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Der Verlag dankt für die Genehmigung zur Veröffentlichung aus:
Henry de Monfreid, Die Geheimnisse des Roten Meeres, © Unionsverlag AG, Zürich 2013, Übersetzung Gerhard Meier.

ISBN 978-3-492-97296-3

April 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Redaktion: Boris Heczko, Berlin

Coverkonzept: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Covermotiv: Aflo/Corbis (Segelboot im Ozean)

Datenkonvertierung: le-tex publishing servics GmbH, Leipzig

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Mein besonderer Dank gilt Uwe Janßen vom Magazin Yacht, der das Manuskript mit seemännischer Akribie las, Anregungen gab und mir mit Rat und Rotstift zur Seite stand.

Warum nicht der Verlockung des blauen Horizonts erliegen,
den kleinen weißen Segeln folgen, die ich Tag für Tag im Meer verschwinden sehe?

Henry de Monfreid,
Die Geheimnisse des Roten Meeres

Ich glaube, ich werde seekrank.

Christoph Kolumbus

Sturm und Poesie

Segeln? Beginnen wir gleich mit den Verrückten, den Hasardeuren.

Ich hatte einmal das Glück, zum südlichsten Zipfel Südamerikas reisen zu dürfen. Dorthin, wo das Land endet und die Polarsee beginnt. Nach endlosen Stunden und vier Flügen um die halbe Erde landete ich in dem argentinischen Ort Ushuaia, einem Haufen schiefer Holzhäuser, der an den Ausläufern der Cordillera Darwin klebt. Berge im Rücken, Meer vor der Nase.

Ich stieg aus dem Flugzeug, und schon wehte mir der eiskalte Wind um die Ohren. Im Ort wackelten die Autos und zitterten die Ampeln. Alle zwei Tage braut sich hier unten ein Sturm zusammen. An einem einzigen Tag könne man hier problemlos alle vier Jahreszeiten erleben, hatte ich gehört. Sonne, Regen, Hagel, Schnee. Temperaturen um die zwanzig Grad, dann wieder stürzen sie im Nu auf null. Und das mitten im südamerikanischen Hochsommer. Die Menschen, die hier leben, sagen: »Wenn du das Wetter bei uns nicht magst, warte fünf Minuten.«

Segeln? Hier? Um Himmels willen!

Ich blickte auf die See. Über den Beagle-Kanal droschen die Böen, das Wasser überzogen von weißen Schaumkronen auf dunkelgrauem Fond. Schwarze Wolken rasten wie Kriegsschiffe über dieses südliche Fitzelchen Erde. Hagel ging nieder, als ich unten auf einer Landzunge stand. Der Wind pfiff mir so kalt in Nacken und Gesicht, dass ich den Kragen hochschlug und mir die Wollmütze tief in die Stirn zog. Fazit der ersten Woche vor Ort: An fünf von sieben Tagen schoss der Wind mit zehn Beaufort über die kurzen, steilen Wellen der legendären Meeresenge.

Nein, kein Segelrevier für Schönwettermatrosen. Ein Revier, um sich vor den Kamin zu verholen.

Tags darauf nahm ich ein Schlauchboot auf die andere Seite des Beagle-Kanals. Eine schaukelnde Nussschale, die Platz für gerade mal acht Passagiere bot. Doch dies war der schnellste Weg, um von Ushuaia zur Isla Navarino zu kommen, noch weiter südlich, rüber nach Chile. Wir zurrten die Rettungswesten fest, und die beiden Argentinierinnen, die das Boot steuerten, sprachen kein Wort.

In Chile angelandet, blickten wir paar Reisende auf eine kahle Erde, grünbraune Bergrücken und von Biberfraß und Feuern verstümmelte Wälder. Hier und da lagen Fischerboote aufgepallt an den Ufern, wie Doraden auf dem Trockenen. Ich sah verlassene Farmen, zerschlissene Zäune und ein altes Windrad, dessen einziger Flügel in Fetzen hing.

Wir fuhren zwei Stunden über eine Schotterstraße, bis wir Puerto Williams erreichten. Ein Nest, durch das nachts wilde Pferde stromern und in dem der einzige Bankautomat ständig ausfällt. Zwei kleine Supermärkte, ein paar windschiefe Hostels, eine Bar. Mehr gibt es hier nicht. Der Ort, nicht mehr als ein Cowboy-Kaff, ist eine Basis der chilenischen Marine – und genau hier liegt auch der südlichste Yachtklub der Welt.

Ich ging runter zum Hafen, der gar kein Hafen ist. In einem schmalen Seitenarm des Beagle-Kanals rostet vielmehr ein alter Dampfer vor sich hin, er liegt im Matsch auf Grund, und eben-dieser alte Dampfer namens Micalvi ist der Yachtklub von Puerto Williams. Dreißig, vierzig Segelschiffe haben dort längsseits festgemacht, sie liegen in Päckchen nebeneinander, dicht an dicht vertäut. Es gibt eine kleine Bar auf dem Dampfer, mittschiffs auf dem Hauptdeck. Als ich fragte, wann die Bar öffne, sagte mir ein junger barfüßiger Chilene: »Wenn Luiz kommt.«

Luiz ist der Barmann am Ende der Welt. Meist taucht er gegen acht oder neun Uhr abends auf, und bei ihm treffen sich die Segler, die es bis hierher geschafft haben, in die hohen südlichen Breiten des Planeten. Jenseits der Rossbreiten am Äquator, jenseits der Falklandinseln und der Roaring Forties, der brüllenden Vierziger. Jenseits der wütenden Fünfziger-Breitengrade, ja sogar noch der Magellanstraße. Sie treffen sich auf der Micalvi, wenn die Sonne sinkt, und dann trinken sie ihre Biere und Pisco Sour und erzählen und erzählen. Die einen sind quer über den Atlantik gekommen. Manche wollen nach Tahiti segeln, nach Alaska, nach Südafrika. Andere haben ihre Yacht aus Brasilien hierhernavigiert und sind sechs Jahre auf Weltumrundung.

Dies sind die Salzbuckel unter den Seglern. Braune Füße, braune Hände. Die Haut gegerbt von Wind und Wetter. Man nennt sie auch Langfahrtsegler, Blauwassersegler oder Live-aboards. Jene, die ganz weit fahren und Jahre unterwegs sind. Die Hasardeure aber sind damit noch lange nicht gemeint.

Festgemacht neben der Micalvi haben auch zehn Schiffe, die ständig hier unten weilen. Fünfzehn, zwanzig Meter lange Stahl- und Aluminiumyachten, deren Wanten und Stage so stark und dick sind, als könne man ganze Hochhäuser daran aufhängen. Die Skipper dieser Schiffe verdienen ihr Geld damit, Gäste um Kap Hoorn zu segeln. Das berühmte Weltende liegt von hier aus nur neunzig Seemeilen entfernt, knapp 170 Kilometer weiter südlich, also quasi um die Ecke. Andere lokale Segler fahren noch weiter gen Süden und queren die Drake-Passage. Sie segeln bis in die Antarktis, bis zu den Pinguinen. Von Puerto Williams aus sind es »nur« noch tausend Kilometer bis ins ewige Eis.

Man kann diese Segeltörns am Ende der Welt tatsächlich buchen, und für viele zahlende Gäste sind diese zwei- bis vierwöchigen Törns die Reise ihres Lebens. Rund Kap Hoorn zu steuern ist für viele der Everest des Segelns. Der Wind umweht das berühmte Kap so heftig wie eh und je. Die Landschaft liegt karg und rau vor dem Bug, im Westen ragen steile Gletscher auf, und weit und breit zeigt sich kein Mensch, steht kein Haus, fährt kein Auto. Hier unten trifft man nur noch Albatrosse.

Das alles ist segeltechnisch ziemlich einschüchternd. Der ständige Sturm, das Eis, das bitterkalte Meer, die Fallwinde, die von den Gletschern herabstürzen wie unsichtbare Lawinen.

Um die zehntausend Seeleute sollen vor Kap Hoorn im Laufe der Jahrhunderte ertrunken sein, und noch heute geraten Schiffe hier in Seenot. Erst kürzlich fuhr eine amerikanische Segelyacht durch das Seegebiet. An Bord waren der Skipper, seine Frau und zwei Kinder. Als sie circa achtzig See­meilen westlich des Kaps standen, holte der Sturm sie ein, und der Mast kam von oben. Das sagen Segler, wenn der Mast bricht, in halber oder ganzer Länge knickt. Ein fürchterlicher Anblick. Vor dem Sinken so ziemlich das Schlimmste, was einer Yacht passieren kann. Die amerikanische Familie taumelte weit draußen auf See im Sturm, der Mann hatte sich zwei Rippen gebrochen. Schließlich fuhr die chilenische Marine aus, nahm Kinder und Frau an Bord. Der Skipper blieb auf seinem Segel­schiff, das unter beträchtlichen Gefahren nach Puerto Williams geschleppt wurde.

Glück gehabt. Denn mit dem Wind ist nicht zu spaßen hier unten. Vor nicht allzu langer Zeit wehte er mit 126 Knoten (und schon ab 64 Knoten Windgeschwindigkeit spricht man von Orkan). Das bekannte Denkmal am Kap – ein stilisierter Albatros aus Metall – knickte um wie ein Stück Pappe.

Die Skipper, die regelmäßig in diesen Gewässern segeln, gehen die Sache entsprechend an. Sie kennen jede Ankerbucht, jeden Schlupfwinkel. Sie haben jahrelange Erfahrung gesammelt. Sie besitzen gute Seekarten, beziehen die aktuellsten Wind- und Wetterberichte und segeln nur mit starken, schweren Schiffen, die den bis zu dreizehn Meter hohen Wellen da draußen gewachsen sind.

Mit anderen Worten: Die Segler von Puerto Williams waren so schnell nicht zu beeindrucken – bis eines Tages diese große Holzkiste aus Übersee angeliefert wurde.

Und nun kommen wir zu den Hasardeuren.

Vier Russen tauchten am Hafen auf, zwei Männer, zwei Frauen. Sie öffneten die Kiste und zogen diverse Teile und Gerätschaften heraus. Gummischläuche, Stangen, Leinen, Planen, Hebel, Pumpen und zwei kleine Segelsäcke. Sie begannen zu schrauben und zu knoten, und nach vier Tagen schoben sie ihr aberwitziges Gefährt ins schwarze, kalte Wasser des Beagle-Kanals: einen aufblasbaren Katamaran! Kaum mehr als eine besegelte Luftmatratze für Sommertage. Ein Witz. Ich habe das rudimentäre Vehikel mit eigenen Augen gesehen, und ich besitze sogar ein Foto davon.

Es zeigt zwei grüne Schläuche, stramm aufgepumpt zu zwei Rümpfen, verbunden durch vier Metallstreben. Gerade mal fünf Meter maß das Miniboot, es trug einen Mast so dünn wie eine Gardinenstange, besaß keine Koje, keine Kajüte. Als Unterschlupf diente lediglich ein kleines gelbes Zelt, das die Russen zwischen den Rümpfen aufgespannt hatten und durch das die Gischt schoss. Und mit exakt diesem Untersatz gingen die vier in See – und fuhren einmal um Kap Hoorn.

Über zwei Wochen waren sie auf ihrem verrückten Törn unterwegs. Sie hatten kaum Proviant dabei und nur sehr einfache Seekarten. Einer der Kap-Hoorn-Skipper, Osvaldo Escobar Torres sein Name, hatte die vier Russen ein wenig beraten und erzählte mir später, dass sie unter »unvorstellbaren Bedingungen« aufgebrochen seien. Im Sturm suchten sie Schutz in den Buchten von Wollaston Island, auf dem Rückweg in der Nähe von Puerto Torro. Einige Tage galten sie gar als vermisst, aber ein Hubschrauberpilot der chilenischen Marine überflog das Gebiet und entdeckte sie unten auf einem Kiesbett, wo sie während ihrer Umrundung pausierten. Zu viert kauerten sie neben dem Katamaran, eher ein winziges Floß mit Segel, und winkten, als wollten sie sagen: »Alles klar bei uns, keine Sorge, was soll denn schon sein?« Dann fuhren sie wieder raus in die graue See. Ein Punkt inmitten des düsteren Reliefs der Wellen.

Was für eine Tour! Der nackte Wahnsinn. Manche mögen solche Törns für lebensmüde halten, andere nennen sie schlicht Abenteuer. Nun, wie dem auch sei, es gab sie jedenfalls noch, die seegehenden Haudegen.

Die Welt des Segelns kennt viele Spielarten, und dies ist das eine Ende des Spektrums. Das Radikale, das Extreme. Segler, die sich mit unglaublichen Schiffen und schwimmenden Konstruktionen durch die rauesten Seegebiete wagen. Inzwischen sind Menschen sogar schon in Faltbooten, Jollen und anderen kleinen Katamaranen um das berüchtigte Kap Hoorn gesegelt. Durch eine See, die früher selbst gestandene Kapitäne und Offiziere fürchteten wie die Hölle auf den sieben Meeren.

Man wundert sich. Mutige Segler, die das Risiko suchen, keine Herausforderung scheuen und immer neue, immer verrücktere Reisen wagen, gibt es gerade heute in erstaunlicher Zahl. Teenager wie die Holländerin Laura Dekker, die allein um die Welt segelte. Sie war gerade mal vierzehn, als sie losfuhr. Der Schweizer Yvan Bourgnon, der im Sommer 2015 die Erde in einem offenen Sportkatamaran umrundet und dabei fast 40 000 Seemeilen zurückgelegt hatte. Zwei Jahre zuvor war er an der französischen Atlantikküste gestartet. Er segelte zu den Kanarischen Inseln, über den Atlantik bis in die Karibik. Steuerte 3000 Seemeilen über den offenen Pazifik, durch den Indischen Ozean, durchs Rote Meer und schließlich durchs Mittelmeer wieder zurück nach Frankreich.

Allein. Auf einem Strandspielzeug.

So viel zu den Hasardeuren, den Übermütigen. Manche erklären sie zu den Seehelden der Moderne. Andere schütteln bei Törns dieser Kategorie nur noch die Köpfe. Irrsinn, sagen sie. Leichtsinn, Blödsinn. Im Fall Laura Dekker schaltete sich sogar die holländische Regierung ein: Das Jugendamt wollte dem Mädchen die Soloreise über die Meere verbieten, den Eltern gar das Sorgerecht entziehen. Zu unverantwortlich sei das Ganze.

Das Segeln sorgte plötzlich für heftige Diskussionen in den Medien, in den Feuilletons. Auch in Deutschland stritten Leitartikler, Gutgeister und Meinungsmacher alsbald: Was darf der Staat uns vorschreiben? Wie sehr darf er unser Leben bestimmen, unsere Freiheiten regulieren? Und was sollen, was dürfen wir uns einfach nehmen?

Während die Wortführer sich die Köpfe heiß redeten, fuhr die junge Laura Dekker einfach los. Sie genoss ihren Törn um die Welt. Und alles klappte. Sie ging nicht über Bord und trug auch keine psychischen Schäden davon. Die Leute hatten vergessen, dass das Mädchen auf einer Segelyacht groß geworden war. Dass die taffe Laura bereits allein über den schwierigen Ärmelkanal gesegelt war und sich auf einem Boot wahrscheinlich sicherer bewegt als die meisten Freizeitkapitäne.

Das Hochseesegeln steckte ihr im Blut. Und nun rief das Meer.

Doch Segeln geht auch anders. Ganz anders. Leicht und lautlos, ohne große Gefahr, ohne einen Tropfen kaltes Meer und fauchendes Salzwasser. Denn auch dies kennt der Segler: das Mühelose, das Poetische. Ein Hauch Wind genügt, ein See, ein leiser Himmel. Die Welt im Frieden, während der Mensch in seinem Boot sitzt und durch die Stille zieht. Dies ist das andere Ende des Spektrums.

Ich habe da ein unvergessliches Bild vor Augen. Vielleicht weil es in seiner unaufgeregten Art mehr Kraft in sich trägt als jedes Abenteuer. Mehr zurückhaltende Würde besitzt als jeder Teufelsritt über die Ozeane oder um irgendwelche Kaps am Ende des Horizonts.

Ich war noch klein, vielleicht dreizehn, vierzehn. Mit der Familie war ich zum Steinhuder Meer gefahren, das ja nur ein flacher See bei Hannover ist. Es wehte kein Lüftchen. Die Sonne schien, es war Sommer. Wir breiteten die Handtücher aus und legten uns am Ufer auf einen schmalen Strand.

Nach einiger Zeit sah ich eine kleine Jolle auf dem platten Wasser, fast bewegungslos lag sie vor dem grünen Saum des Sees. Ein schöner Rumpf aus Holz, ein Mast, zwei weiße Segel. So schlicht, so einfach.

In der Jolle saß ein Mann, aber ich konnte ihn noch nicht richtig erkennen. Dann löste sich sein Boot aus dem Schilfgürtel und glitt ohne ein Geräusch, ohne ein Flattern der Segel über den spiegelglatten und beinahe silberfarbenen See. Ein Boot auf einem Tablett. Es wurde getragen, es schien kein Gewicht zu haben. Es schwebte.

»Wie kommt der Mann voran?«, fragte meine Mutter. »Es weht doch überhaupt kein Wind.«

»Der paddelt heimlich«, sagte meine Schwester.

»Nee, der paddelt nicht, der segelt«, sagte ich.

»Das ist nicht so einfach zu erklären«, meinte schließlich mein Vater, der damals auch schon ein bisschen segelte. »Das ist das Wunder des Vortriebs, aber man kann es nicht sehen.«

Die kleine Jolle des Mannes zog noch immer vor unseren Augen dahin. Es war wie ein Aquarell, doch das Boot darin bewegte sich, wie angehaucht von einem Geist zog es über das silberblaue Wasser. Die ganze Welt spiegelte sich, sodass sich auch das Boot nach unten ins Wasser hin verdoppelte und der Mast in zweifacher Länge erschien. Eine Hälfte im Himmel, die andere im See.

Es war brütend heiß. Ich sah zu dem Mann in seinem kleinen Boot hinüber und dachte, wenn ich er wäre, würde ich ins Wasser springen. Aber der Mann saß seelenruhig an seiner Pinne, und bald konnte ich erkennen, dass es ein älterer Herr war, der einen hellen Basthut trug. In völligem Einklang mit dem regungslosen Sommertag glitten die beiden dahin, der Mann und sein Boot. Nur gelegentlich schaute er nach oben in die Segel, doch kein einziges Mal sah er zu uns herüber, zum Ufer.

Es war das Bild dieses Sommers. Ich war noch klein, aber es hat sich mir für alle Zeiten in mein Hirn geritzt.

Was hat das Leben unter Segeln noch zu bieten? Was liegt zwischen den Extremen dieser seltsamen Passion? Zwischen stillem Genuss auf dem heimischen See und der halsbrecherischen Sturmfahrt über die Ozeane?

Es liegen Welten dazwischen. Eine derartige Vielzahl an Booten, Schiffen, Kähnen, Kuttern, Pötten und seegehenden Fahrzeugen kennt das Segeln, dass man allein damit Lexika füllen könnte. Im Segeln steckt eine endlose Fülle an Erlebnissen und Erfahrungen. Es geht um Höhen und Tiefen, um Wissen, Technik und Material, um ständiges Lernen und niemals ausreifendes Können. Stets dreht es sich hier um Wind und Wellen, Wetter und Wolken. Um Mut, um Demut. Um Knoten, Taue, Trossen, Schoten, Fallen. Um Seemannschaft und Seemannssprache. Und, natürlich, immer auch um reichlich Seemannsgarn.

Hier und da segelt der Tod mit. Hier und da das Erfahren blanker Schönheit und großen Glücks. Und immer auch dieses eine unbeschreibliche Gefühl, das tief im Menschen drinsteckt und das wohl kein Segler jemals loswird. Dieses Kribbeln, das sich einstellt, wenn der Mensch das sichere Land verlässt und sich aufs Wasser begibt. Dorthin, wo er eigentlich nicht hingehört. Wo alles schwabbelt und wackelt und niemals ruht. Dorthin – auch dies soll gesagt sein –, wo der Mensch jederzeit ertrinken kann. Ein falscher Schritt, ein unbedachtes Manöver, und der Segler landet im Nass. Das kann glimpflich ausgehen, wenn es warm ist und du gerettet wirst. Das kann nicht so glimpflich ausgehen, wenn es im falschen Moment am falschen Ort geschieht. Dann macht es ganz schnell gluck, gluck, gluck.

Ich hatte das Glück, das Segeln recht früh zu lernen. Mein Vater brachte es mir bei, auf dem Maschsee in Hannover. Mit neun oder zehn machte ich einen kleinen Kurs, saß in einem Optimisten, wie es die meisten Segelkinder tun. Das ist ein winziges, herrliches Bötchen, im Grunde nur eine Art leicht gebogener Kasten mit einem Segel drauf. Im Nu zusammengebaut, im Nu ins Wasser geschoben.

Der Maschsee war ein guter See. Lang und schmal und von grünen Ufern umgeben. In den Sommern war das Wasser warm, und wir kenterten und planschten und schwammen und tauchten. Ich weiß nicht, was ich ohne den Maschsee und ohne meinen Vater geworden wäre. Womöglich Bergsteiger oder Fußballfanatiker? Nicht auszudenken.

Danach vergaß ich das Segeln wieder, blieb aber dem Wasser treu. Ich wechselte zum Windsurfen, eine weitere Form des Segelns. Schnell, feucht, sportlich. Zu genießen auf Baggerseen, auf dem Meer, in den Wellen vor Hawaii. Ich wundere mich noch heute, warum manche Skipper auf ihren Yachten über die Windsurfer und Kitesurfer lächeln und diese Ertüchtigung als Kinderei betrachten. Das ist erstens falsch, zweitens hochnäsig und drittens dumm.

Jeder Skipper auf seinem Dickschiff sollte sich mal auf ein dünnes Windsurfbrett stellen. Es herrschen dort die gleichen Gesetze, bestimmt durch Wind und Wasser. Auf einem schlichten Surfbrett aber spürt man die Launen des Windes in den eigenen Muskeln, jedes Zucken seiner Macht. Der Skipper wird nass. Er ist nicht mehr auf dem Wasser, sondern auch mal im Wasser. Und das kann nie schaden, auch beim Segeln nicht.

Eines Tages änderte ich wieder leicht den Kurs – zurück zum klassischen Segeln. Ich kaufte mir ein Folkeboot, danach ein etwas größeres Schiff und anschließend ein noch größeres.

Im Winter schleife ich mein Boot und lackiere es und mache mir die Finger schmutzig. Im Sommer kommt das Boot frisch geputzt ins Wasser, und ich versuche, so viel Zeit wie nur irgend möglich auf meiner schwimmenden und segelnden Behausung zu verbringen. Oft arbeite ich auf dem Boot. Schlafe auf dem Boot, lebe darauf. Mit meinem Segelboot kann ich entfliehen, hinaus aus der Menschendichte der Städte, des Lands. Hinaus in Richtung Küsten, Inseln, Meer.

Aber auch das ist bloß eine weitere Spielart dieser erstaunlichen Erfindung namens Segeln. Wer hat sich das nur ausgedacht? Wer kam auf die Idee, einen ausgehöhlten Baumstamm, ein Floß oder sonst etwas mit einem Tuch, Lappen oder Segel zu versehen – und zu beobachten, wie das Ganze sich plötzlich in Bewegung setzt? Wie nur der Wind das sonderbare Gefährt über das Wasser pustet?

Man rätselt darüber, wem als Erstem dieser Geistesblitz durchs Hirn fuhr. Den Polynesiern mit ihren Auslegerbooten? Den Ägyptern mit ihren Felukken? Den Chinesen womöglich, die sich an ihren frühen Dschunken versuchten? Welcher Historiker kann schon so genau zurückblicken? Keiner. Nur eines ist gewiss: Wer auch immer auf die Idee kam, ein Segel in den Wind zu stellen, er hat der Menschheit eine der schönsten, leisesten und saubersten Arten der Fortbewegung geschenkt, die es bis heute gibt.

Das Segelboot kann, was Autos, Frachter, Flugzeuge nicht können. Es kann schwer tragen und weit reisen und – braucht dafür keinen einzigen Tropfen Benzin. Ein Segelschiff fragt allein nach Wind und Wasser.

Zugegeben, die Fortbewegung unter Segeln ist vergleichsweise langsam. Aber sie führt anstandslos zum Ziel, auch wenn dieses auf der anderen Seite des Globus liegt, während die anderen Fahrzeuge schon hinter Paderborn nach Diesel, Öl, Kerosin und Super gieren.

Das Segelboot ist uralt, es schwamm schon zu vorbiblischen Zeiten. Heute begeistert es Millionen. Es existiert mittlerweile in Tausenden Formen, Variationen, Materialien, Ausführungen. Ganz groß, ganz klein. Schwer oder leicht. Klassisch oder modern. Gemütlich und gediegen oder so schnittig wie ein dahinflitzender Thunfisch.

Ich hatte Glück. Denn ich durfte bisher auf so einigen dieser herrlichen Segelfahrzeuge sitzen. Und auf ihnen übers Wasser reisen.

In Belize fuhr ich mit Russel durch die Korallensee des vorgelagerten Barriereriffs. Russel, ein Rastafari, meinte, er könne sich ein Boot borgen. Wir wollten von der kleinen Insel Caye Caulker zur noch viel kleineren Insel Tobacco Caye. Und Russel sagte: »No problem.«

Am nächsten Morgen stand er wie verabredet neben dem Boot, gegen zehn liefen wir aus. Auf einem nicht mal sieben Meter langen karibischen Fischerkahn, robust und schwer, gebaut aus Holz, gestrichen in Weiß, Blau, Türkis. Das Boot war völlig offen, der unlackierte und von Trockenrissen gezeichnete Mast trug eine Gaffel und ein Segel aus alter und schon scheckiger Baumwolle. Russel hatte überhaupt keine Ahnung vom Segeln, aber er konnte sich so ein paar Dollars verdienen und sagte mindestens zehn Mal in der Stunde: »No problem, my friend.«

So segelten wir südlich, immer am Riff entlang. Wir segelten zwei Tage und eine Nacht mit dem Passat, wir schliefen in dem warmen Wind an Deck, und ich blickte in das hellblaue und kristalline Meer. Ich sah die Papageifische, die bunten Lippfische, die Barrakudas und die Haie. Es war das schönste Segeln, das ich je erlebt habe. Wir waren jung, und Russel hatte keine Ahnung, doch das alte knarzende Boot trug uns durch das Korallenmeer, bis die von Palmen bestandene Insel Tobacco Caye in der tropischen Hitze vor unserem Bug auftauchte.

Russel blieb eine Nacht, er schlief an Bord. Am nächsten Morgen sah ich ihn am Horizont. Das alte Segel, der kleine Kahn. Nur noch ein Fleck auf dem Weg zurück nach Norden.

Einmal segelte ich von Malta nach Sizilien. Es wehte stark, und der Skipper drehte um, aber am nächsten Tag schafften wir es nach Italien. Es war eine Charteryacht, vierzehn Meter lang, und es konnten sich auf diesem Schiff sechs Gäste einbuchen. Solche Kojencharter sind beliebt, viele beamen sich gerne mal für eine Woche auf eine Segelyacht. Segler und Nichtsegler, Alt und Jung. Der Skipper trägt die Verantwortung, die Gäste können mit anpacken, können Segeln lernen oder einfach in der Sonne liegen. Man kann das heute überall erleben. Auf der Ostsee, an der dalmatischen Küste, in der Ägäis, vor Bora-Bora.

Ich erinnere mich an das Schiff. Eine Plastikyacht, wie es sie heute zu Hunderttausenden gibt. Fabrikware, Wohnwagen zur See. Diese Kunststoffyachten können sehr schön sein, sie können aber auch sehr hässlich sein. Unsere Yacht war mittelschön. Obwohl es mir gar nicht behagt, irgendein Segelschiff als mittelschön, plump oder gar hässlich zu bezeichnen. Das ist arrogant. Es gehört sich nicht. Alle Segelschiffe sind schön. Sie können schwimmen, sie lieben den Wind.

Ein Tag an der dänischen Ostsee, auf der Insel Ærø, es wehte gut. Unweit von meinem Boot, das am Anleger vertäut war, lag ein Hobie Cat, ein Strandkatamaran. Daneben saß ein Mann im Sand. Ich ging rüber und fragte, ob wir nicht eine Runde drehen könnten. Sicher, sagte er. Ich zog meinen alten Surfanzug an, wir schoben den Kat ins Wasser, der Mann senkte die beiden Ruderblätter nach unten, nahm das Großsegel dicht, und schon schossen wir über die Wellen.

Ich stellte mich auf die Kante, hing im Trapez, und der Katamaran ging auf die Seite, flog übers Meer, mal flacher, mal mit schöner Krängung. Die Gischt spritzte uns um die Ohren, und wir segelten raus und wieder rein, raus und wieder rein. Wir segelten zwei Stunden lang. Die Sonne schien, ich schrie vor Freude.

Einmal durfte ich auf einem »Zwölfer« mitsegeln, benannt nach einer Berechnungsformel für eine Bootsklasse. Ein ungemein stolzes Schiff. Ein »Klassiker«, wie man die alten und bis heute vielleicht ansehnlichsten Segelschiffe nennt. Über zwanzig Meter lang, aus Holz, erbaut für Regatten. Schlank, schnittig, erhaben. Alles blitzte und glänzte. Die Beschläge, die Winschen, die Klampen. Mächtig und riesig stiegen die Segel am übertakelten Rigg gen Himmel, und wir segelten von der Flensburger Förde durch die Nacht, durch den Kleinen Belt, an Middelfart vorbei, schließlich über das Kattegat bis zum schwedischen Marstrand.

Nachts saß ich an der Pinne, blickte auf den Kartenplotter. Unten in den schmalen Rohrkojen schliefen vier Männer und schnarchten. Wir hockten oben im Cockpit, zu zweit, und steuerten dieses ausgewachsene Rennpferd quer über die Ostsee. Man konnte es kaum spüren, aber das Boot flog. Es machte über zehn Knoten, obwohl nur eine mäßige Brise ging. Eine Diva. Eine Windbraut. Sie trug den Namen Sphinx.

An was für Boote erinnere ich mich noch?

In Dubai überredeten wir einmal den arabischen Besitzer einer Dhau, uns mit raus zu einer Regatta zu nehmen. Wir fuhren mit seinem schnaufenden und schaukelnden Dampfer weit hinaus auf den Arabischen Golf, mitten durch die Gluthitze. Im Schlepp des alten Seelenverkäufers dümpelte die Renndhau. Konstruiert aus indischem Meranti-Teak, das von der Malabarküste kam. Flach wie eine Flunder, fast zwanzig Meter lang. Man konnte die Details der Konstruktion sehen und befühlen, die Planken, die Spanten, die Wrangen. Das Boot war völlig offen, es hatte nur ein Plumpsklo am Heck.

Am Mast ragte eine riesige Gaffel schräg nach hinten, und daran blähte sich bald das gewaltige Lateinersegel, weiß wie Schwanengefieder vor dem grünen Meer. Mit solchen Dhaus, nur größer und stäbiger, fuhren vor Hunderten von Jahren schon die alten Perlentaucher hinaus, erzählte uns Rashid, der Besitzer und Kapitän des Boots.

Wir tuckerten bis Sir Bu’ Nair Island, im Grunde kaum mehr als ein Haufen Kalkstein im Golf, besetzt vom Militär, und von dort startete am nächsten Morgen das Rennen. Ich durfte mit auf die Dhau. Großes Geschrei und Gezeter brach los, zehn Araber schnappten sich die Fallen, zogen und rissen, schmissen Sandsäcke hin und her, zum Trimmen des Gewichts, sie fluchten und lachten und setzen das mächtige Segel.

Die Dhau gewann sofort an Fahrt. Zischte über das Wasser, und der lange Rumpf bog sich durch die Wellen, als wolle er die Form des Meeres selbst annehmen. Den ganzen Tag segelten wir durch die schädelspaltende Hitze, die Männer in Tüchern und wehenden Gewändern. Ich eher bleichgesichtig unter all den Dunkelhäutigen, eingecremt mit Schutzfaktor 50 plus, einen großen Sonnenhut auf dem Kopf.

Pures Segeln. Keine metallene Klampe zerstörte das Schiff, kein Teil aus Nirostahl, Messing oder Bronze glänzte. Die bildschöne arabische Dhau bestand ausschließlich aus Holz, und es war Segeln wie vor tausend Jahren.

So viele Farben und Varianten kennt das Segeln. Was aber ist das Wesen dieser eigenwilligen Passion? Nun, niemand kann das so genau sagen. Manch einen fasziniert der auf großen Yachten geforderte Teamgeist, andere suchen auf ihren Schiffen die Einsamkeit, die Freiheit auf dem Wasser. Vertieft sich der eine mit Vorliebe in die Technik, tüftelt tagelang an Pumpen, Trimm und Takelage, jagt ein anderer Rekorden nach, während der Dritte den Müßiggang in einer stillen Ankerbucht genießt und ein Vierter den Trip ins Eismeer plant.

Viel schwingt mit im Segeln, mannigfaltig sind die Ingredienzien dieser hochsensiblen Leidenschaft. Segler können tagelang darüber schwatzen. Fachsimpeln, schwärmen, philosophieren. Es nimmt kein Ende.

Segelschiffe, gleich welcher Bauart, sind eben anmutige Geschöpfe. Die meisten tragen Frauennamen. Sie machen keinen Lärm, sie stören nicht. Der französische Schriftsteller Guy de Maupassant besaß selbst eine Yacht. Er hatte sie Bel-Ami getauft, »schöner Freund«, und mit dem nicht großen und kuttergetakelten Schiff unternahm er oft kleine Reisen entlang der Côte d’Azur. In seinem Buch Auf See, erschienen 1888, schrieb er: »Ich bin allein, wirklich allein, wirklich frei. Er eilt, der Rauch des Zuges am Ufer! Ich aber treibe dahin in einer geflügelten Behausung, die hübsch wie ein Vogel auf dem Wasser schaukelt, klein wie ein Nest, sanfter als eine Hängematte, und die, wie es dem Wind gefällt, sorglos über das Wasser schweift.«

Der Mann war den Segelschiffen verfallen. Denn sie sind weit mehr als ein »Sportgerät«, und ich will mir fast die Finger abhacken, wenn ich einen solch hässlichen Begriff für eine solch schöne Erscheinung verwende.

Überdies: Segelboote besitzen etwas Ursprüngliches, etwas Elementares. Kinder wissen das übrigens am besten. Irgendwann schnappen sie sich den ersten Buntstift ihres Lebens und beginnen, die Welt zu zeichnen. Sie malen die Sonne. Ein Haus. Einen Baum. Einen Menschen. Doch es dauert nicht lange, da taucht auf ihrem Papier das nächste Motiv auf.

Ein Segelschiff auf weitem Meer.

Ja,

so klare

und simple

Linien, Umrisse

und Formen besitzt ein

Segelschiff, es lässt sich sehr

leicht malen und zeichnen. Richtig,

sogar mit schlichten Buchstaben. Die Form

ist alt und markant. Man erkennt sie auf den ersten

Blick. Zwei Segel, dazu ein Rumpf und ein angedeuteter

Mast, schon ist das kleine und feine Schiffchen fertig. Da ist

es

kein Wunder, dass Kinder Segelboote so früh und gern

malen. Am Ende sind es aber vielleicht weniger die

Segelschiffe, die die Kleinen so beeindrucken.

Ich glaube, es geht um noch etwas viel

Größeres: das Meer selbst.

Die drei Wunder

Natürlich fragt man sich, wie das alles funktioniert. Warum schwimmt ein Schiff? Wie kommt ein Segelboot voran? Und wie kann es gegen den Wind ansegeln? Und dann gibt es da noch eine Frage, mit der jeder Segler konfrontiert wird, sobald ein Nichtsegler an Bord weilt und der Wind das Schiff auch nur wenige Grad auf die Seite legt: »Kann das Boot auch wirklich nicht umkippen?«

Viele Segler kennen die Antworten, das meiste ist physikalisch recht einfach zu erklären. Und doch mutet es immer wieder wie Hexerei an, wenn ein Boot unter Segeln – vor allem bei ganz wenig Wind – über das Wasser schwebt. Und tatsächlich vorankommt.

Das erste Wunder ist der Auftrieb. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: Wasser gibt dem leisesten Druck nach, und doch trägt es die schwersten Lasten. Wie wahr – und wie absurd auf den ersten Blick. Du kannst deinen Finger ins Wasser drücken, ohne den geringsten Widerstand zu spüren. Dann wieder sehen wir Schiffe über die Ozeane fahren, die Hunderttausende Tonnen wiegen. Die fast vierhundert Meter lang sind, zwanzig Stockwerke hoch, die viertausend Kreuzfahrer durch die Karibik schleppen, Theater an Bord haben, Shoppingmalls, Büffets, Spielhöllen und weiß der Teufel, was noch.

Schon vor zweitausend Jahren kam der Naturforscher Archimedes dem Mysterium auf die Schliche. Nicht in erster Linie das Gewicht eines Gegenstands, sondern seine Form, Dichte und sein Material entscheiden darüber, ob er schwimmt oder sinkt. Ein Körper muss so geformt sein, dass er das Wasser verdrängt. Und zwar muss er mehr Flüssigkeit verdrängen, als er selbst wiegt – dann schwimmt er. Das Verhältnis liegt bei exakt eins zu eins: Nach dem archimedischen Prinzip ist der Auftrieb genauso groß wie das Gewicht der verdrängten Flüssigkeit.

Man kann sich das leicht vorstellen. Eine Münze geht sofort unter. Sie ist schwerer als Wasser. Legen wir sie jedoch behutsam in eine kleine, aus Aluminiumfolie geformte Schale – die Münze wird schwimmen. Denn die Alufolie verdrängt das Wasser.

Eine so schlichte wie elegante Methode, der Gravitation ein Schnippchen zu schlagen. Nur leckschlagen sollte ein Schiff nicht. Denn dann nimmt die verdrängte Wassermenge langsam, aber sicher ab. Der Kahn geht auf Tiefe, er säuft ab. Auch für Segler eine der gruseligsten Vorstellungen: Wassereinbruch. Die schlichteste und älteste Methode, dagegen anzukämpfen, ist das Wasserschöpfen mit Pützen, Ösfässern, Eimern, Schöpfkellen, Kaffeebechern – was immer zur Hand ist, her damit! Die meisten größeren Segelboote jedoch besitzen Lenzpumpen in der tiefsten Stelle des Bootsinneren, der Bilge. Dort sammelt sich alles eindringende Wasser, die Pumpe befördert es außenbords. Kommt die Pumpe nicht mehr gegen den im Schiffsinneren steigenden Wasserpegel an, können Leckpropfen helfen. Man steckt, drückt oder hämmert sie in das Loch im Rumpf. Oder behilft sich sonst wie. Willkommen ist in so einer Notlage alles, was das Wasser irgendwie stoppt. Man kann Handtücher in die klaffende Öffnung stopfen, Rettungswesten, Turnschuhe, Windeln, Kissen, Toupets. Völlig egal.

Oder man nagelt ein Sperrholzbrett auf das Leck und dichtet dies vorher mit einer wasserfesten Dichtmasse ab. Segler in Not haben schon Kombüsentische, Bodenbretter und Schrankborde zersägt, um diese auf eine Leckage zu schrauben. Eine weitere Alternative besteht darin, sogenannte Lecksegel an Leinen über Bord ins Wasser zu ziehen, bis der Wasserdruck das Tuch von außen gegen das Loch presst und es so halbwegs dichtet. Wer zu solchen Methoden greifen muss, steckt allerdings schon verdammt tief in der Patsche.

Und je größer das Loch, desto größer das Problem. Dann ist es ganz schnell vorbei mit dem ersten Mirakel – dem überlebenswichtigen Auftrieb.

Das zweite Wunder beim Segeln ist der Vortrieb. Und hier wird es schon eine Spur komplexer. Der Wind treibt das Schiff voran, und dies kann auf zweierlei Weisen geschehen. Kommt der Wind mehr von »hinten«, also von achtern, pustet er das Boot schlicht voraus. Die Segel dienen dann dazu, den Wind zu bremsen, weil sie ihm einen Widerstand bieten. Das aber mag der Wind nicht. Er drückt. Er schiebt. Das Boot fährt voraus. Vom »Vortrieb durch Widerstand« ist hier die Rede, und das ist noch recht einfach.

Kompliziertere Gesetze sind am Walten, wenn »Vortrieb durch Auftrieb« entsteht. Kein Segelboot der Welt kann exakt gegen den Wind segeln. Doch je besser die Segel eines Schiffs getrimmt sind, je flacher sie stehen und je effizienter der Rumpf dafür konstruiert ist, desto spitzer wird der Winkel, mit dem ein Segelschiff »hoch am Wind«, also fast gegen den Wind, segeln kann. Es kreuzt gegen ihn an – und so schafft es das Boot am Ende tatsächlich, Strecke gegen den Wind gutzumachen.

Die Segel müssen dafür ein aerodynamisches Profil erzeugen. Was aber geschieht genau? Die »Tücher« teilen den Wind zunächst in zwei Luftströme, wenn dieser an den Eintrittskanten der Segel vorbeistreicht. Die Segel schneiden den Wind förmlich entzwei. Die Teilchen der Luft mögen allerdings auch das nicht besonders. Denn Wind wird nicht gern durch ein Segel abgelenkt, umgelenkt, gestört, zerteilt oder auf irgendeine andere Bahn gezwungen.