Über das Buch:
Um 445 v. Chr.: Nehemia, ein Mann in den besten Jahren, ist Mundschenk am Hof des persischen Großkönigs Artaxerxes. Als eine Delegation aus dem fernen Juda eintrifft, hört er mit Entsetzen, dass Jerusalems Mauern immer noch verwüstet sind. Durch das Eingreifen Gottes wird er zum Statthalter von Juda ernannt und reist in das Land seiner Vorväter. Im Gepäck hat er den geheimen Plan, die Mauern Jerusalems wieder aufzubauen und für die Sicherheit seiner Einwohner zu sorgen. Doch Nehemia stößt auf Widerstand – bei den Statthaltern der Nachbarvölker und sogar in den eigenen Reihen.

Aber es gibt auch Menschen wie Chana und ihre Schwestern, die tatkräftig beim Wiederaufbau Jerusalems helfen. Und dann ist da noch Nava, ein junges Mädchen. Als Leibeigene eines reichen Landbesitzers hat sie ihren ganz eigenen Kampf auszufechten …

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt am Lake Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.

5

Jerusalem,
Mai

Chana blickte in den kleinen Bronzespiegel und reichte ihn dann ihrer Schwester. Sie war bereit. Das Spiegelbild, das sie gesehen hatte, war das einer jungen Frau, deren dunkle Augen müde und traurig aussahen. Aber was machte das schon? Die jährlichen Feierlichkeiten zu Schawuot, dem Wochenfest, würden dieses Jahr nicht sehr festlich werden. „Ich verstehe nicht, warum wir uns überhaupt die Mühe machen zu feiern“, hatte sie vorhin zu ihrem Vater gesagt. „Alle sagen, dass wir wegen der Dürre kaum eine nennenswerte Getreideernte haben.“

„Wir feiern das Fest, weil Gottes Thora es uns befiehlt“, hatte er geantwortet. „Mit den Worten seines Propheten: ‚Auch wenn die Olivenernte ausbleibt und die Felder keine Nahrung hervorbringen … so will ich mich doch im Herrn freuen und froh sein in Gott, meinem Retter.‘ Und deshalb gehen wir zum Tempel hinauf und freuen uns. Getreide oder nicht, der Allmächtige ist immer noch unser Gott. Wir müssen darauf vertrauen, dass er am besten weiß, was gut für uns ist.“

Also hatte Chana sich in das winzige Schlafzimmer gezwängt, das sie sich mit ihren Schwestern teilte, und unter ständigem Ineinanderstolpern hatten die Schwestern gebadet und ihre schönsten Kleider angezogen. Jetzt war Chana bereit. Sie wollte gerade die Tür öffnen und in den Hof hinaustreten, um gemeinsam mit ihrem Vater zu warten, als Judith sie zurückhielt. „Bitte hilf mir, diese schrecklichen Haare zu bändigen, Chana!“

„Warum? Deine Haare sehen doch schön aus, wie sie sind – wie eine Löwenmähne.“

„Ich will aber nicht wie ein Löwe aussehen. Ich will, dass meine Locken sich benehmen, damit ich hübsch aussehe.“

Chana stutzte. Das war neu. Ihre neunzehnjährige Schwester hatte sich noch nie die Mühe gemacht, ihr unbändiges Haar zu zähmen, trotz Chanas Bitte, sich die Locken von ihr kämmen zu lassen. „Seit wann machst du dir denn Gedanken über deine Haare? Oder darüber, ob du hübsch aussiehst?“

„Sie will schön aussehen, für den Fall, dass sie Alon ben Harim sieht“, sagte Sarah und reichte Judith den Spiegel.

„Sarah! Still!“ Eine Röte wie reifende Trauben erschien auf Judiths Wangen, während sie Sarah einen Stoß versetzte. „Du solltest doch nichts sagen!“

„Ach, stell dich nicht so an. Chana wird nicht petzen, oder, Chana? Außerdem ist sie nicht blind. Sie hat bestimmt gesehen, wie du und Alon einander mit großen Kälberaugen angestarrt habt.“ Sarah setzte eine verliebte Miene auf und tat, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Judith stieß ihr erneut den Ellenbogen in die Rippen.

Chana schüttelte angesichts ihrer Albernheit den Kopf. „Ich werde dein Geheimnis nicht verraten, Judith. Ich finde es schön, dass du und Alon einander mögt. Komm her und lass mich sehen, was ich mit deinen Haaren machen kann.“ Judith zog einen niedrigen Hocker durch den Raum und sank darauf nieder. Vorsichtig zog Chana den Holzkamm durch ihre Locken und versuchte, sie zu bändigen. „Ich finde es wunderbar, dass meine wilde mittlere Schwester sich verliebt hat. Und es überrascht mich nicht. Schließlich ist Frühling. ‚Die Blumen beginnen zu blühen, die Vögel zwitschern und überall im Land hört man die Turteltaube gurren.‘“

„Seid ihr Mädchen gleich so weit?“, rief ihr Vater durch die geschlossene Tür. „Wir wollen doch nicht zu spät kommen.“ Chana hörte eine leichte Anspannung in seiner Stimme.

„Ja, Abba, einen Augenblick noch“, rief Judith zurück. Vor einem Jahr noch wäre Abba allein losgegangen und sie wären ihm den Tempelberg hinaufgefolgt. Aber jetzt ließen er und die anderen Väter und Ehemänner die Frauen nicht mehr allein durch Jerusalem laufen, vor allem nicht nachts.

Sarah ließ sich im Schneidersitz auf dem Teppich nieder, um zuzusehen. „Was ist mit dir, Chana? Hast du dich entschieden, ob du Abbas Freund erlaubst, um dich zu werben? Du weißt schon, ich meine den netten Mann, der uns den Wein gebracht hat.“

Er heißt Malkija ben Rechab“, scherzte Judith mit tiefer Stimme. „Er wird gerne Malkija ben Rechab genannt.“

„Ich habe gar nichts entschieden“, erwiderte Chana, während sie an einer verknoteten Locke zog.

„Ich mochte ihn jedenfalls“, sagte Sarah. „Er war sehr charmant und freundlich. Wisst ihr noch, er hat uns alle als hübsch bezeichnet.“

„Sarah hat recht“, bestätigte Judith. „Selbst du musst zugeben, dass er sehr charmant war, Chana … Autsch!“ Sie zog eine Grimasse, als Chana noch einen Knoten entfernte.

„Ihr beide scheint euch viel mehr für ihn zu interessieren als ich“, sagte Chana. „Vielleicht sollte eine von euch ihn heiraten.“

„Das können wir nicht“, sagte Sarah. „Judith und ich können nicht heiraten, bevor du es tust.“

Zum dritten Mal stieß Judith ihre jüngste Schwester an. „Bist du wohl still?“

„Ist doch wahr, oder nicht? Abba hat gesagt, es sei Tradition, dass die älteste Schwester zuerst heiraten muss.“

Der stickige kleine Raum kam Chana mit einem Mal ganz warm vor. Hinderte sie ihre Schwestern daran zu heiraten? Zum Glück rief Abba sie erneut, bevor sie die Unterhaltung fortführen konnten. „Mädchen …? Ich glaube nicht, dass ihr noch schöner werden könnt, als ihr es schon seid.“

Sarah sprang auf und ging hinaus, um ihn zu beschwichtigen, und wenig später gelang es Chana, Judiths Heiligenschein aus Haaren zu bändigen. Aber die Worte ihrer Schwester gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Dadurch, dass sie so lange brauchte, um über Itzhaks Tod hinwegzukommen, stand sie Judith vielleicht im Weg, wenn sie und Alon sich tatsächlich ineinander verliebten.

Chana hakte sich bei Abba unter, während sie eilig den Hof verließen und den Weg zum Tempel hinaufstiegen. Ihre Schwestern ließ sie vorauslaufen. „Abba“, fragte sie, als sie sicher war, dass die anderen sie nicht hören konnten, „ist es wirklich wahr, dass die älteste Schwester zuerst heiraten muss, bevor die jüngeren es können?“

„Nun ja … so ist es normalerweise“, sagte er seufzend. „Aber es steht nicht in der Thora als unabänderliches Gesetz. Es ist eher eine Tradition, könnte man sagen.“

„Also stehe ich Judith nicht im Weg, wenn sie heiraten will?“

Er blieb stehen, von der Anstrengung bereits ganz außer Atem. „Du weißt doch, wie eigensinnig Judith ist. Sie wird schon einen Weg finden, um zu tun, was sie will. Aber mir macht viel mehr Sorgen, mein Engel, dass die Auswahl an möglichen Ehemännern immer geringer wird, wenn du zu lange wartest.“

„Weil sie mich dann zu alt finden?“

„Du musst dich entscheiden, Chana. Willst du heiraten und Kinder haben oder bist du damit zufrieden, allein zu bleiben und niemals Mutter zu sein?“

Während sie sich wieder in Bewegung setzten, dachte sie über Abbas Frage nach. Erst an diesem Morgen, als Judith und sie auf dem Marktplatz eingekauft hatten, war sie stehen geblieben, um einer jungen Mutter mit ihrem Kleinkind zuzusehen. Der Junge war mit unsicheren Beinchen herumgewankt, als würde die Erde sich bewegen. Chana hatte über seine kindliche Freude an allem, was er sah, lächeln müssen. „Guck mal … guck mal!“, hatte er gesagt, war immer wieder stehen geblieben und hatte mit seinen knubbeligen Fingern auf das gezeigt, was er entdeckt hatte. Vor einem Jahr hatte Chana sich vorgestellt, wie es sein würde, wenn sie Itzhaks Kind bekam – einen kleinen Jungen mit Itzhaks lockigen Haaren und mit seinen lachenden Augen hatte sie sich ausgemalt. Und an diesem Morgen, als sie den Kleinen beobachtet hatte, hatte Chana sich danach gesehnt, ein eigenes Baby im Arm zu halten.

„Ja, ich möchte heiraten“, sagte sie zu ihrem Vater.

„Die traurige Wahrheit ist, dass Männer jüngere Frauen wie Judith und Sarah heiraten wollen, die ihnen viele Kinder schenken können. Ich fürchte, bald werden dir nur noch die sehr alten Männer bleiben – Witwer oder Männer, die niemand anders wollte.“

„Du willst mir Angst machen, nicht wahr? Du möchtest, dass ich mir von deinem Ratsfreund Malkija den Hof machen lasse.“

„Ich will ehrlich sein, mein Engel. Es würde mich sehr freuen, wenn du Malkija eine Chance gäbest. Er hat immer noch sehr großes Interesse an dir. Was schadet es denn, wenn du dir die Zeit nimmst, ihn ein wenig kennenzulernen? Mehr erwarte ich ja gar nicht. Wenn du ihn nicht magst, werde ich dich nicht zwingen, ihn zu heiraten.“

Sarah hatte recht – Malkija war charmant und angenehm. Und er sah auch nicht schlecht aus, trotz seiner krummen Nase. „Schaden wird es wohl nicht, es zu versuchen“, sagte sie.

„So kenne ich mein Mädchen! Ich lade ihn noch einmal ein. Diesmal vielleicht zum Sabbatessen? Wie wäre es mit dem kommenden Sabbat?“

Chana wollte Nein sagen, weil es ihr zu schnell ging. Aber dann dachte sie wieder daran, wie Judith sich vor dem Spiegel zurechtgemacht hatte, um für Alon ben Harim schön auszusehen, und gab nach. „Also gut. Diesen Sabbat. Zum Essen.“

Am folgenden Freitagmorgen stürzten Sarah und Judith sich zusammen mit Chana in die Vorbereitungen für die Mahlzeit, als wären sie diejenigen, die Malkija ben Rechab beeindrucken mussten. Sarah deckte den Tisch mit den feinsten Tüchern, Judith holte das beste Geschirr heraus und zu dritt planten sie ein Menü aus Suppe, frischem Gemüse und gebratenem Fisch. Es gab lange Diskussionen darüber, was sie anziehen und wie sie ihre Haare frisieren sollten. Sarah begutachtete Chanas Haar besonders kritisch. „Zieh es doch nicht so straff nach hinten. Dadurch siehst du alt und traurig aus.“

Ich bin alt und traurig, hätte sie am liebsten gesagt. Malkija kann ruhig die Wahrheit erfahren. „Wie soll ich es denn sonst tragen?“, fragte sie stattdessen. Ihre Schwester nahm die Sache in die Hand und zog einige Strähnen heraus, damit sie lockig um ihr Gesicht fielen. Chana machte sich nicht einmal die Mühe, das Ergebnis im Spiegel zu überprüfen.

Malkija erschien kurz vor Sonnenuntergang mit Wein für Abba und einem Geschenk für jede der Schwestern. „Nur eine Kleinigkeit, weil ihr euch die ganze Arbeit gemacht habt, für mich zu kochen“, sagte er. Chanas Geschenk war ein wunderschön geflochtener Korb mit frischen Feigen; Judith bekam einen hübschen Tonkrug, der mit Honig gefüllt war; Sarah einen Teller mit süßem Gebäck aus Datteln und für Abba hatte er eine Auswahl seiner besten Weine mitgebracht. Chana fragte sich, ob ihr Vater sich nach so viel Großzügigkeit Malkija gegenüber nicht verpflichtet fühlen würde. Würde es ihr am Ende unmöglich sein, einen Heiratsantrag auszuschlagen?

Sie nahmen das ungezwungene Mahl im Hof unterm Sternenhimmel zu sich. Malkija war ein aufmerksamer Essensgast, der die Unterhaltung nie ins Stocken geraten ließ und dafür sorgte, dass alle am Tisch die Gelegenheit hatten, etwas zu sagen und gehört zu werden. Als die Mahlzeit Stunden später vorüber war, begleitete er Chana vor das Tor und stand neben ihr, während sie gemeinsam zum sternenübersäten Himmel hinaufblickten. Ihr Haus stand unweit der Mauer, die einmal Jerusalem umgeben hatte, aber sie konnten leicht über die niedrigen Reste hinüberspähen und die Trümmer der niedergerissenen Wohnhäuser am Westhügel sehen. „Ich frage mich oft, wie dieser Teil der Stadt ausgesehen hat, bevor er zerstört wurde“, sagte sie. „Im Mondlicht sieht er immer so unheimlich aus, ein Ort, an dem sich die Schakale tummeln.“ Und Diebe und Verbrecher, fügte sie im Stillen hinzu. Böse Männer wie diejenigen, die Itzhak ermordet hatten.

„Du sollst wissen, wie leid mir tut, was Itzhak zugestoßen ist“, sagte Malkija, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Er war ein guter Mann. Ich kannte ihn nicht so gut, wie ich es gerne getan hätte. Ich habe nie gehört, dass jemand schlecht von ihm gesprochen hätte, und das will etwas heißen. Du musst ihn sehr vermissen.“

„Ja … das tue ich.“ Chana blinzelte die unwillkommenen Tränen fort.

„Ich werde nicht über ihn sprechen, wenn es zu schmerzlich ist, aber aus Erfahrung weiß ich, dass es manchmal hilft, über die Lieben zu reden, die wir verloren haben. Wenn jeder auf Zehenspitzen herumläuft und sich scheut, ihren Namen auszusprechen, kann es manchmal so scheinen, als hätten sie nie existiert oder als wären sie nicht mehr wichtig. Aber das sind sie natürlich.“

Chana nickte. Sie achtete ihn für seine Weisheit. „Du hast recht. So ist es tatsächlich. Und manchmal kommt es mir vor, als hätten alle Angst, von ihm zu sprechen … Ich habe gehört, dass du deine Frau auch verloren hast.“

„Ja. Rebecca starb vor mehr als fünf Jahren am Fieber.“ Chana meinte zu hören, dass seine Stimme ein wenig zitterte.

„Das tut mir sehr leid“, sagte sie.

„Bei uns war es eine Liebesheirat, keine arrangierte Ehe. Sie war meine beste Freundin, meine Gefährtin. Ich glaube, du hast Itzhak auf die gleiche Weise geliebt.“

„Ja. Aber wir hatten nicht die Chance zu heiraten.“

„Ich frage mich manchmal, ob wir diese Art Liebe nur einmal im Leben erleben können. Oder ob der Heilige uns überraschen und uns ein zweites Mal einen liebenden Gefährten an die Seite stellen kann. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich es vermisse, Gedanken und Enttäuschungen mit meiner Frau zu teilen. Ich vermisse es, am Ende jedes Tages ihr warmherziges Lächeln zu sehen und sie nachts im Arm zu halten. Und ich habe beschlossen, noch einmal zu heiraten, weil ich glaube, dass ich sonst das Glück, das ich einmal empfunden habe, nie wieder finden werde. Und weil Rebecca sich wünschen würde, dass ich wieder heirate und glücklich bin.“

Chana konnte nichts erwidern, so gerührt war sie von seinen Worten. In ihrem Herzen wusste sie, dass auch Itzhak ihr dieses Glück wünschen würde.

„Viele hoffnungsvolle Väter haben mich angesprochen“, fuhr Malkija fort. „Und ich habe viele von ihren Töchtern kennengelernt. Aber ich bin ein reicher Mann und es ist schwer zu sagen, ob sie mich als Menschen wahrnehmen oder als wohlhabenden Ehemann mit Bediensteten und einem üppig ausgestatteten Haus. Ich bin sicher, so geht es dir auch, da du eine so reizende Frau bist. Gewiss bin ich nicht der einzige Verehrer, der sich an deinen Vater gewandt hat.“

Stimmte das? Hatten andere Männer Abba nach ihr gefragt?

„Wie auch immer“, sagte Malkija seufzend, „es ist spät und ich muss nach Hause, so leid es mir tut. Danke für den wundervollen Abend, Chana. Ich habe jede Minute und jeden Bissen genossen.“

„Du willst jetzt nach Bet-Kerem zurück? Im Dunkeln?“

„Nein“, lachte er. „Für den Weg brauche ich selbst bei Tageslicht eine Stunde, wenn meine Eselin sieht, wohin sie läuft. Sie würde diese steinigen Bergwege im Dunkeln niemals bewältigen. Außerdem ist es gefährlich, nachts draußen unterwegs zu sein. Ich habe hier in Jerusalem ein Haus. Das bewohne ich während der Feiertage oder wenn die Ratssitzungen bis spät in den Abend andauern.“

„Danke für deinen Besuch heute Abend, Malkija. Ich kann im Namen von uns allen sagen, dass du uns ein willkommener Gast warst.“

Er quittierte ihre Worte mit einer kleinen Verbeugung und sagte: „Ich will noch kurz hineingehen und mich von deinem Vater und deinen Schwestern verabschieden.“ Sie folgte ihm in den Hof zurück, wo ihre Schwestern den Tisch abgeräumt und das Geschirr zusammengestellt hatten. Abba saß noch immer an seinem Platz am Kopfende des Tisches und nippte an den letzten Schlucken Wein. Er blickte auf, als sie gemeinsam näher kamen, ein hoffnungsvolles Lächeln im Gesicht.

„Schallum, mein Freund, ich danke dir für einen höchst erquicklichen Abend“, sagte Malkija. „Beim nächsten Mal müsst ihr alle zu mir nach Bet-Kerem kommen und mit mir und meinen Söhnen essen. Dann zeige ich euch meine Weinberge und die Kellerei.“

„Deine Weinberge?“, fragte Chana. „Was ist mit der Dürre? Hat sie deine Ernte nicht beeinträchtigt?“

„Natürlich. Alle spüren die Auswirkungen. Wir müssen weiter für Regen beten.“

„Wir kommen gerne“, sagte Abba und erhob sich von seinem Platz, um Malkija auf die Schulter zu klopfen. „Danke, mein Freund.“

„Hervorragend. Ich werde mit meinen Dienern sprechen, damit sie alles vorbereiten, und dann schicke ich euch genauere Informationen.“

Als er gegangen war, drehten alle sich zu Chana um, neugierig, wie sie auf den Abend und ihren Gast reagieren würde. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, weil sie keine falschen Hoffnungen wecken wollte – insbesondere nicht bei sich selbst. „Er ist sehr nett“, sagte sie schließlich. „Ich bin froh, dass wir ihn eingeladen haben. Und ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen.“

Sie lag im Bett und schlief schon halb, als Judith flüsterte: „Chana? Bist du noch wach?“

„Ja … was ist denn?“

„Ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, Malkija zu heiraten – schon gar nicht um meinetwillen. Es wäre nur … nur so schön, wenn du wieder du selbst wärest, weißt du? … Wenn du wieder glücklich wärest. Abba und Sarah und ich … Wir wollen nur, dass du so wirst wie früher …“

„Bevor Itzhak gestorben ist? Du kannst seinen Namen ruhig aussprechen, Judith.“ Sie dachte an das Gespräch mit Malkija und daran, dass manche Leute Angst hatten, verlorene Angehörige zu erwähnen, obwohl es für die Hinterbliebenen so wichtig war. Malkija verstand das nur zu gut. „Es tut mir leid, dass ich so traurig bin, Judith. Aber es wird mit jedem Tag besser. Heute bin ich glücklicher als gestern oder vorgestern. Und ich glaube, morgen werde ich noch ein bisschen glücklicher sein.“ Sie hoffte, dass es die Wahrheit war.

„Das ist gut. Ich bin froh … gute Nacht.“

„Gute Nacht, Judith.“

6

Die Zitadelle in Susa,
Mai

Beinahe ein Monat war vergangen, seit Nehemia sich von seinem Bruder verabschiedet hatte, aber die Last des Kummers, die er angesichts von Hananis Beschreibung des zerstörten Jerusalems empfand, lag weiterhin schwer auf ihm. An einem warmen Frühlingsmorgen, als der König nach Wein schickte, trug Nehemia ihn selbst zum Thronsaal hinauf, durch die vertraute Folge von Gängen und Kammern und Sicherheitstüren. König Artaxerxes saß auf seinem Thron, seine Königin neben sich, und widmete sich seinen Amtsgeschäften, indem er den Bitten einer endlos scheinenden Prozession von Höflingen lauschte. Während Nehemia den Wein des Königs einschenkte und ihm das Getränk reichte, dachte er an Jerusalem und bat Gott insgeheim, ihm zu zeigen, was er tun sollte.

„Bist du krank, Nehemia?“

Überrascht blickte er auf, aus seinen Gedanken gerissen. König Artaxerxes sprach mit ihm! Nehemias Herz schlug schneller. „Nein, Seine Majestät. Ich bin nicht krank.“ Noch nie war er in der Gegenwart des Königs traurig gewesen. Es verstieß gegen alle Regeln für Bedienstete, die eigenen Gefühle zu zeigen. Nehemia hatte sogar alle anderen ermahnt, dass sie ihre Gefühle für sich behalten und in der Gegenwart des Königs eine fröhliche Miene zeigen mussten, unabhängig davon, welche persönlichen Probleme sie hatten. Es war die Pflicht eines Dieners, positiv und ermutigend zu sein. Aber heute war Nehemias Herz so schwer gewesen, dass er die Fassade nicht hatte aufrechterhalten können.

„Warum ist deine Miene dann so traurig, wenn du nicht krank bist?“, fragte der König. Nehemias Herz hämmerte noch heftiger in seinem Brustkorb. Die Königin, die neben Artaxerxes saß, sah ebenfalls besorgt aus. Nehemia wusste von Esthers Geschichte, dass eine persische Königin sehr viel Einfluss haben konnte. Aber das Interesse des Königs war so überraschend, so unerwartet, dass er keine Worte fand.

„Das kann nur eine Traurigkeit des Herzens sein“, sagte Artaxerxes.

Nehemia nickte. Sollte er dem König erzählen, dass sein Bruder vor Kurzem nach Jerusalem zurückgekehrt war? Dass er ihn nie wiedersehen würde? Es wäre die Wahrheit. Aber was, wenn dies der von Gott geschenkte Augenblick war, um für Jerusalem einzutreten? Nehemia schickte ein kurzes, stilles Gebet gen Himmel. Oh Herr, gib deinem Diener heute Erfolg und sei mir gnädig im Angesicht dieses Mannes. Dann räusperte er sich, um den Kloß der Angst aus seiner Kehle zu vertreiben.

„Seine Majestät ist sehr scharfsinnig“, erwiderte er. „Es ist eine Traurigkeit des Herzens.“

„Sprich weiter …“

Nehemias Knie wurden weich. Könnte der König seine Niedergeschlagenheit als mangelnde Loyalität deuten? Immerhin war es ein unzufriedener Diener gewesen, der Artaxerxes’ Vater ermordet hatte. Nehemias Mund fühlte sich an, als hätte er Sand verschluckt, als er antwortete: „Möge der König ewig leben! Warum sollte meine Miene nicht traurig sein, wenn die Stadt, in der meine Väter begraben sind, in Trümmern liegt und ihre Tore vom Feuer zerstört wurden?“

Er achtete sorgfältig darauf, Jerusalem nicht zu nennen. Und er wusste nicht, woher die Idee mit den Gräbern seiner Vorfahren gekommen war, aber er wusste, dass die Perser großen Respekt vor den Grabstätten früherer Generationen hatten. Der König runzelte ein wenig die Stirn und sah Nehemia prüfend an, so als würde er ihn zum ersten Mal wirklich wahrnehmen – als einen Menschen und nicht nur als einen Diener, der im Hintergrund arbeitete. Nehemia versuchte, seine Gedanken zu lesen, aber es gelang ihm nicht. Er wartete mit weichen Knien und dachte an die Worte aus Salomos Sprüchen: Der Zorn eines Königs ist ein Bote des Todes.

Es war jetzt still im Thronsaal, die gemurmelten Unterhaltungen der Höflinge verstummten, als hätte jemand einen Gong erklingen lassen. Wie konnte ein bloßer Mundschenk es wagen, seine Gedanken oder Gefühle kundzutun? Nehemia konnte draußen vor den Palastfenstern Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes hören. Ihm war, als hinge er über einem Abgrund, während er auf König Artaxerxes’ Antwort wartete. Würde er in den Tod stürzen oder wieder an sicheres Land gezogen werden? Oh Herr, sei mir gnädig im Angesicht dieses Mannes, betete er wieder. Sein Schicksal lag nicht in den Händen dieses Königs, sondern in denen seines himmlischen Herrschers.

„Was willst du?“, fragte Artaxerxes schließlich.

Noch einmal betete Nehemia still und erwiderte: „Wenn es dem König gefällt und wenn Sein Diener Gnade in Seinen Augen gefunden hat, möge er mich in die judäische Stadt senden, in der meine Vorväter begraben sind, damit ich sie wiederaufbauen kann.“

Artaxerxes trank einen Schluck aus seinem goldenen Trinkhorn, bevor er antwortete. Nachdem er so viel Zeit in der Gegenwart des Herrschers verbracht und seine Reaktion auf Hunderte von Anträgen und Bitten gesehen hatte, glaubte Nehemia die Launen und Eigenarten des Königs gut zu kennen. Das Stirnrunzeln des Herrschers schien ihm kein Ausdruck des Zorns zu sein, sondern der Neugier. Trotzdem hielt Nehemia die Luft an.

„Wie lange wird deine Reise dauern und wann wirst du zurückkommen?“, fragte der König.

„Ihr meint … es gefällt dem König, mich zu senden?“, fragte Nehemia.

„Ja. Es gefällt mir. Du hast mir all die Jahre treu gedient und ich vertraue dir ganz und gar. Ich weiß, dass die Diener, die du aussuchen wirst, um dich zu ersetzen, mir ebenso gut dienen werden, bis du zurück bist.“

Nehemia atmete erleichtert aus. Es war ein Wunder! Der Allmächtige hatte sein Gebet erhört. Das unerwartete Lob des Königs machte Nehemia Mut und er überlegte schnell eine Dauer für seine Mission. Aber dann rasten seine Gedanken voraus zu den Gefahren, denen er begegnen würde, und zu den Vorkehrungen, die er treffen musste, damit diese Mission erfolgreich sein konnte. Judas Gegner könnten versuchen, ihn an einer sicheren Ankunft zu hindern. Und Hanani hatte erklärt, dass ihre Feinde schon einmal die Bauarbeiten in der Stadt sabotiert hatten. „Wenn es dem König gefällt“, sagte er, „darf ich dann Briefe an die Statthalter im Land jenseits des Flusses bekommen, damit sie mir Geleit geben, bis ich sicher in Juda bin?“

„Du darfst.“

Es schien ihm immer noch nicht genug. Nehemia erinnerte sich an die Geschichte Jerusalems und daran, dass die Nordseite der Stadt, wo der Tempel stand, feindlichen Angriffen schutzlos ausgeliefert war. Auf der Seite musste er eine befestigte Zitadelle errichten. Und er würde alle Tore Jerusalems wiederaufbauen müssen. „Darf ich auch einen Brief an Asaph, den Verwalter der königlichen Wälder, mitnehmen“, fügte er hinzu, „damit er mir Holz gibt, um daraus Balken für die Tore der Zitadelle in der Nähe des Tempels zu hauen und für die Stadtmauer und für das Haus, in dem ich wohnen werde?“

„Deine Bitten sind gewährt“, erwiderte Artaxerxes. „Ich habe außerdem beschlossen, dich für die Zeit, die du dort bist, zum Statthalter von Juda zu ernennen.“

Statthalter? Das war mehr, als Nehemia zu erbitten gewagt hätte. Er neigte den Kopf. „Danke, Majestät.“

„Ich werde einen Offizier und Kavallerie beauftragen, dich zu begleiten … und, Nehemia – viel Glück.“ Der König nickte seinem Verwaltungsbeamten zu, damit der sich um alles Weitere kümmerte. Nehemia folgte dem Mann aus dem Thronsaal, ganz schwindelig vor Freude und Staunen. Hatte Mose sich so gefühlt, als die Wasser des Roten Meeres sich wundersam vor ihm teilten? Die gnädige Hand des Allmächtigen hatte dies vollbracht! Er hatte Nehemias Gebete erhört.

* * *

In den folgenden Wochen arbeitete Nehemia ohne Unterlass und kümmerte sich um die nötigen Vorkehrungen für seine Reise: eine Karawane, um die Vorräte zu befördern, die er brauchte; die offiziellen Vollmachten mit dem Siegel des Königs; die Militäreskorte und schließlich die Einzelheiten der langen Reise mit den entsprechenden Haltepunkten auf dem Weg. Die Entfernung zwischen der persischen Hauptstadt und dem Gelobten Land betrug etwa eintausend Meilen. Wenn die Karawane etwa zwanzig Meilen am Tag zurücklegte, würde die Reise fünfundfünfzig Tage dauern. Nachdem er weitere acht Tage hinzugerechnet hatte, um am Sabbat zu ruhen, kam er auf dreiundsechzig Reisetage bis zu seinem Ziel, Jerusalem. Aber noch während er plante und vorbereitete, fragte sich Nehemia, was er wohl am Ziel seiner Reise vorfinden würde. Waren Teile der Mauer vielleicht noch zu retten oder musste er mit neuen Fundamenten beginnen? Wo sollte er die Steine und Werkzeuge und Arbeiter finden? Er wusste, dass er schnell bauen musste, bevor Judas Feinde die Gelegenheit hatten, seine Bemühungen zu sabotieren oder negative Berichte nach Susa zu schicken, um die Arbeiten aufzuhalten. Wenn der König einmal einen Erlass besiegelt hatte, konnte dieser natürlich nicht mehr rückgängig gemacht werden, aber er konnte einen zweiten Befehl erlassen, der die Wirkungen des ersten aufhob. So hatte es König Xerxes getan, um das Massaker am 13. Adar zu beenden. Oder was wäre, wenn ein neuer König an die Macht käme, bevor Nehemia die Möglichkeit hatte, Jerusalems Mauer zu vollenden? Die persischen Herrscher hatten eine lange, blutige Geschichte der Machtkämpfe und Intrigen.

Trotz all dieser Sorgen konnte Nehemia seine Freude kaum beherrschen. Der Allmächtige hatte Nehemias Gebete treu erhört und ihm viel mehr geschenkt, als er sich jemals hätte träumen lassen. Er sehnte sich danach, die gute Nachricht mit jemandem zu teilen, aber mit wem? Es gab niemanden. Außerdem war es sicher besser, wenn so wenige Personen wie möglich von seiner Mission wussten. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Nachricht vor ihm in Juda einträfe.

Als Nehemia eines Abends spät im Bett lag und vor Aufregung nicht schlafen konnte, kam ihm ein neuer Gedanke. Konnte er nach all den Jahren, nach einer Kindheit, die viel zu schnell und schmerzlich geendet hatte, vielleicht endlich einen Sinn darin sehen, dass er in jener längst vergangenen Nacht seine Eltern verloren hatte? War es möglich, dass der Allmächtige Nehemias Schmerz gebraucht hatte, um ihn zu dem Mann zu machen, der er geworden war – und dass der Kummer ihn genau für diesen Zweck vorbereitet hatte?

Zum ersten Mal konnte Nehemia an seine Eltern denken und sich mit ihrem Verlust aussöhnen.

7

Im Bezirk Bet-Kerem,
Juni

Die Sonne war noch nicht über den umliegenden Hügeln aufgegangen, als Nava mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern im Weizenfeld stand und ihre Ernte betrachtete. Die Stängel sahen trocken und dürr aus, die Körner klein, verglichen mit anderen Jahren. Nava erinnerte sich an Weizen, der so üppig gewachsen war, dass sie sich zwischen den dicken Stängeln hindurch kaum einen Weg hatte bahnen können, mit reifen Ähren, die unter ihrem Gewicht die Köpfe hängen ließen. Aber diese von der Dürre getroffene Ernte würde im Vergleich sehr klein ausfallen. Abba brach eine der reifen Ähren ab und kostete davon. Er kaute langsam und Nava konnte die Spannung nicht mehr aushalten. „Ist er gut, Abba? Können wir den Weizen ernten?“

Er nickte. „Er ist so weit.“ Aber der Ausdruck auf seinem wettergegerbten Gesicht verriet seine Sorge und Enttäuschung. Die ganze Familie war früh aufgestanden, um die Sommerhitze zu meiden, und alle warteten darauf, anfangen zu können. Sobald Abba das Getreide für reif erklärt hatte, begannen er und Navas Brüder, mit ihren Sicheln über das Feld zu gehen, die reifen Ähren zu schneiden und auf den Boden zu legen. Nava und ihre Mutter folgten ihnen und banden die Stängel mit Stroh zu Bündeln zusammen. Es war anstrengend für den Rücken, den ganzen Tag über gebückt auf dem Feld zu arbeiten, aber Nava hatte genug Übung damit, die Garben schnell zu binden, ohne sich die Hände an den rauen Stängeln zu zerkratzen. Sie war froh, dass Abba eine Ernte hatte, die sie einbringen konnten, auch wenn sie nicht üppig war. Vielleicht konnten er und Dans Vater genug Korn ernten, um den Mann, bei dem sie Schulden hatten, zu bezahlen. Und hoffentlich würde genug übrig bleiben, um ihre Familien in den kommenden Monaten zu ernähren – vielleicht sogar so viel, dass sie und Dan heiraten konnten.

Die brennende Sonne stieg schnell am wolkenlosen Himmel auf und es dauerte nicht lange, bis Navas Kleid und Gesicht vom Schweiß ganz feucht waren. Ihre Familie kam gut voran und die geernteten Garben trockneten in der Junisonne. Als sie aufblickte, entdeckte sie zwei Gestalten, die auf Eseln näher kamen. Einer von ihnen war der reiche Mann in dem schneeweißen Turban und dem Leinengewand mit den roten Säumen – der Mann mit der krummen Nase, der vor drei Monaten gekommen war. Der andere war sein Sohn, der am nächsten Tag erschienen war, um ihre Herde Ziegen mitzunehmen. Nava wurde bei dem Anblick der Männer ganz flau im Magen. Auch Abba hatte die beiden gesehen und einen Augenblick lang schien er ein wenig zu wanken. „Setzt euch und ruht euch etwas aus, während ich mit ihnen rede“, sagte er und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Nava sah zu, wie er über das Feld auf die Männer zuging, eine Garbe Weizen im Arm, damit sie die Ernte begutachten konnten.

Mit den anderen setzte Nava sich zum ersten Mal an diesem Morgen auf den stoppeligen Boden und trank einen Schluck aus dem Wasserkrug. Ihr Magen knurrte vor Hunger. Sie hatten kurz vor Tagesanbruch ein mageres Frühstück gegessen, aber es hatte nicht ausgereicht, um das Bauchgrimmen zu stillen. Ihre Mutter und ihre älteren Brüder hatten sicher auch Hunger.

Zuerst sah sie aus der Ferne zu, wie der Mann die Körner probierte und Abba auf den Teil des Feldes zeigte, den sie schon abgeerntet hatten. Würde es reichen, um die Schulden zu begleichen? Nava stand auf, weil sie das Warten nicht länger aushielt. „Ich sehe nach, ob sie vielleicht etwas zu trinken möchten oder Wasser für ihre Esel.“

Sie eilte übers Feld, um den Wasserkrug schnell am Brunnen zu füllen. Dann goss sie Wasser in den Trog für die Tiere. Sie bot den Fremden zu trinken an, aber sie lehnten beide ab. Der Sohn war nicht einmal abgestiegen und an Abbas Miene konnte sie sehen, dass das Gespräch nicht gut verlief. Er sah frustriert aus, seine Wangen waren gerötet und seine Stimme klang heiser. „Mehr konnten wir in dieser Dürre nicht erreichen“, sagte er.

„Ich weiß, mein Freund. Aber du musst verstehen, dass ich die Hypothek auf deinen Weinberg und deine Felder halte. Du hast Geld geliehen und sie als Sicherheit benutzt.“

„Und jetzt kann ich mit dieser Ernte die Schulden zurückzahlen.“

„Es tut mir sehr leid, aber deine Weizenernte reicht nicht, um deine Schulden zu begleichen, denn zwei Drittel der Ernte gehören mir ja schon. Das Darlehen war ein Vorschuss auf deine zukünftigen Erträge. Das Drittel, das dir gehört, wird einen Teil des zweiten Kredits zurückzahlen, den ich dir gegeben habe, als du Geld für Nahrungsmittel geliehen hast. Aber nicht den ganzen Kredit.“

„Ich habe Euch meine Herde Ziegen als Rückzahlung gegeben.“

„Ja, das ist wahr. Aber trotzdem ist die Schuld noch nicht ganz beglichen. Es tut mir leid.“

Navas Hand zitterte, als sie versuchte, mehr Wasser in den Trog zu füllen, und es spritzte auf ihre bloßen Füße. Es war nicht gerecht! Nach all ihrer schweren Arbeit reichte es diesem habgierigen Mann noch immer nicht? Sie hätte ihn am liebsten wütend angebrüllt.

„Bitte vergib mir, wenn ich dir das alles nicht richtig erklärt habe, als du mich um die Darlehen gebeten hast“, fuhr der Mann fort. „Und auch, als du dein Land verpfändet hast. Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt.“

„Ihr habt es erklärt, aber … aber ich hatte gehofft, mit dieser Ernte wären wir quitt und mein Weizenfeld würde wieder mir gehören.“

„Es tut mir leid, aber ich sehe schon jetzt, dass diese Ernte nicht reichen wird. Wenn deine Gerste genügend Ertrag gebracht hätte, dann wärest du jetzt der Begleichung deiner Schulden bei mir näher. Aber aus welchem Grund auch immer hat der Heilige es auch in diesem Jahr nicht regnen lassen.“

„Ihr sagt, nur ein Drittel dieses Weizens gehört mir?“

„Leider ja.“

„Aber ich werde mein Land nie zurückbekommen, wenn ich die Schulden nicht bezahlen kann. Und wenn ich Euch mein Drittel als Rückzahlung gebe, habe ich nichts zu essen. Dann muss ich mir noch mehr Geld von Euch leihen oder zusehen, wie meine Familie verhungert. Ich sehe schon, dass aus meinen Oliven und Trauben dieses Jahr auch nicht viel wird.“

„Ich verlange ja keine Rückzahlung, mein Freund. Schließlich weiß ich, dass die Dürre nicht deine Schuld ist und du so viel arbeitest, wie du kannst. Ich bin mehr als bereit, dein Darlehen zu verlängern, solange es nötig ist. Vielleicht ist die Ernte im nächsten Jahr besser.“

Abba fuhr sich mit den Fingern durch das verschwitzte Haar und schüttelte den Kopf. „Selbst wenn es regnet, wird dieser Schuldenkreislauf immer so weitergehen, wenn Ihr mir Jahr für Jahr zwei Drittel meiner Ernte nehmt. Es gibt keinen Ausweg. Ich werde mein Land nie zurückbekommen. Die Schulden werden immer höher, wenn ich nichts habe, womit ich Euch bezahlen kann.“ Er wehrte den Becher mit Wasser ab, den Nava ihm hinhielt, und sagte: „Jetzt nicht.“

Nava litt mit ihm, während er mit seinen Gefühlen kämpfte. Am liebsten hätte sie Krug und Becher hingestellt und sich an ihn geklammert, aber sie fürchtete, er könnte die Tränen vielleicht nicht zurückhalten, wenn sie das tat. „Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll“, sagte Abba. Lange standen sie auf der Straße, während die Sommersonne auf sie niederbrannte und die Esel mit dem Schwanz Fliegen verscheuchten.

„Hör zu, mein Freund“, sagte der Mann leise. „Es gibt noch einen anderen Weg aus dieser Zwickmühle, für die sich einige der anderen Bauern entschieden haben. Aber ich fürchte, es ist eine Entscheidung, die schmerzen wird.“

„Was könnte schmerzlicher sein, als mein Land zu verlieren oder meine Familie verhungern zu sehen?“

Der Mann atmete aus. „Ich würde dafür sorgen, dass deine Familie genug zu essen hat, ohne einen weiteren Kredit zu deinen Schulden hinzuzufügen … aber deine Tochter müsste für mich arbeiten und meine Leibeigene werden.“

Der Vorschlag war so unerwartet, so entsetzlich, dass Nava das panische Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Eine Leibeigene?

„Nein!“, rief Abba. „Nein! Niemals! Nehmt mich als Sklaven, aber nicht sie. Nein!“

„Wenn ich dich nähme, wer würde dann dieses Land bestellen und im nächsten Jahr die Ernte einbringen? Verstehst du nicht? Das Land gehört praktisch mir, bis die Hypothek bezahlt ist, also arbeitest du doch schon für mich.“

„Dann nehmt einen meiner Söhne. Nicht mein kleines Mädchen. Sie ist zu jung.“

„Und wie willst du ohne deine Söhne eine gute Ernte erreichen? Um eurer ganzen Familie willen müssen deine Söhne bleiben und dir bei der Landwirtschaft helfen. Deine Tochter wird gut versorgt sein, das verspreche ich dir. Sie wird eine von mehreren Dienerinnen sein, deren Familien in der gleichen Lage sind wie du und ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Eigentlich brauche ich keine weitere Dienerin mehr, aber ich mache dir das Angebot aus Freundlichkeit dir und deiner Familie gegenüber.“

Jetzt konnte Nava die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie liebte ihre Familie und wollte tun, was sie konnte, um den anderen zu helfen – aber von zu Hause fortgehen und für diesen Mann arbeiten? Seine leibeigene Bedienstete werden? Das war unvorstellbar! Und was war mit Dan, den sie heiraten wollte?

Abba legte einen Arm um Navas Schultern. „Was für eine Freundlichkeit ist das, wenn Ihr mein kleines Mädchen zu Eurer Sklavin macht?“, fragte er.

„Glaub mir, ich frage mich, wie ich Familien wie deiner in meinem Bezirk helfen kann. Ich habe mit den Priestern und anderen führenden Männern in Jerusalem gesprochen und sie haben mir versichert, dass diese Lösung in solchen Fällen in der Thora vorgeschrieben ist. Es ist nicht meine Idee. Es ist Gottes Gesetz.“

„Und wie lange würde Nava Eure Leibeigene sein müssen?“

„Die Dauer der Dienstzeit ist in der Thora mit sechs Jahren angegeben ...“

Sechs Jahre!

„Und nicht länger. Danach ist sie frei, selbst wenn du deine Schuld nicht abbezahlt hast.“

Nava schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Sechs Jahre als Sklavin dieses Mannes? Sechs Jahre, bis Dan und sie heiraten konnten? Das war ungefähr ein Drittel der Zeit, die sie bereits lebte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor.

„Und wenn ich dieser Abmachung zustimmen sollte, dann ist mein Land immer noch an Euch verpfändet?“, fragte Abba.

„Ja. Es sei denn, du beschließt, das Land zu verkaufen, um alle deine Schulden zu begleichen.“

„Tu es nicht, Abba“, sagte Nava, unfähig, länger zu schweigen. „Du darfst dein Land nicht verkaufen.“

„Wenn ich es täte, würden wir alle mit Sicherheit verhungern.“

Der reiche Mann hob die Hände und trat einige Schritte zurück. „Hör zu, ich verstehe, wie belastend das sein muss. Du musst dich nicht sofort entscheiden. Besprich es mit deiner Familie. Und rede mit einigen deiner Nachbarn, die vor der gleichen schweren Entscheidung stehen. Ich werde morgen wiederkommen.“ Er stieg auf seinen Esel und ritt mit seinem Sohn auf dem Weg zurück, den er gekommen war.

Abba sah ihm nicht nach. Er schleppte sich zum Feld zurück und nahm wortlos seine Sichel, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Nava merkte, dass er nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache war. Nur ein kleiner Teil der Ernte gehörte ihm? Es kam ihr so ungerecht vor.

„Was ist passiert? Was hat er gesagt?“, fragte Mama ihn.

Abba schüttelte nur den Kopf. „Wir reden später darüber.“

Den restlichen Vormittag über hatte Nava Zeit, über ihre Lage nachzudenken. Während der Schock langsam nachließ, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten, wenn sie daran dachte, dass sie sechs Jahre versklavt sein sollte. Aber was blieb ihrer Familie anderes übrig?

Gegen Mittag wurde die Sonne unerträglich und sie unterbrachen ihre Arbeit, um sich in den Schatten des Granatapfelbaumes zu setzen und eine kleine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Mit zögerlicher Stimme erklärte Abba allen, was der Mann zu ihm gesagt hatte. Mama vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Navas Brüder machten ihrer Wut mit lauten Protesten Luft. Abba wirkte am Boden zerstört.

„Ich finde, wir sollten das Angebot des Mannes annehmen“, sagte Nava und versuchte, tapfer zu klingen. „Sag ihm, wenn er morgen wiederkommt, dass ich für ihn arbeiten werde.“

„Nava, nein!“

„Ist schon gut, Abba. Ich will dir und Mama helfen. Und so kannst du dein Land behalten. Wir wollen doch nicht, dass dieser schreckliche, habgierige Mann es bekommt. Es gehört dir. Es hat schon unseren Vorfahren gehört.“

„Ich weiß, aber es muss einen anderen Weg geben.“

Nava wusste, dass es keinen gab. Am Nachmittag kehrten sie alle aufs Feld zurück und arbeiteten bis Sonnenuntergang. Dann ging Abba den Pfad zum Nachbargrundstück entlang, um mit Dans Vater zu sprechen. Er erlaubte Nava nicht, ihn zu begleiten. Der Abend schien nicht enden zu wollen, bis er schließlich zurückkehrte. Sie hörte, wie er das Tor öffnete und schloss, während Mama und sie die Matratzen ausrollten, um schlafen zu gehen. Nava hatte Angst, ihn zu fragen, was er und Dans Vater besprochen hatten, aber Mama tat es. „Was werden unsere Nachbarn tun? Was hast du entschieden?“

Abba schüttelte den Kopf. Nava sah, dass er schluckte und Mühe hatte, die Fassung zu bewahren, als er antwortete. „Wir haben keine Wahl“, sagte er heiser. „Wenn Nava bereit ist zu gehen ...“ Wieder schluckte er, während er sich ihr zuwandte. „Wenn du bereit bist, das für uns zu tun …“

Sie ging zu ihm und umarmte ihn fest. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es vor Kummer und Schmerz zerbersten. Die nächsten sechs Jahre würde sie eine Leibeigene sein. Irgendwie brachte sie die Worte heraus: „Natürlich bin ich dazu bereit, Abba.“ Er erwiderte ihre Umarmung, dann machte er sich von ihr los und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er in die Dunkelheit hinausfloh. Ihre Mutter saß mit bedecktem Gesicht da und schluchzte. Nava hockte sich neben sie und schlang die Arme um sie, während sie gemeinsam weinten.

Der Rest der Nacht war wie ein böser Traum. Dies war das letzte Mal, dass sie in diesem Haus, in diesem Bett schlafen würde. Das letzte Mal, dass sie am Morgen aufstehen und die Sonne über diesem wunderschönen hügeligen Land aufgehen sehen würde, auf dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Wie sollte sie es ertragen, Dan Lebewohl zu sagen? Von ihm getrennt zu sein? Würde man ihr in den kommenden Jahren erlauben, ihn oder ihre Familie zu besuchen?

Sie schlief nicht. Irgendwann hatte sie alle Tränen vergossen, ihre Augen brannten vom Weinen und ihr Kopf schmerzte. Als es im Zimmer schon langsam heller wurde, hörte sie ein leises, vertrautes Pfeifen vor ihrem Fenster.

Dan.

Sie kleidete sich schnell an und lief auf Zehenspitzen zu ihm hinaus. Sie hatten immer darauf geachtet, ihre Zuneigung zueinander nicht körperlich zu zeigen, bis sie verheiratet waren – doch Dan zog Nava plötzlich in seine Arme und hielt sie ganz fest. Sie genoss den Moment und das Gefühl seiner starken, schützenden Arme um sie. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. „Lass uns weglaufen“, flüsterte er. „Ich kann den Gedanken, dass du weggehst, nicht ertragen!“

So sehr Nava sich auch danach sehnte, mit ihm zusammen zu sein, sie wusste, dass sie nicht gemeinsam durchbrennen konnten. „Ich muss meiner Familie helfen, Dan. Abba wird sein Land verlieren, wenn ich es nicht tue. Und dann wird meine Familie verhungern.“

Seine Arme drückten sie noch etwas fester, doch dann löste er sich von ihr. „Nava, es gibt etwas, dass der reiche Mann dir und deinem Vater nicht erzählt hat. Ich bin gestern Abend nach Jerusalem gegangen und habe selbst mit den Priestern gesprochen ...“

„Das hättest du nicht tun sollen, Dan! Es ist zu gefährlich, nachts allein unterwegs zu sein!“

„Hör mir zu. Die Thora besagt, dass Malkija dich einem seiner Söhne zur Frau geben kann.“

dich

Dan zog sie wieder in seine Arme. „Ich werde auf dich warten. Und wenn ich dich nicht heiraten kann, werde ich gar nicht heiraten.“

„Dürfen wir einander während der Zeit denn wenigstens besuchen?“

„Die Priester sagen, dass es deinem Herrn überlassen bleibt. Du gehörst ihm. Er trifft die Entscheidungen.“ Dan umarmte sie zärtlich, dann beugte er sich herunter, um sie zum ersten Mal zu küssen. „Dieser Kuss besiegelt, dass du zu mir gehörst“, sagte er, als ihre Lippen sich voneinander lösten. Er hatte Tränen in den Augen und auf den Wangen. „Vergiss mich nicht, Nava.“

„Dan, warte ...“ Aber er wandte sich von ihr ab und sie sah zu, wie er über die Felder nach Hause rannte, als könnte er es nicht ertragen, noch einmal zurückzublicken. Nava sank auf den Boden und weinte leise, so unerträglich waren ihr Kummer und ihre Trauer. Als die Sterne verblassten und der Himmel im Osten heller wurde, hörte sie, wie ihre Familie sich im Haus regte. Nava stand auf und wischte ihre Augen trocken. Wenn ihre Eltern sie weinen sahen, würde es ihnen noch schwerer fallen, sie gehen zu lassen. Ihretwegen musste sie stark sein.

Das Frühstück brachte sie nicht hinunter, so schlecht war ihr vor Angst. Noch bevor ihre Familie mit den Sicheln aufs Feld zurückkehren konnte, erschien Malkijas Sohn. „Mein Vater will wissen, ob du eine Entscheidung getroffen hast“, sagte er. Wieder machte er sich nicht die Mühe abzusteigen. Er würde Nava mitnehmen, so wie er ihre Ziegen mitgenommen hatte.

„Meine Tochter hat eingewilligt, Eure Leibeigene zu werden“, sagte Abba mit heiserer Stimme. „Aber wenn ich eine Wahl hätte ...“ Er fing an zu weinen und konnte den Satz nicht beenden. Nava hatte ihren Vater noch nie weinen sehen. Sie ging zu ihm und umarmte ihn.

„Es ist gut, Abba. Alles wird gut.“ Sie umarmte auch ihre Mutter, dann nahm sie den Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten. Ihre Sandalen waren wieder auseinandergefallen, deshalb würde sie barfuß gehen müssen, bis sie repariert waren. Als sie zu Malkijas Sohn aufblickte, um ihm zu sagen, dass sie bereit war, sah sie, wie er sie von Kopf bis Fuß musterte. In diesem Moment musste sie wieder daran denken, was Dan gesagt hatte. Vor Angst drehte sich ihr der Magen um. Ihre neuen Herren hatten das Recht, sie zur Frau zu nehmen. Sie hob das Kinn, weil sie ihre Familie nicht ihre Angst sehen lassen wollte. Dann folgte sie dem Esel, als dieser den Weg einschlug, auf dem er gekommen war. Sie war noch nie von ihrer Familie getrennt gewesen, keine einzige Nacht, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, ohne sie zu leben. Und ohne Dan.

Warum half der Allmächtige ihnen nicht? Warum erhörte er ihre Gebete um Regen nicht? Sie waren doch sein Volk und dies war sein Land. Abba hatte Babylon verlassen, damit sie alle hier leben und Gott in Jerusalem dienen konnten. Warum ließ er sie jetzt so leiden?

Der Sommertag brach schon in den frühen Morgenstunden viel zu heiß an. Die Lehmstraße war warm unter Navas nackten Füßen, als sie dem dahintrottenden Esel folgte. Sie wagte nicht, sich umzusehen.