesen von der Atmosphäre bewirkten Wegfall der kürzeren Lichtwellenlängen, der zu rot gefärbten Wolken und einem in der Abenddämmerung intensiver grün leuchtenden Rasen führt. Im Wald nahm er für mich ein Eulengewölle auseinander und setzte daraus das winzige Skelett einer Maus zusammen. Mein Vater staunte sehr viel häufiger über die Natur, als dass er über den menschlichen Körper sprach – nur für das Thema Blutgruppen hatte er eine gewisse Leidenschaft.

Menschen der Blutgruppe 0 negativ, erklärte er mir, könnten bei Transfusionen nur Blut erhalten, das ebenfalls 0 negativ sei, wohingegen Personen mit der Blutgruppe 0 negativ für Menschen jeder anderen Blutgruppe Blut spenden könnten. Weswegen jemand mit der Blutgruppe 0 negativ auch »Universalspender« genannt werde. Hierauf enthüllte mir mein Vater, er selbst gehöre zur Blutgruppe 0 negativ, sei also Universalspender. Er spende so oft wie möglich Blut, erklärte er, denn Blut seiner Blutgruppe werde immer benötigt, für Notfalltransfusionen. Wahrscheinlich wusste mein Vater zu diesem Zeitpunkt bereits, was ich erst später entdecken sollte: dass auch ich zur Blutgruppe 0 negativ gehöre.

Schon lange bevor ich um meine eigene Blutgruppe wusste, begriff ich den »Universalspender« eher als ethischen denn als medizinischen Begriff. Allerdings erkannte ich diese Ethik lange nicht als das, was sie war: der raffiniert durch seine Medizinerausbildung gefilterte Katholizismus meines Vaters. Ich bin nicht innerhalb einer Gemeinde aufgewachsen und auch nie zur Kommunion gegangen, weswegen ich, als mein Vater vom Universalspender erzählte, nicht gleich an Jesus denken musste, der sein Blut für uns alle vergießt, damit wir leben können. Aber ich glaubte schon damals, dass jeder von uns für die Körper der anderen verantwortlich ist.

Solange ich Kind war, zog mein Vater immer, wenn er auf ein Schiff stieg, eine Rettungsweste an, auf der in wasserfesten, wischbeständigen Riesenbuchstaben sein Name und das Wort »Organspender« standen. Ein Witz, an den er mit ziemlich vollem Ernst glaubte. Als er mir das Autofahren beibrachte, gab er mir einen Rat seines eigenen Vaters mit auf den Weg: Du trägst nicht nur die Verantwortung für das Auto, das du selber fährst, sondern auch für das vor dir und das hinter dir. Gleich drei Autos gleichzeitig fahren zu lernen war eine einschüchternde Aufgabe und führte bei mir zu einer gelegentlich auftretenden Handlungsunfähigkeit, die meine Fahrkünste bis heute beeinträchtigt, aber als ich meinen Führerschein geschafft hatte, setzte auch ich meine Unterschrift unter das Feld »Organspender«.

Die allererste Entscheidung, die ich nur wenige Augenblicke, nachdem sich der Körper meines Sohnes aus meinem Körper befreit hatte, für ihn traf, war, dass ich sein Nabelschnurblut an eine staatliche Blutbank spendete. Mit meinen dreißig Jahren hatte ich erst ein einziges Mal Blut gespendet, noch auf dem College, als ich gerade Kierkegaard las. Ich wollte, dass mein Sohn sein Leben mit einem Guthaben bei der Bank begann und nicht mit den Schulden, die ich bereits drücken fühlte. Das war, bevor ich, die Universalspenderin, nach der Geburt meines Sohnes mittels einer Transfusion die alleinige Empfängerin von zwei Blutkonserven wurde – Blut der wertvollsten Blutgruppe, einer staatlichen Blutbank entnommen.

Wenn wir uns die Wirkung eines Impfstoffs nicht nur auf den individuellen, sondern auf den kollektiven Körper eines Gemeinwesens bezogen vorstellen, dann ist es durchaus legitim, das Impfen als eine Wertanlage in Sachen Immunität anzusehen. Jede Einlage bei dieser Immunitätsbank ist [27] eine Spende an diejenigen, die von ihrem eigenen Immunsystem nicht geschützt werden können oder wollen. Genau das ist das Prinzip der Herdenimmunität, aufgrund dessen die Massenimpfung sehr viel effektiver ist als die Einzelimpfung.

Es kann bei jedem verabreichten Impfstoff passieren, dass ein Individuum trotzdem nicht immunisiert wird, und manche Impfstoffe, z. B. der Grippeimpfstoff, sind noch deutlich weniger wirkungsvoll als andere. Aber wenn genügend Menschen geimpft sind – und sei es mit einem relativ ineffektiven Impfstoff –, dann fällt es Viren schwerer, von Wirt zu Wirt zu springen, und ihre Verbreitung wird aufgehalten, was sowohl allen Nichtgeimpften als auch denjenigen zugutekommt, die von der Impfung nicht immunisiert worden sind. Aus diesem Grund kann die Wahrscheinlichkeit einer Masernerkrankung für einen geimpften Menschen, der in einer mehrheitlich nicht geimpften Gemeinde wohnt, größer sein als für einen nicht geimpften Menschen, der in einer mehrheitlich geimpften Stadt lebt.

Die nicht geimpfte Person wird von den Körpern in ihrer Umgebung geschützt, von Körpern, die nicht Träger der jeweiligen Krankheit sind. Eine geimpfte Person allerdings, die umgeben ist von erkrankten Körpern, ist deutlich angreifbarer durch Impfstoffversagen oder nachlassende Immunität. Es ist gar nicht so sehr unsere eigene Haut, die uns schützt, sondern das, was außerhalb dieser Haut liegt. Denn hier fangen die Körpergrenzen an sich aufzulösen. Blut- und Organspenden bewegen sich zwischen uns hin und her, verlassen den einen Körper und betreten den nächsten, und genauso verhält es sich auch mit der Immunität, die gleichermaßen ein gemeinschaftliches Gut ist und ein Privatkonto. Diejenigen, die sich auf die kollektive Immunität verlassen, verdanken ihre Gesundheit den Nachbarn.

Als mein Sohn sechs Monate alt war – auf dem Höhepunkt der Schweinegrippe-Pandemie –, meinte eine andere Mutter zu mir, sie glaube nicht an Herdenimmunität. Das sei nichts als eine bloße These, sagte sie, und zwar eine, die eigentlich nur auf Kühe zuträfe. Der Gedanke, dass man an Herdenimmunität glauben könne oder eben auch nicht, war mir bis dahin noch nicht gekommen – obwohl die Vorstellung eines über die gesamte Bevölkerung geworfenen unsichtbaren Schutzmantels natürlich etwas eindeutig Okkultes hat.

Im Bewusstsein, dass ich den Mechanismus hinter diesem magischen Vorgang nicht zur Gänze verstand, suchte ich in der Universitätsbibliothek nach Texten zum Thema Herdenimmunität. Schon 1840, erfuhr ich, machte ein Arzt die Beobachtung, dass man eine Pockenepidemie vollständig zum Erliegen bringen konnte, wenn man nur einen kleinen Teil der Bevölkerung impfte. Dieser indirekte Schutz vor der Erkrankung konnte für eine gewisse Zeitspanne auch beobachtet werden, wenn durch eine Epidemie große Mengen von Menschen auf natürliche Weise immun geworden waren. Bevor man gegen Kinderkrankheiten wie Masern impfte, kamen Epidemien üblicherweise in Wellen, gefolgt von Erkrankungstiefständen, während derer die Zahl neuer Kinder, die noch nicht durch eine überstandene Infektion immun waren, langsam auf einen kritischen, aber unbekannten Bevölkerungsanteil zukroch. Heute kann das empirisch beobachtbare Phänomen ›Herdenimmunität‹ nur denjenigen nicht plausibel erscheinen, die ihren Körper als grundsätzlich getrennt von den Körpern der anderen wahrnehmen. Was wir natürlich alle tun.

Schon der Ausdruck Herdenimmunität klingt, als ob wir Vieh sind, das nur darauf wartet, zur Schlachtbank geführt zu werden. Noch dazu ruft er die unglückliche Assoziation mit dem Begriff Herdenmentalität auf, dieser massenhaften, panischen Flucht in die Dummheit. Denn wir halten die Herde für dumm. Menschen, die einen großen Bogen um die Herdenmentalität machen, ziehen den Pioniergeist vor, in dessen Gefilden man sich den Körper als abgeschottetes Eigenheim vorstellt, das man entweder gut oder schlecht instand halten kann. Der gesundheitliche Zustand im Eigenheim nebenan hat keinerlei Auswirkung auf mich, denken diese Menschen, solange ich das meinige nur gut warte.

Wenn wir die Metapher der Herde tauschen gegen die des Bienenstocks, ist das Konzept der kollektiven Immunität vielleicht einleuchtender. Honigbienen sind im Öko-Matriarchat organisierte »Gutmenschen«, die noch dazu völlig autark leben. Aus dem jüngsten epidemischen Bienensterben haben wir gelernt, dass das Wohlergehen jeder einzelnen Biene vom Wohlergehen des gesamten Bienenvolks abhängt. In Die Weisheit der Vielen beschreibt der Journalist James Surowiecki sehr ausführlich, mit welch ausgefeilter Such- und Berichterstattungsmethodik Honigbienen ihren Nektar sammeln. Die Kooperation der Bienen, so Surowiecki, sei ein gutes Beispiel für die Art kollektiver Problemlösung, die auch Bedingung ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft.

Obwohl es viele gut dokumentierte Fälle gibt, in denen Gruppen schlechte Entscheidungen treffen – man denke nur an Lynchmobs –, stellt Surowiecki doch fest, dass große Gruppen für komplexe Probleme im Normalfall Lösungen finden, auf die Individuen nicht kommen. Eine ausreichend heterogene und mit der Freiheit zum Widerspruch ausgestattete Gruppe Menschen kann Dinge denken, die jedes Expertenwissen übersteigen. Gruppen können unauffindbare U-Boote lokalisieren, Börsenkurse vorhersagen und die Ursachen bislang unbekannter Krankheiten bestimmen. Nachdem im März 2003 in China fünf Menschen einer geheimnisvollen Atemwegserkrankung zum Opfer gefallen waren, organisierte die Weltgesundheitsorganisation zur [30] Bestimmung der Ursachen dessen, was später als SARS bekannt werden sollte, die Zusammenarbeit von Forschungslaboren in zehn verschiedenen Ländern. Die in mehreren Teams organisierten Labore arbeiteten zusammen, teilten und besprachen in täglichen Konferenzschaltungen ihren jeweiligen Erkenntnisstand. Schon im April war das neuartige, für die Krankheit verantwortliche Virus isoliert. Für diesen Prozess trug keine Einzelperson die alleinige Verantwortung, genauso wenig konnte sich eine Einzelperson die Entdeckung als ihren alleinigen Verdienst anrechnen lassen. Wissenschaft, daran erinnert uns Surowiecki, verdankt sich im Grunde so etwas wie einem »(stillschweigenden) Glauben an die kollektive Weisheit der Wissenschaftler«. Sie ist das Produkt einer Herde.