Über das Buch:
Eigentlich hatte sich Darcy St. James geschworen, mit den Undercover-Recherchen aufzuhören. Doch um ihrer Journalisten-Kollegin Abby zu helfen, lässt sie sich auf einen letzten Fall ein. Dieser führt sie an Bord eines Kreuzfahrtschiffes. Als sie dort eintrifft, ist ihre Freundin Abby jedoch spurlos verschwunden.
Dafür begegnet Darcy erneut dem streitlustigen Gage McKenna und seinen Geschwistern. Und ehe sie sichs versieht, steckt Darcy mittendrin – in einer unglaublichen Story, die für sie und Abby lebensgefährlich wird, und in einem Wirrwarr von Gefühlen. Denn obwohl die Funken sprühen, scheint es, als könnte es für Darcy und Gage keine gemeinsame Zukunft geben …

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

Kapitle 7

Er blickte auf sein Handy und die Nummer, die auf dem Display aufleuchtete. Es war das Satellitentelefon, das er für seinen wichtigsten Mann an Bord der Bering besorgt hatte. Bis gestern war das Jeremy gewesen.

„Und was jetzt? Sag nicht, dass ich es bereuen werde, dich befördert zu haben.“

„Nein, ich …“

„Du willst nicht meine Zeit verschwenden.“

Der Anrufer räusperte sich. „Natürlich nicht. Ich wollte dich nur über eine neue Entwicklung informieren.“

„Was für eine Entwicklung?“ Er hasste das Wort. Es bedeutete nur, dass wieder einmal jemand Mist gebaut hatte.

„Es gibt eine Reporterin an Bord.“

„Noch eine?“

„Nein. Nicht so eine. Sie ist Sportjournalistin. Irgendjemand in der Chefetage hat sie angeheuert, um Werbung für das Schiff zu machen. Alle machen ein großes Getue um die neuen Abenteuerangebote.“

„Okay …“ Er zog das Wort in die Länge und fragte sich, was das Problem war.

„Ich dachte nur, du solltest es wissen, weil sie bei den Exkursionen dabei sein wird.“

„Ich verstehe.“

„Ändert das etwas?“

Machte er Witze? „Was meinst du?“

„Ich … ich wollte mich nur vergewissern.“

Er wollte sichergehen, dass ihm nicht der Kopf weggepustet wurde, so wie Jeremy. „Ist alles klar?“

„Ja, aber …“

Seine Ungeduld flackerte auf. Er war ganz und gar nicht der Typ, der Händchen hielt. Vielleicht hatte er den falschen Mann ausgesucht. „Aber …?“

„Sie ist nun mal Reporterin. Was ist, wenn sie etwas mitkriegt?“

Eine harmlose Sportjournalistin, also bitte! „Dann beseitigen wir sie wie die andere.“

* * *

Nachdem sie in ihre Kabine zurückgekehrt war und sich ein paar Notizen gemacht hatte, fiel Darcy ein, dass sie Gage gar nicht danach gefragt hatte, was Mullins bei ihrem Treffen gesagt hatte. Sie hatte überlegt, sich ein wenig hinzulegen, aber wenn sie über die Exkursionen berichten sollte, dann sollte sie wenigstens eine Ahnung haben, was geplant war. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, erneuerte ihr Make-up und ging zu Gages Kabine zurück. Doch er war nicht mehr da.

Fantastisch.

Landon hatte etwas davon gesagt, dass Gage für die Vorbereitung der Exkursionen an Bord zuständig war. Vielleicht war er auf Ebene 9, wo die meisten Veranstaltungen stattzufinden schienen. Da sie keine Lust hatte, so bald wieder einen Aufzug zu betreten, nahm sie die Treppe und kam auf Ebene 9 am Ende des Ganges heraus.

Der Teppich – in dem gleichen Kobaltblau gehalten wie im restlichen Schiff, zweifellos ausgewählt, um die kalten, blaugrünen Gewässer Alaskas zu imitieren – war sehr weich unter ihren Füßen. Der Flur war erst vor Kurzem mit dem neuen Teppich versehen worden. Megan Nash, die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, die Darcy den Auftrag als Journalistin gegeben hatte, hatte erzählt, dass das fünf Jahre alte Schiff renoviert worden war.

Als sie die große Halle betrat, wanderte ihr Blick zu dem riesigen Modell eines Buckelwals hinauf, der drei Stockwerke über ihr von der Decke hing. Er schien förmlich durch die in Meeresfarben gehaltene und mit Mosaiken versehene Kuppel zu schweben.

Der Lärmpegel in dieser riesigen Halle, in der sich die Passagiere tummelten, war ohrenbetäubend – Eltern zeigten ihren begeisterten Kindern die zwei Stockwerke hohen säulenförmigen Aquarien, Paare standen Arm in Arm mit exotischen Cocktails in der Hand.

„Hi, Darcy“, sagte Ted, der ihr im Vorbeigehen winkte.

„Hallo, Ted. Haben Sie Gage gesehen?“

„Ja, er ist an der Kletterwand“, rief er über die Schulter zurück, ohne langsamer zu gehen.

„Okay. Wo ist die?“

Ted blieb stehen und drehte sich lächelnd um. „Hat Mullins Ihnen nicht das rote Paket gegeben?“

Rotes Paket? „Sie meinen diese Mappe?“

Er lachte. „Sie würde einen Anfall kriegen, wenn sie hören könnte, dass Sie das Teil so nennen.“

„Oh. Tut mir leid.“

„Bei mir brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Ich finde, es ist ziemlich affig, darauf zu bestehen, dass wir es als Orientierungsglossar bezeichnen.“

„Ja, das war …“

„Lächerlich.“

Sie lachten beide.

„Aber“, sagte Ted, „die Mappe enthält eine genaue Karte von dem Schiff, die Sie sicher hilfreich finden werden.“

Sie lächelte. „Dann sehe ich sie mir wohl besser an.“

„Bis dahin: Die Kletterwand ist im Sportzentrum, in diese Richtung.“ Er zeigte durch die Halle zum südlichen Korridor.

„Super. Danke.“

„Kein Problem. Wir sehen uns morgen früh.“

„Alles klar.“ Sie hatte immer noch keine Ahnung, was genau morgen geschehen sollte. Irgendeine Exkursion. Aber nachdem sie gehört hatte, dass Abby nicht mehr da war, hatte sie nicht mehr viel mitbekommen – weil ihre Gedanken sich überschlagen hatten, während sie fieberhaft versucht hatte, sich an jede Kleinigkeit zu erinnern, die Abby ihr vor ihrer Ankunft auf dem Schiff erzählt hatte und die ihr vielleicht helfen könnte, ihre Freundin zu finden.

Der Korridor führte nach rechts. Darcy folgte ihm, bis er in einem riesigen Raum endete. Die Decke wölbte sich drei Stockwerke hoch über ihr, so wie es auch in der Haupthalle der Fall war, aber im Augenblick war es hier viel ruhiger. Verschiedene Stationen mit Aktivitäten waren in dem Bereich verteilt.

Die Kletterwand, die ebenfalls über fast drei Stockwerke reichte, befand sich im hinteren Teil des Raumes. Sie ging darauf zu und sah, wie Gage einen Arm ausstreckte und nach dem nächsten Halt griff. Ein Boxsack versperrte ihr die Sicht, deshalb trat sie ein wenig zur Seite. Dann stockte ihr der Atem. Gage kletterte ungesichert und mit unglaublicher Geschwindigkeit auf der Wand nach oben – obwohl das Wort gleiten seine flüssigen Bewegungen eigentlich besser beschrieb. Sie sah hinauf zu der Stelle, die er im Blick hatte, und entdeckte ein Kind – einen Jungen, der höchstens zehn Jahre alt war und sich ängstlich am oberen Rand der Kletterwand festkrallte.

„Ganz ruhig, Isaac. Gage kommt“, rief eine blonde Frau in den Dreißigern, die einen pinkfarbenen Jogginganzug trug.

Isaac jammerte, als er die Stimme seiner Mutter hörte, und die Knöchel seiner Hände waren ganz weiß, so krampfhaft hielt er sich an den Gummigriffen fest, die Felsvorsprünge imitieren sollten.

Darcy blieb am Fuß der Wand stehen, als Gage den Jungen erreichte und eine Hand auf Isaacs Rücken legte. „Alles in Ordnung, Sportsfreund. Ich bin hier. Beim ersten Mal ist es immer ein bisschen aufregend, wenn man loslassen soll.“

Sie hatte es damals befreiend gefunden, aber sie war eine junge Erwachsene gewesen. Für einen Zehnjährigen musste eine Entfernung von mehr als zehn Metern zwischen ihm und dem Boden ziemlich furchterregend sein.

„Er hält alle auf“, murrte ein Junge im Teenageralter – eindeutig der genervte ältere Bruder.

„Marcus Sterling, ich will kein Wort mehr hören.“

Marcus überlegte offenbar, ob er weitermeckern sollte, bis seine Mutter einen manikürten Finger hob, dessen pinkfarbener Nagellack perfekt zu ihrem Jogginganzug passte.

„Kein Wort“, zischte sie.

Marcus trat mit der Spitze seines Kletterschuhs gegen die Matten, die auf dem Boden lagen, schwieg aber.

Darcy wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Gage zu, der sich jetzt neben Isaac befand. „Wir schaffen das, Kumpel. Eine Hand nach der anderen.“

Isaac schüttelte den Kopf.

„Isaac, sieh mich an.“

Der Junge zögerte einen Augenblick, gehorchte dann aber.

„Du schaffst das. Ich glaube an dich.“

Glaube. Eine merkwürdige Wortwahl für Gage.

„Mach einfach genau das, was ich auch mache. Ich zeige dir den Weg. Du musst mir nur folgen.“

Isaac schniefte und nickte, dann folgte er Gage langsam die Kletterwand hinunter.

Gage sprang auf die Matte und half Isaac, den Klettergurt zu lösen. „Das hast du super gemacht.“

Isaac grinste erleichtert, während seine Mutter herbeigeeilt kam und ihn in den Arm nahm.

Darcy hob lächelnd das Kinn und Gages graue Augen erwiderten ihren Blick.

„Fünf Minuten Trink- und Toilettenpause. Ben, du bist als Nächster dran.“

Ben – ein schlaksiger Teenager – grinste breit.

Gage holte seine Wasserflasche und ging mit Darcy etwas zur Seite. Er trug ein ärmelloses, dunkelblaues T-Shirt und khakifarbene Cargoshorts voller Kreidestaub. Er sah gut aus – dynamisch, männlich, fit.

„Was gibt’s?“

„Ich habe vergessen, dich zu fragen, ob du mir erzählen kannst, was Theodora Mullins bei unserem Treffen gesagt hat.“

Er trank einen Schluck Wasser. „Klar. Welchen Teil?“

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Alles.“

„Du hast nicht zugehört?“

„Abby und der Fall haben mich abgelenkt.“

„Klar.“ Er nahm noch einen Schluck.

Sie runzelte die Stirn, als sie die Schärfe in seiner Stimme hörte. „Ich glaube, es würde dich auch ablenken, wenn dein Freund vermisst würde.“

Gage schraubte den Deckel auf seine Flasche. „Stimmt.“ Er blickte zu seiner Klettergruppe hinüber, die auf ihn wartete. „Aber ich habe jetzt keine Zeit.“

„Ist gut. Anschließend?“

„Nach dieser habe ich noch zwei Gruppen und dann treffe ich mich mit den Passagieren, die morgen die Exkursion mitmachen, um sie vorzubereiten. Du solltest dabei sein. Wir treffen uns um fünf Uhr, wieder im Karibu-Raum.“

„Ist gut. Ich werde kommen.“

Er zwinkerte. „Bis dann.“

Kapitel 8

„Haben Sie Gage gefunden?“, fragte Ted, als Darcy wieder die Haupthalle durchquerte.

„Ja. Alles gut.“

„Mullins meinte, Sie sollten eine Führung durch das Schiff bekommen, und da ich gerade nichts vorhabe … habe ich mich freiwillig gemeldet.“

„Das ist wirklich nett von Ihnen, aber ich will Ihnen nicht Ihre kostbare Freizeit rauben.“

Er lächelte. „Ich bestehe darauf.“

„Also gut.“ Es würde gut sein, von einem Insider über die inneren Abläufe auf dem Schiff informiert zu werden.

Ted fing mit den wichtigsten Gästebereichen an, allesamt gedrängt voll mit Passagieren – Hunderte von Menschen. Man konnte fast klaustrophobische Anwandlungen bekommen. „Das Restaurant dort“ – er zeigte auf das Steakhaus – „hat das beste Essen an Bord.“

„Danke, das werde ich mir merken.“ Darcy schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Er lächelte und blickte auf sie hinunter. „Also … Gage und du – ich darf doch du sagen, oder? – seid ihr zusammen?“

Sie lachte. „Du meinst Gage und mich? Ich kenne ihn ja kaum.“

Ted zog die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Es sah so aus, als würdet ihr beide euch …“

„Auf die Nerven gehen?“

Er lachte. „Ich wollte ‚gut verstehen‘ sagen.“

Genau, was sie befürchtet hatte – es war ihr nicht gelungen, den Eindruck zu erwecken, dass sie nur flüchtige Bekannte waren.

„Nein, ich habe nur über ein Sportevent in seinem Heimatort berichtet.“

„Du musst aber einen ziemlichen Eindruck hinterlassen haben, denn er hat dich während des Treffens die ganze Zeit angestarrt.“

Wenn er das doch nur täte, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte, anstatt aus Missbilligung. „Wir sind beide ziemlich eigensinnig, deshalb geraten wir ab und zu aneinander.“

„Eigensinnig.“ Er grinste. „Das werde ich mir merken.“

Sie lächelte. Ted flirtete mit ihr und wenn sie wegen Abby nicht so besorgt und abgelenkt wäre …

Ted war genau der Typ Mann, für den sie sich interessieren könnte – groß gewachsen, sportlich, gut aussehend, freundlich, interessant. Aber sich selbst brauchte sie doch nichts vorzumachen. Sie war bis über beide Ohren in Gage verliebt.

„Sag mal, Ted, kanntest du eigentlich Abby?“ Jetzt, wo sie und Ted eine freundschaftliche Ebene gefunden hatten, war es an der Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen.

„Die Exkursionsköchin?“

Sie nickte.

„Ja.“ Er trank einen Schluck von dem Kaffee, den sie auf ihrer Runde in einer Espressobar auf Deck 7 erstanden hatten.

„Komisch, dass sie einfach so abgehauen ist.“

„Nein. Das kommt öfter vor.“

Sie verschluckte sich fast an ihrem Milchkaffee. „Echt?“

„Klar.“ Ted zuckte mit den Schultern und winkte einer Gruppe Besatzungsmitglieder zu. Sie waren leicht zu erkennen an ihren Hosen und unterschiedlich langen Röcken in leuchtendem Weiß und den marineblauen Jacken, auf deren rechter Seite das Emblem der Destiny Cruise Line prangte, ein goldener Wassermann mit Dreizack.

Ted leerte seinen Kaffee und warf den Pappbecher in den Müll. „Die Leute denken, es wäre aufregend, auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten. Sie haben eine romantische Vorstellung davon, durch die ganze Welt zu reisen, aber wenn sie hier sind, stellen sie fest, dass der Job nicht hält, was er verspricht.“

„Nein?“

„Man muss arbeiten, so wie überall. Lange Schichten. Man sieht seine Familie nicht oft.“ Er hielt ihr die Tür zum Wellnessbereich auf.

„Klingt so, als wärest du nicht begeistert.“

„Ich? Nein, ich finde es klasse.“

Ein frischer, fruchtiger Duft aus Kokos, Mango und Ananas lag in der Luft.

„Aber du hast doch gerade gesagt …“

„Dass manche Leute ein großes Abenteuer erwarten. Das ist es in gewisser Weise ja auch, aber nicht jeder ist für das Leben auf See geboren.“

„Und du schon?“, fragte sie, als sie an den Empfangstresen traten.

„Auf jeden Fall. Ich reise gerne und es gefällt mir, auf jeder Kreuzfahrt neue Leute kennenzulernen.“ Er begrüßte das Mädchen hinter dem Tresen mit einem Lächeln. „Ich führe die Haus-und-Hof-Journalistin herum“, sagte er, als die Frau Darcy musterte.

„Viel Spaß“, sagte sie und nickte kurz.

„Danke.“ Darcy erwiderte das Nicken.

Ted führte sie den hinteren Gang hinunter. Beruhigende Musik drang aus den Lautsprechern. „Mir machen die Arbeitszeiten und das viele Unterwegssein nichts aus“, fuhr er fort, „aber ich war schon immer ein unabhängiger Typ.“ Er zeigte ihr den Yoga-Raum, an dem sie vorbeikamen. „Und ich habe auch nicht viel Familie. Niemand, der mir wirklich nahesteht. Ich habe eine Schwester, aber sie ist mit ihrer Arbeit und ihren Kindern beschäftigt. Wir sehen uns an den Feiertagen und das reicht.“

Ihrem eigenen Leben gar nicht so unähnlich. Da ihre Eltern im Ruhestand waren und durch die Weltgeschichte reisten und ihr Bruder Peter vor drei Jahren gestorben war, gab es nicht viele Angehörige, mit denen Darcy Zeit verbringen konnte. Meistens machte ihr das nichts aus – oder jedenfalls hatte sie das gedacht, bis sie einen Teil des Winters mit den McKennas verbracht hatte.

Täglich Teil einer Familie zu sein, die fest zusammenhielt, war wirklich schön gewesen. Sie hatte sich so schnell daran gewöhnt, dass es am Ende noch schwerer gewesen war zu gehen. Die Vorstellung, einige der McKenna-Geschwister morgen bei der Exkursion zu sehen, munterte ihr niedergeschlagenes Herz ein wenig auf und sie dankte Gott im Stillen für diese Freunde.

„Du wirst feststellen, dass das hier ziemlich üblich ist“, sagte Ted und öffnete die nächste Tür.

„Was ist üblich?“

„Ein Mangel an Familie.“ Er führte sie in das Dampfbad. Ein großes, flaches Becken nahm die Mitte des Raumes ein und die Glasfenster waren beschlagen. Zwei Personen saßen in dem kristallklaren Wasser, ihre Gesichter verschwitzt und zufrieden.

Ted und sie zogen sich leise zurück, um die beiden ihrer Zweisamkeit zu überlassen.

„Das verstehe ich nicht“, sagte sie, als sie wieder auf dem Gang waren.

„Du bist eine gute Reporterin. Immer wissbegierig.“

„Ich bin einfach neugierig.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Also … neugierig und eigensinnig?“ Er lachte leise.

Sie lächelte. „Neugier ist eine gute Methode, Menschen kennenzulernen.“

„Das stimmt wohl.“

„Also … du sagtest etwas über den Mangel an Familie.“

„Genau. Die meisten Leute halten es nicht aus, so lange von ihren Lieben getrennt zu sein, deshalb beschäftigt die Kreuzfahrtgesellschaft meistens Menschen, die dringend Geld brauchen und nur hier sind, bis sie etwas Besseres an Land finden; oder sie nehmen solche, denen ihre Angehörigen egal sind und die vor ihnen fliehen wollen, oder diejenigen, die gar keine Angehörigen haben.“

„Keine Angehörigen? Wie traurig.“

„Hängt von der Person und den Angehörigen ab, würde ich sagen.“

„Du glaubst also, das ist der Grund, warum Abby so plötzlich gegangen ist? Weil sie beschlossen hat, dass Kreuzfahrten nichts für sie sind?“, fragte Darcy, obwohl sie es besser wusste.

„Wer weiß schon, warum sie gegangen ist? Und ehrlich gesagt … ich will ja nicht unsensibel sein, aber wen interessiert es schon?“

Sie blieb stehen. „Es interessiert niemand, dass sie plötzlich nicht mehr da ist?“

„Wie gesagt, ich wollte nicht unsensibel sein, aber …“

Als sie um die nächste Ecke bogen, stießen sie beinahe mit Clint zusammen. „Hast du mal wieder deine Manieren vergessen, Ted?“, fragte er mit einem entschuldigenden Blick in Richtung Darcy. „Sie müssen Ted verzeihen. Er redet oft, ohne vorher nachzudenken.“

Warum schien es keinen Menschen zu interessieren, dass Abby angeblich alles hatte stehen und liegen lassen? Und warum in aller Welt fand niemand das ungewöhnlich?

* * *

Als Darcy in ihre Kabine zurückkehrte, war sie frustriert. Sie hatte den ganzen Tag über mit Besatzungsmitgliedern gesprochen und unter dem Vorwand, mehr über den neuen Abenteuer-Schwerpunkt der Bering zu erfahren, nach Antworten geforscht, aber überall war sie auf dieselbe Gleichgültigkeit gestoßen, was das Verschwinden ihrer Freundin betraf. Auch wenn Ted und Clint sich als gesprächig erwiesen hatten, schien keiner sich irgendwelche Sorgen über Abbys plötzliche Abreise zu machen.

Wann immer sie von den Abenteuerexkursionen auf Abbys Verschwinden zu sprechen kam, zuckten die Besatzungsmitglieder nur mit den Schultern und sahen kein Problem darin. Das Einzige, was ihr diese Gespräche gebracht hatten, waren Verärgerung und Gleichgültigkeit – aber keine Fährten. Und zu allem Überfluss hatte sie die Zeit aus dem Blick verloren und Gages Exkursionstreffen verpasst. Jetzt würde er von ihr noch mehr enttäuscht und genervt sein.

Sie zog den dunkelblauen Bering-Pullover aus, den Theodora Mullins ihr bei ihrer Ankunft gegeben hatte, ersetzte ihn durch ihren eigenen, kobaltblau und schwarz gestreiften Pulli. Er war weich und bequem und erinnerte sie an zu Hause. Auch die weiße Stoffhose, die sie getragen hatte, zog sie aus und schlüpfte stattdessen in ihre ausgeblichene Lieblingsjeans. Wenn alles um sie herum sich so ungewohnt anfühlte, konnte sie wenigstens in ihrer Freizeit bequeme Sachen tragen.

Sie fuhr sich mit einer Bürste durch die Haare, frischte ihr Make-up auf und ging zum Schrank, um den Lipgloss aus ihrer Handtasche zu holen. Als sie die Schranktür öffnete, erstarrte sie. Wo sie ihre Tasche neben die von Abby gehängt hatte, hing jetzt nur noch ihre eigene. Ihr Blick wanderte zu Boden, um zu sehen, ob die Tasche heruntergefallen war, aber sie war nicht zu sehen – nur ihre eigenen, ordentlich aufgereihten Schuhe.

Um sich zu vergewissern, dass die Tasche sich nicht in irgendwelchen Kleidungsstücken verfangen hatte, schob sie die Kleiderbügel einen nach dem anderen zur Seite, aber auch hier fand sie nichts. Allmählich stieg Panik in ihr auf. Sie riss ihre eigene Handtasche vom Haken und kramte darin. Alles schien an Ort und Stelle zu sein, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Sie legte ihre Tasche aufs Bett und fing an, das Zimmer zu durchsuchen. Alles war dort, wo sie es hingetan hatte – nur Abbys Handtasche fehlte.

Darcy holte tief Luft und sah sich in der Kabine um. Das Bett war ordentlich gemacht, frische Handtücher hingen über der Stange im Bad – das Personal war hier gewesen. Hatte jemand von der Putzkolonne Abbys Tasche genommen? Aber warum hing ihre eigene dann noch da? Wer sonst hatte Zugang zu ihrer Kabine?

Die Frage war, wie sie weiter vorgehen sollte, ohne noch mehr Aufmerksamkeit auf sich und ihr Interesse an Abby zu lenken. Wie sollte sie erklären, dass sie Abbys Tasche überhaupt an sich genommen hatte? Und vor allem: Hatte sie etwas Wichtiges übersehen, als sie die Tasche durchsucht hatte?

Kapitel 9

Nervös strich Darcy sich zum dritten Mal, seit sie ihre Kabine verlassen hatte, um Gage zu suchen, über die Haare. Wer hatte Abbys Handtasche genommen und warum? Wie würde Gage darauf reagieren, dass sie nicht zu seiner Besprechung erschienen war? Sie hatte Nachforschungen angestellt – das musste er doch verstehen. Aber andererseits hatte sie es mit Gage zu tun …

Sie seufzte. Wie entscheidend konnten die Informationen schon sein? Er konnte sie leicht auf den aktuellen Stand bringen. Wichtiger war die Frage: Wie konnte sie eine Exkursion voller Spaß und Sport mitmachen, wenn Abby noch immer vermisst wurde?

Darcy biss sich auf die Unterlippe und stieg die Treppe zu Gages Etage hinauf, während das Herz in ihrer Brust flatterte. Wenn sie nicht an der Exkursion teilnahm, würde sie ihren Auftrag verlieren und das half Abby nicht. Sie hatte keine Wahl. Sie musste mitgehen.

Sie verließ das Treppenhaus, lief den Gang hinunter und blieb vor seiner Kabinentür stehen, wo sie sich zwang, ein paarmal tief Luft zu holen, bevor sie klopfte.

Er öffnete in einem langärmeligen T-Shirt und einer bequem aussehenden dunkelblauen Trainingshose. „Hab dich bei dem Treffen vermisst.“

„Ich habe Nachforschungen angestellt.“

Er nickte, sagte aber nichts.

„Kannst du mir erzählen, was ich verpasst habe?“

Er trat einen Schritt zurück. „Komm rein.“

Seine Kabine war ähnlich groß wie ihre und die Wände waren in dem gleichen fröhlichen Gelb gestrichen und am oberen Rand mit weißen Muscheln verziert. Er hatte ebenso ein Doppelbett, die Einbaukommode und den kleinen Schreibtisch, aber dazu gab es eine kuriose Sitzecke mit einem niedrigen runden Tisch zwischen zwei eiförmigen Sesseln. Sie setzte sich auf den, auf dem sie beim letzten Mal auch gesessen hatte.

„Also, was passiert morgen?“

Gage ließ sich auf dem anderen Sessel nieder und sah sie prüfend an. „Ist irgendetwas? Du wirkst nervöser als sonst.“

Fantastisch. Er durchschaute sie noch immer. Merkte er auch, dass es sie ganz kribbelig machte, nur in seiner Nähe zu sein? Ihre Freundin war verschwunden, sie kam mit ihren Ermittlungen nicht weiter und trotzdem schaffte sie es, sich Hals über Kopf in einen Mann zu verlieben, der sie im besten Fall auf charmante Weise duldete. Bin ich verrückt? Der Mann hasste ihren Beruf und wollte nichts mit Gott zu tun haben. Und abgesehen von einem gelegentlichen melancholischen Lächeln konnte sie nicht einmal sicher sein, dass er sie mochte. Reiß dich zusammen, Darcy.

Gage beugte sich vor und berührte ihr Knie mit einer Hand. „Was ist los?“

Sie holte tief Luft, weil sie fürchtete, alles würde aus ihr heraussprudeln, wenn sie zu schnell antwortete – ihre Angst, den Fall nicht zu lösen, ihre Freundin nicht zu finden, und ihre größte Angst, dass Abby vielleicht schon …

Sie schüttelte den Gedanken ab. Nein, das würde sie nicht akzeptieren. Abby war am Leben. Sie musste einfach.

„Du machst mich allmählich nervös.“ Er drückte ihr Knie. „Ist etwas passiert?“

„Ja … nein … ich meine, es war nichts, glaube ich.“

„Du glaubst …?“

Seine Hand ruhte noch immer auf ihrem Knie und sie bemühte sich zu ignorieren, wie gut seine Berührung sich anfühlte. Wenn man die Umstände bedachte, war seine Berührung das Letzte, woran sie denken sollte. „Abbys Handtasche ist aus meiner Kabine verschwunden.“

„Du meinst, jemand ist in dein Zimmer eingebrochen und hat sie gestohlen?“

„Es sieht so aus.“

„Hast du das gemeldet?“

„Das kann ich nicht.“

„Aber jemand ist in deine Kabine eingebrochen und hat etwas gestohlen.“

„Ja. Eine Handtasche, dir mir überhaupt nicht gehört. Wie soll ich das denn erklären? Ich habe die Tasche aus Abbys Kabine mitgenommen, aber jetzt melde ich, dass jemand sie aus meiner genommen hat?“

„Ja, aber du hattest einen Grund. Du wolltest helfen.“

„Aber das kann ich ihnen nicht sagen.“

„Klar.“ Er lehnte sich zurück und nahm die Hand von ihrem Knie – und die Wärme seiner Berührung verflog. „Deine Tarnung.“

Jetzt kam der Vortrag. „Ich weiß ja, dass du es nicht verstehst, aber …“ Warte mal. Warum rechtfertigte sie sich wieder einmal vor Gage? Sie war ihm keine Erklärung schuldig und doch wollte sie unbedingt, dass er es verstand, und das ärgerte sie nur noch mehr. Warum war es ihr wichtig, was er dachte? Antworte darauf lieber nicht. Leider wusste sie genau, warum. „Hör zu: Ich versuche meine Freundin zu finden und das muss ich auf diese Weise tun.“

„Kannst du nicht einfach offen sein? Erklären, wer du bist? Sie direkt nach Abby fragen?“

„Du verstehst das nicht. Ich stoße überall nur auf Widerstand und sie glauben, ich sei nur eine Sportjournalistin. Wenn …“

„Nur?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Klingt so, als wärest du der Meinung, eine Sportjournalistin zu sein, würde irgendwie nicht reichen.“

„Darum geht es nicht.“ Sie atmete genervt aus. Wie konnte er ihr das Wort so im Munde herumdrehen? „Es geht darum, dass ich jetzt schon kaum etwas erfahre. Wenn sie hören, dass ich Abbys Verschwinden untersuche, kann ich gleich meine Sachen packen.“

„Du scheinst dir sehr sicher zu sein, dass es nichts bringt, obwohl du es noch gar nicht probiert hast.“

„Ich glaube, dass jemand an Bord der Bering herausgefunden hat, wer Abby wirklich war – dass sie Reporterin war – und jetzt ist sie verschwunden. Glaubst du wirklich, die Person, die sie hat verschwinden lassen, würde es mit mir nicht genauso machen?“

Er lehnte sich zurück, die Stirn in besorgte Falten gelegt. „Das gefällt mir nicht. Du spielst ein gefährliches Spiel.“

„Ich habe keine Wahl.“

„Das sagst du immer wieder.“

„Weil es die Wahrheit ist.“ Warum konnte er das nicht einsehen? „Hör zu. Erzähl mir einfach, was morgen bei der Exkursion geschieht, dann können wir beide schlafen gehen.“

„Gut.“ Als er ausatmete, klang es wie ein Grunzen. „Wir machen mit einer Gruppe aus vierzehn Passagieren eine zweitägige Kajakwanderung.“

„Zweitägig?“ Er machte Witze, oder?

„Die Bering legt für die Nacht in Eagle Cove an. Das ist Teil des neuen Abenteuerschwerpunkts. Statt dass die Leute nur ein paar Stunden haben, werden sie von einer Stelle zur nächsten gebracht, wo sie in Zelten übernachten.“

„Zelten?“

„Wir verbringen die Nacht auf Kesuk, einer kleinen Insel vor der Südwestküste von Aukaneck.“

„Aukaneck?“

„Die Insel, auf der sich die Ortschaft Eagle Cove befindet und wo die Bering anlegt. Von dort aus fahren wir mit dem Kajak weiter.“

„Mit dem Kajak?“ Sie riss die Augen auf, während ihr Puls raste.

„Du hast wirklich nicht aufgepasst, oder? Kesuk, also die Insel, auf der wir zelten werden, kann man nur mit dem Boot oder dem Flugzeug erreichen. Es gibt dort keine Infrastruktur. Deshalb schickt Mullins Ted und George mit. Sie sind für die Unterbringung der Passagiere zuständig und bringen sie mit dem Versorgungsschiff.“

Versorgungsschiff. Ihr Herz beruhigte sich wieder. Sie würde mit dem Versorgungsschiff fahren – kein Grund zur Panik.

„Offenbar ist es ihr Job als Eventbetreuer, für die Passagiere zu sorgen, während sie einen auf ‚Wildnis‘ machen.“ Er malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. Es war offensichtlich, dass er die ganze Idee mit den Eventbetreuern für absurd hielt.

„Warte mal. Hast du gesagt, dass es dort keine Infrastruktur gibt?“ Also keine Toiletten? Kein fließendes Wasser? Es wurde immer besser.

„Ich fürchte nicht.“ Er lächelte.

Klar, er hatte seinen Spaß. Sie straffte die Schultern, weil sie ihm nicht die Genugtuung gönnen wollte zu wissen, dass ihr die Aussicht auf eine Nacht ohne selbst die grundlegendsten Annehmlichkeiten zuwider war. „Ich bin sicher, wenn die Bering für Unterkünfte sorgt, werden sie deutlich über den Erwartungen eines normalen Zeltplatzes stehen.“

„Die Bering sorgt für die Unterbringung der Passagiere.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Last Frontier Adventures sorgt für die Unterbringung des Personals.“

„Reizend.“ Sie sah die einfachen Zelte bereits vor sich.

„Bist du sicher, dass dir nicht doch eine Ausrede einfällt, um an Bord zu bleiben? Wir wissen doch beide, dass du nicht gerade der Wildnis-Typ bist.“

„Muss ich dich daran erinnern, dass ich eine Outdoor- und Sportjournalistin bin?“ Sie war viel draußen und genoss es, aber am Ende des Tages wollte sie eine heiße Dusche und ein bequemes Bett.

Sein spöttisches Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. „Als ich dir das erste Mal begegnet bin, hast du in Yancey acht Zentimeter hohe Absätze getragen. Mitten im Winter.“

„Es waren Stiefel.“

„Mit acht Zentimeter hohen Absätzen.“

Sie zuckte mit einer Schulter. „Ich habe mich angepasst.“

„Ja, das hast du, aber das macht dich noch nicht zu einer leidenschaftlichen Naturliebhaberin.“

„Ich liebe die Natur und die Sportveranstaltungen, über die ich berichte. Ich mag es nur gerne bequem.“ War das so unverständlich?

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Mhm.“

„Glaub mir, ich komme schon klar. Aber ich wünschte, ich müsste nicht so viel Zeit mit den Exkursionen vergeuden, wenn ich stattdessen auf dem Schiff Nachforschungen anstellen sollte.“

„Dann bleib an Bord.“

„Das geht nicht. Ich habe den Auftrag, über die Exkursionen zu berichten.“

„Tja“, sagte er und legte die Füße auf den Couchtisch. „Dann wird es zumindest interessant.“

* * *

Er nahm den Anruf entgegen. Das wurde langsam lästig. Offenbar hatte er den falschen Mann befördert. „Was?“

„Ich habe mich um die Tasche gekümmert.“

„Das heißt, du rufst an, um mir zu erzählen, dass du deine Arbeit gemacht hast?“ Jeremy hatte wenigstens noch seinen Stolz gehabt. Dieser Kerl war lächerlich.

„Nein, da ist noch etwas …“

„Sagst du es mir oder muss ich dir alles aus der Nase ziehen?“ Was für ein Weichei.

„Ich dachte, du solltest wissen, dass die Journalistin, die von der Kreuzfahrtgesellschaft angeheuert wurde, Fragen über die verdeckte Reporterin stellt.“

Er erstarrte. „Was für Fragen?“

„Warum sie so plötzlich gegangen ist … so was.“

Er trommelte mit den Fingern gegen sein Glas. „Und was antworten die Leute ihr?“

„Soweit ich weiß, sagen alle, dass so etwas nicht ungewöhnlich ist und nichts zu bedeuten hat.“

Was dummerweise problematischer sein könnte, als wenn sie sich besorgt gezeigt hätten. Er schob sein Glas zur Seite, beugte sich vor und senkte die Stimme. „Behalte sie im Auge. Beobachte, mit wem sie spricht. Und was sie in Erfahrung bringt. Oder besser noch: Halte sie davon ab, Fragen zu stellen.“

„Was meinst du damit?“

„Sei kreativ.“ Obwohl er bezweifelte, dass der Mann die Fähigkeit dazu besaß. Er richtete sich auf und schnipste einen Fussel von seinem Revers. „In der Zwischenzeit werde ich ein paar Nachforschungen über diese Journalistin anstellen.“

„Du meinst, sie gibt vor, jemand zu sein, der sie nicht ist?“

„Sagen wir mal, ich bin nicht so weit gekommen, indem ich mögliche Gefahren ignoriert habe – ob unbedeutend oder eher nicht.“ Und Darcy St. James klang allmählich nach einer ernsthaften Gefahr. Einer Gefahr, die man am besten im Keim erstickte.

Kapitel 10

Darcy traf sich mit den anderen Mitgliedern des Exkursionsteams wie vereinbart am Anleger. Die Luft war kühl, aber die Sonne schien zum Glück erstaunlich warm. Die Fotogruppen – zu denen die meisten Passagiere gehörten, die an Exkursionen teilnahmen – waren schon im Dunkeln aufgebrochen, weil sie Bilder vom Sonnenaufgang über der Bucht machen wollten. Darcy selbst wusste zwar auch einen schönen Sonnenaufgang zu schätzen, aber ein paar zusätzliche Stunden Schlaf schätzte sie noch mehr.

Theodora Mullins eilte auf sie zu. „Ms St. James.“

„Guten Morgen.“ Darcy sah sich im Hafen um. „Wo finde ich das Versorgungsschiff?“

„Versorgungsschiff?“ Mullins’ sorgfältig geschminkte Augenbrauen wanderten nach oben.

„Man hat mir gesagt, dass es ein Schiff gibt, mit dem die Vorräte zum Zeltplatz gebracht werden.“

„Die Vorräte, ja.“ Sie zeigte zu George und Phillip hinüber, die ein robustes Boot mit Lebensmitteln beluden. „Sie nicht.“

„Ich verstehe nicht. Ich dachte, Sie wollen, dass ich bei der Exkursion mitmache.“

„Genau. Mitmachen.“

Sie wollte doch nicht sagen …?

„Sie haben den Auftrag bekommen, für potenzielle Kreuzfahrtgäste aus erster Hand über die Abenteuer zu berichten, die sie erleben können. Und das ist nur möglich, wenn Sie die Abenteuer selbst erlebt haben.“

„Aber …“

Mullins runzelte die Stirn und die Falten um ihren Mund wurden strenger. „Ist das ein Problem?“

Darcy rieb sich den Nacken. „Ich dachte nur …“

„Das ist es, was die Zentrale will und wofür Sie engagiert wurden. Wenn Sie dazu nicht in der Lage oder nicht bereit sind, können wir jederzeit einen anderen Journalisten anheuern.“

„Nein. Das wird nicht nötig sein. Ich bin nur ein wenig überrascht, das ist alles.“

„Gut. Dann schlage ich vor, Sie begeben sich zu den Wagen, bevor die anderen ohne Sie aufbrechen.“

Darcy folgte Mullins’ ausgestrecktem Arm zu den beiden weißen Minibussen, die auf dem Parkplatz am Ende des Anlegers warteten. Neben einem von ihnen stand Gages Schwester Kayden und neben dem anderen Deputy Sheriff Landon Grainger. Warum ist Landon hier? Vielleicht hatte er gute Nachrichten über Abby und wollte es ihr persönlich erzählen. Oder … Das Herz wurde ihr schwer. Vielleicht hatte er schlechte Nachrichten und meinte, sie selbst überbringen zu sollen.

Sie zögerte, weil sie zwar Antworten haben wollte, aber plötzlich Angst vor dem hatte, was sie erfahren könnte – davor, dass Landons Neuigkeiten ihr Leben nachhaltig verändern könnten. Gages Schwester Piper sah sie und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Sie löste sich aus der Gruppe und rannte auf Darcy zu.

Darcy ging ihr entgegen.

Piper schlang die Arme um sie und drückte sie. „Wie schön, dich wiederzusehen.“

Darcy genoss die Wärme der Freundschaft, aber sie löste sich aus der Umarmung und sah sich um. Zum Glück war Theodora Mullins wieder an Bord des Schiffes verschwunden.

Piper folgte ihren Blicken. „Tut mir leid. Sollte ich dich nicht kennen?“

„Nein, das ist in Ordnung. Die Personalfrau, Ms Mullins, weiß, dass ich in Yancey gearbeitet habe, aber …“

„Die Verbindung zu uns soll nicht zu intensiv sein“, sagte Piper. Sie hatte eine bemerkenswerte Beobachtungs- und Auffassungsgabe.

Es fühlte sich schrecklich an, das zu sagen, aber … „Ja.“ Es war besser für ihre Ermittlungen.

Piper trat einen Schritt zurück und schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich verstehe vollkommen.“

„Danke.“

Piper beugte sich vor. „Tut mir wirklich leid wegen deiner Freundin. Können wir irgendwie helfen?“

„Danke, das weiß ich zu schätzen. Ich bin gespannt, was Landon herausgefunden hat.“

„Gage sagt, du fährst bis zum Ausgangspunkt mit uns mit.“

„Offenbar werde ich auch mit euch Kajak fahren.“ Darcy hoffte, dass die Angst, die in ihrem Magen tanzte, sich nicht in ihrer Miene zeigte.

„Das hat Gage auch gesagt.“

Gage wusste es also und hatte nichts gesagt? Vielleicht war er davon ausgegangen, so wie Mullins, dass sie Kajak fahren konnte, weil die Kajaktour zu dem Job gehörte, den sie angenommen hatte. Aber Abby hatte eindeutig nichts von Kajaks erzählt, als sie angerufen hatte, und die Zentrale hatte es auch nicht erwähnt. Sie hatten etwas von Erfahrung am eigenen Leib und Begleitung von Exkursionen gesagt, aber sie hatte vermutet, dass sie auf einem Boot sein würde … mit Motor … das nicht so einfach kentern konnte. Da sie unbedingt Abby helfen und deshalb so schnell wie möglich an Bord gehen wollte, hatte sie keine Fragen gestellt und nicht so genau hingehört, was die anderen sagten. Das war sonst gar nicht ihre Art. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Als sie sich der Gruppe näherten, flüsterte Piper ihr zu: „Wir haben die Wagen so aufgeteilt, dass du bis zum Ausgangspunkt mit Landon fahren kannst.“

„Danke.“

Gage wandte sich an die Gruppe. „Meine Schwester Piper wird Ihre Namen aufrufen und Sie dann zu Ihrem Wagen bringen. Wir fahren anschließend zur Nordwestküste von Aukaneck, wo die Kajaks warten, dann legen wir von dort ab und paddeln rüber zu Kesuk Island.“

Innerhalb weniger Minuten saßen alle in den Minibussen und sie fuhren vom Parkplatz.

Piper hatte Darcy auf dem Beifahrersitz des ersten Wagens platziert, den Landon fuhr. Piper und Gage saßen auf den Sitzen unmittelbar hinter ihnen und schirmten sie so bis zu einem gewissen Grad von den Passagieren in den Reihen dahinter ab.

Gage und Piper wandten sich an die Gäste.

„Also, wer freut sich auf das Abenteuer heute?“, fragte Piper fröhlich.

Darcy ignorierte die Unterhaltung und die verschiedenen Antworten und konzentrierte sich stattdessen auf Landon. „Und?“

„Da ich gesehen habe, wie besorgt du warst, wollte ich gründlich sein, also bin ich nach Kodiak geflogen, um mit der Nachtschicht zu sprechen.“

„Und …?“ Sie konnte kaum stillsitzen, während sie durch die Ortschaft Eagle Cove fuhren und dann an der Küste entlang zur Nordwestspitze von Aukaneck Island. Der Ort selbst war urig und zweifellos ein nettes Ziel für die Passagiere, die sich mit diesem Ausflug gegen eine der Exkursionen entschieden hatten.

Landon räusperte sich, während er nach rechts abbog und den Ort hinter sich ließ.

„Offenbar wurde tatsächlich eine Frau im Krankenhaus in Kodiak eingeliefert.“

Hoffnung wallte in ihr auf. „Abby?“

„Das ist der Name, der genannt wurde …“

„Aber …?“ Sie sah ihn prüfend an.

Landons Finger schlossen sich fester ums Lenkrad. „Sie war nicht mehr da. Offenbar ist sie kurz nach ihrer Einlieferung plötzlich gegangen.“

„Wie plötzlich?“

„Die Pflegedienstleitung hat kurz mit ihr gesprochen. Sie hat sich als Abby Walsh vorgestellt, dann hat sie der Krankenschwester gesagt, es gehe ihr gut, und dann verschwand sie, noch bevor die Schwester die Daten aufgenommen hatte, geschweige denn ein Arzt einen Blick auf sie werfen konnte.“

„Das erklärt, warum die andere Schicht nichts von ihr wusste.“

„Genau.“

Darcy versuchte sich auf ihrem Sitz zur Seite zu drehen, doch der Sicherheitsgurt ließ ihr nicht viel Spielraum. „Wenn es Abby war, warum hat sie sich dann nicht gemeldet?“

„Ich weiß nicht, aber die ganze Sache kommt mir merkwürdig vor.“

„Weil sie das Krankenhaus so schnell verlassen hat?“ Wenn es Abby war, hoffte sie wahrscheinlich, wieder an Bord zu gelangen oder wenigstens Kontakt mit Darcy aufzunehmen.

„Das ist die eine Sache.“ Landon trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad, während sie den Gurt ein wenig lockerte, der so fest um ihre Hüfte saß. „Du hast gesagt, du hast den Alarm gegen halb elf gehört?“

„Ja.“

„Die Frau wurde erst um kurz vor eins ins Krankenhaus gebracht.“

„Das verstehe ich nicht.“ Darcy runzelte die Stirn. Hinten im Wagen stieg der Geräuschpegel. „Wieso hat es so lange gedauert?“

Landon blickte in den Rückspiegel, um zu sehen, was hinter ihm los war. „Ich weiß nicht.“

„Wir haben hier hinten einen Unruhestifter“, sagte Gage jetzt zu ihnen gewandt.

„Was?“ Darcy drehte sich erschrocken um. „Inwiefern?“

„Heath hält sich für besonders cool. Wir müssen ihn im Auge behalten.“

Landon lächelte, als er Darcys verständnislosen Blick sah. „Gage meint, wenn man einen Angeber dabeihat, ist die Gefahr groß, dass er auf dem Wasser irgendeine Dummheit macht.“

„Oder andere dazu anstiftet“, fügte Gage hinzu.

„Wie die beliebten Kids in der High School, die sich gegenseitig anstacheln?“, fragte sie.

Gage schlug gegen die Rückenlehne ihres Sitzes. „Genau.“ Dann wandte er sich zu den anderen um und ihre Gedanken wandten sich wieder Abby zu.

„Du glaubst also, dass es Abby war?“

„Das können wir nicht mit Sicherheit sagen. Ein Mann hat sie gebracht und gesagt, er müsse schnell zum Schiff zurück, bevor es zu weit weg sei, aber nach beinahe drei Stunden hätte er sie frühestens im nächsten Anlegepunkt erwischt.“

„Das gefällt mir nicht.“

„Mir auch nicht.“

„Wir müssen der Schwester ein Foto von Abby zeigen und uns von ihr bestätigen lassen, dass sie es tatsächlich war.“

„Das habe ich schon gemacht. Ich habe mir das Foto von Abbys Führerschein besorgt, nachdem du die Wache verlassen hattest.“

„Und?“

„Die Schwester in der Notaufnahme sagte, es sei eine hektische Nacht gewesen. Die Frau hatte die gleiche Haarfarbe und eine ähnliche Figur, aber sie konnte es nicht beschwören.“

„Warum die lange Verzögerung? Was haben sie drei Stunden lang gemacht?“

„Ich weiß nicht. Ihre Entscheidung, die Frau nach Kodiak zu bringen, anstatt zurück zum Schiff, deutet darauf hin, dass sie nicht weit von der Insel entfernt waren.“

„Ich konnte die Lichter der Stadt in der Ferne sehen, als ich schließlich an Deck kam.“

„Das Krankenhaus ist gerade mal einen Block vom Strand entfernt. Sie hätten keine Stunde brauchen dürfen.“

„Warum hat es dann so lange gedauert?“

Landon hielt den Wagen an. „Ich weiß es nicht.“