»Was ist dieses Buch?« fragt sich der Autor zu Beginn augenzwinkernd selbst. Textpatience, Bericht, Vorwort zu einem Roman oder der Roman selbst? Bald stoisch, bald engagiert bis enragiert kritisch gibt er die Antwort, folgt dem Bogen reicher Erfahrung mit nazistischer, kommunistischer, reformkommunistischer, nachwendezeitlicher und orbánistischer Herrschaft in Ungarn und den Verwerfungen Europas in dieser, seiner Zeit. Erzählerische Sequenzen und historische Diagnosen wechseln mit Meditationen und Maximen. Im Zentrum von Konráds »Nachsinnen« aber stehen die Porträts einzelner Menschen und ihrer Handlungen. Als ein Zug positiver wie negativer Haupt- und Nebenfiguren erscheinen sie uns im »Gästebuch« seines Lebens: Es sind maßgebliche Politiker der wechselnden Herrschafts- und Unterdrückungssysteme ebenso wie die kleinen Handlanger mit ihren windig-flüchtigen Loyalitäten. Schriftstellerkollegen, deren Autonomie den Autor Konrád beeindruckte, und solche, die sich der Macht ergaben. Geliebte Frauen. Und immer wieder die Familie, die in der Shoah ermordeten jüdischen Freunde und Verwandten, denen das Gästebuch ein eindrucksvolles Denkmal setzt.

György Konrád, der Dissident und unerschrockene Beobachter, vielfach ausgezeichnet und geehrt, ist einer der großen Chronisten unserer Zeit. Mit seiner narrativen Vitalität hält Gästebuch inmitten aller Schrecken, auch der Gegenwart, Kurs auf die Ideale Freiheit, Autonomie, Eigensinn und Selbstvertrauen.

György Konrád, geboren 1933 in Debrecen (Ungarn), Schriftsteller, Essayist, politischer Beobachter. 1997–2003 Präsident der Berliner Akademie der Künste, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und des Internationalen Karlspreises zu Aachen.

Zuletzt erschienen
Das Pendel. Essaytagebuch, 2011
Über Juden, 2012
Europa und die Nationalstaaten. Essays, 2013

György Konrád

Gästebuch

Nachsinnen über die Freiheit

Aus dem Ungarischen von
Hans-Henning Paetzke

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© György Konrád 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Regina Göllner

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74466-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Eine Art Vorwort

Regel

Gefundener Name

Aus dem Stand aufsteigen

Nicht Erlösung, sondern Überleben

Linie der Entscheidungen

Wann hast du gelogen und wann nicht?

Jeder Tag ein Dankfest

Eigener Fatalismus

Vom Dilemma der monotheistischen Religionen

Alles Gewesene ist anwesend

Immer nur jenseits?

Wandlungen hin und her

Der ehrenamtliche Idiot reißt sich zusammen

Was wird von ihm bleiben?

Nichts Häßliches

Freude des Eingesperrtwerdens

Es hat überhandgenommen

Strenge

Pulsieren

Die Troika entfernt sich

Ich werde erwartet

Krönung und Revolution

István war in der Schule mein Banknachbar

Die anderen Kinder wurden getötet

Meine Mutter unterhält sich mit den Verstorbenen

Er war ein großer Schlingel

Die Friedhöfe werden aufgefüllt

Gründliche Arbeit

Angenehm

Meine Klassenkameraden gingen sofort in die Gaskammer

Die anderen wurden eingeäschert

Imre, laß dich nicht unterkriegen!

Sagen möchte er sonst nichts

Wir hatten einen schönen, warmen Sommer

Er wird dich rufen

Sie sind verschwunden

Der Intrigant ist tot

Auslese

In deinem Mundwinkel die Seele der Stadt

Zwei Halunken finden sich ein

Terror ist jetzt kein Thema, dafür aber Korruption

Schwerfällige alte Vollstrecker

Sich erinnern heißt lernen

Terroristische Weltanschauung

Vagabundierende Optik

Romanstadt

Blick in den Rückspiegel

Ein fundamentaler Ort

Glücklich

1989. Rhetorikflut

1990. Die Schule des Landes

Wir haben Zeit

Ein verschneiter Morgen mit einem Säugling

Die quälende Leidenschaft der Politik

Zufällige Opfer

Smigura und Zavarkó

Unberechenbares Wandern

Klassisches Ereignis (1989)

Die Geschichten wuchsen zusammen

Im Rosengarten lagen unsere Anfänge

Die Schönheit der Unterwelt

Landung auf der Gänseweide

Einer von jenseits der Theiß jenseits der Donau

Das Hotel steht, Arnold ist gefallen

Kohn geht zum Rabbi

Es fliegt das Quarkkäulchen

Ein Liebesbrief brennt auf einer Zierkerze

Nur eine Erklärung

Gut, aber etwas kürzer!

Bulgarischer Regenschirm

Alter Manuskripteschmuggler

Schlaf nicht ein!

Die Mundwinkel hingen herunter

Die Anekdoten der Firma

Die sechsundfünfziger Generation

Soviel Menschen, soviel Wege

Geistvolle Dummheiten führten zu den Massengräbern

Der Wahn kollektiven Prahlens

Er artikuliert sich und tötet nicht

Greif dich selbst an

Grauzone zwischen Genuß und Leiden

Idee und Töten

Wie machen wir aus Menschen Kampfhunde?

Großspurigkeit

Antipolitik – die Frage Jesu

Ein Schriftsteller ist kein Diener

Bequemlichkeit des Mauselochs

Das kann man sagen

Die Krankheitsdiagnose des lokalen Idioten

In ihrer Sehnsucht nach Lehren schäkern die Dümmeren mit den Diktaturen

Befreiung und Resignation

Bis zum Tod dauernde Schule der Angst

Organische Gleichheit

Lied einer leichten Dame

Die Ungarn sind wie du

Abgewogene langsame Rede

Du wirst dem Katzenfutter beigemengt

Den Freund lassen wir nicht im Wasser

Ich sah mich um, und niemand stand hinter mir

Polnisch-ungarische Parallele

Wie der Hirsch den Geruch des Tigers

Achtung vor den Hungrigen

Zwanghaft

Gruppenporträt – 1987

Aussprechen und Sich-Verstecken

Nach Schließung der Kneipe

Wissen und Taktgefühl

Wem sonst würde er dienen, wenn nicht seinem Werk?

Lärmen unter dem Himmel

Eine Möglichkeit zum Zechen

Auf ländlichem Hügel am Donauufer

Was ich schreibe, das ist keine Staatsangelegenheit

Er hatte keine Lust, ihn abzuknallen

Rausch

Nicht leicht, ein Deutscher zu sein

Die beständigen Werte der Intelligenz

Geschütztes Alter

Immergrüne Nichtigkeiten

Rosch ha-Schana

Einfach nur so

In der Budapester Innenstadt

Zu Anfang des neunten Lebensjahrzehnts

Der Ehemann ist domestiziert

Laß sie ins selbe Horn blasen!

Bedeutende und bizarre Personen

Der Angesprochene klappert mit den Zähnen

Stationen einer einzigen Emanzipation

Identität an den Garderobenhaken!

Tanz des Erbes

Der ethnische Nationalstaat geht mit Unheil einher

In einem Menschen gibt es mehr

Begegnungen von Antike und Moderne

Über die Würde des Menschen

Das Schriftwerk ist ein Subjekt

Zwischen Tod und Dennoch

Der Roman und die Stadt

Die Bühne läßt sich ausweiten

Loyale Dummheit

Er geht aus dem Bild

Über Helden

Manchmal muß es sein

Du bist verhaftet

Wer war jene Frau?

Nur die Biographie und die Erinnerung

Es gefällt mir von vornherein

Erotik unseres Gehirns

Dialog von Bürger und Schriftsteller

Der Mond nimmt zu

Körper der Vergangenheit

Für ihre Freiheit sollen sie büßen

Begabungsschutz

Alles Menschliche ist Luxus

Akademie der Künste, Berlin, Hanseatenweg 10

Der Mensch wird von seinen Möglichkeiten übertroffen

Der Verstorbene lügt nicht

Die Zeitgenossen mögen die Nekrologe

Der Scheiterhaufen ist verschwunden, es entstehen Liebesgedichte

Dilettantisch

Das bist du

Glaubst du, daß ich schweben kann?

Abschied von Emilia

Sie kann auch hinten sehen

Gesichter über dem Bierkrug

Ego versus alter

Ego versus ego

Wer ist diese Mama?

Die Kunst der Verführung

Reue gibt es nicht

Die Worte eilen dahin

Sowohl Gast als auch Hausherr

Der Führerkult ist eine Geisteskrankheit

Über unsere Identitäten

Ich bin den Lehren entglitten

Das Menschenmaterial bleibt

Meine Entscheidungen umringen mich

Hart wie Beton, weich wie Gelatine

Anschwellender Gesang

Halsstarrige Ungeheuer

Es kommt vor, daß einer am Leben bleibt

Ich lege meinen Plunder ab

Zwei reglose Schwertklingen

Das Geschehene hinterläßt Spuren

Kein Wettkämpfer

In der Finsternis ballen sich jene vielen Halbkügelchen zusammen

Kluges Herz

Unglückselige

Erinnerung ist reine Dichtung

Eine Art Vorwort

Warum Gästebuch?

Autor und Leser laden sich gegenseitig ein.

Werde ich letzteren zu sehen bekommen? Ich habe ihn sogar schon besucht.

Ich öffne ihm die Tür, damit er durch mein Haus, meine Lebensgeschichte streifen kann. Vielleicht erfährt er auch etwas von meiner Weltanschauung als Schriftsteller; ein kleiner Einblick mag genügen. Mehr sollten höfliche Menschen nicht erwarten.

Über der Lektüre entscheidet sich, ob er das Buch beiseite legt oder weiterliest, ob er bereit ist, über die Fragen und Behauptungen nachzusinnen, von denen das Ganze wimmelt. Ob er sich bei Sätzen, die auch beim Autor ein verborgenes Lächeln vermuten lassen, ein inneres Lächeln gestattet.

Antwortet der Leser darauf mit »Ja«, zieht das folgende Frage nach sich: »Was eigentlich ist dieses Buch?«

Treffen wir zwischen nachstehenden Angeboten eine Wahl!

Berichterstattung eines speziellen Bewußtseins? Textpatience? Oder schon Roman?

Jeder betitelte Eintrag darin ein Kapitel oder eine Strophe.

Mehrere ältere Passagen bearbeitet oder ganz neu geschrieben. Die Auswahl blieb Zufall und Belieben überlassen.

Jetzt aber stellen sich die Dinge anders dar als damals: Ich komprimiere, präzisiere, nehme Umstellungen vor, trenne verdrießliche Sätze voneinander – Strenge und Launenhaftigkeit eines alten Mannes.

Anmerkungen zu einer Haltung, Suspendierung humanistischer Schmeichelei dem Menschen gegenüber, doch überdrüssig sind wir auch der Misanthropie.

Nur uns Menschen gibt es, sonst nichts.

Ich könnte sagen, wir sollten uns zusammenreißen und zur Vernunft kommen, während sie sagen könnten, sie hätten genug von mir, ich sollte mich in meinem Zimmer vergnügen oder auf dem St.-Georg-Berg spazierengehen und mir das Gesicht im Wasser des Löwenbrunnens waschen.

Was bleibt einem achtzigjährigen Autor am Ende eines solchen – etwas zu lang geratenen – Vorworts? Seinen Lesern noch viele glückliche Jahre zu wünschen und den hiermit von ihm eingeführten Roman zu schreiben, hinter dessen letzten Satz dereinst JEMAND einen Punkt setzen wird.

Regel

Jene eigenartige Gesellschaft, zu der wir gehören, bevölkert seit einigen tausend Jahren den Erdball.

Große Bibliotheken haben wir schon besucht; wir begreifen unsere Nichtigkeit; dennoch wollen wir lebensfähige, selbst unseren Tod überdauernde Bücher in die Regale der Weltbibliothek stellen.

Die Zahl der Schriftsteller nimmt schneller zu als die der Leser. Wettkampf ums Überleben. Wir verstecken uns, damit man auf unsere Worte achtet. Schamhaftigkeit bei gleichzeitiger Schamlosigkeit. Der Schriftsteller ist insgeheim ein laizistischer Mönch. Unser Orden: ein Weltbund rasender Individualisten. Über uns haben wir niemanden, nur den Sternenhimmel. Orden ändern ihre Regel nicht bei jedem Modehauch.

Da die Menge der zu erzählenden Dinge unendlich größer ist als die der zu schreibenden, ist es ein Werk der Willkür, was davon hervorgehoben wird. Wer weiß schon, welches Ereignis wir für die Erzählung auswählen, ahnen wir doch nicht einmal, wer wir morgen sein werden.

Der Autor will den Text nicht so leicht in Vergessenheit geraten lassen. Arbeit gegen den Tod. Er schreibt darüber, um ihm zu entfliehen, übt sich im Neinsagen, im Kampfsport der Ablehnung, tröstet sich damit, daß es einen Anspruch auf dichte Sprache im Gegensatz zur Geschwätzigkeit immer geben werde. Turnübungen der Gefühle, vom Kalten ins Warme, vom Sich-Sehnen zum Widerwillen, nach Annäherung Sich-Entfernen.

Lesen ruft Stimmungsschwankungen hervor, bringt unsere Seele in Schwung, so daß wir das Leben gleichzeitig unter den Aspekten seiner Vitalität und seiner Sterblichkeit betrachten können. Literatur konfrontiert den einmaligen Fall, dessen beachtliches Abgerundetsein eine Geschichte entstehen läßt, mit Allgemeinplätzen. Sie hat Anfang und Ende. Wie eine Reise.

Gefundener Name

Du fragst, lieber Leser, wer dieser Kalligaro sei, der meist in der ersten Person Singular spricht? Ein Name, den ich vor unserem Haus in Hegymagas auf einem alten Brunnenkranz gefunden habe. Vor dem Ersten Weltkrieg war Kalligaro ein Fabrikant von Betonelementen. Sein Name ist in der Umgebung von Tapolca vielerorts zu sehen. Andere Spuren gibt es nicht, nur Tränkrinnen. Grabsteine. Eine fiktive Gestalt, in deren Namen ich spreche, die in meinem Namen spricht. Jemand also, mit dem ich mich gelegentlich verwechsle.

Sagen wir: mein Freund, mein Helfer, dem ich alle möglichen Lasten aufbürden kann, Scherpa im Hochgebirge, angeheuerter heimischer Reisebegleiter und Träger, mein Faktotum, das mich mit blitzschneller Leichtigkeit durch Zeit und Raum transportiert und das ich noch lange brauchen werde. Ein Mensch, den ich von der Seite betrachte oder vielleicht vom Mond aus. Kalligaros Spielraum ist größer als meiner, der Ausschlag seiner Amplituden ist beträchtlich. Für seine Verdienste darf er umsonst in meinem Hinterkopf wohnen. Manchmal kommt er von dort hervor und erfindet so manches, das ihm sonst nicht eingefallen wäre.

Aus dem Stand aufsteigen

Im Wohnzimmer, auf der Veranda und der Gartenbank biete ich den Gästen einen Platz an.

In den zurückliegenden Jahrzehnten half ich einigen Ideen, in Bewegung zu bleiben. Den Wirrwarr hielt ich für interessant, und den Kitsch neuesten Jahrgangs ließ ich nicht aus den Augen. In meinen Entscheidungen ließ ich mich von der Moral des Schriftstellers leiten. Das wenigstens hätte ich gern geglaubt. »Und was wäre das?« fragte mich der Dämon. »Der Wille zur Autonomie des Geistes«, stammelte ich.

Wir stolpern von Mißverständnis zu Mißverständnis, segeln dahin in der Barke unserer Illusionen; was heute schön ist, wird morgen lächerlich sein. Manches Mißverständnis funktioniert hervorragend; die Haßrede hierzulande geht leicht über die Lippen. Ebenso wie die Paranoia verrichtet auch deren Gegenteil, der Kitsch, seine Sache erfolgreich.

Zerfetze dich, dann setze dich wieder zusammen, und zerfetze dich erneut.

Es wäre mir nicht unrecht, würde man mich abholen, während ich Buchstaben kritzele.

Umherziehende Seele, sich wandelnde erste Person, mehr oder weniger Autobiographie, gemeinsam mit all denen, in die hinüberzuwehen das schaukelnde Ich Lust verspürte. Ich trotte durch die Straßen, sehe eine alte Frau, und schon bin ich selbst diese alte Frau. Die Wirklichkeit ist nicht Gegenstand, sondern lediglich Mittel meiner Sätze.

Ich richte die Bühne ein. Die Umrisse des Anblicks glimmen auf. Gehirnexplosion will ich ebenso wie die lange anhaltenden süßen Stunden, unzählig viele.

In solcher Zeit schulde ich niemandem etwas; die Pflichten fallen von mir ab, und ein wenig befreie ich mich auch von mir selbst: von meinem alltäglichen Sein, vom Familiären, vom Emsigen. In solcher Zeit drehe ich meinem Spiegelbild eine Nase und fliege aus mir selbst heraus.

Gern schreibe ich etwas auf Erfahrung Beruhendes, das emporsteigt wie britische Jagdflieger, die sich aus dem Stand und ohne Startbahn in die Luft erheben. Einem Falken gleich würde sich der plattfüßige Trottel gern hinweg von hier in die Höhe schwingen.

Wir hüpfen auf der Erdkugel umher, unterliegen dem physikalischen Gesetz der Gravitation. Doch wir, deren Körper hinabgezogen wird, wollen uns emporschwingen. Wenn nicht anders, dann in einer mit zwei Flügeln ausgestatteten, stotternden Prosamaschine.

Nicht Erlösung, sondern Überleben

Angenehm zu lesen, wenn ich weiß, daß mich nun jemand an die Hand nimmt, um durch das Labyrinth zu führen. Ich suche nach jemandem, der hier und da klüger ist als ich, nicht immer, doch in Dingen, die er gelernt hat, schon.

Ich möchte jemandem vertrauen. Eine Enttäuschung wäre unangenehm.

Wie soll der Roman aussehen? Soll er streng logisch aufgebaut sein? Oder soll er so sein wie die Welt, voller Überraschungen, Fluten zufälliger Verläufe und Begegnungen?

Die Bestandteile und Geschichten schwirren in mir umher wie unbefestigte Gegenstände in einem Raumschiff.

Aphoristisch-epigrammatische Einseiter, verselbständigte Sequenzen; außer der Ahnung gibt es keine umfassendere, zusammenhaltende Klammer.

In meiner Ein-Personen-Weltanschauung begrüße ich Gäste.

Eine Weile weitest du dich aus, wirst kompliziert, dann läßt du dich treiben, nimmst ab, bleibst allein und kommst ohne deine Besitztümer, deine Stellung und vielleicht sogar ohne deine Liebsten zurecht.

Zusammen mit von dir unabhängigen Ereignissen wird dein Schicksal geschrieben.

Dreitausend Jahre alte Texte liest du, als hätte sie dein Nachbar verfaßt. Es hat den Anschein, als könnten wir uns über große Distanzen von Raum und Zeit hinweg verstehen.

Es heißt, unser Gehirn werde mit der Zeit zusammenschrumpfen und das Absterben der Zellen gehe mit dem Schwinden der Neugier einher. Allmorgendlich bist du noch der, der du sein wirst, abends nur mehr der, der du gewesen bist.

Nicht in der Erlösung, im Überleben besteht unser Ziel.

Linie der Entscheidungen

Geboren 1933. Sechs Jahre alt war ich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, elf, als es außer vom Glück vor allem von meinem Aufgewecktsein abhing, ob ich überleben würde.

1956 hatte ich gerade mein Studium abgeschlossen, ein Diplom als Ungarischlehrer erhalten und einen Monat in meiner ersten Anstellung verbracht, als die Revolution ausbrach.

Da ich mehrfach in Grenzsituationen geraten war, begann ich früh, über das Problem der Entscheidung nachzudenken.

Uns gelegentlich entscheiden zu müssen, das ist unser düsteres Privileg.

Der Jugendschutzinspektor müßte den vom Unglück verfolgten Menschen beistehen. Aber wie? Tägliche Reifeprüfung.

Du kannst nicht nach einem Handschlag oder einfach nur freundlich mit dem Kopf nickend weitergehen.

Es kann auch passieren, daß du den anderen trockenlegen und füttern mußt.

Das übliche Dilemma von Wort und Tat: Was nimmst du auf dich, wenn du ein schwachsinniges Kind in die Hand bekommst?

Wie handelt ein professioneller Fürsorger, wenn er seinen Schutzbefohlenen nicht weiterreichen kann, wenn er infolge eines Zusammenspiels unglücklicher Zufälle die Last des auf ihn angewiesenen anderen Wesens selbst tragen müßte?

Wann hast du gelogen und wann nicht?

In den Zeitungen lese ich die Traueranzeigen; die Unzahl der Tode gleicht den abgepflückten Pflaumen von einem altersschwachen Baum. Ich betrachte die älter werdenden Gesichter der Kollegen, höre mir ihre Berichte über Urämien, Hirnblutungen und Geschwülste an, habe mein möglichstes getan, den einen oder anderen im Krankenhaus besucht, allerdings ohne die Selbstvorwürfe zu übertreiben, wenn jener großartige Mensch inzwischen verstorben sein sollte, bevor ein weiterer Besuch fällig gewesen wäre.

Schmeichelhaftes Flunkern hilft uns, den Toten leicht zu vergessen. Bei der Personalstandskontrolle wird sein Name nicht mehr genannt. Manchmal kommt er als umherirrende Gestalt hervor; ein wenig halten die Freunde an ihm ebenso fest wie an ihrem Vermögen. Nach einem Menschenalter gehen die herzerwärmenden Erinnerungen an den Toten verloren. Eine seiner besten Eigenschaften besteht darin, daß er nicht mehr lügen kann.

Zum Bau einer Romanstadt bedarf es der Ruhe. Daß meine Arbeit früher oder später das Tageslicht erblickt, das hoffe ich; es würde auch nichts ausmachen, sollte ich selbst mich dann schon aus dem Tageslicht verzogen haben.

Wenngleich der Mensch nicht versuchen sollte, den Tod zu bezwingen, würde die Niederlage doch wenigstens abgemildert, dem totalen Verschwinden etwas abgehandelt werden, wenn ein kleiner Teil von uns hier noch sein Leben fristen könnte.

Am Beginn steht der Zustand des Kindes, und dorthin kehre ich zurück. Das Erwachsensein ist sowohl geistig als auch körperlich ein mehr oder weniger langes Höhenprovisorium.

Jeder Tag ein Dankfest

Die Stimmung erreicht einen Höhepunkt, die Gesellschaft will sich nicht auflösen. Wenn die Beleuchtung am hellsten ist, kommt die Verdunkelung.

Das Attentäterbewußtsein lockt dich auf das Hausdach, und von dort stößt es dich hinab.

Du bist neugierig darauf, was dich erwartet, und auch darauf, wie sich die Dinge entwickeln, wenn du in das Rollen der Kugeln eingreifst. In Arbeit ist die fleißige Selbsterhaltung, der Überlebende kommt zu Kräften, aus Asche und Trümmern lebt er wieder auf und wird von Zeit zu Zeit wiedergeboren.

Eine verdächtige Persönlichkeit, imstande, sich über ihre teuren Toten hinwegzusetzen.

Viele meiner Zeitgenossen sind schon gestorben; auf der Terrasse hier lasse ich Schemen aufleben.

Es dreht sich das Spinnrad, ich spinne den Faden, jeder Tag ein Dankfest, jeder Abend ein Abschied.

Wäre dieser Tag mein letzter, dann wäre ich dort, wo ich bin, an einem guten Ort.

Eigener Fatalismus

Ich sah die Küsse der Parteiführer, auf deren Armen Junge Pioniere mit Blumensträußen; ich sah die in Volkstrachten steckenden und Brot anbietenden Frauen, die Panzer- und Raketenkolonnen der Militärparaden.

Mürrisches Verletztsein, rachsüchtige Verbitterung gegen die Mächtigen meines Landes oder des Ostblocks hegte ich nicht. Selbst wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, ihnen mit der Faust zu drohen, auf turbulenten Demonstrationen gegen sie zu brüllen, ich hätte es nicht getan.

Doch hätten sie mich gefragt, ob sie abtreten sollten, wäre ernstes Kopfnicken meine Antwort gewesen.

Schon als Schüler hatte ich keine Angst, wenn ich an die Tafel gerufen wurde. Auch jetzt habe ich keine Angst, wenn ich das Podium betrete und den Blicken des verehrten Publikums ausgesetzt bin.

Ich reise an das andere Ende des Kontinents, halte in der jeweils gewünschten Sprache einen Vortrag; zuvor aber bin ich bemüht, an nichts zu denken, trinke zwei Glas Kognak, hülle mich in eine Rauchwolke, warte ab, keine Wirkung, doch dann, plötzlich, erhasche ich aus dem Textgetümmel den ersten Satz. Wenn ich mich daran gut festhalte, zieht er mich weiter.

Mit meinen Gedankengängen habe ich es nicht eilig, nehme große Umwege auf mich. Beinahe schon betrete ich den Friedhof, doch im letzten Moment biege ich ab.

Zur Schule bin ich nicht gern gegangen, habe die organisierten Gemeinschaften, den Tumult gemieden, von Partys bin ich alsbald verschwunden.

Seelische Unbequemlichkeit macht körperlich müde. Doch mit den Blutsverwandten ist das eine andere Sache.

Meine Mutter und meine Kinder wollte ich immer in meiner Nähe haben, auch wenn ich ihnen nicht viel Zeit opferte. Sehen wollte ich sie und wissen, ob es ihnen gutgeht.

Als junger Mensch dachte ich, ungarischer Schriftsteller, auf einem lebenslangen Beobachtungsposten zu sein, das sei meine Aufgabe.

Und außerdem: Umsonst bin ich Jude, auf natürliche Weise reden und schreiben kann ich nur ungarisch; alles andere wäre meinerseits gezwungen.

Demzufolge mußte ich mich in einem eigenen Fatalismus einrichten.

Vom Dilemma der monotheistischen Religionen

Das Unmittelbare erscheint uns familiär. Statt die Welt theoretisch zu begreifen, versuchen wir es literarisch. Unsere Weltanschauung ist qualitativ und unwissenschaftlich, prinzipiell einmalig, eine Verlängerung unserer Persönlichkeit.

Mit zunehmendem Alter ertrage ich die großen Worte, die Beleidigungen und jene vielen dummen Taten schwerer, die aus Vorangegangenem folgen.

Torheit ist gern von sich selbst ergriffen, prahlt gern; Großmannssucht ist ihr Medium.

Versöhnung von Allmacht und Güte wären eine pädagogische Illusion?

Wozu leugnen? Es ist so.

Ironie: Erkennen von Einsamkeit in der Moral und im Ausgestoßensein. Die Welt läßt sich nicht bändigen, in einem Höhlenwinkel aber kannst du Feuer machen.

Sollen wir Blühen und Hagelschlag gleichermaßen als einen Augenaufschlag Gottes betrachten?

Sieben Rabbiner verurteilten als Religionsgericht in Auschwitz den Ewigen wegen Pflichtverletzung.

Gott als Schöpfer von Leben und Tod ist selbst Leben und Tod. Wenn er allmächtig ist, dann ist er auch böse. Ist er nur gut, dann ist er nicht allmächtig. Ist er nicht allmächtig, dann ist er ein Kollege, ein Dichter, geschlagen vom Kampf zwischen Gut und Böse.

Gott lebt im Sich-Wehrenden. Doch vermutlich auch im Angreifenden. Wir kommen nicht umhin, die beiden Gesichter Gottes, das des Schicksals und das der Liebe, miteinander zu verknüpfen.

Er ist der Gegensatz selbst, Einheit von Leben und Tod, Sehnsucht des Menschen und Geist des Seins. Der Gegensatz ist dazu bestimmt, nicht aufgelöst zu werden.

Darin besteht das unauflösliche Dilemma monotheistischer Religionen.

Alles Gewesene ist anwesend

Zum Winterausklang unter strahlendem Himmel wird ein auf dem Balkon auf und ab gehender Siebenundsiebzigjähriger befragt.

»War es gut?«

»Ja.«

»Und das Schlechte?«

»Auch das hat sein Gutes gehabt.«

Morgens zögere ich nicht, die Augen aufzumachen.

Das Ereignis meiner Vergangenheit existiert unabhängig von mir. Nur eben weiß ich etwas davon.

Sie gehört sowohl mir als auch anderen. Unabhängig von uns treibt sie in der rasend verharrenden Zeit.

Auch der Lebenslauf der anderen bleibt bei mir.

Die Gegenwart ist Illusion, die Grenze zur Vergangenheit, eine Trennlinie zwischen Licht und Finsternis.

Was gestern und vor zehn Jahren war, ist eine ebensolche Halluzination wie das, was in diesem Zimmer geschieht, wenn ich nicht hier bin. All jene hier geschehenen Ereignisse sind in diesem Zimmer anwesend.

Das mir und einem toten Freund in jenem seither abgerissenen Haus Widerfahrene, wo ist es geblieben, und wem gehört es? Auf jedem Platz, in jedem Zimmer herrscht unglaubliches Gedränge. In wirrem Durcheinander finden sich hier alle Gespräche, Liebesbeziehungen, Besuche, Entzweiungen, alle hier gedachten Gedanken.

Alles Geschehene ist vergangene Wirklichkeit. Anders hätte es auch gar keinen Sinn, in irgendeiner Hinsicht von Wirklichkeit zu reden.

Wie kann eine Leidenschaft wirklich sein? Nur in den Phantasien des Sehnenden und Argwöhnenden oder nirgendwie. Was an einer Leidenschaft ist Wirklichkeit?

Das, was andere beobachten können? Diese Auffassung wäre vielleicht die eines Wissenschaftlers, doch verdient sie seitens dessen, der die Leidenschaft gerade erträgt, nur ein Lächeln.

Die Leidenschaft geht über uns hinweg, benutzt uns, ist hier, ich bin ihr Lastenträger.

Was ist von einer Eifersucht, einer Verzückung, einer religiösen Erfahrung, einer Angst, einer Rachsucht zu sehen?

Ziemlich wenig.

Und wer sieht sie?

Immer nur jenseits?

Vom Leidenden sagt man, der Tod sei für ihn eine Erlösung gewesen. Priesterliche Rede: Herabsetzung des diesseitigen Lebens und Verheißung des Jenseits.

Und auch dort das Versprechen einer neuen, einer anderen Welt? Immer nur etwas anderes? Immer nur jenseits?

Mich interessiert vor allem der Zauber des Hierseins.

Der Lebende will fortwährend etwas anderes: statt eines hohen Lebensalters ein noch höheres. All seine Werke gelten der Vertreibung des Todes; es überkommen ihn eine sonderbare Wachsamkeit und Unstillbarkeit.

Einzig das hohe Alter greift ihn an, zusehends ahnt er, daß die Garantiezeit abläuft. Viren, Katastrophen – einerlei. Das namenlose Schicksal hält schon den Knüppel bereit.

Ich lasse den Faden der Aufmerksamkeit sich schlängeln; es wird sich herausstellen, wo der Fluß sein Bett gräbt. Der Stoff zeigt sich und sagt, was er sein will. Erst im nachhinein erfahre ich für den Bruchteil einer Sekunde, für ein kurzes Aufblitzen, was ich wollte. Ich schreibe das gleiche, doch kann es auf mehrere Weise benennen. Meine Arbeitstage lassen das von mir in neuen Kompositionen verdichtete Grundmaterial in Erscheinung treten.

Ist der Text schlechte Literatur, wird er durch gute Politik nicht gerettet.

Handeln ist für mich Dekonzentration. Die Arbeit verlangt nicht-handelnde Ruhe und einen gesenkten Blick.

In meiner Kindheit allerdings beschloß ich, meine Familie, meine Freunde und mich selbst zu schützen. Ich mußte mich abhärten, um möglichst wenig ausgeliefert zu sein.

Jene Weisheit, wonach man bekommt, was man verdient, mag ich nicht. Meine Cousinen hatten die Gaskammer nicht verdient. Warum waren wir nicht zahlreicher und stärker?

Waren wir aber nicht. Der Schwache kann auf niemanden setzen, nur auf das eigene Erstarken, nicht auf die Starken.

Wandlungen hin und her

1997: Jutka bringt mich zum Bahnhof. Wir sind früh aufgestanden, haben zusammen Kaffee getrunken. Im Auto schnallt sie Zsuzsi hinten im Kindersitz an, um hernach mit ihr auf dem Arm freundlich lächelnd vor dem Fenster des Zugabteils zu stehen.

So voneinander getrennt, warten wir beide auf die Abfahrt des Zuges. Allein im Abteil, leuchtet vor mir die schillernde Seeplatte. Der Zug bringt mich nach Budapest und von dort ein Flugzeug irgendwohin in Europa.

Der Reisende, der wichtige Dinge zu erledigen hat, verwandelt sich unterwegs in Kalligaro. Dieser fiktive Professor nimmt meine Gestalt an, als sei ich eine Pelerine. Von nun an, so entscheidet er, werde er überall so auftreten, als sei er der wahre. Mich aber stößt er mit dem Ellenbogen beiseite und stellt mich schließlich als seinen Cousin vor, der irgendeiner reizlosen Beschäftigung nachgeht.

Auch Gerichtsvollzieher war ich schon und Sektionsgehilfe in einem Leichenhaus.

Die morgendliche Presse hat Kalligaro bereits hinter sich. Nun öffnet er einen Aktenordner mit Briefen, Kopien, Angelegenheiten, unauflösbarem Blödsinn, Kompetenzverletzungen, Einwänden, Verbesserungs- und anderen Vorschlägen, in denen jedoch miteinander widerstreitende Absichten zum Ausdruck kommen, Prestigeverteidigungen.

Er bereitet sich vor, macht es sich im Ereignisse konstruierenden Chef bequem, in diesem Teilchenbeschleuniger, verwirft und billigt, daß das Haus der Künste ein Punkt der Verdichtung sein soll, wo sich alles begegnet, was in der Stadt Rang und Namen hat, auf daß über unsere Einrichtung in den verschiedenen Gesellschaften günstige Meinungen in Umlauf gebracht werden.

Doktor Kalligaro verläßt das Flugzeug mit einer nicht allzu schweren Reisetasche, bringt die Formalitäten der Paßkontrolle hinter sich; der Grenzposten nimmt nichts Verdächtiges wahr, doch die Grenzbeamtin empfindet eine angenehme Schlaffheit, während sie in Kalligaros ohnehin schon vollgestempelten Reisepaß einen weiteren Sichtvermerk drückt.

Die Feuerzeugflamme des Zöllners, der sich gerade das Rauchen abgewöhnen will, geht sogar zweimal aus, als Kalligaro vorbeischwebt.

Er kommt und geht, leistet Unterschriften und redet bereits wie ein echter Präsident. Identifiziert sich mit Angelegenheiten, ist leutselig, dann wieder griesgrämig; auch eine umwölkte Stirn gehört zum Handwerk.

Der ehrenamtliche Idiot reißt sich zusammen

Halten Sie sich gerade, Professor Kalligaro, bemühen Sie sich, den finster dreinblickenden, spöttisch lächelnden, in schwarzen Jacken steckenden, gestutzten vollbärtigen Kerlen nicht starr in die Augen zu sehen. Sie warten ja nur darauf, ins Blickfeld zu geraten, um fragen zu können, womit er unzufrieden sei, und dann heftig die eigene Ehre zu verteidigen.

Höflich und gelassen verläßt Kalligaro das Haus, in dem er sich relativ sicher fühlt. Sooft er draußen Schritte hört, zuckt er zusammen. Dabei hat er die Tür zu seinem Büro verschlossen.

Er müßte den Hörer abnehmen; es wäre besser, unsichtbar den unglücklichen oder aggressiven Anrufer zu beruhigen, der naturgemäß etwas von ihm will.

Kalligaro dagegen will nichts, muß aber so tun, als wolle er etwas. Wenn er telefoniert, ist am anderen Ende der Leitung nicht zu sehen, was er dabei für Grimassen schneidet und womit alles er sich amüsiert: Er spielt mit einer Glaskugel und legt aus Streichhölzern eine komplizierte Flächenfigur aus.

Er ist genügsam, möchte in seinem alten Zimmer, in dem es seit Jahrzehnten kaum Veränderungen gegeben hat, noch einige Male den Besuch seiner Freunde empfangen.

Den Toten wünscht er einen glücklichen Geburtstag, den Ehefrauen der Lebenden spricht er sein Beileid aus. Was er von den Dingen hält, daraus macht er kein Geheimnis. Klug lächelnd umringen und verachten sie ihn. Was ihn irgendwie beruhigt. Sollen sie ihn doch für einen Tölpel halten! Dann wollen sie ihn wenigstens nicht totschlagen.

Honorary idiot! Doch Zweifel durchzucken ihn. Vielleicht ist er ja in schlechte Gesellschaft geraten, zufällig in eine allzu kluge Gesellschaft von Narren.

Er brummt, ist höflich, liefert sich nicht aus.

Was wird von ihm bleiben?

Er sucht nach etwas, das in den Augen anderer ein Nachteil wäre, will fern von Orten sein, die ihn aufsaugen könnten.

Das Verschwinden im Nichts steht ihm offen, sich zu verbergen in einem unbemerkten Winkel. Der geglückte Rückzug verspricht keinerlei künftige Belohnung; der Rückzug selbst ist die Belohnung.

Jetzt könnte er sich an die Wand lehnen und schön langsam abwärts gleiten, könnte die Profile seiner Schuhsohlen sehen lassen, jetzt endlich könnte er mit dem Lächeln, dem Atmen aufhören, jetzt könnte er im Wasser untertauchen.

Jetzt könnte er sich von hier und aus allem körperlichen Wirrwarr davonschleichen.

Gebraucht wird er nicht unbedingt, und sosehr er unentbehrlich zu sein scheint, ebenso sehr möchten ihn seine Zeitgenossen in einem mehr oder weniger geheimen Winkel ihres Herzens auch entbehren. Dieser Sachverhalt suggeriert, er solle sich ganz nach Lust und Laune verstecken und, obwohl er die Familie vergöttert, weiterhin die Maulwurfsgänge aushöhlen, die von niemandem seiner Lieben im schlafenden Haus betreten werden.

Jede Tätigkeit ist eine lebenswichtige Entscheidung. Auch die Art des Grüßens oder Essens, auch die des Sprechens oder Schweigens.

Wer will, der redet mit ihm, breitet vor ihm den Teppich des Interesses aus. Mutig kann er ihn betreten, doch soll er nicht meinen, Nacktheit an sich sei wertvoller als Bekleidetsein.

Der ich bin, der hatte weder früher noch heute einen unbefangenen Zeugen.

Ist ein Fall, für den es kein glaubwürdiges Zeugnis gibt, überhaupt geschehen?

Was bleibt von einem Menschen?

Einige Anekdoten und Fotos.

Wäre ich im gesunden Organismus des Vergessens ein Antikörper?

Nichts Häßliches

In jedem Augenblick seines Lebens befand er sich in irgendeinem Raum, irgendeiner Siedlung; meist in Budapest. Die Schauplätze stellt er sich als eine in den Raum übertragene Zeichnung vor, in der sich Linien und Flächen verdichten, verlieren und verdünnen, je nachdem wie oft er an jenen Schauplätzen anwesend war.

Das Geschehen haftet dem Ort an wie die Muschel der Schale oder die Katze der Kaminecke.

Es schießt aus der Erde hervor. Die Erinnerung steht an die kahle Wand geschrieben. Doch hätte es ihn nicht in jene Ecke verschlagen, wäre er nicht zuvor an jener Haustür vorbeigegangen, dann wäre jene Geschichte für alle Zeiten versunken, und kein Reiz würde sie gleich irgendwelchen Blasen aus der Tiefe an die Oberfläche befördern.

Ob er von dieser Frau besessen sein will? Das Besessensein ist geschehen.

Warum aber sollte ein nachsinnendes Mannsbild nicht sehen wollen? Warum nicht immer nur diese eine Dame betrachten? Um mit ihr, die Augen geschlossen, Hand in Hand auf einer Bank zu sitzen?

Ja, denn diese Frau ist vermutlich das wichtigste Ereignis in seinem Leben, die wichtigste Fremde.

Mit ihr wollte er mehrere gemeinsame Kinder haben und durch die Familie an einen Ort gebunden sein, auch wenn er häufig das Gegenteil davon behauptet hat.

»Was führt Sie hierher, Herr Professor?«

»Ich gehe spazieren.«

»Einfach nur so?«

»Einfach nur so.«

Was mag der Reisende denken, während er unter seinem tief ins Gesicht gezogenen Hut hervorschielt? Im offenen schwarzen Mantel, unter dem ein schwarzer Anzug, ein weißes Hemd und ein langer grauer Schal zu sehen sind?

Er befindet sich auf Entdeckungsreise, legt kleine Pausen ein, bevor er von einem Café ins andere schlendert. Gern hört er am Nachbartisch das Kichern der Frauen.

Aus einer gewissen Nähe gibt es nichts Häßliches.

Freude des Eingesperrtwerdens

Der Zug fährt durch einen Tunnel. Mehr, als am anderen Ende des Tunnels ans Licht zu gelangen, könnte er jetzt nicht bekommen.

Kalligaro glaubt mit religiöser Inbrunst an eine kollektive Vollkommenheit der ineinander verschlungenen Kreaturen.

An den in gleißendes Licht getauchten Schienen steht ein Mann mit einem leichten Rucksack auf dem Rücken. Allein unternimmt er einen Ausflug, sieht in die Ferne, wartet auf den Personenzug.

Das Es-war-wie-es-War, das Phantastische der Wirklichkeit katapultieren wir hinüber ins Märchen; unglaublich auch die Fakten.

Der sich versteinernde Blick bemerkt das Schaudern beim Gedanken daran, daß ich von hier verschwinden muß.

In der letzten Phase meines Lebens setze ich mich über die verschiedensten Ausflüchte hinweg, will mich an meinen Kindern und Enkeln erfreuen, zusehen, wie sie auf Bäume klettern und über die Steinmauer laufen oder, auf dem breiten Rücken einer Stute sitzend, zwischen erloschenen Vulkanen und blühenden Weinreben durch die grünende Flur reiten.

Mein plötzliches, nächtliches Aufspringen, die Erstickungsanfälle, mit einem Mal keine Luft zu bekommen, entsetzen mich.

Mit einer um den Hals gewickelten Nabelschnur hatte ich versucht, auf die Welt zu kommen.

Die Vergnügungen des Erinnerns und Schreibens lassen mich an der Freude des Eingesperrtseins teilhaben.

Alles Vorhandene, alles Entstehende ist nur Vorbereitung und Vorwort zum Weiteren.

Es hat überhandgenommen

1993: Zum Teufel mit der Zeitung! Ich lese sie nicht mehr!

Der neue christlich-nationale Kurs bringt die Phraseologie der Vorkriegszeit zurück, beschönigt die Ermordung der Juden und will glauben machen, daß sie die Ursachen und Gründe für vierzig Jahre Kommunismus zu verantworten hätten.

Der Antikommunismus überläßt seinen Platz allmählich dem Antisemitismus.

Die Herrschaft der Partei ist gefallen. Auf wen kann man nun seinen Haß lenken? Auf die Juden. Sollen meine Söhne in dieser wunden, hassenden, katzenfreundlichen, sich selbst bemitleidenden Atmosphäre aufwachsen?

Judenhetze ist ein Virus. Im vergangenen Jahr gab es nur die eine oder andere Bemerkung, nun aber hat sie überhandgenommen, ist in verhüllter, schiefer und Anspielungen machender Form zu einem Bürgerrecht geworden, ist wohlwollend, empathisch, mahnt zu Taktgefühl und verschweigt nicht, daß manche Juden gar zu auffällig seien.

Auffälligkeit kann in der Tat vermieden werden, vor allem durch Verschwinden. Sollen wir unsere Besonderheiten nach und nach verschwinden lassen? Doch ob es meine eigenartigen und feurigen Söhne schaffen werden, nicht aufzufallen?

Politiker und egomanische Publizisten melden sich zwanghaft zu Wort, lassen sich in Interviews auf Faseleien ein, bis ihnen endlich Beachtung geschenkt wird.

Und was wird aus jenen Menschen, die ich am Moszkva tér gesehen habe? In einer langen Schlange auf dem Gehweg außerhalb des niedrigen schmiedeeisernen Zaunes vor dem Haus Nummer 17, wo sie nur darauf warteten, an die Reihe zu kommen und drinnen eine Tasse Tee und ein Schmalzbrot zu erhalten und vielleicht auch sich duschen zu dürfen?

Keine alten Menschen, teils sogar leidlich gekleidet, jedoch offensichtlich zu den Verlierern gehörend. Wer sich Frühstück und Duschbad leisten kann, schämt sich bei deren Anblick und zürnt dem Staat, warum der diese Leute nicht von dort verschwinden läßt und ihnen nicht einen weniger auffälligen Ort zuweist.